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Verschiedene wichtige Veränderungen gingen im Haus und im Leben des Bezirkshauptmanns vor. Er verzeichnete sie erstaunt und ein wenig grimmig. An kleinen Anzeichen, die er allerdings für gewaltige hielt, bemerkte er, daß sich rings um ihn die Welt veränderte, und er dachte an ihren Untergang und an die Prophezeiungen Chojnickis. Er suchte nach einem neuen Diener. Man empfahl ihm viele jüngere und offensichtlich brave Männer mit tadellosen Zeugnissen, Männer, die drei Jahre beim Militär gedient hatten und sogar Gefreite geworden waren. Den und jenen nahm der Bezirkshauptmann »auf Probezeit« ins Haus. Aber er behielt niemanden. Sie hießen Karl, Franz, Alexander, Joseph, Alois oder Christoph oder noch anders. Aber der Bezirkshauptmann versuchte, jeden »Jacques« zu nennen. Hatte doch selbst der echte Jacques anders geheißen und seinen Namen nur angenommen und ein ganzes langes Leben mit Stolz geführt, so wie etwa ein berühmter Dichter seinen literarischen Namen, unter dem er unsterbliche Lieder und Gedichte schreibt. Es erwies sich jedoch schon nach einigen Tagen, daß die Aloise, die Alexanders, die Josephs und die anderen auf den großen Namen Jacques nicht hören wollten, und der Bezirkshauptmann empfand diese Widerspenstigkeit nicht nur als einen Verstoß gegen den Gehorsam und gegen die Ordnung der Welt, sondern auch als eine Kränkung des unwiederbringlichen Toten. Wie? Es paßte ihnen nicht, Jacques zu heißen?! Diesen Taugenichtsen ohne Jahre und ohne Verdienst, ohne Intelligenz und ohne Disziplin?! Denn der tote Jacques lebte im Angedenken des Bezirkshauptmanns weiter als ein Diener von musterhaften Eigenschaften, als das Muster eines Menschen überhaupt. Und mehr noch als über die Widerspenstigkeit der Nachfolger wunderte sich Herr von Trotta über den Leichtsinn der Herrschaften und der Behörden, die so miserablen Subjekten günstige Zeugnisse ausgestellt hatten. Wenn es überhaupt möglich war, daß ein gewisses Individuum namens Alexander Cak – ein Mann, dessen Namen er niemals vergessen wollte, und ein Name, der sich auch mit einer gewissen Gehässigkeit aussprechen ließ, so daß es klang, als würde dieser Cak schon erschossen, wenn der Bezirkshauptmann ihn nur erwähnte: wenn es also möglich war, daß dieser Cak der Sozialdemokratischen Partei angehörte und dennoch bei seinem Regiment Gefreiter geworden war, so konnte man freilich nicht nur an diesem Regiment, sondern auch an der ganzen Armee verzweifeln. Und die Armee war nach der Meinung des Bezirkshauptmanns noch in der Monarchie die einzige Macht, auf die man sich verlassen konnte! Es war dem Bezirkshauptmann, als bestünde plötzlich die ganze Welt aus Tschechen: einer Nation, die er für widerspenstig, hartköpfig und dumm hielt und überhaupt für die Erfinder des Begriffes Nation. Es mochte viele Völker geben, aber keineswegs Nationen. Und außerdem kamen verschiedene, kaum verständliche Erlässe und Verfügungen der Statthalterei betreffend eine gelindere Behandlung der »nationalen Minoritäten«, eines jener Worte, die Herr von Trotta am tiefsten haßte. Denn »nationale Minoritäten« waren für seine Begriffe nichts anderes als größere Gemeinschaften »revolutionärer Individuen«. Ja, er war von lauter revolutionären Individuen umgeben. Er glaubte sogar zu bemerken, daß sie sich in einer widernatürlichen Weise vermehrten, in einer Weise, wie sie dem Menschen nicht entspricht. Es war für den Bezirkshauptmann ganz deutlich geworden, daß die »staatstreuen Elemente« immer unfruchtbarer wurden und immer weniger Kinder bekamen, wie die Statistiken der Volkszählungen bewiesen, in denen er manchmal blätterte. Er konnte sich nicht mehr den schrecklichen Gedanken verhehlen, daß die Vorsehung selbst mit der Monarchie unzufrieden war, und obwohl er im gewöhnlichen Sinne ein zwar praktizierender, aber nicht sehr gläubiger Christ war, neigte er immer noch zu der Annahme, daß Gott selbst den Kaiser strafe. Er kam allmählich auf allerlei sonderbare Gedanken überhaupt. Die Würde, die er seit dem ersten Tage trug, an dem er Bezirkshauptmann in W. geworden war, hatte ihn zwar sofort alt gemacht. Auch als sein Backenbart noch ganz schwarz gewesen war, wäre es keinem Menschen eingefallen, Herrn von Trotta für einen jungen Mann zu halten. Und dennoch begannen die Menschen in seinem Städtchen jetzt erst zu sagen, daß der Bezirkshauptmann alt werde. Allerhand längst vertraute Gewohnheiten hatte er ablegen müssen. So ging er zum Beispiel seit dem Tode des alten Jacques und seit der Rückkehr aus der Grenzgarnison seines Sohnes nicht mehr am Morgen vor dem Frühstück spazieren, aus Angst, eines der so häufig wechselnden verdächtigen Subjekte, die bei ihm Dienst taten, könnte vergessen haben, die Post auf den Frühstückstisch zu legen oder gar das Fenster zu öffnen. Er haßte seine Haushälterin. Er hatte sie schon immer gehaßt, aber hie und da ein Wort an sie gerichtet. Seitdem der alte Jacques nicht mehr servierte, enthielt sich der Bezirkshauptmann jeder Bemerkung bei Tisch. Denn in Wirklichkeit waren seine hämischen Worte immer für Jacques gewesen und gewissermaßen Werbungen um den Beifall des alten Dieners. Jetzt erst, seitdem der Alte tot war, wußte Herr von Trotta, daß er nur für Jacques gesprochen hatte, einem Schauspieler ähnlich, der einen langjährigen Verehrer seiner Kunst im Parkett weiß. Und hatte der Bezirkshauptmann immer hastig gegessen, so bemühte er sich jetzt, schon nach den ersten Bissen den Tisch zu verlassen. Denn es erschien ihm lästerlich, den Tafelspitz zu genießen, dieweil die Würmer den alten Jacques im Grabe fraßen. Und wenn er auch dann und wann den Blick nach oben richtete, in der Hoffnung und in einem angeborenen gläubigen Gefühl, daß der Tote im Himmel sei und ihn sehen könne, so sah der Bezirkshauptmann doch nur den bekannten Plafond seines Zimmers; denn er war dem einfachen Glauben entflohen, und seine Sinne gehorchten nicht mehr dem Gebot seines Herzens. Ach, es war ein Jammer.
