Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Kaiser war ein alter Mann. Er war der älteste Kaiser der Welt. Rings um ihn wandelte der Tod im Kreis, im Kreis und mähte und mähte. Schon war das ganze Feld leer, und nur der Kaiser, wie ein vergessener silberner Halm, stand noch da und wartete. Seine hellen und harten Augen sahen seit vielen Jahren verloren in eine verlorene Ferne. Sein Schädel war kahl wie eine gewölbte Wüste. Sein Backenbart war weiß wie ein Flügelpaar aus Schnee. Die Runzeln in seinem Angesicht waren ein verworrenes Gestrüpp, darin hausten die Jahrzehnte. Sein Körper war mager, sein Rücken leicht gebeugt. Er ging zu Hause mit trippelnden, kleinen Schritten umher. Sobald er aber die Straße betrat, versuchte er, seine Schenkel hart zu machen, seine Knie elastisch, seine Füße leicht, seinen Rücken gerade. Seine Augen füllte er mit künstlicher Güte, mit der wahren Eigenschaft kaiserlicher Augen: Sie schienen jeden anzusehen, der den Kaiser ansah, und sie grüßten jeden, der ihn grüßte. In Wirklichkeit aber schwebten und flogen die Gesichter nur an ihnen vorbei, und sie blickten geradeaus auf jenen zarten, feinen Strich, der die Grenze ist zwischen Leben und Tod, auf den Rand des Horizontes, den die Augen der Greise immer sehen, auch wenn ihn Häuser, Wälder oder Berge verdecken. Die Leute glaubten, Franz Joseph wisse weniger als sie, weil er so viel älter war als sie. Aber er wußte vielleicht mehr als manche. Er sah die Sonne in seinem Reiche untergehen, aber er sagte nichts. Er wußte, daß er vor ihrem Untergang noch sterben werde. Manchmal stellte er sich ahnungslos und freute sich, wenn man ihn umständlich über Dinge aufklärte, die er genau kannte. Denn mit der Schlauheit der Kinder und der Greise liebte er die Menschen irrezuführen. Und er freute sich über die Eitelkeit, mit der sie sich bewiesen, daß sie klüger wären als er. Er verbarg seine Klugheit in der Einfalt: Denn es geziemt einem Kaiser nicht, klug zu sein wie seine Ratgeber. Lieber erscheint er einfach als klug. Wenn er auf die Jagd ging, wußte er wohl, daß man ihm das Wild vor die Flinte stellte, und obwohl er noch anderes hätte erlegen können, schoß er dennoch nur jenes, das man ihm vor den Lauf getrieben hatte. Denn es ziemt einem alten Kaiser nicht, zu zeigen, daß er eine List durchschaue und besser schießen könne als ein Förster. Wenn man ihm ein Märchen erzählte, tat er, als ob er es glaube. Denn es ziemt einem Kaiser nicht, jemanden auf einer Unwahrheit zu ertappen. Wenn man hinter seinem Rücken lächelte, tat er, als wüßte er nichts davon. Denn es ziemt einem Kaiser nicht, zu wissen, daß man über ihn lächelt; und dieses Lächeln ist auch töricht, solange er nichts davon wissen will. Wenn er Fieber hatte und man rings um ihn zitterte und sein Leibarzt vor ihm log, daß er keines habe, sagte der Kaiser: »Dann ist ja alles gut!«, obwohl er von seinem Fieber wußte. Denn ein Kaiser straft nicht einen Mediziner Lügen. Außerdem wußte er, daß die Stunde seines Todes noch nicht gekommen war. Er kannte auch die vielen Nächte, in denen ihn das Fieber plagte, ohne daß seine Ärzte etwas davon wußten. Denn er war manchmal krank, und niemand sah es. Und ein anderes Mal war er gesund, und sie nannten ihn krank, und er tat, als ob er krank wäre. Wo man ihn für einen Gütigen hielt, war er gleichgültig. Und wo man sagte, er sei kalt: dort tat ihm das Herz weh. Er hatte lange genug gelebt, um zu wissen, daß es töricht ist, die Wahrheit zu sagen. Er gönnte den Leuten den Irrtum, und er glaubte weniger als die Witzbolde, die in seinem weiten Reich Anekdoten über ihn erzählten, an den Bestand seiner Welt. Aber es ziemt einem Kaiser nicht, sich mit Witzbolden und Weltklugen zu messen. Also schwieg der Kaiser.
