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Jede Woche, wenn er Stationsdienst hatte, schrieb Leutnant Trotta seine gleichtönigen Berichte an den Bezirkshauptmann. Die Kaserne hatte keine elektrische Beleuchtung. In den Wachstuben brannte man die alten, reglementmäßigen Dienstkerzen, wie zur Zeit des alten Helden von Solferino. Jetzt waren es »Apollokerzen« aus schneeweißem und weniger sprödem Stearin, mit gutgeflochtenem Docht und steter Flamme. Die Briefe des Leutnants verrieten nichts von seiner veränderten Lebensweise und von den ungewöhnlichen Verhältnissen der Grenze. Der Bezirkshauptmann vermied jede Frage. Seine Antworten, die er regelmäßig jeden vierten Sonntag an den Sohn abschickte, waren ebenso gleichförmig wie die Briefe des Leutnants. Jeden Morgen brachte der alte Jacques die Post in das Zimmer, in dem der Bezirkshauptmann seit vielen Jahren sein Frühstück einzunehmen pflegte. Es war ein etwas entlegenes, tagsüber nicht benutztes Zimmer. Das Fenster, dem Osten zugewandt, ließ bereitwillig alle Morgen, die klaren, die trüben, die warmen, die kühlen und die regnerischen, ein; es war Sommer und Winter während des Frühstücks geöffnet. Im Winter hielt der Bezirkshauptmann die Beine in einen warmen Schal gewickelt, der Tisch war nahe an den breiten Ofen gerückt, und im Ofen prasselte das Feuer, das der alte Jacques eine halbe Stunde früher angezündet hatte. Jedes Jahr am fünfzehnten April hörte Jacques auf, den Ofen zu heizen. Jedes Jahr am fünfzehnten April nahm der Bezirkshauptmann, ohne Rücksicht auf die Witterung, seine sommerlichen Morgenspaziergänge auf. Der Friseurgehilfe kam, unausgeschlafen und selbst noch unrasiert, um sechs Uhr ins Schlafzimmer Trottas. Sechs Uhr fünfzehn lag das Kinn des Bezirkshauptmanns glatt und gepudert zwischen den leicht angesilberten Fittichen des Backenbarts. Der kahle Schädel war bereits massiert, von ein paar verriebenen Tropfen Kölnischen Wassers leicht gerötet, und alle überflüssigen Härchen, die teils vor den Nasenlöchern, teils aus den Ohrmuscheln wuchsen und gelegentlich auch am Nacken über dem hohen Stehkragen wucherten, waren spurlos entfernt. Dann griff der Bezirkshauptmann zum hellen Spazierstock und zum grauen Halbzylinder und begab sich in den Stadtpark. Er trug eine weiße Weste mit grauen Knöpfen und winzigem Ausschnitt und einen taubengrauen Schlußrock. Die engen Hosen ohne Bügelfalte umspannten mittels dunkelgrauer Stege die schmalen, spitz auslaufenden Zugstiefel, ohne Kappen und Nähte, aus zartestem Chevreau. Noch waren die Straßen leer. Der städtische Sprengwagen, von zwei schwerfälligen braunen Rössern gezogen, kam über das holprige Kopfsteinpflaster dahergerattert. Der Kutscher auf dem hohen Bock senkte, sobald er den Bezirkshauptmann erblickte, die Peitsche, schlang die Zügel um den Griff der Bremse und zog die Mütze so tief, daß sie seine Knie berührte. Es war der einzige Mensch des Städtchens, ja des Bezirks, dem Herr von Trotta mit der Hand heiter, beinahe übermütig zuwinkte. Am Eingang zum Stadtpark salutierte der Gemeindepolizist. Diesem sagte der Bezirkshauptmann ein herzliches »Grüß Gott!«, ohne die Hand zu rühren. Hierauf begab er sich zu der blonden Inhaberin des Sodawasserpavillons. Hier lüftete er ein wenig den Halbzylinder, trank einen Kelch Magenwasser, zog eine Münze aus der Westentasche, ohne die grauen Handschuhe abzulegen, und setzte seinen Spaziergang fort. Bäcker, Schornsteinfeger, Gemüsehändler, Fleischhauer begegneten ihm. Jedermann grüßte. Der Bezirkshauptmann erwiderte, indem er den Zeigefinger sachte an den Hutrand legte. Erst vor dem Apotheker Kronauer, der ebenfalls Morgenspaziergänge liebte und übrigens Gemeinderat war, zog Herr von Trotta den Hut. Manchmal sagte er: »Guten Morgen, Herr Apotheker!«, blieb stehen und fragte: »Wie geht's?« »Ausgezeichnet!« sagte der Apotheker. »Das freut mich!« bemerkte der Bezirkshauptmann, lüftete noch einmal den Hut und setzte seine Wanderung fort.
Er kam nicht vor acht Uhr zurück. Manchmal begegnete er dem Briefträger im Flur oder auf der Treppe. Dann ging er noch für eine Weile in die Kanzlei. Denn er liebte es, die Briefe schon neben dem Tablett beim Frühstück vorzufinden. Es war ihm unmöglich, jemanden während des Frühstücks zu sehn oder gar zu sprechen. Der alte Jacques mochte noch von ungefähr eintreten, an Wintertagen, um im Ofen nachzusehn, an sommerlichen, um das Fenster zu schließen, wenn es zufällig allzu stark regnete. Von Fräulein Hirschwitz konnte keine Rede sein. Vor ein Uhr mittag war ihr Anblick dem Bezirkshauptmann ein Greuel.