Hie und da vergaß der Bezirkshauptmann sogar, an gewöhnlichen Tagen ins Amt zu gehen. Und es konnte geschehen, daß er zum Beispiel an einem Donnerstagmorgen den schwarzen Schlußrock anlegte, um die Kirche zu besuchen. Draußen erst merkte er an allerlei unbezweifelbaren wochentäglichen Anzeichen, daß es nicht Sonntag war, und er kehrte um und zog wieder seinen gewöhnlichen Anzug an. Umgekehrt aber vergaß er an manchen Sonntagen den Kirchenbesuch, blieb trotzdem länger im Bett als gewöhnlich und erinnerte sich erst, wenn der Kapellmeister Nechwal unten mit seinen Musikanten erschien, daß es Sonntag war. Es gab Tafelspitz mit Gemüse wie an allen Sonntagen. Und zum Kaffee kam der Kapellmeister Nechwal. Man saß im Herrenzimmer. Man rauchte eine Virginier. Auch der Kapellmeister Nechwal war älter geworden. Bald sollte er in Pension gehen. Er fuhr nicht mehr so häufig nach Wien, und die Witze, die er erzählte, glaubte selbst der Bezirkshauptmann seit langen Jahren genau zu kennen. Er verstand sie noch immer nicht, aber er erkannte sie, ähnlich wie manche Menschen, denen er immer wieder begegnete und deren Namen er dennoch nicht wußte. »Was machen die Ihrigen?« fragte Herr von Trotta. »Danke, es geht ihnen ausgezeichnet!« sagte der Kapellmeister. »Die Frau Gemahlin?« »Befindet sich wohl!« »Die Kinder?« (denn der Bezirkshauptmann wußte noch immer nicht, ob der Kapellmeister Nechwal Söhne oder Töchter hatte, und fragte deshalb seit mehr als zwanzig Jahren vorsichtig nach den »Kindern«). »Der älteste ist Leutnant geworden!« erwiderte Nechwal. »Infanterie natürlich?« fragte gewohnheitsmäßig Herr von Trotta und erinnerte sich einen Augenblick darauf, daß sein eigener Sohn jetzt bei den Jägern diente und nicht bei der Kavallerie. »Jawohl, Infanterie!« sagte Nechwal. »Er kommt nächstens zu Besuch. Ich werde mir erlauben, ihn vorzustellen!« »Bitte, bitte, wird mich sehr freuen!« sagte der Bezirkshauptmann.
Eines Tages kam der junge Nechwal. Er diente bei den Deutschmeistern, war vor einem Jahr ausgemustert worden und sah nach der Meinung Herrn von Trottas »wie ein Musikant« aus. »Ganz dem Vater ähnlich«, sagte der Bezirkshauptmann, »Ihnen aus dem Gesicht geschnitten«, obwohl der junge Nechwal eher seiner Mutter als dem Kapellmeister ähnlich war. »Wie ein Musikant«: Damit meinte der Bezirkshauptmann eine ganze bestimmte unbekümmerte Forschheit im Angesicht des Leutnants, einen winzigen, blonden, aufgezwirbelten Schnurrbart, der wie eine waagerechte, geschlungene Klammer unter der kurzen, breiten Nase lag, und die wohlgelungenen, schöngeformten, puppenhaft kleinen Ohren, die wie aus Porzellan gemacht waren, und das brave, sonnenblonde, in der Mitte gescheitelte Haar. »Fidel schaut er aus!« sagte Herr von Trotta zu Herrn Nechwal. »Sind Sie zufrieden?« fragte er dann den Jungen. »Offen gestanden, Herr Bezirkshauptmann«, erwiderte der Sohn des Kapellmeisters, »ist es etwas langweilig!« »Langweilig?« fragte Herr von Trotta, »in Wien?!« »Ja«, sagte der junge Nechwal, »langweilig! Schaun S', Herr Bezirkshauptmann, wenn man in einer kleinen Garnison dient, dann kommt's einem gar nicht zum Bewußtsein, daß man kein Geld hat!« Der Bezirkshauptmann fühlte sich gekränkt. Er fand, daß es sich nicht schickte, von Geld zu sprechen, und er fürchtete, daß der junge Nechwal auf die besseren finanziellen Verhältnisse Carl Josephs anspielen wollte. »Mein Sohn dient zwar an der Grenze«, sagte Herr von Trotta, »aber er ist immer gut ausgekommen. Auch bei der Kavallerie.« Er betonte dieses Wort. Es war ihm zum erstenmal peinlich, daß Carl Joseph die Ulanen verlassen hatte. Gewiß kamen derlei Nechwals bei der Kavallerie nicht vor! Und der Gedanke, daß der Sohn dieses Kapellmeisters sich etwa einbildete, dem jungen Trotta in irgendeiner Weise zu gleichen, verursachte dem Bezirkshauptmann fast körperliche Pein. Er beschloß, »den Musikanten« zu überführen. Er witterte geradezu Vaterlandsverrat in diesem Jungen, dessen Nase ihm »tschechisch« erschien. »Dienen Sie gern?« fragte der Bezirkshauptmann. »Offen gestanden«, sagte der Leutnant Nechwal, »ich könnt' mir einen besseren Beruf vorstellen!« »Wieso denn? Einen besseren?« »Einen praktischeren!« sagte der junge Nechwal. »Ist es nicht praktisch, fürs Vaterland zu kämpfen?« fragte Herr von Trotta, »vorausgesetzt, daß man überhaupt praktisch veranlagt ist.« Es war deutlich, daß er das Wort »praktisch« in einer ironischen Weise betonte. »Aber wir kämpfen ja gar nicht«, entgegnete der Leutnant. »Und wenn wir einmal zum Kämpfen kommen, ist es vielleicht gar nicht so praktisch.« »Aber warum denn?« fragte der Bezirkshauptmann. »Weil wir bestimmt den Krieg verlieren«, sagte Nechwal, der Leutnant. »Es ist eine andere Zeit«, fügte er hinzu – und nicht ohne Bosheit, wie es Herrn von Trotta vorkam. Er kniff seine kleinen Augen zusammen, so daß sie beinahe ganz verschwanden, und in einer Art, die dem Bezirkshauptmann ganz unerträglich schien, entblößte seine Oberlippe das Zahnfleisch, der Schnurrbart berührte die Nase, und diese glich den breiten Nüstern irgendeines Tieres, nach der Meinung Herrn von Trottas. – Ein ganz widerlicher Bursche, dachte der Bezirkshauptmann. »Eine neue Zeit«, wiederholte der junge Nechwal. »Die vielen Völker halten nicht lange zusammen!« »So«, sagte der Bezirkshauptmann, »und woher wollen Sie das alles wissen, Herr Leutnant?« Und der Bezirkshauptmann wußte im gleichen Augenblick, daß sein Hohn stumpf war, und er fühlte sich selbst wie ein Veteran etwa, der seinen ungefährlichen, ohnmächtigen Säbel gegen einen Feind zückt. »Alle Welt weiß es«, sagte der Junge, »und sagt es auch!« »Sagt es?« wiederholte Herr von Trotta. »Ihre Kameraden sagen's?« »Ja, sie sagen es!«