Obwohl er sich erholt hatte, der Leibarzt mit seinem Puls, seinen Lungen, seiner Atmung zufrieden war, hatte er seit gestern Schnupfen. Es fiel ihm nicht ein, diesen Schnupfen merken zu lassen. Man konnte ihn hindern, die Herbstmanöver an der östlichen Grenze zu besuchen, und er wollte noch einmal, und einen Tag wenigstens, Manöver sehen. Er hatte sich durch den Akt dieses Lebensretters, dessen Name ihm schon wieder entfallen war, an Solferino erinnert. Er hatte Kriege nicht gern (denn er wußte, daß man sie verliert), aber das Militär liebte er, das Kriegsspiel, die Uniform, die Gewehrübungen, die Parade, die Defilierung und das Kompanieexerzieren. Es kränkte ihn zuweilen, daß die Offiziere höhere Kappen trugen als er selbst, Bügelfalten und Lackschuhe und viel zu hohe Kragen an der Bluse. Viele waren sogar glatt rasiert. Unlängst erst hatte er einen glattrasierten Landwehroffizier zufällig auf der Straße gesehen, und sein Herz war den ganzen Tag bekümmert gewesen. Wenn er aber selbst zu den Leuten hinkam, wußten sie wieder, was Vorschrift war und was Firlefanz. Den und jenen konnte man derber anfahren. Denn beim Militär schickte sich auch für den Kaiser alles, beim Militär war sogar der Kaiser ein Soldat. Ach! Er liebte das Blasen der Trompeten, obwohl er immer so tat, als interessierten ihn die Aufmarschpläne. Und obwohl er wußte, daß Gott selbst ihn auf seinen Thron gesetzt hatte, kränkte es ihn dennoch in mancher schwachen Stunde, daß er nicht Frontoffizier war, und er hatte was auf dem Herzen gegen die Stabsoffiziere. Er erinnerte sich, daß er nach der Schlacht bei Solferino die disziplinlosen Truppen auf dem Rückweg wie ein Feldwebel angebrüllt und wieder geordnet hatte. Er war überzeugt – aber wem durfte er es sagen! –, daß zehn gute Feldwebel mehr leisteten als zwanzig Generalstäbler. Er sehnte sich nach Manövern!
Er beschloß also, seinen Schnupfen nicht merken zu lassen und sein Taschentuch so selten wie nur möglich zu ziehen. Niemand sollte es vorher wissen, er wollte die Manöver überraschen und die ganze Umgebung mit seinem Entschluß. Er freute sich über die Verzweiflung der Zivilbehörden, die nicht genügend polizeiliche Vorkehrungen getroffen haben würden. Er hatte keine Angst. Er wußte genau, daß die Stunde seines Todes noch nicht gekommen war. Er erschreckte alle. Man versuchte, ihm abzuraten. Er blieb hart. Eines Tages bestieg er den Hofzug und rollte nach dem Osten.
In dem Dorfe Z., nicht mehr als zehn Meilen von der russischen Grenze entfernt, bereitete man ihm sein Quartier in einem alten Schloß. Der Kaiser hätte lieber in einer der Hütten gewohnt, in denen die Offiziere untergebracht waren. Seit Jahren ließ man ihn nicht richtiges Militärleben genießen. Ein einziges Mal, eben in jenem unglücklichen italienischen Feldzug, hatte er zum Beispiel einen echten, lebendigen Floh in seinem Bett gesehen, aber niemandem was davon gesagt. Denn er war ein Kaiser, und ein Kaiser spricht nicht von Insekten. Das war damals schon seine Meinung gewesen.