Eines Tages, es war Ende Mai, kehrte Herr von Trotta fünf Minuten nach acht von seinem Spaziergang heim. Der Briefträger mußte längst dagewesen sein. Herr von Trotta setzte sich an den Tisch im Frühstückszimmer. Das Ei stand, »kernweich« wie immer, auch heute im silbernen Becher. Golden schimmerte der Honig, die frischen Kaisersemmeln dufteten nach Feuer und Hefe wie alle Tage; die Butter leuchtete gelb, gebettet in ein riesiges, dunkelgrünes Blatt, im goldgeränderten Porzellan dampfte der Kaffee. Nichts fehlte. Wenigstens schien es Herrn von Trotta im ersten Augenblick, daß gar nichts fehlte. Aber gleich darauf erhob er sich, legte die Serviette wieder hin und überprüfte noch einmal den Tisch. Am gewohnten Platz fehlten die Briefe. Es war, soweit sich der Bezirkshauptmann erinnern konnte, kein Tag ohne dienstliche Post vergangen. Herr von Trotta ging zuerst zum offenen Fenster, wie um sich zu überzeugen, daß draußen die Welt noch bestand. Ja, die alten Kastanien im Stadtpark trugen noch ihre dichten, grünen Kronen. In ihnen lärmten unsichtbar die Vögel wie an jedem Morgen. Auch der Milchwagen, der um diese Zeit vor der Bezirkshauptmannschaft zu halten pflegte, stand heute da, unbekümmert, als wäre es ein Tag wie alle anderen. Es hat sich also draußen gar nichts verändert, stellte der Bezirkshauptmann fest. War es möglich, daß keine Post gekommen war? War es möglich, daß Jacques sie vergessen hatte? Herr von Trotta schwang die Tischglocke. Ihr silberner Klang lief hurtig durch das stille Haus. Niemand kam. Der Bezirkshauptmann rührte vorläufig das Frühstück nicht an. Er schwenkte noch einmal das Glöckchen. Endlich klopfte es. Er war erstaunt, erschrocken und beleidigt, als er seine Haushälterin, Fräulein Hirschwitz, eintreten sah.
Sie trug eine Art von Morgenrüstung, in der er sie noch nie gesehen hatte. Eine große Schürze aus dunkelblauem Wachstuch hüllte sie vom Hals bis zu den Füßen ein, und eine weiße Haube saß stramm auf ihrem Kopf und ließ ihre großen Ohren mit den weichen, fleischigen und breiten Läppchen sehn. Also erschien sie Herrn von Trotta außerordentlich scheußlich – er konnte den Geruch von Wachstuch nicht vertragen.
»Höchst fatal!« sagte er, ohne ihren Gruß zu erwidern. »Wo ist Jacques?«
»Jacques ist heute von einer Unpäßlichkeit befallen worden.«
»Befallen?« wiederholte der Bezirkshauptmann, der nicht sofort begriff. »Krank ist er?« fragte er weiter.
»Er hat Fieber!« sagte Fräulein Hirschwitz.
»Danke!« sagte Herr von Trotta und winkte mit der Hand. Er setzte sich an den Tisch. Er trank nur den Kaffee. Das Ei, den Honig, die Butter und die Kaisersemmeln ließ er auf dem Tablett. Er verstand nun zwar, daß Jacques krank geworden war und also nicht imstande, die Briefe zu bringen. Warum aber war Jacques krank geworden? Er war immer ebenso gesund gewesen wie die Post zum Beispiel. Wenn sie plötzlich aufgehört hätte, Briefe zu befördern, so wäre es keineswegs überraschender gewesen. Der Bezirkshauptmann selbst war niemals krank. Wenn man krank wurde, mußte man sterben. Die Krankheit war nichts anderes als ein Versuch der Natur, den Menschen an das Sterben zu gewöhnen. Epidemische Krankheiten – die Cholera hatte man in der Jugendzeit Herrn von Trottas noch gefürchtet – konnte der und jener überwinden. Andern Krankheiten aber, die so einzeln dahergeschlichen kamen, mußte man erliegen; mochten sie noch so verschiedene Namen tragen. Die Ärzte – die der Bezirkshauptmann »Feldscher« nannte – gaben vor, heilen zu können; aber nur, um nicht zu verhungern. Mochte es aber immerhin noch Ausnahmen geben, die nach einer Krankheit weiterlebten, soweit sich Herr von Trotta erinnern konnte, war in seiner näheren und weiteren Umgebung keine derartige Ausnahme zu bemerken.
Er klingelte noch einmal. »Ich möchte die Post«, sagte er zu Fräulein Hirschwitz, »aber schicken Sie sie mit irgend jemandem, bitte! – Was fehlt denn dem Jacques übrigens?«
»Er hat Fieber!« sagte Fräulein Hirschwitz. »Er wird sich erkältet haben!«
»Erkältet?! Im Mai!?«
»Er ist nicht mehr jung!«
»Lassen Sie den Doktor Sribny kommen!«
Dieser Doktor war der Bezirksarzt. Er amtierte in der Bezirkshauptmannschaft von neun bis zwölf. Bald mußte er da sein. Nach Ansicht des Bezirkshauptmanns war er ein »honetter Mann«.
Indessen brachte der Amtsdiener die Post. Der Bezirkshauptmann sah nur die Umschläge an, gab sie zurück und befahl, sie in die Kanzlei zu legen. Er stand am Fenster und konnte sich nicht genug darüber verwundern, daß die Welt draußen noch gar nichts von den Veränderungen in seinem Hause zu wissen schien. Er hatte heute weder gegessen noch die Post gelesen. Jacques lag an einer rätselhaften Krankheit danieder. Und das Leben ging weiter seinen gewohnten Gang.