Der Bezirkshauptmann sprach nicht mehr. Es schien ihm plötzlich, daß er auf einem hohen Berg stand und ihm gegenüber der Leutnant Nechwal in einem tiefen Tal. Sehr klein war der Leutnant Nechwal! Aber obwohl er klein war und sehr tief stand, hatte er dennoch recht. Und die Welt war nicht mehr die alte Welt. Sie ging unter. Und es war in der Ordnung, daß eine Stunde vor ihrem Untergang die Täler recht behielten gegen die Berge, die Jungen gegen die Alten, die Dummköpfe gegen die Vernünftigen. Der Bezirkshauptmann schwieg. Es war ein sommerlicher Sonntagnachmittag. Die gelben Jalousien im Herrenzimmer ließen gefilterte goldene Sonne einströmen. Die Uhr tickte. Die Fliegen summten. Der Bezirkshauptmann erinnerte sich an den Sommertag, an dem sein Sohn Carl Joseph in der Uniform eines Kavallerieleutnants gekommen war. Wieviel Zeit war seit jenem Tage vergangen? Ein paar Jahre! In diesen Jahren aber schienen dem Bezirkshauptmann die Ereignisse dichter geworden zu sein. Es war, als wenn die Sonne täglich zweimal auf- und zweimal untergegangen wäre; und jede Woche hätte zwei Sonntage gehabt und jeder Monat sechzig Tage! Und die Jahre waren doppelte Jahre gewesen. Und Herr von Trotta fühlte sich gleichsam von der Zeit betrogen, obwohl sie ihm das Doppelte geboten hatte; und es war ihm, als hätte ihm die Ewigkeit doppelte falsche Jahre geboten statt einfacher echter. Und während er den Leutnant verachtete, der ihm gegenüber so tief in seinem Jammertal stand, mißtraute er dem Berg, auf dem er selber stand. Ach! Es geschah ihm Unrecht! Unrecht! Unrecht! Zum erstenmal in seinem Leben glaubte der Bezirkshauptmann, daß ihm Unrecht geschah.
Er sehnte sich nach Doktor Skowronnek, dem Mann, mit dem er seit einigen Monaten jeden Nachmittag Schach spielte. Denn auch das regelmäßige Schachspiel gehörte zu den Veränderungen, die im Leben des Bezirkshauptmanns vorgegangen waren. Er hatte Doktor Skowronnek schon lange gekannt, wie er andere Kaffeehausbesucher kannte, nicht mehr und nicht weniger. Eines Nachmittags saßen sie einander gegenüber. Jeder halb verdeckt von einer aufgespannten und entfalteten Zeitung. Wie auf ein Kommando legten beide die Zeitungen nieder, und ihre Augen begegneten einander. Gleichzeitig und auf einen Schlag erkannten sie, daß sie denselben Bericht gelesen hatten. Es war ein Bericht über ein Sommerfest in Hietzing, an dem ein Fleischermeister namens Alois Schinagl dank seiner übernatürlichen Gefräßigkeit Sieger im Beinfleischessen geblieben war und die »Goldene Medaille des Wettesservereins von Hietzing« erhalten hatte. Und die Blicke der beiden Männer sagten zu gleicher Zeit: Wir essen auch gerne Beinfleisch, aber diese Idee, eine goldene Medaille für so was zu verleihen, ist doch eine recht neumodische und verrückte Idee! Ob es eine Liebe auf den ersten Blick geben kann, wird mit Recht von Kennern bezweifelt. Daß es aber eine Freundschaft auf den ersten Blick gibt, eine Freundschaft unter bejahrten Männern, daran gibt es keinen Zweifel. Doktor Skowronnek sah über die randlosen, ovalen Gläser seiner Brille auf den Bezirkshauptmann, und der Bezirkshauptmann legte im selben Augenblick den Zwicker ab. Er lüftete den Zwicker. Und Doktor Skowronnek trat an den Tisch des Bezirkshauptmanns.
»Spielen Sie Schach?« fragte Doktor Skowronnek.
»Gerne!« sagte der Bezirkshauptmann.
Sie hatten es nicht nötig, sich zu verabreden. Sie trafen sich jeden Nachmittag um die gleiche Stunde. Sie kamen gleichzeitig. In ihren täglichen Gewohnheiten schien eine abgemachte Übereinstimmung zu herrschen. Während des Schachspiels wechselten sie kaum ein Wort. Sie hatten auch nicht das Bedürfnis, miteinander zu sprechen. Auf dem engen Schachbrett stießen manchmal ihre hageren Finger zusammen wie Menschen auf einem kleinen Platz, zuckten zurück und kehrten wieder heim. Aber so flüchtig diese Berührungen auch waren: Als hätten die Finger Augen und Ohren, vernahmen sie alles voneinander und von den Männern, denen sie gehörten. Und nachdem der Bezirkshauptmann und Doktor Skowronnek ein paarmal mit ihren Händen auf dem Schachbrett zusammengestoßen waren, kam es beiden Männern vor, daß sie sich schon seit langen Jahren kannten und daß sie keine Geheimnisse mehr voreinander hätten. Und also begannen eines Tages sanfte Gespräche ihr Spiel zu umranden, und über die Hände hinweg, die längst miteinander vertraut waren, schwebten die Bemerkungen der Männer über Wetter, Welt, Politik und Menschen. Ein schätzenswerter Mann! dachte der Bezirkshauptmann vom Doktor Skowronnek. Ein außerordentlich feiner Mensch! dachte Doktor Skowronnek vom Bezirkshauptmann.