Man schloß die Fenster in seinem Schlafzimmer. In der Nacht, er konnte nicht schlafen, rings um ihn aber schlief alles, was ihn zu bewachen hatte, stieg der Kaiser im langen, gefalteten Nachthemd aus dem Bett und sachte, sachte, um keinen zu wecken, klinkte er die hohen, schmalen Fensterflügel auf. Er blieb eine Weile stehen, den kühlen Atem der herbstlichen Nacht atmete er, und die Sterne sah er am tiefblauen Himmel und die rötlichen Lagerfeuer der Soldaten. Er hatte einmal ein Buch über sich selbst gelesen, in dem der Satz stand: »Franz Joseph der Erste ist kein Romantiker.« Sie schreiben über mich, dachte der alte Mann, ich sei kein Romantiker. Aber ich liebe die Lagerfeuer. Er hätte ein gewöhnlicher Leutnant sein mögen und jung. Ich bin vielleicht keineswegs romantisch, dachte er, aber ich möchte jung sein! Wenn ich nicht irre, dachte der Kaiser weiter, war ich achtzehn Jahre alt, als ich den Thron bestieg. Als ich den Thron bestieg – dieser Satz kam dem Kaiser sehr kühn vor, in dieser Stunde fiel es ihm schwer, sich selbst für den Kaiser zu halten. Gewiß! Es stand in dem Buch, das man ihm mit einer der üblichen, ehrfurchtsvollen Widmungen überreicht hatte. Er war ohne Zweifel Franz Joseph der Erste! Vor seinem Fenster wölbte sich die unendliche, tiefblaue, bestirnte Nacht. Flach und weit war das Land. Man hatte ihm gesagt, daß diese Fenster nach dem Nordosten gingen. Man sah also nach Rußland hinüber. Aber die Grenze war selbstverständlich nicht zu erkennen. Und Kaiser Franz Joseph hätte in diesem Augenblick gern die Grenze seines Reiches gesehen. Sein Reich! Er lächelte. Die Nacht war blau und rund und weit und voller Sterne. Der Kaiser stand am Fenster, mager und alt, in einem weißen Nachthemd und kam sich sehr winzig vor im Angesicht der unermeßlichen Nacht. Der letzte seiner Soldaten, die vor den Zelten patrouillieren mochten, war mächtiger als er. Der letzte seiner Soldaten! Und er war der Allerhöchste Kriegsherr! Jeder Soldat schwor bei Gott, dem Allmächtigen, Kaiser Franz Joseph dem Ersten Treue. Er war eine Majestät von Gottes Gnaden, und er glaubte an Gott, den Allmächtigen. Hinter dem goldgestirnten Blau des Himmels verbarg er sich, der Allmächtige – unvorstellbar! Seine Sterne waren es, die da am Himmel glänzten, und Sein Himmel war es, der sich über die Erde wölbte, und einen Teil der Erde, nämlich die österreichisch-ungarische Monarchie, hatte Er Franz Joseph dem Ersten zugeteilt. Und Franz Joseph der Erste war ein magerer Greis, stand am offenen Fenster und fürchtete, jeden Augenblick von seinen Wächtern überrascht zu werden. Die Grillen zirpten. Ihr Gesang, unendlich wie die Nacht, weckte die gleiche Ehrfurcht im Kaiser wie die Sterne. Zuweilen war es dem Kaiser, als sängen die Sterne selbst. Es fröstelte ihn ein wenig. Aber er hatte noch Angst, das Fenster zu schließen, es gelang vielleicht nicht mehr so glatt wie früher. Seine Hände zitterten. Er erinnerte sich, daß er vor langer Zeit schon Manöver in dieser Gegend besucht haben mußte. Auch dieses Schlafzimmer tauchte aus vergessenen Zeiten wieder empor. Aber er wußte nicht, ob zehn, zwanzig oder mehr Jahre seit damals verflossen waren. Ihm war, als schwämme er auf dem Meer der Zeit – nicht einem Ziel entgegen, sondern regellos auf der Oberfläche herum, oft zurückgestoßen zu den Klippen, die er schon gekannt haben mußte. Eines Tages würde er an irgendeiner Stelle untergehen. Er mußte niesen. Ja, sein Schnupfen! Nichts rührte sich im Vorzimmer. Vorsichtig schloß er wieder das Fenster und tappte mit seinen mageren, nackten Füßen zum Bett zurück. Das Bild vom blauen, gestirnten Rund des Himmels hatte er mitgenommen. Seine geschlossenen Augen bewahrten es noch. Und also schlief er ein, überwölbt von der Nacht, als läge er im Freien.