Sehr langsam, mit mehreren unklaren Gedanken beschäftigt, schritt Herr von Trotta ins Amt, zwanzig Minuten später als sonst setzte er sich an den Schreibtisch. Der erste Bezirkskommissär kam, Bericht zu erstatten. Es hatte gestern wieder eine Versammlung tschechischer Arbeiter gegeben. Ein Sokolfest war angesagt, Delegierte aus »slawischen Staaten« – gemeint waren Serbien und Rußland, aber im dienstlichen Dialekt niemals namentlich erwähnt – sollten morgen schon kommen. Auch die Sozialdemokraten deutscher Zunge machten sich bemerkbar. In der Spinnerei wurde ein Arbeiter von seinen Kameraden geschlagen, angeblich und nach den Spitzelberichten, weil er es ablehnte, in die rote Partei einzutreten. All dies bekümmerte den Bezirkshauptmann, es schmerzte ihn, es kränkte ihn, es verwundete ihn. Alles, was die ungehorsamen Teile der Bevölkerung unternahmen, um den Staat zu schwächen, Seine Majestät den Kaiser mittelbar oder unmittelbar zu beleidigen, das Gesetz ohnmächtiger zu machen, als es ohnehin schon war, die Ruhe zu stören, den Anstand zu verletzen, die Würde zu verhöhnen, tschechische Schulen zu errichten, oppositionelle Abgeordnete durchzusetzen: all das waren gegen ihn selbst, den Bezirkshauptmann, unternommene Handlungen. Zuerst hatte er die Nationen, die Autonomie und das »Volk«, das »mehr Rechte« verlangte, nur geringgeschätzt. Allmählich begann er, sie zu hassen, die Schreiner, die Brandstifter, die Wahlredner. Er schärfte dem Bezirkskommissär ein, jede Versammlung sofort aufzulösen, in der man es sich etwa einfallen ließ, »Resolutionen« zu fassen. Von allen in der letzten Zeit modern gewordenen Worten haßte er dieses am stärksten; vielleicht, weil es nur eines winzigen andern Buchstabens bedurfte, um in das schändlichste aller Worte verwandelt zu werden: in Revolution. Dieses hatte er vollends ausgerottet. In seinem Sprachschatz, auch im dienstlichen, kam es nicht vor; und wenn er in dem Bericht eines seiner Untergebenen etwa die Bezeichnung »revolutionärer Agitator« für einen der aktiven Sozialdemokraten las, so strich er dieses Wort und verbesserte mit roter Tinte: »verdächtiges Individuum«. Vielleicht gab es irgendwo in der Monarchie Revolutionäre: Im Bezirk des Herrn von Trotta kamen sie nicht vor.
»Schicken Sie mir nachmittags den Wachtmeister Slama!« sagte Herr von Trotta zum Kommissär. »Verlangen Sie für diese Sokoln Gendarmerieverstärkung. Schreiben Sie einen kurzen Bericht für die Statthalterei, geben Sie ihn mir morgen. Vielleicht müssen wir uns mit der Militärbehörde in Verbindung setzen. Der Gendarmerieposten hat jedenfalls ab morgen Bereitschaft. Ich möchte gern einen knappen Auszug aus dem letzten Ministerialerlaß betreffend Bereitschaft haben.«
»Jawohl, Herr Bezirkshauptmann!«
»So. Ist der Doktor Sribny schon dagewesen?«
»Er ist gleich zu Jacques gerufen worden.«
»Ich hätte ihn gern gesprochen.«
Der Bezirkshauptmann berührte heute kein Aktenstück mehr. Damals, in den ruhigen Jahren, als er angefangen hatte, sich in der Bezirkshauptmannschaft einzurichten, hatte es noch keine Autonomisten, keine Sozialdemokraten und verhältnismäßig wenig »verdächtige Individuen« gegeben. Es war auch im langsamen Laufe der Jahre kaum zu merken, wie sie wuchsen, sich ausbreiteten und gefährlich wurden. Es war nun dem Bezirkshauptmann, als machte ihn erst die Erkrankung Jacques' mit einemmal auf die grausamen Veränderungen der Welt aufmerksam und als bedrohte der Tod, der jetzt am Bettrand des alten Dieners sitzen mochte, nicht diesen allein. Wenn Jacques stirbt, fiel es dem Bezirkshauptmann ein, so stirbt gewissermaßen der Held von Solferino noch einmal und vielleicht – und hier stockte eine Sekunde das Herz des Herrn von Trotta – derjenige, den der Held von Solferino vor dem Tode bewahrt hatte. Oh! Nicht nur Jacques war heute krank geworden! Uneröffnet lagen noch die Briefe vor dem Bezirkshauptmann auf dem Schreibtisch: Wer weiß, was sie enthalten mochten! Unter den Augen der Behörden und der Gendarmerie versammelten sich die Sokoln im Innern des Reiches. Diese Sokoln, die der Bezirkshauptmann für sich »Sokolisten« nannte, wie um aus ihnen, die eine große Gruppe unter den slawischen Völkern darstellten, eine Art kleinerer Partei zu machen, gaben nur vor, Turner zu sein und die Muskeln zu kräftigen. In Wirklichkeit waren sie Spione oder Rebellen, vom Zaren bezahlt. Im »Fremdenblatt« hatte man gestern noch lesen können, daß die deutschen Studenten in Prag die »Wacht am Rhein« gelegentlich singen, diese Hymne der Preußen, der mit Österreich verbündeten Erbfeinde Österreichs. Auf wen konnte man sich da noch verlassen? Den Bezirkshauptmann fröstelte es. Und zum erstenmal, seitdem er in dieser Kanzlei zu arbeiten angefangen hatte, ging er an einem unleugbar warmen Frühlingstag zum Fenster und schloß es.