Den größten Teil des Jahres hatte Doktor Skowronnek gar nichts zu tun. Er arbeitete nur vier Monate im Jahr als Badearzt in Franzensbad, und seine ganze Weltkenntnis beruhte auf den Geständnissen seiner Patientinnen; denn die Frauen erzählten ihm alles, wovon sie bedrückt zu sein glaubten, und es gab nichts in der Welt, was sie nicht bedrückt hätte. Ihre Gesundheit litt unter dem Beruf ihrer Männer ebenso wie unter deren Lieblosigkeit, unter der »allgemeinen Not der Zeit«, unter der Teuerung, unter den politischen Krisen, unter der ständigen Kriegsgefahr, unter den Zeitungsabonnements der Gatten, der eigenen Beschäftigungslosigkeit, der Treulosigkeit der Liebhaber, der Gleichgültigkeit der Männer, aber auch unter deren Eifersucht. Auf diese Weise lernte Doktor Skowronnek die verschiedenen Stände und ihr häusliches Leben kennen, die Küchen und die Schlafzimmer, die Neigungen, die Leidenschaften und die Dummheiten. Und da er den Frauen nicht alles glaubte, sondern nur drei Viertel von dem, was sie ihm berichteten, erlangte er mit der Zeit eine ausgezeichnete Kenntnis der Welt, die wertvoller war als seine medizinische. Auch wenn er mit Männern sprach, lag auf seinen Lippen das ungläubige und dennoch bereitwillige Lächeln eines Menschen, der alles zu hören erwartet. Eine Art abwehrender Güte leuchtete auf seinem kleinen, verkniffenen Antlitz. Und in der Tat hatte er die Menschen ebenso gern, wie er sie geringschätzte.
Ahnte die einfache Seele Herrn von Trottas etwas von der herzlichen Schlauheit Doktor Skowronneks? Es war jedenfalls der erste Mensch nach dem Jugendfreund Moser, für den der Bezirkshauptmann eine zutrauliche Hochachtung zu fühlen begann. »Sie leben schon lange hier in unserer Stadt, Herr Doktor?« fragte er. »Seit meiner Geburt!« sagte Skowronnek. »Schade, schade«, sagte der Bezirkshauptmann, »daß wir uns so spät kennenlernen!« »Ich kenne Sie schon lange, Herr Bezirkshauptmann!« sagte Doktor Skowronnek. »Ich hab' Sie gelegentlich beobachtet!« erwiderte Herr von Trotta. »Ihr Herr Sohn war einmal hier!« sagte Skowronnek. »Es sind ein paar Jahre her!« »Ja, ja! Ich erinnere mich!« meinte der Bezirkshauptmann. Er dachte an den Nachmittag, an dem Carl Joseph mit den Briefen der toten Frau Slama gekommen war. Es war Sommer. Es hatte geregnet. Einen schlechten Cognac hatte der Junge am Büfett getrunken. »Er hat sich transferieren lassen«, sagte Herr von Trotta. »Er dient jetzt bei den Jägern, an der Grenze, in B.« »Und er macht Ihnen Freude?« fragte Skowronnek. Aber er wollte »Sorgen« sagen. »Eigentlich – ja! Gewiß! Ja!« erwiderte der Bezirkshauptmann. Er stand sehr schnell auf und verließ den Doktor Skowronnek.
Er trug sich schon lange mit dem Gedanken, Doktor Skowronnek alle Sorgen zu erzählen. Er wurde alt, er brauchte einen Zuhörer. Jeden Nachmittag faßte der Bezirkshauptmann aufs neue den Entschluß, mit Doktor Skowronnek zu sprechen. Aber er brachte nicht jenes Wort hervor, das geeignet gewesen wäre, ein vertrautes Gespräch einzuleiten. Doktor Skowronnek erwartete es jeden Tag. Er ahnte, daß die Zeit für den Bezirkshauptmann gekommen war, Geständnisse abzulegen.
Seit mehreren Wochen trug der Bezirkshauptmann in der Brusttasche einen Brief seines Sohnes. Es galt, ihm zu antworten, aber Herr von Trotta konnte es nicht. Indessen wurde der Brief immer schwerer, geradezu eine Last in der Tasche. Bald war es dem Bezirkshauptmann, als trüge er den Brief auf seinem alten Herzen. Carl Joseph schrieb nämlich, daß er gedenke, die Armee zu verlassen. Ja, gleich der erste Satz des Briefes lautete: »Ich trage mich mit dem Gedanken, die Armee zu verlassen.« Als der Bezirkshauptmann diesen Satz las, unterbrach er sich sofort und warf einen Blick auf die Unterschrift, um sich zu überzeugen, daß kein anderer als Carl Joseph den Brief geschrieben hatte. Dann legte Herr von Trotta den Zwicker, den er zum Lesen benutzte, weg und den Brief ebenfalls. Er ruhte aus. Er saß in seiner Kanzlei. Die dienstlichen Briefe waren noch nicht aufgeschnitten. Vielleicht enthielten sie heute Wichtiges, sofort zu erledigende Angelegenheiten. Alle Dinge aber, die den Dienst betrafen, schienen durch die Erwägungen Carl Josephs bereits in der ungünstigsten Weise erledigt. Es geschah dem Bezirkshauptmann zum erstenmal, daß er seine dienstlichen Obliegenheiten von persönlichen Erlebnissen abhängig machte. Und ein so bescheidener, ja demütiger Diener des Staates er auch war: Die Erwägung seines Sohnes, die Armee zu verlassen, wirkte auf Herrn von Trotta etwa so, wie wenn er eine Mitteilung von der gesamten kaiser- und königlichen Armee erhalten hätte, daß sie gesonnen sei, sich aufzulösen. Alles, alles in der Welt schien seinen Sinn verloren zu haben. Der Untergang der Welt schien angebrochen! Und es war dem Bezirkshauptmann, als er sich dennoch entschloß, die dienstliche Post zu lesen, als erfüllte er eine vergebliche und namenlose und heroische Pflicht, wie etwa der Telephonist eines sinkenden Schiffes.
