Joseph Roth
Radetzkymarsch
Joseph Roth

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IV

Er ging den gewohnten Weg, unter den offenen Bahnschranken durch, am schlafenden, gelben Finanzamt vorbei. Von hier aus sah man bereits das einsame Gendarmeriekommando. Er ging weiter. Zehn Minuten hinter dem Gendarmeriekommando lag der kleine Friedhof mit dem hölzernen Gitter. Dichter schien der Schleier des Regens über die Toten zu fließen. Der Leutnant berührte die nasse, eiserne Klinke, er trat ein. Verloren flötete ein unbekannter Vogel, wo mochte er sich wohl verbergen, sang er nicht aus einem Grab? Er klinkte die Tür des Wächters auf, eine alte Frau, mit Brille auf der Nase, schälte Kartoffeln. Sie ließ die Schalen wie die Früchte aus dem Schoß in den Eimer fallen und stand auf. »Ich möchte das Grab der Frau Slama!« »Vorletzte Reihe, vierzehn, Grab sieben!« sagte die Frau prompt und als hätte sie längst auf diese Frage gewartet.

Das Grab war noch frisch, ein winziger Hügel, ein kleines, vorläufiges Holzkreuz und ein verregneter Kranz aus gläsernen Veilchen, die an Konditoreien und Bonbons erinnerten. »Katharina Luise Slama, geboren, gestorben.« Unten lag sie, die fetten, geringelten Würmer begannen soeben, behaglich an den runden, weißen Brüsten zu nagen. Der Leutnant schloß die Augen und nahm die Mütze ab. Der Regen streichelte mit nasser Zärtlichkeit seine gescheitelten Haare. Er achtete nicht auf das Grab, der zerfallende Körper unter diesem Hügel hatte nichts mit Frau Slama zu tun; tot war sie, tot, das hieß: unerreichbar, stand man auch an ihrem Grab. Näher war ihm der Körper, der in seiner Erinnerung begraben lag, als der Leichnam unter diesem Hügel. Carl Joseph setzte die Mütze auf und zog die Uhr. Noch eine halbe Stunde. Er verließ den Friedhof.

Er gelangte zum Gendarmeriekommando, drückte die Klingel, niemand kam. Der Wachtmeister war noch nicht zu Hause. Der Regen rauschte auf das dichte, wilde Weinlaub, das die Veranda umhüllte. Carl Joseph ging auf und ab, auf und ab, zündete sich eine Zigarette an, warf sie wieder weg, fühlte, daß er einer Schildwache glich, wendete, sooft sein Blick jenes rechte Fenster traf, aus dem Katharina immer geblickt hatte, den Kopf, zog die Uhr, drückte noch einmal den weißen Knopf der Klingel, wartete.