Den Bezirksarzt, der in diesem Augenblick eintrat, fragte Herr von Trotta nach dem Befinden des alten Jacques. Doktor Sribny sagte: »Wenn's eine Lungenentzündung wird, hält er's nicht durch. Er ist sehr alt. Er hat jetzt vierzig Fieber. Er hat um den Geistlichen gebeten.« Der Bezirkshauptmann beugte sich über den Tisch. Er fürchtete, Doktor Sribny könnte irgendeine Veränderung in seinem Angesicht wahrnehmen, und er fühlte, daß sich in der Tat irgend etwas in seinem Angesicht zu verändern begann. Er zog die Schublade auf, holte die Zigarren hervor und bot sie dem Doktor an. Er wies stumm auf den Lehnstuhl. Jetzt rauchten beide. »Sie haben also wenig Hoffnung?« fragte Herr von Trotta endlich. »Eigentlich sehr wenig, um die Wahrheit zu sagen!« erwiderte der Doktor. »In diesem Alter –« Er vollendete den Satz nicht und sah den Bezirkshauptmann an, als wollte er erkennen, ob der Herr um vieles jünger sei als der Diener. »Er ist nie krank gewesen!« sagte der Bezirkshauptmann, als wäre das eine Art Milderungsgrund und der Doktor eine Instanz, von der das Leben abhing. »Ja, ja«, sagte der Doktor nur. »Das kommt vor. Wie alt mag er sein?« Der Bezirkshauptmann dachte nach und sagte: »An die achtundsiebzig bis achtzig.« »Ja«, sagte Doktor Sribny, »so hab' ich ihn auch geschätzt. Das heißt: erst heute. Solang einer herumläuft, denkt man, er wird ewig leben!«
Hierauf erhob sich der Bezirksarzt und ging an seine Arbeit. Herr von Trotta schrieb auf einen Zettel: »Ich bin in der Wohnung Jacques'«, legte das Papier unter einen Briefbeschwerer und ging in den Hof.
Er war noch niemals in Jacques' Wohnung gewesen. Sie lag, ein winziges Häuschen mit einem allzu großen Schornstein auf dem Dächlein, an die rückwärtige Hofmauer angebaut. Sie hatte drei Wände aus gelblichen Ziegeln und eine braune Tür in der Mitte. Man betrat zuerst die Küche und dann durch eine Glastür die Wohnstube. Jacques' zahmer Kanarienvogel stand auf dem Kuppelknauf seines Käfigs, neben dem Fenster mit der etwas kurzen, weißen Gardine, hinter der die Scheibe ausgewachsen erschien. Der glattgehobelte Tisch war an die Wand gerückt. Über ihm hing eine blaue Petroleumlampe, mit rundem Spiegel und Lichtverstärker. Die Heilige Mutter Gottes stand in einem großen Rahmen auf dem Tisch, gegen die Mauer gelehnt, wie etwa Porträts von Verwandten aufgestellt werden. Im Bett, mit dem Kopf gegen die Fensterwand, unter einem weißen Berg von Tüchern und Kissen, lag Jacques. Er glaubte, der Priester sei gekommen, und seufzte tief und befreit, als käme schon zu ihm die Gnade. »Ach, Herr Baron!« sagte er dann. Der Bezirkshauptmann trat nahe an den Alten. In einem ähnlichen Zimmer, in den Ubikationen der Laxenburger Invaliden, war der Großvater des Bezirkshauptmanns aufgebahrt gelegen, der Wachtmeister der Gendarmerie. Der Bezirkshauptmann sah noch den gelben Glanz der großen, weißen Kerzen im Halbdämmer des verhängten Zimmers, und die übergroßen Stiefelsohlen der festlich bekleideten Leiche erhoben sich hart vor seinem Angesicht. Kam nun bald an Jacques die Reihe? Der Alte stützte sich auf den Ellenbogen. Er trug eine gestickte Schlafmütze aus dunkelblauer Wolle, zwischen den dichten Maschen schimmerte sein silbernes Kopfhaar. Sein glattrasiertes Angesicht, knochig und vom Fieber gerötet, erinnerte an gefärbtes Elfenbein. Der Bezirkshauptmann setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett und sagte: »Na, das ist ja nicht so schlimm, sagt mir eben der Doktor. Wird ein Katarrh sein!« »Jawohl, Herr Baron!« erwiderte Jacques und machte unter der Decke einen schwachen Versuch, die Fersen zusammenzuschlagen. Er setzte sich aufrecht. »Ich bitte um Entschuldigung!« fügte er hinzu. »Morgen, denk' ich, wird's vorbei sein!« »In einigen Tagen, ganz gewiß!« »Ich warte auf den Geistlichen, Herr Baron!« »Ja, ja«, sagte Herr von Trotta, »er wird schon kommen. Dazu ist noch lange Zeit!« »Er ist schon unterwegs!« erwiderte Jacques in einem Ton, als sähe er den Geistlichen mit eigenen Augen näher kommen. »Er kommt schon«, fuhr er fort, und er schien plötzlich nicht mehr zu wissen, daß der Bezirkshauptmann neben ihm saß. »Wie der selige Herr Baron gestorben ist«, sprach er weiter, »haben wir alle nichts gewußt. Am Morgen, oder war's ein Tag vorher, ist er noch in den Hof gekommen und hat gesagt: ›Jacques, wo sind die Stiefel?‹ Ja, ein Tag vorher ist das gewesen. Und am Morgen hat er sie nicht mehr gebraucht. Der Winter hat dann gleich angefangen, es war ein ganz kalter Winter. Bis zum Winter, glaub' ich, werd' ich auch noch durchhalten. Bis zum Winter ist gar nicht mehr so weit, ein wenig Geduld muß ich halt haben. Jetzt haben wir schon Juli, also Juli, Juni, Mai, April, August, November, und zu Weihnachten, denk' ich, kann's ausgehn, abmarschieren, Kompanie, marsch!« Er hörte auf und sah mit großen, glänzenden, blauen Augen durch den Bezirkshauptmann wie durch Glas.