Erst eine gute Stunde später las er den Brief seines Sohnes weiter. Carl Joseph bat ihn um die Zustimmung. Und der Bezirkshauptmann erwiderte folgendes:
»Mein lieber Sohn!
Dein Brief hat mich erschüttert. Ich werde Dir nach einiger Zeit meinen endgültigen Entschluß mitteilen.
Dein Vater«
Auf diesen Brief Herrn von Trottas antwortete Carl Joseph nicht mehr. Ja, er unterbrach die regelmäßige Reihe seiner gewohnten Berichte, und der Bezirkshauptmann hörte also seit einer geraumen Zeit nichts von seinem Sohn. Er wartete jeden Morgen, der Alte, und er wußte gleichzeitig, daß er umsonst wartete. Und es war, als fehlte nicht jeden Morgen der erwartete Brief, sondern als käme jeden Morgen die erwartete und gefürchtete Stille. Der Sohn schwieg. Aber der Vater hörte ihn schweigen. Und es war, als kündigte der Sohn jeden Tag aufs neue dem Alten den Gehorsam. Und je länger Carl Josephs Berichte ausblieben, desto schwieriger war es dem Bezirkshauptmann, den angekündigten Brief zu schreiben. Und war es ihm noch zuerst ganz selbstverständlich erschienen, dem Jungen den Austritt aus der Armee einfach zu verbieten, so begann jetzt Herr von Trotta allmählich zu glauben, daß er kein Recht mehr habe, etwas zu verbieten. Er war recht verzagt, der Herr Bezirkshauptmann. Immer silberner wurde sein Backenbart. Seine Schläfen waren schon ganz weiß. Sein Kopf hing manchmal auf die Brust herab, und sein Kinn und die beiden Flügel seines Backenbarts lagen auf dem gestärkten Hemd. So schlief er in seinem Sessel plötzlich ein, fuhr nach einigen Minuten wieder auf und glaubte, eine Ewigkeit geschlafen zu haben. Überhaupt entschwand ihm sein peinlich genauer Sinn für den Gang der Stunden, seitdem er diese und jene seiner alten Gewohnheiten aufgegeben hatte. Denn eben diese Gewohnheiten zu erhalten, waren ja die Stunden und die Tage bestimmt gewesen, und nunmehr glichen sie leeren Gefäßen, die nicht mehr gefüllt werden konnten und um die man sich nicht mehr zu kümmern brauchte. Und nur am Nachmittag zur Schachpartie mit Doktor Skowronnek erschien der Bezirkshauptmann noch pünktlich.
Eines Tages bekam er einen überraschenden Besuch. Er saß über seinen Papieren in der Kanzlei, als er draußen die wohlbekannte, polternde Stimme seines Jugendfreundes Moser vernahm und die vergeblichen Bemühungen des Amtsdieners, den Professor abzuweisen. Der Bezirkshauptmann klingelte und ließ den Professor kommen. »Grüß Gott, Herr Statthalter!« sagte Moser. Mit seinem Schlapphut, seiner Mappe und ohne Mantel sah Moser nicht aus wie jemand, der eine Reise zurückgelegt hat und eben aus der Eisenbahn gestiegen ist, sondern als käme er aus einem Haus gegenüber. Und den Bezirkshauptmann erschreckte der fürchterliche Gedanke, daß Moser gekommen sein könnte, um sich in W. für immer niederzulassen. Der Professor ging zuerst zur Tür zurück, drehte den Schlüssel um und sagte: »Damit man uns nicht überrascht, mein Lieber! Es könnte deiner Karriere schaden!« Dann trat er mit breiten, langsamen Schritten an den Schreibtisch, umarmte den Bezirkshauptmann und drückte ihm einen schallenden Kuß auf die Glatze. Hierauf ließ er sich im Lehnstuhl neben dem Schreibtisch nieder, legte Mappe und Hut vor die Füße auf den Boden und schwieg.
Herr von Trotta schwieg ebenfalls. Er wußte nun, weshalb Moser gekommen war. Seit drei Monaten hatte er ihm kein Geld geschickt. »Entschuldige!« sagte der Herr von Trotta. »Ich wollt's dir sofort nachzahlen! Du mußt entschuldigen! Ich hab' viel Sorgen in der letzten Zeit!« »Kann mir's denken!« erwiderte Moser. »Dein Herr Sohn ist sehr kostspielig! Seh' ihn jede zweite Woche in Wien. Scheint sich gut zu amüsieren, der Herr Leutnant!«
Der Bezirkshauptmann erhob sich. Er griff nach der Brust. Er fühlte den Brief Carl Josephs in der Tasche. Er trat ans Fenster. Den Rücken Moser zugewandt, den Blick auf die alten Kastanien im Park gegenüber gerichtet, fragte er: »Hast du mit ihm gesprochen?«
»Wir trinken immer ein Gläschen, sooft wir uns treffen«, sagte Moser, »nobel ist er ja, dein Herr Sohn!«
»So! Nobel ist er!« wiederholte Herr von Trotta.
Er kehrte schnell zum Schreibtisch zurück, riß eine Schublade hervor, blätterte in Geldscheinen, zog ein paar heraus und gab sie dem Maler. Moser legte das Geld in den Hut zwischen das zerschlissene Unterfutter und den Filz und erhob sich. »Einen Moment!« sagte der Bezirkshauptmann. Er ging zur Tür, sperrte sie auf und sagte dem Amtsdiener: »Begleiten Sie den Herrn Professor zur Bahn. Er fährt nach Wien. Der Zug geht in einer Stunde!« »Ergebenster Diener!« sagte Moser und machte eine Verbeugung. Der Bezirkshauptmann wartete ein paar Minuten. Dann nahm er Hut und Stock und ging ins Kaffeehaus.