Verhüllte vier Schläge kamen langsam vom Kirchturm der Stadt. Da tauchte der Wachtmeister auf. Er salutierte mechanisch, bevor er noch sah, wen er vor sich hatte. Als gälte es, nicht dem Gruß, sondern einer Bedrohung des Gendarmen entgegenzukommen, rief Carl Joseph lauter, als er beabsichtigt hatte: »Grüß Gott, Herr Slama!« Er streckte die Hand aus, stürzte sich gleichsam in die Begrüßung wie in eine Schanze, erwartete mit der Ungeduld, mit der man einem Angriff entgegensieht, die schwerfälligen Vorbereitungen des Wachtmeisters, die Anstrengung, mit der er den nassen Zwirnhandschuh abstreifte und seine beflissene Hingabe an dieses Unterfangen und seinen gesenkten Blick. Endlich legte sich die entblößte Hand feucht, breit und ohne Druck in die des Leutnants. »Danke für den Besuch, Herr Baron!« sagte der Wachtmeister, als wäre der Leutnant nicht eben gekommen, sondern im Begriff zu gehn. Der Wachtmeister holte den Schlüssel hervor. Er sperrte die Tür auf. Ein Windstoß peitschte den prasselnden Regen gegen die Veranda. Es war, als triebe er den Leutnant ins Haus. Dämmrig war der Flur. Leuchtete nicht ein schmaler Streifen auf, schmal, silbern, irdische Spur der Toten? – Der Wachtmeister machte die Küchentür auf, die Spur ertrank im einströmenden Licht. »Bitte abzulegen!« sagte Slama. Er steht selbst noch im Mantel und gegürtet. Herzliches Beileid! denkt der Leutnant. Ich sage es jetzt schnell und gehe dann wieder. Schon breitet Slama die Arme aus, um Carl Joseph den Mantel abzunehmen. Carl Joseph ergibt sich in die Höflichkeit, die Hand Slamas streift einen Augenblick den Nacken des Leutnants, den Haaransatz über dem Kragen, just an jener Stelle, an der sich die Hände der Frau Slama zu verschränken pflegten, zarte Riegel der geliebten Fessel. Wann genau, zu welchem Zeitpunkt, wird man endlich die Kondolenzformel abstoßen können? Wenn wir in den Salon treten oder erst, wenn wir uns gesetzt haben? Muß man sich dann wieder erheben? Es ist, als ob man nicht den geringsten Laut hervorbringen könnte, bevor nicht jenes dumme Wort gesagt ist, ein Ding, das man auf den Weg mitgenommen und die ganze Zeit im Mund getragen hat. Es liegt auf der Zunge, lästig und unnütz, von schalem Geschmack. Der Wachtmeister drückt die Klinke nieder, die Salontür ist verschlossen. Er sagt: »Pardon!«, obwohl er nichts dafür kann. Er greift wieder nach der Tasche im Mantel, den er bereits abgelegt hat – es scheint schon sehr lange her – und klirrt mit dem Schlüsselbund. Niemals war diese Tür verschlossen gewesen, zu Lebzeiten der Frau Slama. Sie ist also nicht da! denkt der Leutnant auf einmal, als wäre er nicht hergekommen, weil sie eben nicht mehr da ist, und merkt, daß er die ganze Zeit noch die verborgene Vorstellung gehegt hat, sie könnte dasein, in einem Zimmer sitzen und warten. Nun ist sie bestimmt nicht mehr da. Sie liegt in der Tat draußen unter dem Grab, das er eben gesehn hat.