Er erwachte wie gewöhnlich, wenn er »im Felde« war (und so nannte er die Manöver), pünktlich um vier Uhr morgens. Schon stand sein Diener im Zimmer. Und hinter der Tür warteten schon, er wußte es, die Leibadjutanten. Ja, man mußte den Tag beginnen. Man wird den ganzen Tag kaum eine Stunde allein sein können. Dafür hatte er sie alle in dieser Nacht überlistet und war eine gute Viertelstunde am offenen Fenster gestanden. An dieses schlau gestohlene Vergnügen dachte er jetzt und lächelte. Er schmunzelte den Diener und den Burschen an, der jetzt eintrat und leblos erstarrte, erschreckt vom Schmunzeln des Kaisers, von den Hosenträgern Seiner Majestät, die er zum erstenmal in seinem Leben sah, von dem noch wirren, ein bißchen verknäuelten Backenbart, zwischen dem das Schmunzeln hin und her huschte wie ein stilles, müdes und altes Vögelchen, vor der gelben Gesichtsfarbe des Kaisers und vor der Glatze, deren Haut sich schuppte. Man wußte nicht, ob man mit dem Greis lächeln oder stumm warten sollte. Auf einmal begann der Kaiser zu pfeifen. Er spitzte wahrhaftig die Lippen, die Flügel seines Bartes rückten ein bißchen aneinander, und der Kaiser pfiff eine Melodie, eine bekannte, wenn auch ein wenig entstellte Melodie. Es klang wie eine winzige Hirtenflöte. Und der Kaiser sagte: »Das pfeift der Hojos immer, das Lied. Ich wüßt' gern, was es ist!« Aber beide, der Diener und der Leibbursch, wußten es nicht; und eine Weile später, beim Waschen, hatte der Kaiser das Lied schon vergessen.
Es war ein schwerer Tag. Franz Joseph sah den Zettel an, auf dem der Tagesplan aufgezeichnet war, Stunde für Stunde. Es gab nur eine griechische Kirche im Ort. Ein römisch-katholischer Geistlicher wird zuerst die Messe lesen, dann der griechische. Mehr als alles andere strengten ihn die kirchlichen Zeremonien an. Er hatte das Gefühl, daß er sich vor Gott zusammennehmen müsse wie vor einem Vorgesetzten. Und er war schon alt! Er hätte mir so manches erlassen können! dachte der Kaiser. Aber Gott ist noch älter als ich, und seine Ratschlüsse kommen mir vielleicht genauso unerforschlich vor wie die meinen den Soldaten der Armee! Und wo sollte man da hinkommen, wenn jeder Untergeordnete seinen Vorgesetzten kritisieren wollte! Durch das hohe, gewölbte Fenster sah der Kaiser die Sonne Gottes emporsteigen. Er bekreuzigte sich und beugte das Knie. Seit undenklichen Zeiten hatte er jeden Morgen die Sonne aufgehen gesehen. Sein ganzes Leben lang war er beinahe immer noch vor ihr aufgestanden, wie ein Soldat früher aufsteht als sein Vorgesetzter. Er kannte alle Sonnenaufgänge, die feurigen und fröhlichen des Sommers und die umnebelten späten und trüben des Winters. Und er erinnerte sich zwar nicht mehr der Daten, nicht mehr an die Namen der Tage, der Monate und der Jahre, in denen Unheil oder Glück über ihn hereingebrochen waren; wohl aber an die Morgen, die jeden wichtigen Tag in seinem Leben eingeleitet hatten. Und er wußte, daß dieser Morgen trübe und jener heiter gewesen war. Und jeden Morgen hatte er das Kreuz geschlagen und das Knie gebeugt, wie manche Bäume jeden Morgen ihre Blätter der Sonne öffnen, ob es Tage sind, an denen Gewitter kommen oder die fällende Axt oder der tödliche Reif im Frühling, oder aber Tage voller Frieden und Wärme und Leben.