Herr von Trotta versuchte, den Alten sachte in die Polster zu drücken, aber Jacques' Oberkörper war steif und gab nicht nach. Nur sein Kopf zitterte, und seine dunkelblaue Nachtmütze zitterte ebenfalls unaufhörlich. Auf seiner gelben, hohen und knochigen Stirn glitzerten winzige Schweißperlchen. Der Bezirkshauptmann trocknete sie von Zeit zu Zeit mit seinem Taschentuch, es kamen aber immer wieder neue. Er nahm die Hand des alten Jacques, betrachtete die rötliche, schuppige und spröde Haut auf dem breiten Handrücken und den kräftigen, weit abstehenden Daumen. Dann legte er die Hand wieder sorgfältig auf die Decke, ging in die Kanzlei zurück, befahl dem Amtsdiener, den Geistlichen und eine Barmherzige Schwester zu holen, Fräulein Hirschwitz, inzwischen bei Jacques zu wachen, ließ sich Hut, Stock und Handschuhe reichen und schritt zu dieser ungewohnten Stunde in den Park, zur Überraschung aller, die sich dort befanden.
Es trieb ihn aber bald aus dem tiefen Schatten der Kastanien ins Haus zurück. Als er sich seiner Tür näherte, vernahm er das silberne Geläute des Priesters mit dem Allerheiligsten. Er zog den Hut und neigte den Kopf und verharrte so vor dem Eingang. Manche der Vorübergehenden blieben ebenfalls stehn. Nun verließ der Priester das Haus. Einige warteten, bis der Bezirkshauptmann im Hausflur verschwunden war, folgten ihm neugierig und erfuhren vom Amtsdiener, daß Jacques im Sterben liege. Man kannte ihn im Städtchen. Und man widmete dem Alten, der von dannen schied, ein paar Minuten ehrfürchtigen Schweigens.
Der Bezirkshauptmann durchschritt geradewegs den Hof und trat in das Zimmer des Sterbenden. Bedächtig suchte er in der dunklen Küche nach einem Platz für Hut, Stock und Handschuhe, versorgte schließlich alles in den Fächern der Etagere, zwischen Töpfen und Tellern. Er schickte Fräulein Hirschwitz hinaus und setzte sich ans Bett. Die Sonne stand nun so hoch am Himmel, daß sie den ganzen weiten Hof der Bezirkshauptmannschaft erfüllte und durch das Fenster in Jacques' Stube fiel. Die weiße, kurze Gardine hing jetzt wie ein fröhliches, besonntes Schürzchen vor den Scheiben. Der Kanarienvogel zwitscherte munter und ohne Unterlaß; die nackten, blanken Dielenbretter leuchteten gelblich im Sonnenglanz; ein breiter, silberner Sonnenstreifen lag über dem Fußende des Bettes, der untere Teil der weißen Bettdecke zeigte nunmehr eine stärkere, gleichsam himmlische Weiße, und zusehends kletterte der Sonnenstreifen auch die Wand empor, an der das Bett stand. Von Zeit zu Zeit ging ein sanfter Wind im Hof durch die paar alten Bäume, die dort die Mauern entlang aufgestellt waren und die so alt sein mochten wie Jacques oder noch älter und die ihn jeden Tag in ihrem Schatten beherbergt hatten. Der Wind ging, und ihre Kronen säuselten, und Jacques schien es zu wissen. Denn er erhob sich und sagte: »Bitte, Herr Baron, das Fenster!« Der Bezirkshauptmann klinkte das Fenster auf, und sofort drangen die heiteren, maienhaften Geräusche des Hofes ins kleine Zimmer. Man hörte das Säuseln der Bäume, den sachten Atem des Windchens, das übermütige Summen der funkelnden spanischen Fliegen und das Trillern der Lerchen aus blauen, unendlichen Höhen. Der Kanarienvogel schwang sich hinaus, aber nur, um zu zeigen, daß er noch fliegen könne. Denn er kam nach ein paar Augenblicken wieder, setzte sich aufs Fensterbrett und begann, mit verdoppelter Kraft zu schmettern. Fröhlich war die Welt, drinnen und draußen. Und Jacques beugte sich aus dem Bett, lauschte regungslos, die Schweißperlchen glitzerten auf seiner harten Stirn, und sein schmaler Mund öffnete sich langsam. Zuerst lächelte er nur stumm. Dann kniff er die Augen zu, seine hageren, geröteten Wangen falteten sich an den Backenknochen, jetzt sah er aus wie ein alter Schelm, und ein dünnes Kichern kam aus seiner Kehle. Er lachte. Er lachte ohne Aufhören; die Kissen zitterten leise, und das Bettgestell stöhnte sogar ein wenig. Auch der Bezirkshauptmann schmunzelte. Ja, der Tod kam zum alten Jacques wie ein munteres Mädchen im Frühling, und Jacques öffnete den alten Mund und zeigte ihm die spärlichen, gelben Zähne. Er hob die Hand, wies auf das Fenster und schüttelte, immerfort kichernd, den Kopf. »Schöner Tag heute!« bemerkte der Bezirkshauptmann. »Da kommt er ja, da kommt er ja!« sagte Jacques. »Auf dem Schimmel, ganz weiß angezogen, warum reitet er denn so langsam? Schau, schau, wie langsam der reitet! Grüß Gott! Grüß Gott! Wollen S' nicht näher kommen? Kommen S' nur! Kommen S' nur! Schön ist's heut, was?« Er zog die Hand zurück, richtete den Blick auf den Bezirkshauptmann und sagte: »Wie langsam der reitet! Das kommt, weil er von drüben ist! Er ist schon lange tot und gar nicht mehr gewohnt, hier auf den Steinen herumzureiten! Ja, früher! Weißt noch, wie der ausgeschaut hat? Ich möcht' das Bild sehn. Ob der sich wirklich verändert hat? Bring's her, das Bild, sei so gut, bring's her! Bitte, Herr Baron!«