Ein feuchter Geruch liegt im Salon, von den zwei Fenstern ist eines verhangen, durch das andere schwimmt das graue Licht des trüben Tages. »Bitte einzutreten!« wiederholt der Wachtmeister. Er steht hart hinter dem Leutnant. »Danke!« sagt Carl Joseph. Und er tritt ein und geht an den runden Tisch, er kennt genau das Muster der gerippten Decke, die ihn verhüllt, und den zackigen, kleinen Fleck in der Mitte, die braune Politur und die Schnörkel der gerillten Füße. Hier steht die Kredenz mit den Glasfenstern, Pokale aus Neusilber dahinter und kleine Puppen aus Porzellan und ein Schwein aus gelbem Ton mit einem Spalt für Sparmünzen im Rücken. »Erweisen mir die Ehre, Platz zu nehmen!« murmelt der Wachtmeister. Er steht hinter der Lehne eines Sessels, umfaßt sie mit den Händen, er hält sie vor sich wie einen Schild. Vor mehr als vier Jahren hat ihn Carl Joseph zuletzt gesehn. Damals war er im Dienst. Er trug einen schillernden Federbusch am schwarzen Hut, Riemen überkreuzten seine Brust, das Gewehr hielt er bei Fuß, er wartete vor der Kanzlei des Bezirkshauptmanns. Er war der Wachtmeister Slama, der Name war wie der Rang, der Federbusch gehörte wie der blonde Schnurrbart zu seiner Physiognomie. Jetzt steht der Wachtmeister barhäuptig da, ohne Säbel, Riemen und Gurt, man sieht den fettigen Glanz des gerippten Uniformstoffs auf der leichten Wölbung des Bauchs über der Lehne, und es ist nicht mehr der Wachtmeister Slama von damals, sondern der Herr Slama, ein Wachtmeister der Gendarmerie im Dienst, früher Mann der Frau Slama, jetzt Witwer und Herr dieses Hauses. Die kurzgeschnittenen, blonden Härchen liegen, in der Mitte gescheitelt, wie ein zweiflügeliges Bürstchen über der faltenlosen Stirn mit dem waagerechten, rötlichen Streifen, den der dauernde Druck der harten Mütze hinterlassen hat. Verwaist ist dieser Kopf ohne Mütze und Helm. Das Angesicht ohne den Schatten des Schirmrandes ein regelmäßiges Oval, ausgefüllt von Wangen, Nase, Bart und kleinen, blauen, verstockten, treuherzigen Augen. Er wartet, bis Carl Joseph sich gesetzt hat, rückt dann den Sessel, setzt sich ebenfalls und zieht seine Tabatiere. Sie hat einen Deckel aus buntbemaltem Email. Der Wachtmeister legt sie in die Mitte des Tisches, zwischen sich und den Leutnant und sagt: »Eine Zigarette gefällig?« – Es ist Zeit zu kondolieren, denkt Carl Joseph, erhebt sich und sagt: »Herzliches Beileid, Herr Slama!« Der Wachtmeister sitzt, beide Hände vor sich an der Tischkante, scheint nicht sofort zu erkennen, worum es sich handelt, versucht zu lächeln, erhebt sich zu spät in dem Augenblick, in dem Carl Joseph sich wieder setzen will, nimmt die Hände vom Tisch und führt sie an die Hose, neigt den Kopf, erhebt ihn wieder, sieht Carl Joseph an, als wolle er fragen, was zu tun sei. – Sie setzen sich wieder. – Es ist vorbei. Sie schweigen. »Sie war eine brave Frau, die selige Frau Slama!« sagt der Leutnant.

Der Wachtmeister führt die Hand an den Schnurrbart und sagt, ein dünnes Bartende zwischen den Fingern: »Sie ist schön gewesen, Herr Baron haben sie ja gekannt.« »Ich hab' sie gekannt, Ihre Frau Gemahlin. Ist sie leicht gestorben?« »Zwei Tage hat's gedauert. Wir haben den Doktor zu spät geholt. Sie wär' sonst am Leben geblieben. Ich hab' Dienst gehabt in der Nacht. Wie ich heimkomm', ist sie tot. Vom Finanzer die Frau drüben ist bei ihr gewesen.« Und gleich darauf: »Vielleicht ein Himbeerwasser gefällig?«

»Bitte, bitte!« sagt Carl Joseph, mit einer helleren Stimme, als könnte das Himbeerwasser eine ganz veränderte Lage schaffen, und er sieht den Wachtmeister aufstehn und zur Kommode gehn, und er weiß, daß es dort kein Himbeerwasser gibt. Es steht in der Küche im weißen Schrank, hinter Glas, dort hat es Frau Slama immer geholt. Er verfolgt aufmerksam alle Bewegungen des Wachtmeisters, die kurzen, starken Arme in den engen Ärmeln, die sich recken, um auf der höchsten Etagere nach der Flasche zu fassen, und die sich dann hilflos senken, während die gestreckten Füße wieder auf ihre Sohlen zurückfallen und Slama, gleichsam heimgekehrt aus einem fremden Gebiet, in das er eine überflüssige und leider erfolglose Entdeckungsfahrt unternommen hat, sich wieder umwendet und mit rührender Hoffnungslosigkeit in den blitzblauen Augen die schlichte Mitteilung macht: »Bitte um Entschuldigung, ich find's leider nicht!«