Er hatte sich ein wenig verspätet. Doktor Skowronnek saß schon am Tisch, das Schachbrett mit den aufgestellten Figuren vor sich. Herr von Trotta setzte sich. »Schwarz oder weiß, Herr Bezirkshauptmann?« fragte Skowronnek. »Ich spiele heute nicht!« sagte der Bezirkshauptmann. Er bestellte einen Cognac, trank ihn und begann:
»Ich möchte Sie belästigen, Herr Doktor!«
»Bitte!« sagte Skowronnek.
»Es handelt sich um meinen Sohn«, begann der Bezirkshauptmann. Und in seiner amtlichen, langsamen, ein wenig näselnden Sprache berichtete er von seinen Sorgen, als spräche er von dienstlichen Angelegenheiten zu einem Statthaltereirat. Er teilte gewissermaßen seine Sorgen in Haupt- und Untersorgen. Und Punkt für Punkt, mit kleinen Absätzen, trug er Doktor Skowronnek die Geschichte seines Vaters vor, seine eigene und die seines Sohnes. Als er geendet hatte, waren alle Gäste verschwunden und die grünlichen Gasflammen im Spielzimmer schon entzündet, und ihr eintöniger Gesang summte über den leeren Tischen.
»So! Das ist es also!« schloß der Bezirkshauptmann.
Es blieb lange still zwischen den beiden Männern. Der Bezirkshauptmann wagte nicht, den Doktor Skowronnek anzusehen. Und der Doktor Skowronnek wagte nicht, den Bezirkshauptmann anzusehen. Und sie schlugen die Augen voreinander nieder, als hätten sie sich gegenseitig auf einer blamablen Tat ertappt. Endlich sagte Skowronnek:
»Vielleicht steckt eine Frau dahinter? Welchen Grund hätte Ihr Sohn, so oft in Wien zu sein?«
Der Bezirkshauptmann hätte in der Tat niemals an eine Frau gedacht. Es erschien ihm selbst unfaßbar, daß er auf diesen selbstverständlichen Gedanken nicht sofort gekommen war. Denn alles – und es war gewiß nicht viel –, was er jemals von dem verderblichen Einfluß vernommen hatte, den Frauen auf junge Männer auszuüben imstande waren, stürzte plötzlich wuchtig in sein Gehirn und befreite gleichzeitig sein Herz. Wenn es nichts anderes war als eine Frau, die in Carl Joseph den Entschluß geweckt hatte, die Armee zu verlassen, so ließ sich vielleicht zwar noch nichts reparieren, aber man sah wenigstens die Ursache des Unheils, und der Untergang der Welt war nicht mehr die Frage unerkennbarer, geheimer, finsterer Mächte, gegen die man sich nicht wehren konnte. Eine Frau! dachte er. Nein! Er wußte nichts von einer Frau! Und er sagte in seinem amtlichen Stil:
»Mir ist nichts von einer Frauensperson zu Ohren gekommen!«
»Eine Frauensperson!« wiederholte Doktor Skowronnek und lächelte: »Es könnte ja auch zufällig eine Dame sein!«
»Sie meinen also«, sagte Herr von Trotta, »daß mein Sohn die ernste Absicht hat, eine Ehe zu schließen.«
»Auch das nicht«, sagte Skowronnek. »Man muß doch auch Damen nicht heiraten.«
Er erkannte, daß der Bezirkshauptmann zu jenen einfachen Naturen gehörte, die gleichsam noch einmal in die Schule geschickt werden mußten. Und er beschloß, den Bezirkshauptmann wie ein Kind zu behandeln, das eben seine Muttersprache lernen soll. Und er sagte: »Lassen wir die Damen, Herr Bezirkshauptmann! Es kommt nicht darauf an! Aus diesem oder jenem Grunde möchte Ihr Sohn nicht bei der Armee bleiben. Und ich verstehe das!«
»Gewiß, Herr Bezirkshauptmann! Ein junger Offizier unserer Armee kann mit seinem Beruf nicht zufrieden sein, wenn er nachdenkt. Seine Sehnsucht muß der Krieg sein. Er weiß aber, daß der Krieg das Ende der Monarchie ist.«
»Das Ende der Monarchie?«
»Das Ende, Herr Bezirkshauptmann! Es tut mir leid! Lassen Sie Ihren Sohn tun, was ihm behagt. Vielleicht eignet er sich besser zu irgendeinem anderen Beruf!«
»Zu irgendeinem anderen Beruf!« wiederholte Herr von Trotta.
»Zu irgendeinem anderen Beruf!« sagte er noch einmal.
Sie schwiegen eine lange Weile. Dann sagte der Bezirkshauptmann zum drittenmal:
»Zu irgendeinem anderen Beruf!«
Er bemühte sich, mit diesen Worten vertraut zu werden, aber sie blieben ihm fremd wie die Worte »revolutionär« oder »nationale Minderheiten« zum Beispiel. Und es war dem Bezirkshauptmann, als hätte er nicht erst lange auf den Untergang der Welt zu warten. Er schlug mit der mageren Faust auf den Tisch, die runde Manschette schepperte, und über dem Tischchen wackelte die grünliche Lampe ein bißchen, und fragte:
»Was für einen Beruf, Herr Doktor?«
»Er könnte«, meinte Doktor Skowronnek, »vielleicht bei der Eisenbahn unterkommen!«
Der Bezirkshauptmann sah im nächsten Augenblick seinen Sohn in der Uniform eines Schaffners, eine Zange zum Knipsen der Fahrkarten in der Hand. Das Wort »unterkommen« jagte einen Schauer durch sein altes Herz. Er fror.
»So, meinen Sie?«
»Sonst weiß ich nichts!« sagte Doktor Skowronnek.
Und da sich der Bezirkshauptmann jetzt erhob, stand auch Doktor Skowronnek auf und sagte:
»Ich werde Sie begleiten!«
Sie gingen durch den Park. Es regnete. Der Bezirkshauptmann spannte seinen Regenschirm nicht auf. Hier und dort fielen schwere Tropfen aus den dichten Kronen der Bäume auf seine Schultern und seinen steifen Hut. Es war dunkel und still. Sooft sie an einer der spärlichen Laternen vorbeikamen, die ihre silbernen Häupter zwischen dem dunklen Laub verbargen, neigten beide Männer die Köpfe. Und als sie vor dem Ausgang des Stadtparks standen, zögerten sie noch einen Augenblick. Und Doktor Skowronnek sagte plötzlich: »Auf Wiedersehen, Herr Bezirkshauptmann!« Und Herr von Trotta ging allein über die Straße, hinüber zum breitgewölbten Tor der Bezirkshauptmannschaft.