Der Bezirkshauptmann begriff sofort, daß es sich um das Porträt des Helden von Solferino handelte. Er ging gehorsam hinaus. Er nahm auf der Treppe sogar zwei Stufen auf einmal, trat schnell ins Herrenzimmer, stieg auf einen Stuhl und holte das Bild des Helden von Solferino vom Haken. Es war ein wenig verstaubt; er blies darauf und fuhr mit dem Taschentuch darüber, mit dem er früher die Stirn des Sterbenden getrocknet hatte. Auch jetzt schmunzelte der Bezirkshauptmann unaufhörlich. Er war fröhlich. Er war schon lange nicht mehr fröhlich gewesen. Er ging eilends, das große Bildnis unter dem Arm, durch den Hof. Er trat an Jacques' Bett. Jacques schaute lange auf das Porträt, streckte den Zeigefinger aus, fuhr im Antlitz des Helden von Solferino herum und sagte endlich: »Halt's in die Sonne!« Der Bezirkshauptmann gehorchte. Er hielt das Porträt in den besonnten Streifen am Bettende, Jacques richtete sich auf und sagte: »Ja, genau so hat er ausg'schaut!« und legte sich wieder in die Kissen.
Der Bezirkshauptmann stellte das Bild auf den Tisch, neben die Mutter Gottes, und kehrte ans Bett zurück. »Da geht's bald aufwärts!« sagte Jacques lächelnd und zeigte auf den Suffit. »Hast noch lange Zeit!« erwiderte der Bezirkshauptmann. »Nein, nein!« sagte Jacques und lachte sehr hell. »Lang genug hab' ich Zeit gehabt. Jetzt geht's hinauf. Schau mal nach, wie alt ich bin. Ich hab's vergessen.« »Wo soll ich nachsehn?« »Da unten!« sagte Jacques und deutete auf das Bettgestell. Es enthielt eine Schublade. Der Bezirkshauptmann zog sie heraus. Er sah ein sauber verschnürtes Päckchen in braunem Packpapier, daneben eine runde Blechschachtel mit einem bunten, aber verblaßten Bild auf dem Deckel, das eine Schäferin mit weißer Perücke darstellte, und erinnerte sich, daß es eine jener Konfektschachteln war, die in seiner Kindheit unter manchen Weihnachtsbäumen der Kameraden gelegen hatten. »Hier ist das Büchlein!« sagte Jacques. Es war Jacques' Militärbuch. Der Bezirkshauptmann setzte den Zwicker auf und las: »Franz Xaver Joseph Kromichl.« »Ist das dein Büchl?« fragte Herr von Trotta. »Freilich!« sagte Jacques. »Aber du heißt ja Franz Xaver Joseph?« »Werd' schon so heißen!« »Warum hast dich denn Jacques genannt?« »Das hat er so befohlen!« »So«, sagte Herr von Trotta und las das Geburtsjahr. »Dann bist du also zweiundachtzig im August!« »Was ist denn heut?« »Der neunzehnte Mai!« »Wie lang haben wir noch bis August?« »Drei Monate!« »So!« sagte Jacques ganz ruhig und lehnte sich wieder zurück. »Das erleb' ich also nicht mehr!«
»Mach die Schachtel auf!« sagte Jacques, und der Bezirkshauptmann öffnete die Schachtel. »Da liegt der heilige Antonius und der heilige Georg«, sprach Jacques weiter. »Die kannst du behalten. Dann ein Stück Lohwurzel, gegen Fieber. Das gibst deinem Sohn, dem Carl Joseph. Grüß ihn schön von mir! Das kann er brauchen, dort ist's sumpfig. Und jetzt mach's Fenster zu. Ich möcht' schlafen!«
Es war Mittag geworden. Das Bett lag jetzt ganz im hellsten Sonnenschein. An den Fenstern klebten reglos große spanische Fliegen, und der Kanarienvogel zwitscherte nicht mehr, sondern knabberte am Zucker. Zwölf Schläge dröhnten vom Turm des Rathauses, ihr goldenes Echo verhallte im Hof. Jacques atmete still. Der Bezirkshauptmann ging ins Speisezimmer.
»Ich esse nicht!« sagte er zu Fräulein Hirschwitz. Er überblickte das Speisezimmer. Hier, an dieser Stelle, war Jacques immer mit der Platte gestanden, so war er an den Tisch getreten, und so hatte er sie dargereicht. Herr von Trotta konnte heute nicht essen. Er ging in den Hof hinunter, setzte sich auf die Bank an der Wand unter das braune Gebälk des hölzernen Vorsprungs und wartete auf die Barmherzige Schwester. »Er schläft jetzt!« sagte er, als sie kam. Der zarte Wind fächelte von Zeit zu Zeit vorüber. Der Schatten des Gebälks wurde langsam breiter und länger. Die Fliegen summten rings um den Backenbart des Bezirkshauptmanns. Von Zeit zu Zeit schlug er nach ihnen mit der Hand, und seine Manschette schepperte. Zum erstenmal, seitdem er im Dienste seines Kaisers stand, tat er am hellichten Wochentag gar nichts. Er hatte niemals das Bedürfnis gehabt, einen Urlaub zu nehmen. Zum erstenmal erlebte er einen freien Tag. Er dachte fortwährend an den alten Jacques und war dennoch fröhlich. Der alte Jacques starb, aber es war, als feierte er ein großes Ereignis und der Bezirkshauptmann hätte aus diesem Anlaß seinen ersten Ferientag.