»Das macht nichts, Herr Slama!« tröstet der Leutnant. Der Wachtmeister aber, als hätte er diesen Trost nicht gehört oder als hätte er einem Befehl zu gehorchen, der, von höherer Stelle ausdrücklich erteilt, keine Milderung mehr durch ein Eingreifen Niederer erfahren könne, verläßt das Zimmer. Man hört ihn in der Küche hantieren, er kommt zurück, die Flasche in der Hand, holt Gläser mit matten Randornamenten aus der Kredenz und stellt eine Karaffe Wasser auf den Tisch und gießt aus der dunkelgrünen Flasche die zähe, rubinrote Flüssigkeit ein und wiederholt noch einmal: »Erweisen mir die Ehre, Herr Baron!« Der Leutnant gießt Wasser aus der Karaffe in den Himbeersaft, man schweigt, es rinnt mit starkem Strahl aus dem geschwungenen Mund der Karaffe, plätschert ein wenig und ist wie eine kleine Antwort auf das unermüdliche Fließen des Regens draußen, den man die ganze Zeit über hört. Er hüllt, man weiß es, das einsame Haus ein und scheint die beiden Männer noch einsamer zu machen. Allein sind sie. Carl Joseph hebt das Glas, der Wachtmeister tut das gleiche, der Leutnant schmeckt die süße, klebrige Flüssigkeit. Slama trinkt das Glas mit einem Zug leer, Durst hat er, merkwürdigen, unerklärlichen Durst an diesem kühlen Tag. »Rücken jetzt zu den X-ten Ulanen ein?« fragt Slama. »Ja, ich kenne das Regiment noch nicht.« »Ich habe einen bekannten Wachtmeister dort, Rechnungsunteroffizier Zenower. Er hat mit mir bei den Jägern gedient, hat sich dann transferieren lassen. Ein nobles Haus, sehr gebildet. Er wird die Offiziersprüfung sicher machen. Unsereins bleibt, wo er gewesen ist. Bei der Gendarmerie sind keine Aussichten mehr.« – Der Regen ist stärker geworden, die Windstöße heftiger, es prasselt immer wieder an die Fenster. – Carl Joseph sagt: »Es ist überhaupt schwer, in unserm Beruf, beim Militär mein' ich!« Der Wachtmeister bricht in ein unverständliches Lachen aus, es scheint ihn außerordentlich zu freuen, daß es schwer ist in dem Beruf, den er und der Leutnant ausüben. Er lacht ein wenig stärker, als er möchte. Man sieht es an seinem Mund, der weiter geöffnet ist, als das Lachen erfordert, und der länger offenbleibt, als es dauert. Also ist es einen Augenblick so, als könnte sich der Wachtmeister aus körperlichen Gründen allein schon schwer entschließen, zu seinem alltäglichen Ernst zurückzufinden. Freut es ihn wirklich, daß er und Carl Joseph es so schwer im Leben haben? »Herr Baron belieben«, beginnt er, »von ›unserm‹ Beruf zu sprechen. Bitte, es mir nicht übel zu nehmen, bei unsereinem ist es doch etwas anders.« Carl Joseph weiß nichts darauf zu erwidern. Er fühlt (auf eine unbestimmte Weise), daß der Wachtmeister eine Gehässigkeit gegen ihn hegt, vielleicht gegen die Zustände in Armee und Gendarmerie überhaupt. Man hat in der Kadettenschule nie etwas darüber gelernt, wie sich ein Offizier in einer ähnlichen Lage zu benehmen hat. Auf jeden Fall lächelt Carl Joseph, ein Lächeln, das wie eine eiserne Klammer seine Lippen herabzieht und zusammenpreßt; es sieht aus, als geize er mit dem Ausdruck des Vergnügens, den der Wachtmeister so unbedenklich verschwendet. Das Himbeerwasser, auf der Zunge soeben noch süß, schickt aus der Kehle einen bittern, schalen Geschmack zurück, man möchte einen Cognac darauf trinken. Niedriger und kleiner als sonst erscheint heute der rötliche Salon, vielleicht vom Regen zusammengepreßt. Auf dem Tisch liegt das wohlbekannte Album mit den steifen, glänzenden Messingohren. Alle Bilder sind Carl Joseph bekannt. Wachtmeister Slama sagt: »Gestatten gefälligst?« und schlägt das Album auf und hält es vor den Leutnant hin. In Zivil ist er hier photographiert, an der Seite seiner Frau, als junger Ehemann. »Damals war ich noch Zugführer!« sagt er etwas bitter, als hätte er sagen mögen, daß ihm dazumal bereits eine höhere Charge gebührt hätte. Frau Slama sitzt neben ihm in einem engen, hellen Sommerkleid mit Wespentaille wie in einem duftigen Panzer, einen breiten, weißen Tellerhut schief auf dem Haar. Was ist das? Hat Carl Joseph noch niemals das Bild gesehn? Warum scheint es ihm denn heute so neu? Und so alt? Und so fremd? Und so lächerlich? Ja, er lächelt, als betrachte er ein komisches Bild aus längst vergangenen Zeiten und als wäre Frau Slama ihm niemals nahe und teuer gewesen und als wäre sie nicht erst vor ein paar Monaten, sondern schon vor Jahren gestorben. »Sie war sehr hübsch! Man sieht's!« sagt er, nicht mehr aus Verlegenheit, wie früher, sondern aus ehrlicher Heuchelei. Man sagt etwas Nettes von einer Toten, im Angesicht des Witwers, dem man kondoliert.