Er begegnete seiner Haushälterin auf der Treppe, sagte: »Ich esse heute nicht, Gnädigste!« und ging schnell weiter. Er wollte zwei Stufen auf einmal nehmen, aber er schämte sich und ging mit gewohnter Würde geradewegs ins Amt. Zum erstenmal, seitdem er diese Bezirkshauptmannschaft leitete, saß er zu abendlicher Stunde in seiner Amtskanzlei. Er entzündete die grüne Tischlampe, die sonst nur im Winter am Nachmittag brannte. Die Fenster waren offen. Der Regen schlug heftig an die blechernen Fensterbretter. Herr von Trotta zog einen gelblichen Kanzleibogen aus der Schublade und schrieb:
»Lieber Sohn!
Nach reiflicher Überlegung habe ich mich entschlossen, die Verantwortung für Deine Zukunft Dir selbst zu überlassen. Ich ersuche Dich lediglich, mir Deine Entschlüsse mitzuteilen.
Dein Vater«
Herr von Trotta blieb lange Zeit vor seinem Brief sitzen. Er las ein paarmal die wenigen Sätze, die er geschrieben hatte. Sie klangen ihm wie sein Testament. Es wäre ihm niemals früher eingefallen, seinen väterlichen Charakter für wichtiger zu halten als seinen amtlichen. Da er nun aber mit diesem Brief die Befehlsgewalt über seinen Sohn niederlegte, schien es ihm, daß sein ganzes Leben wenig Sinn mehr hätte und daß er zugleich auch aufhören müßte, Beamter zu sein. Es war nichts Ehrloses, was er unternahm. Aber es kam ihm vor, daß er sich selbst einen Schimpf zufügte. Er verließ die Kanzlei, den Brief in der Hand, er ging ins Herrenzimmer. Hier entzündete er alle vorhandenen Lichter, die Stehlampe in der Ecke und die Hängelampe am Suffit und stellte sich vor dem Porträt des Helden von Solferino auf. Das Angesicht seines Vaters konnte er nicht deutlich sehen. Das Gemälde zerfiel in hundert kleine, ölige Lichtflecke und Tupfen, der Mund war ein blaßroter Strich und die Augen zwei schwarze Kohlensplitter. Der Bezirkshauptmann stieg auf einen Sessel (seit seiner Knabenzeit war er nicht auf einem Sessel gestanden), reckte sich, stellte sich auf die Zehenspitzen, hielt den Zwicker vor die Augen und konnte gerade noch die Unterschrift Mosers in der Ecke rechts auf dem Porträt lesen. Er stieg ein wenig mühsam wieder hinunter, unterdrückte einen Seufzer, wich, rückwärtsschreitend, bis zur Wand gegenüber, stieß sich heftig und schmerzlich an der Kante des Tisches und begann, das Bild aus der Ferne zu studieren. Er löschte die Deckenlampe aus. Und im tiefen Dämmer glaubte er, das Angesicht seines Vaters lebendig schimmern zu sehen. Bald näherte es sich ihm, bald entfernte es sich, schien hinter die Wand zu entweichen und wie aus einer unermeßlichen Weite durch ein offenes Fenster ins Zimmer zu schauen. Herr von Trotta verspürte eine große Müdigkeit. Er setzte sich in den Sessel, rückte ihn so zurecht, daß er gerade dem Bildnis gegenübersaß, und öffnete seine Weste. Er hörte die immer spärlicheren Tropfen des nachlassenden Regens in harten, unregelmäßigen Schlägen an den Fensterscheiben und von Zeit zu Zeit den Wind in den alten Kastanien gegenüber rauschen. Er schloß die Augen. Und er schlief ein, den Brief im Umschlag in der Hand und die Hand reglos über der Lehne des Sessels.
Als er erwachte, strömte der volle Morgen schon durch die drei großen, gewölbten Fenster. Der Bezirkshauptmann erblickte zuerst das Porträt des Helden von Solferino, dann fühlte er den Brief in seiner Hand, sah die Adresse, las den Namen seines Sohnes und erhob sich seufzend. Seine Hemdbrust war zerdrückt, seine breite, dunkelrote Krawatte mit den weißen Tupfen war nach links verschoben, und auf der gestreiften Hose bemerkte Herr von Trotta zum erstenmal, seitdem er Hosen trug, abscheuliche Querfalten. Er betrachtete sich eine Weile im Spiegel. Und er sah, daß sein Backenbart zerzaust war und daß sich ein paar kümmerliche, graue Härchen auf seiner Glatze ringelten und daß seine stichligen Augenbrauen kreuz und quer durcheinanderstanden, als wäre ein kleiner Sturm über sie hingegangen. Der Bezirkshauptmann schaute auf die Uhr. Und da der Friseur bald kommen mußte, beeilte er sich, die Kleider abzulegen und geschwind ins Bett zu schlüpfen, um dem Barbier einen normalen Morgen vorzutäuschen. Aber den Brief behielt er in der Hand. Und er hielt ihn, während er eingeseift und rasiert wurde, und später, als er sich wusch, lag der Brief am Rande des Tischchens, auf dem das Waschbecken stand. Erst als sich Herr von Trotta zum Frühstück setzte, übergab er den Brief dem Amtsdiener und befahl, ihn zusammen mit der nächsten Dienstpost abgehen zu lassen.
Er ging, wie jeden Tag, an seine Arbeit. Und niemand wäre imstande gewesen zu erkennen, daß Herr von Trotta seinen Glauben verloren hatte. Denn die Sorgfalt, mit der er heute seine Geschäfte erledigte, war keineswegs eine geringere als an anderen Tagen. Nur war diese Sorgfalt eine ganz, ganz andere. Sie war lediglich die Sorgfalt der Hände, der Augen, des Zwickers sogar. Und Herr von Trotta glich einem Virtuosen, in dem das Feuer erloschen, in dessen Seele es taub und leer geworden ist und dessen Finger nur noch in kalter, seit Jahren erworbener Dienstfertigkeit dank ihrem eigenen toten Gedächtnis richtige Klänge erzeugen. Aber niemand bemerkte es, wie gesagt. Und am Nachmittag kam, wie gewöhnlich, der Wachtmeister Slama. Und Herr von Trotta fragte ihn: »Sagen Sie, lieber Slama, haben Sie eigentlich wieder geheiratet?« Er wußte selbst nicht, warum er diese Frage heute stellte und warum ihn plötzlich das Privatleben des Gendarmen etwas anging. »Nein, Herr Baron!« sagte Slama. »Ich werde auch nicht mehr heiraten!« »Da haben Sie recht!« sagte Herr von Trotta. Aber er wußte auch nicht, weshalb der Wachtmeister mit seinem Entschluß, nicht wieder zu heiraten, recht haben sollte.