Auf einmal hörte er die Barmherzige Schwester aus der Tür treten. Sie erzählte, daß Jacques, anscheinend bei klarer Vernunft und ohne Fieber, aus dem Bett aufgestanden und eben im Begriff sei, sich anzuziehn. In der Tat erblickte der Bezirkshauptmann gleich darauf den Alten am Fenster. Er hatte Pinsel, Seife und Rasiermesser auf das Fensterbrett gelegt, wie er es an gesunden Tagen jeden Morgen zu tun pflegte, und den Handspiegel an der Fensterschnalle aufgehängt, und er war im Begriff, sich zu rasieren. Jacques öffnete das Fenster, und mit seiner gesunden, gewohnten Stimme rief er: »Es geht mir gut, Herr Baron, ich bin ganz gesund, bitte um Entschuldigung, bitte, sich nicht zu inkommodieren!«
»Na, dann ist alles gut! Das freut mich, freut mich außerordentlich. Jetzt wirst du als Franz Xaver Joseph ein neues Leben beginnen!«
»Ich bleib' lieber beim Jacques!«
Herr von Trotta, von solch wunderbarem Ereignis erfreut, aber auch ein wenig ratlos, kehrte auf seine Bank zurück, bat die Barmherzige Schwester, für alle Fälle noch dazubleiben, und fragte sie, ob ihr derlei schnelle Heilungen bei so bejahrten Menschen bekannt seien. Die Schwester, die Blicke auf den Rosenkranz gesenkt und die Antwort mit den Fingern zwischen den Perlen hervorklaubend, erwiderte, daß Gesundung und Erkrankung, schnelle und langsame, in der Hand Gottes lägen; und Sein Wille hätte schon oft sehr schnell aus Sterbenden Lebendige gemacht. Eine wissenschaftlichere Antwort hätte dem Bezirkshauptmann besser gefallen. Und er beschloß, morgen den Bezirksarzt zu fragen. Vorläufig ging er in die Kanzlei, von einer großen Sorge zwar befreit, aber auch erfüllt von einer noch größeren und unerklärlichen Unruhe. Er konnte nicht mehr arbeiten. Dem Wachtmeister Slama, der schon lange auf ihn gewartet hatte, gab er Anweisungen für das Fest der Sokoln, aber ohne Strenge und Nachdruck. Alle Gefahren, von denen der Bezirk W. und die Monarchie bedroht waren, erschienen Herrn von Trotta auf einmal geringer als am Vormittag. Er verabschiedete den Wachtmeister, rief ihn aber gleich darauf zurück und sagte: »Hören Sie Slama, ist Ihnen schon so was zu Ohren gekommen, der alte Jacques sieht heut vormittag aus, als ob er sterben müßt', und jetzt ist er wieder ganz vergnügt!«
Nein, der Wachtmeister Slama hatte noch nie etwas Ähnliches gehört. Und auf die Frage des Bezirkshauptmanns, ob er den Alten sehen wolle, sagte Slama, er sei gewiß dazu bereit. Und beide gingen sie in den Hof.
Da saß nun Jacques auf seinem Schemel, eine Reihe militärisch geordneter Stiefelpaare vor sich, die Bürste in der Hand und in die hölzerne Schachtel mit der Schuhwichse kräftig spuckend. Er wollte sich erheben, als der Bezirkshauptmann vor ihm stand, konnte es aber nicht schnell genug und fühlte auch schon die Hände Herrn von Trottas auf seinen Schultern. Heiter salutierte er mit der Bürste vor dem Wachtmeister. Der Bezirkshauptmann setzte sich auf die Bank, der Wachtmeister lehnte das Gewehr an die Wand und setzte sich ebenfalls, in gehöriger Entfernung; Jacques blieb auf seinem Schemel und putzte die Stiefel, wenn auch sanfter und langsamer als sonst. In seiner Stube saß indessen betend die Barmherzige Schwester.
»Jetzt is mir eingefallen«, sagte Jacques, »daß ich heut Herrn Baron du gesagt hab'! Ich hab' mich plötzlich erinnert!«
»Macht nix, Jacques!« sagte Herr von Trotta. »Das war das Fieber!«
»Ja, da hab' ich halt als Leich' geredet. Und wegen Falschmeldung müssen S' mich einsperren, Herr Wachtmeister. Weil ich nämlich Franz Xaver Joseph heiß'! Aber auf'm Grabstein hätt' ich auch den Jacques gern drauf. Und mein Sparkassenbüchl liegt unterm Militärbüchl, da is was fürs Begräbnis und eine heilige Meß, und da heiß' ich aber wieder Jacques!«
»Kommt Zeit, kommt Rat!« sagte der Bezirkshauptmann. »Wir können warten!«
Der Wachtmeister lachte laut und wischte sich die Stirn.