Er fühlt sich sofort befreit und von der Toten geschieden, als wäre alles, alles ausgelöscht. Einbildung war alles gewesen! Das Himbeerwasser trinkt er aus, steht auf und sagt: »Ich werde also gehn, Herr Slama!« Er wartet auch nicht, er macht kehrt, der Wachtmeister hat kaum Zeit gehabt, aufzustehn, schon stehn sie wieder im Flur, schon hat Carl Joseph den Mantel an, streift mit Wohlbehagen den linken Handschuh langsam über, dazu hat er plötzlich mehr Zeit, und wie er »Na, auf Wiedersehn, Herr Slama!« sagt, vernimmt er selbst mit Befriedigung einen fremden, hochmütigen Klang in seiner Stimme. Slama steht da, mit gesenkten Augen und mit ratlosen Händen, die auf einmal leer geworden sind, als hätten sie bis zu diesem Augenblick etwas gehalten und soeben fallen gelassen und für immer verloren. Sie reichen einander die Hände. Hat Slama noch etwas zu sagen? – Egal! – »Vielleicht ein anderes Mal wieder, Herr Leutnant!« sagt er dennoch. Ja, er wird es wohl nicht ernstlich glauben, Carl Joseph hat das Angesicht Slamas schon vergessen. Er sieht nur die goldgelben Kanten am Kragen und die drei goldenen Zacken am schwarzen Ärmel der Gendarmeriebluse. »Leben Sie wohl, Wachtmeister!«

Es regnet noch immer milde, unermüdlich, mit einzelnen föhnigen Windstößen. Es ist, als hätte es schon längst Abend sein müssen, und es könnte immer noch nicht Abend werden. Ewig dieses schraffierte, nasse Grau. Zum erstenmal, seitdem er Uniform trägt, ja, zum erstenmal, seitdem er denken kann, hat Carl Joseph das Gefühl, daß man den Kragen des Mantels hochschlagen müßte. Und er hebt sogar für einen Augenblick die Hände und erinnert sich, daß er Uniform trägt, und läßt sie wieder fallen. Es ist, als hätte er eine Sekunde lang seinen Beruf vergessen. Er geht langsam und klirrend über den nassen, knirschenden Kies des Vorgartens und freut sich seiner Langsamkeit. Er hat's nicht nötig, sich zu beeilen; nichts ist gewesen, ein Traum war alles. Wie spät mag es sein? Die Taschenuhr ist zu tief geborgen unter der Bluse in der kleinen Hosentasche. Schade, den Mantel aufzuknöpfen. Bald wird es ohnehin vom Turm schlagen.