Der Kaiser erhob sich. Sein Friseur kam. Regelmäßig jeden Morgen hielt er das Kinn hin, der Backenbart wurde gestutzt und säuberlich gebürstet. An den Ohrmuscheln und vor den Nasenlöchern kitzelte das kühle Metall der Schere. Manchmal mußte der Kaiser niesen. Er saß heute vor einem kleinen, ovalen Spiegel und verfolgte mit heiterer Spannung die Bewegungen der mageren Hände des Friseurs. Nach jedem Härchen, das fiel, nach jedem Strich des Rasiermessers und jedem Zug des Kammes oder der Bürste sprang der Friseur zurück und hauchte: »Majestät!«, mit zitternden Lippen. Der Kaiser hörte dieses geflüsterte Wort nicht. Er sah nur die Lippen des Friseurs in ständiger Bewegung, wagte nicht zu fragen und dachte schließlich, der Mann sei ein wenig nervös. »Wie heißen S' denn?« fragte der Kaiser. Der Friseur – er hatte die Charge eines Korporals, obwohl er erst ein halbes Jahr bei der Landwehr Soldat war, aber er bediente seinen Obersten tadellos und erfreute sich aller Gunst seiner Vorgesetzten – sprang mit einem Satz bis zur Tür, elegant wie es sein Metier erforderte, aber auch militärisch, es war ein Sprung, eine Verneigung und eine Erstarrung gleichzeitig, und der Kaiser nickte wohlgefällig. »Hartenstein!« rief der Friseur. »Warum springen S' denn so?« fragte Franz Joseph. Aber er erhielt keine Antwort. Der Korporal näherte sich wieder zaghaft dem Kaiser und vollendete sein Werk mit eiligen Händen. Er wünschte sich weit fort und wieder im Lager zu sein. »Bleiben S' noch!« sagte der Kaiser. »Ach, Sie sind Korporal! Dienen S' schon lang?« »Ein halbes Jahr, Majestät!« hauchte der Friseur. »So, so! Schon Korporal? Zu meiner Zeit«, sagte der Kaiser, wie etwa ein Veteran gesagt hätte, »ist's nie so fix gegangen! Aber, Sie sind auch ein ganz fescher Soldat. Wollen S' beim Militär bleiben?« – Der Friseur Hartenstein besaß Weib und Kind und einen guten Laden in Olmütz und hatte schon ein paarmal versucht, einen Gelenkrheumatismus zu simulieren, um recht bald entlassen zu werden. Aber er konnte dem Kaiser nicht nein sagen. »Jawohl, Majestät«, sagte er und wußte in diesem Augenblick, daß er sein ganzes Leben verpatzt hatte. – »Na, dann is gut. Dann sind Sie Feldwebel! Aber sind S' nicht so nervös!«
So. Jetzt hatte der Kaiser einen glücklich gemacht. Er freute sich. Er freute sich. Er freute sich. Er hatte ein großartiges Werk an diesem Hartenstein vollbracht. Jetzt konnte der Tag beginnen. Sein Wagen wartete schon. Man fuhr langsam zur griechischen Kirche, den Hügel hinan, auf dessen Gipfel sie stand. Ihr goldenes, doppeltes Kreuz funkelte in der morgendlichen Sonne. Die Militärkapellen spielten »Gott erhalte«. Der Kaiser stieg aus und betrat die Kirche. Er kniete vor dem Altar, bewegte die Lippen, aber er betete nicht. Er mußte die ganze Zeit an den Friseur denken. Der Allmächtige konnte dem Kaiser nicht so plötzliche Gunstbezeugungen erweisen wie der Kaiser einem Korporal, und es war schade darum. König von Jerusalem: Es war die höchste Charge, die Gott einer Majestät verleihen konnte. Und Franz Joseph war bereits König von Jerusalem! Schade, dachte der Kaiser. Jemand flüsterte ihm zu, daß draußen im Dorf noch die Juden auf ihn warteten. Man hatte die Juden vollkommen vergessen. Ach, noch diese Juden! dachte der Kaiser bekümmert. Gut! Mochten sie kommen! Aber man mußte sich eilen. Sonst kam man zu spät zum Gefecht.