Das war die Stunde, in der er täglich im Kaffeehaus erschien, und also begab er sich auch heute dorthin. Das Schachbrett stand schon auf dem Tisch, Doktor Skowronnek kam zu gleicher Zeit, sie setzten sich. »Schwarz oder weiß, Herr Bezirkshauptmann?« fragte der Doktor wie alle Tage. »Nach Belieben!« sagte der Bezirkshauptmann. Und sie begannen zu spielen. Herr von Trotta spielte heute sorgfältig, andächtig beinahe, und gewann. »Sie werden ja allmählich ein wahrer Schachmeister!« sagte Skowronnek. Der Bezirkshauptmann fühlte sich wahrhaftig geschmeichelt. »Vielleicht hätte ich einer werden können!« erwiderte er. Und er dachte, daß es besser gewesen wäre, daß alles besser gewesen wäre.
»Ich habe übrigens meinem Sohn geschrieben«, begann er nach einer Weile. »Er mag tun, was ihm gefällt!«
»Das scheint mir das Richtige!« sagte Doktor Skowronnek. »Man kann keine Verantwortung tragen! Kein Mensch darf für den andern eine Verantwortung tragen.«
»Mein Vater hat sie für mich getragen«, sagte der Bezirkshauptmann, »mein Großvater für meinen Vater.«
»Es war damals anders«, erwiderte Skowronnek. »Nicht einmal der Kaiser trägt heute die Verantwortung für seine Monarchie. Ja, es scheint, daß Gott selbst die Verantwortung für die Welt nicht mehr tragen will. Es war damals leichter! Alles war gesichert. Jeder Stein lag auf seinem Platz. Die Straßen des Lebens waren wohl gepflastert. Die sicheren Dächer lagen über den Mauern der Häuser. Aber heute, Herr Bezirkshauptmann, heute liegen die Steine auf den Straßen quer und verworren und in gefährlichen Haufen, und die Dächer haben Löcher, und in die Häuser regnet es, und jeder muß selber wissen, welche Straße er geht und in was für ein Haus er zieht. Wenn Ihr seliger Herr Vater gesagt hat, aus Ihnen würde kein Landwirt, sondern ein Beamter, so hat er recht gehabt. Sie sind ein musterhafter Beamter geworden. Aber als Sie Ihrem Sohn sagten, er solle Soldat werden, haben Sie unrecht gehabt. Er ist kein musterhafter Soldat!«
»Ja, ja!« bestätigte Herr von Trotta.
»Und deshalb soll man alles gehen lassen, jedes seinen eigenen Weg! Wenn mir meine Kinder nicht gehorchen, bemühe ich mich nur noch, nicht die Würde zu verlieren. Es ist alles, was man tun kann. Ich sehe sie mir manchmal an, wenn sie schlafen. Ihre Gesichter scheinen mir dann ganz fremd, kaum zu erkennen, und ich sehe, daß sie fremde Menschen sind, aus einer Zeit, die erst kommen wird und die ich nicht mehr erleben werde. Sie sind noch ganz jung, meine Kinder! Das eine ist acht, das andere zehn, und sie haben runde, rosige Gesichter im Schlaf. Dennoch ist sehr viel Grausames in diesen Gesichtern, wenn sie schlafen. Manchmal scheint es mir, daß es schon die Grausamkeit ihrer Zeit ist, der Zukunft, die im Schlaf über die Kinder kommt. Ich möchte nicht diese Zeit erleben!«
»Ja, ja!« sagte der Bezirkshauptmann.
Sie spielten noch eine Partie, aber diesmal verlor Herr von Trotta. »Ich werde kein Meister!« sagte er milde und gleichsam ausgesöhnt mit seinen Mängeln. Es war auch heute spät geworden, die grünlichen Gaslampen, die Stimmen der Stille, surrten schon, und das Kaffeehaus war leer. Sie gingen wieder durch den Park nach Hause. Heute war der Abend heiter, und heitere Spaziergänger begegneten ihnen. Sie sprachen über die häufigen Regen dieses Sommers und von der Trockenheit des vergangenen und der vorauszusehenden Strenge des kommenden Winters. Skowronnek ging bis zur Tür der Bezirkshauptmannschaft. »Sie haben recht getan mit Ihrem Brief, Herr Bezirkshauptmann!« sagte er.
»Ja, ja!« bestätigte Herr von Trotta.
Er ging an den Tisch und aß hastig sein halbes Huhn mit Salat, ohne ein Wort. Die Haushälterin warf ihm verstohlene, ängstliche Blicke zu. Sie bediente selbst, seitdem Jacques tot war. Sie verließ das Zimmer noch vor dem Bezirkshauptmann, mit einem mißlungenen Knicks, wie sie ihn vor dreißig Jahren als kleines Mädchen vor ihrem Schuldirektor ausgeführt hatte. Der Bezirkshauptmann winkte ihr nach mit einer Handbewegung, mit der man Fliegen verscheucht. Dann erhob er sich und ging schlafen. Er fühlte sich müde und fast krank, die vergangene Nacht lag als ein ferner Traum in seiner Erinnerung, aber als ein ganz naher Schrecken noch in seinen Gliedern.
Er schlief ruhig ein, er glaubte, das Schwerste hätte er überstanden. Er wußte nicht, der alte Herr von Trotta, daß ihm das Schicksal bitteren Kummer spann, dieweil er schlief. Alt war er und müde, und der Tod wartete schon auf ihn, aber das Leben ließ ihn noch nicht frei. Wie ein grausamer Gastgeber hielt es ihn am Tische fest, weil er noch nicht alles Bittere gekostet hatte, das für ihn bereitet war.