Er öffnet das Gartengitter, er tritt auf die Straße. »Herr Baron!« sagt plötzlich hinter ihm der Wachtmeister. Rätselhaft, wie unhörbar er gefolgt ist. Ja, Carl Joseph erschrickt. Er bleibt stehn, kann sich aber nicht entschließen, sich sogleich umzuwenden. Vielleicht ruht der Lauf einer Pistole genau in der Mulde, zwischen den vorschriftsmäßigen Rückenfalten des Mantels. Grauenhafter und kindischer Einfall! Fängt alles aufs neue an? »Ja!« sagt er, immer noch mit hochmütiger Lässigkeit, die wie eine mühselige Fortsetzung seines Abschieds ist und ihn sehr anstrengt – und macht kehrt. Ohne Mantel und barhäuptig steht der Wachtmeister im Regen, mit dem nassen, zweiflügeligen Bürstchen und dicken Wasserperlen an der blonden, glatten Stirn. Er hält ein blaues Päckchen, kreuzweis mit silbernem Bindfaden verschnürt. »Das ist für Sie, Herr Baron!« sagt er, die Augen niedergeschlagen. »Bitte um Entschuldigung! Der Herr Bezirkshauptmann hat's angeordnet. Ich hab's damals gleich hingebracht. Der Herr Bezirkshauptmann hat's schnell überflogen und gesagt, ich soll's persönlich übergeben!«

Es ist einen Augenblick still, nur der Regen prasselt auf das arme, blaßblaue Päckchen, färbt es ganz dunkel, es kann nicht länger warten, das Päckchen. Carl Joseph nimmt es, versenkt es in die Manteltasche, wird rot, denkt einen Moment daran, den Handschuh von der Rechten abzustreifen, besinnt sich, streckt die Hand im Leder dem Wachtmeister hin, sagt »Herzlichen Dank!« und geht schnell.

Er fühlt das Päckchen wohl in der Tasche. Von dort her, durch die Hand, den Arm entlang, quillt eine unbekannte Hitze auf und rötet noch stärker sein Angesicht. Er fühlt jetzt, daß man den Kragen aufmachen müßte, wie er früher geglaubt hat, ihn hochschlagen zu müssen. Der bittere Nachgeschmack des Himbeerwassers ist wieder im Mund. Carl Joseph zieht das Päckchen aus der Tasche. Ja, es ist kein Zweifel. Das sind seine Briefe.

Es müßte jetzt endlich Abend werden und der Regen aufhören. Es müßte sich manches in der Welt verändern, die Abendsonne vielleicht noch einen letzten Strahl hierherschicken. Durch den Regen atmen die Wiesen den wohlbekannten Duft, und der einsame Ruf eines fremden Vogels ertönt, niemals hat man ihn hier gehört, es ist wie eine fremde Gegend. Man hört fünf Uhr schlagen, es ist also genau eine Stunde her – nicht mehr als eine Stunde. Soll man schnell gehn oder langsam? Die Zeit hat einen fremden, rätselhaften Gang, eine Stunde ist wie ein Jahr. Es schlägt fünf ein Viertel. Man hat kaum ein paar Schritte zurückgelegt. Carl Joseph beginnt, schneller auszuschreiten. Er geht über die Geleise, hier beginnen die ersten Häuser der Stadt. Man geht an dem Café des Städtchens vorbei, es ist das einzige Lokal mit einer modernen Drehtür im Ort. Es ist vielleicht gut, einzutreten, einen Cognac zu trinken, im Stehn, und wieder wegzugehn. Carl Joseph tritt ein.