Der griechische Priester absolvierte die Messe in größter Hast. Noch einmal intonierten die Musikkapellen das »Gott erhalte«. Der Kaiser kam aus der Kirche. Es war neun Uhr vormittag. Das Gefecht begann neun Uhr zwanzig. Franz Joseph beschloß, jetzt schon sein Pferd zu besteigen, nicht mehr den Wagen. Diese Juden konnte man auch zu Pferd empfangen. Er ließ den Wagen zurückfahren und ritt den Juden entgegen. Am Ausgang des Dorfes, wo die breite Landstraße anhub, die zu seinem Quartier und zugleich zum Kampfplatz führte, wallten sie ihm entgegen, eine finstere Wolke. Wie ein Feld voll seltsamer, schwarzer Ähren im Wind neigte sich die Gemeinde der Juden vor dem Kaiser. Ihre gebeugten Rücken sah er vom Sattel aus. Dann ritt er näher und konnte die langen, wehenden, silberweißen, kohlschwarzen und feuerroten Bärte unterscheiden, die der sanfte Herbstwind bewegte, und die langen, knöchernen Nasen, die auf der Erde etwas zu suchen schienen. Der Kaiser saß, im blauen Mantel, auf seinem Schimmel. Sein Backenbart schimmerte in der herbstlichen, silbernen Sonne. Von den Feldern ringsum erhoben sich die weißen Schleier. Dem Kaiser entgegen wallte der Anführer, ein alter Mann im weißen, schwarzgestreiften Gebetmantel der Juden, mit wehendem Bart. Der Kaiser ritt im Schritt. Des alten Juden Füße wurden immer langsamer. Schließlich schien er auf einem Fleck stehenzubleiben und sich dennoch zu bewegen. Franz Joseph fröstelte es ein wenig. Er hielt plötzlich an, so, daß sein Schimmel bäumte. Er stieg ab. Sein Gefolge ebenfalls. Er ging. Seine blankgewichsten Stiefel bedeckten sich mit dem Staub der Landstraße und an den schmalen Rändern mit schwerem, grauem Kot. Der schwarze Haufen der Juden wogte ihm entgegen. Ihre Rücken hoben und senkten sich. Ihre kohlschwarzen, feuerroten und silberweißen Bärte wehten im sanften Wind. Drei Schritte vor dem Kaiser blieb der Alte stehen. Er trug eine große purpurne Thorarolle in den Armen, geziert von einer goldenen Krone, deren Glöckchen leise läutete. Dann hob der Jude die Thorarolle dem Kaiser entgegen. Und sein wildbewachsener, zahnloser Mund lallte in einer unverständlichen Sprache den Segen, den die Juden zu sprechen haben beim Anblick eines Kaisers. Franz Joseph neigte den Kopf. Über seine schwarze Mütze zog feiner, silberner Altweibersommer, in den Lüften schrien die wilden Enten, ein Hahn schmetterte in einem fernen Gehöft. Sonst war es ganz still. Aus dem Haufen der Juden stieg ein dunkles Gemurmel empor. Noch tiefer beugten sich ihre Rücken. Wolkenlos, unendlich spannte sich der silberblaue Himmel über der Erde. »Gesegnet bist du!« sagte der Jude zum Kaiser. »Den Untergang der Welt wirst du nicht erleben!« Ich weiß es! dachte Franz Joseph. Er gab dem Alten die Hand. Er wandte sich um. Er bestieg seinen Schimmel.
Er trabte nach links über die harten Schollen der herbstlichen Felder, gefolgt von seiner Suite. Der Wind trug ihm die Worte zu, die Rittmeister Kaunitz zu seinem Freund an der Seite sprach: »Ich hab' keinen Ton von dem Juden verstanden!« Der Kaiser wandte sich im Sattel um und sagte: »Er hat auch nur zu mir gesprochen, lieber Kaunitz!« und ritt weiter.