Jacques hatte alle Stiefel blank geputzt. Ihn fröstelte ein wenig; er ging hinein, kam wieder, in seinen winterlichen Pelz gehüllt, den er auch im Sommer trug, wenn es regnete, und setzte sich auf den Schemel. Der Kanarienvogel folgte ihm, flatternd über seinem silbernen Haupt, suchte eine Weile nach einem Plätzchen, hockte sich auf die Reckstange, auf der ein paar Teppiche hingen, und begann zu schmettern. Sein Gesang weckte Hunderte von Spatzenstimmen in den Kronen der wenigen Bäume, und ein paar Minuten war die Luft erfüllt von einer zwitschernden und pfeifenden lustigen Wirrnis. Jacques hob den Kopf und lauschte nicht ohne Stolz der siegreichen Stimme seines Kanarienvogels, die alle andern übertönte. Der Bezirkshauptmann lächelte. Der Wachtmeister lachte, das Taschentuch vor dem Mund, und Jacques kicherte. Die Schwester selbst hörte mit dem Beten auf und lächelte durch das Fenster. Die goldene Nachmittagssonne lag schon auf dem hölzernen Gebälk und spielte hoch oben in den grünen Kronen. Die Mücken tänzelten abendlich und müd, in zarten, runden Schwärmen, und manchmal surrte schwer ein Maikäfer an den Sitzenden vorüber, geradewegs ins Laub und ins Verderben und wahrscheinlich in die offenen Schnäbel der Spatzen. Der Wind ging stärker. Jetzt schwiegen die Vögel. Tiefblau wurde der Ausschnitt des Himmels und rosa die weißen Wölkchen.
»Jetzt gehst du ins Bett!« sagte Herr von Trotta zu Jacques.
»Ich muß noch das Bild hinauftragen!« murmelte der Alte, ging und holte das Porträt des Helden von Solferino und verschwand im Dunkel der Treppe. Der Wachtmeister sah ihm nach und sagte: »Merkwürdig!«
»Ja, recht merkwürdig!« antwortete Herr von Trotta.
Jacques kam zurück und näherte sich der Bank. Er setzte sich ohne ein Wort und überraschend zwischen den Bezirkshauptmann und den Wachtmeister, öffnete den Mund, atmete tief, und ehe sich noch beide ihm zugewandt hatten, sank sein alter Nacken auf die Lehne, seine Hände fielen auf den Sitz, sein Pelz öffnete sich, seine Beine streckten sich starr, und die aufwärtsgeschweiften Pantoffelspitzen ragten in die Luft. Der Wind fuhr heftig und kurz durch den Hof. Sachte segelten oben die rötlichen Wölkchen dahin. Die Sonne war hinter der Mauer verschwunden. Der Bezirkshauptmann bettete den silbernen Schädel seines Dieners in seine linke Hand und tastete mit der Rechten nach dem Herzen des Ohnmächtigen. Der Wachtmeister stand erschrocken da, seine schwarze Mütze lag am Boden. Die Barmherzige Schwester kam mit breiten, eiligen Schritten. Sie nahm die Hand des Alten, hielt sie eine Weile zwischen den Fingern, legte sie sanft auf den Pelz und machte das Zeichen des Kreuzes. Sie sah den Wachtmeister still an. Er verstand und griff Jacques unter die Arme. Sie faßte seine Beine. So trugen sie ihn in die kleine Stube, legten ihn auf das Bett, falteten ihm die Hände und umwanden sie mit dem Rosenkranz und stellten ihm das Bild der Mutter Gottes zu Häupten. An seinem Bett knieten sie nieder, und der Bezirkshauptmann betete. Er hatte schon lange nicht mehr gebetet. Aus verschütteten Tiefen seiner Kindheit kam ein Gebet zu ihm wieder, ein Gebet für das Seelenheil toter Anverwandter, und dieses flüsterte er. Er erhob sich, warf einen Blick auf die Hose, fegte den Staub von den Knien und schritt hinaus, gefolgt vom Wachtmeister.
»So möcht' ich einmal sterben, lieber Slama!« sagte er statt des gewöhnlichen »Grüß Gott!« und ging ins Herrenzimmer.
Er schrieb die Anordnungen für die Aufbahrung und das Begräbnis seines Dieners auf einen großen Bogen Kanzleipapier, mit allem Bedacht, wie ein Zeremonienmeister, Punkt für Punkt, Abteilungen und Unterabteilungen. Er fuhr am nächsten Morgen, ein Grab zu suchen, auf den Friedhof, kaufte einen Grabstein und gab die Inschrift an: »Hier ruht in Gott Franz Xaver Joseph Kromichl, genannt Jacques, ein alter Diener und ein treuer Freund« und bestellte ein Leichenbegängnis erster Klasse, mit vier Rappen und acht livrierten Begleitern. Er ging drei Tage später zu Fuß hinter dem Sarg, als einziger Leidtragender, in gebührendem Abstand gefolgt vom Wachtmeister Slama und manchen andern, die sich anschlossen, weil sie Jacques gekannt hatten und besonders weil sie Herrn von Trotta zu Fuß sahen. So kam es, daß eine stattliche Anzahl von Leuten den alten Franz Xaver Joseph Kromichl, genannt Jacques, zu Grabe geleitete.
Von nun an erschien dem Bezirkshauptmann sein Haus verändert, leer und nicht mehr heimisch. Er fand die Post nicht mehr neben seinem Frühstückstablett, und er zögerte auch, dem Amtsdiener neue Anweisungen zu geben. Er rührte nicht mehr eine einzige seiner kleinen, silbernen Tischglocken an, und wenn er manchmal zerstreut die Hand nach ihnen ausstreckte, so streichelte er sie nur. Manchmal, am Nachmittag, lauschte er auf und glaubte, den Geistesschritt des alten Jacques auf der Treppe zu vernehmen. Manchmal ging er in die kleine Stube, in der Jacques gelebt hatte, und reichte dem Kanarienvogel ein Stückchen Zucker zwischen die Käfigstangen.
Eines Tages, es war gerade vor dem Sokolfest und seine Anwesenheit im Amt nicht ohne Bedeutung, faßte er einen überraschenden Entschluß. Davon wollen wir im nächsten Kapitel berichten.