»Schnell, einen Cognac«, sagt er am Büfett. Er bleibt in Mütze und Mantel, ein paar Gäste stehen auf. Man hört das Klappern der Billardkugeln und der Schachfiguren. Offiziere der Garnison sitzen im Schatten der Nischen, Carl Joseph sieht sie nicht und grüßt sie nicht. Nichts ist dringender als Cognac. Er ist blaß, die fahlblonde Kassiererin lächelt mütterlich von ihrem erhabenen Platz und legt mit gütiger Hand ein Stück Würfelzucker neben die Tasse. Carl Joseph trinkt auf einen Zug. Er bestellt sofort das nächste. Er sieht vom Angesicht der Kassiererin nur einen hellblonden Schimmer und die zwei Goldplomben in den Mundwinkeln. Es ist ihm, als täte er etwas Verbotenes, und er weiß nicht, warum es verboten sein sollte, zwei Cognacs zu trinken. Er ist schließlich nicht mehr Kadettenschüler. Warum sieht ihn die Kassiererin so merkwürdig lächelnd an? Ihr marineblauer Blick ist ihm peinlich, und das gekohlte Schwarz der Augenbrauen. Er wendet sich um und sieht in den Saal. Dort in der Ecke neben dem Fenster sitzt sein Vater.

Ja, es ist der Bezirkshauptmann – und was ist daran weiter verwunderlich? Jeden Tag sitzt er da, zwischen fünf und sieben, liest das »Fremdenblatt« und die Amtszeitung und raucht eine Virginier. Die ganze Stadt weiß es, seit drei Jahrzehnten. Der Bezirkshauptmann sitzt da, er betrachtet seinen Sohn und scheint zu lächeln. Carl Joseph nimmt die Mütze ab und geht auf den Vater zu. Der alte Herr von Trotta blickt kurz von seiner Zeitung auf, ohne sie abzulegen, und sagt: »Kommst von Slama?« »Jawohl, Papa!« »Er hat dir deine Briefe gegeben?« »Jawohl, Papa!« »Setz dich, bitte!« »Jawohl, Papa!«

Der Bezirkshauptmann legt endlich die Zeitung aus der Hand, stützt die Ellenbogen auf den Tisch, wendet sich dem Sohn zu und sagt: »Sie hat dir einen billigen Cognac gegeben. Ich trinke immer Hennessy.« »Werd's mir merken, Papa!« »Trinke übrigens selten.« »Jawohl, Papa!« »Bist noch etwas blaß. Leg ab! Der Major Kreidl ist drüben, sieht herüber!« Carl Joseph erhebt sich und grüßt mit einer Verbeugung den Major. »War er unangenehm, der Slama?« »Nein, recht netter Kerl!« »Na also!« Carl Joseph legt den Mantel ab. »Wo hast denn die Briefe?« fragt der Bezirkshauptmann. Der Sohn holt das Päckchen aus der Manteltasche. Der alte Herr von Trotta faßt es an. Er wiegt es in der Rechten, legt es wieder hin und sagt: »Recht viele Briefe!« »Jawohl, Papa!«

Es ist still, man hört das Klappern der Billardkugeln und der Schachfiguren, und draußen rinnt der Regen. »Übermorgen rückst du ein!« sagt der Bezirkshauptmann mit einem Blick zum Fenster. Auf einmal fühlt Carl Joseph die dürre Hand des Vaters über seiner Rechten. Die Hand des Bezirkshauptmanns liegt über der des Leutnants, kühl und knöchern, eine harte Schale. Carl Joseph senkt die Augen auf die Tischplatte. Er wird rot. Er sagt: »Jawohl, Papa!«

»Zahlen!« ruft der Bezirkshauptmann und entfernt seine Hand. »Sagen Sie dem Fräulein«, bemerkt er zum Kellner, »daß wir nur Hennessy trinken!«

In einer schnurgeraden Diagonale gehn sie durch das Lokal zur Tür, der Vater und hinter ihm der Sohn.

Es tropft nur noch sacht und singend von den Bäumen, während sie langsam durch den feuchten Garten nach Hause gehn. Aus dem Tor der Bezirkshauptmannschaft tritt der Wachtmeister Slama im Helm, mit Gewehr und aufgepflanztem Bajonett und Dienstbuch unter dem Arm. »Grüß Gott, lieber Slama!« sagt der alte Herr von Trotta.

»Nichts Neues, was?«

»Nichts Neues!« wiederholt der Wachtmeister.


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