Er verstand nichts vom Sinn der Manöver. Er wußte nur, daß die »Blauen« gegen die »Roten« kämpften. Er ließ sich alles erklären. »So, so«, sagte er immer wieder. Es freute ihn, daß die Leute glaubten, er wolle verstehen und könne nicht. Trottel! dachte er. Er schüttelte den Kopf. Aber die Leute meinten, er wackle mit dem Kopf, weil er ein Greis war. »So, so«, sagte der Kaiser immer wieder. Die Operationen waren schon ziemlich vorgeschritten. Der linke Flügel der Blauen, der heute etwa anderthalb Meilen hinter dem Dorf Z. stand, befand sich seit zwei Tagen fortwährend auf dem Rückzug vor der andringenden Kavallerie der Roten. Die Mitte hielt das Terrain um P. besetzt, ein hügelreiches Gelände, schwer anzugreifen, leicht zu verteidigen, aber auch der Gefahr ausgesetzt, umzingelt zu werden, wenn es gelang – und darauf konzentrierte sich in dieser Stunde die Aufmerksamkeit der Roten –, den rechten und den linken Flügel der Blauen von der Mitte abzuschneiden. Während der linke Flügel im Zurückweichen begriffen war, wankte aber der rechte nicht, er stieß vielmehr noch langsam vor und zeigte die Tendenz, sich gleichzeitig dermaßen zu verlängern, daß man annehmen konnte, er wolle die Flanke des Feindes umklammern. Es war, nach der Meinung des Kaisers, eine recht banale Situation. Und wenn er an der Spitze der Roten gestanden wäre, hätte er den elanvollen Flügel der Blauen durch ein fortwährendes Zurückweichen so weit herangelockt und seine Stoßkraft so weit am äußersten Ende zu beschäftigen versucht, daß sich schließlich eine entblößte Stelle zwischen ihm und der Mitte hätte finden lassen. Aber er sagte nichts, der Kaiser. Ihn bekümmerte die ungeheuerliche Tatsache, daß der Oberst Lugatti, ein Triestiner und eitel, wie nach der unerschütterlichen Meinung Franz Josephs nur die Italiener sein konnten, seinen Mantelkragen hoch geschnitten trug, wie es nicht einmal Blusenkragen sein durften, und daß er, um seine Charge dennoch sehen zu lassen, diesen abscheulich hohen Mantelkragen auch kokett geöffnet hatte. »Sagen Sie, Herr Oberst«, fragte der Kaiser, »wo lassen Sie ihre Mäntel nähen? In Mailand? Ich hab' leider die dortigen Schneider schon völlig vergessen.« Der Stabsoberst Lugatti schlug die Hacken zusammen und schloß seinen Mantelkragen. »Jetzt könnt' man Sie für einen Leutnant halten«, sagte Franz Joseph. »Jung schauen S' aus!« – Und er gab seinem Schimmel die Sporen und galoppierte dem Hügel zu, auf dem, ganz nach dem Muster der älteren Schlachten, die Generalität zu stehen hatte. Er war entschlossen, wenn es zu lange dauern sollte, die »Kampfhandlungen« abbrechen zu lassen – denn er sehnte sich nach der Defilierung. Der Franz Ferdinand machte es gewiß anders. Er nahm überhaupt Partei, stellte sich auf irgendeine Seite, begann zu befehligen und siegte natürlich immer. Wo gab es noch einen General, der den Thronfolger besiegt hätte? Der Kaiser ließ seine alten, blaßblauen Augen über die Gesichter schweifen. Lauter eitle Burschen! dachte er. Vor ein paar Jahren noch hätte er sich darüber ärgern können. Heute nicht mehr, heute nicht mehr! Er wußte nicht ganz genau, wie alt er war, aber er fühlte, wenn die andern ihn umgaben, daß er sehr alt sein mußte. Manchmal war es ihm, als schwebte er geradezu den Menschen und der Erde davon. Alle wurden sie immer kleiner, je länger er sie ansah, und ihre Worte trafen wie aus weiter Ferne sein Ohr und fielen wieder ab, ein gleichgültiger Schall. Und wenn dem und jenem ein Unglück zustieß, sah er wohl, daß sie sich Mühe gaben, es ihm behutsam zu erzählen. Ach, sie wußten nicht, daß er alles vertragen konnte! Die großen Schmerzen waren schon heimisch in seiner Seele, und die neuen Schmerzen kehrten nur wie längst erwartete Brüder zu den alten ein. Er ärgerte sich nicht mehr so heftig. Er freute sich nicht mehr so stark. Er litt nicht mehr so schwer. Nun ließ er tatsächlich die »Kampfhandlungen abbrechen«, und die Defilierung sollte beginnen. Auf den uferlosen Feldern stellten sie sich auf, die Regimenter aller Waffengattungen, leider in Feldgrau (auch so eine moderne Sache, die dem Kaiser nicht am Herzen lag). Immerhin brannte noch das blutige Rot der Kavalleriehosen über dem dürren Gelb der Stoppelfelder und brach aus dem Grau der Infanteristen durch wie Feuer aus Wolken. Die matten und schmalen Blitze der Säbel zuckten vor den marschierenden Reihen und Doppelreihen, die roten Kreuze auf weißem Grund leuchteten hinter den Maschinengewehrabteilungen. Wie alte Kriegsgötter auf ihren schweren Wagen rollten die Artilleristen heran, und die schönen braunen und falben Rösser bäumten sich in starker und stolzer Gefügigkeit. Durch den Feldstecher sah Franz Joseph die Bewegungen jedes einzelnen Zuges, ein paar Minuten lang fühlte er Stolz auf seine Armee und ein paar Minuten auch Bedauern über ihren Verlust. Denn er sah sie schon zerschlagen und verstreut, aufgeteilt unter den vielen Völkern seines weiten Reiches. Ihm ging die große goldene Sonne der Habsburger unter, zerschmettert am Urgrund der Welten, zerfiel in mehrere kleine Sonnenkügelchen, die wieder als selbständige Gestirne selbständigen Nationen zu leuchten hatten. Es paßt ihnen halt nimmer, von mir regiert zu werden! dachte der Alte. Da kann man nix machen! fügte er im stillen hinzu. Denn er war ein Österreicher ...
Also stieg er zum Entsetzen aller Kommandierenden von seinem Hügel und begann, die reglosen Regimenter zu mustern, beinahe Zug für Zug. Und gelegentlich ging er zwischen den Reihen durch, betrachtete die neuen Tornister und die Brotsäcke, zog hier und dort eine Konservenbüchse heraus und fragte, was sie enthielte, sah hier und dort ein stumpfes Angesicht und befragte es nach Heimat, Familie und Beruf, vernahm kaum diese und jene Antwort, und manchmal streckte er die alte Hand aus und klopfte einem Leutnant auf die Schulter. So gelangte er auch zum Bataillon der Jäger, in dem Trotta diente.
Es war vier Wochen her, daß Trotta das Spital verlassen hatte. Er stand vor seinem Zug, blaß, mager und gleichgültig. Als sich ihm aber der Kaiser näherte, begann er, seine Gleichgültigkeit zu bemerken und zu bedauern. Er hatte das Gefühl, eine Pflicht zu versäumen. Fremd geworden war ihm die Armee. Fremd war ihm der Allerhöchste Kriegsherr. Der Leutnant Trotta glich einem Manne, der nicht nur seine Heimat verloren hatte, sondern auch das Heimweh nach dieser Heimat. Er hatte Mitleid mit dem weißbärtigen Greis, der ihm immer näher kam, Tornister, Brotsäcke und Konserven neugierig betastend. Der Leutnant hätte sich jenen Rausch wieder gewünscht, der ihn in allen festlichen Stunden seiner militärischen Laufbahn erfüllt hatte, daheim, an den sommerlichen Sonntagen, auf dem Balkon des väterlichen Hauses, und bei jeder Parade und bei der Ausmusterung und noch vor wenigen Monaten beim Fronleichnamszug in Wien. Nichts rührte sich im Leutnant Trotta, als er fünf Schritte vor seinem Kaiser stand, nichts anderes regte sich in seiner vorgestreckten Brust als Mitleid mit einem alten Mann. Major Zoglauer schnarrte die vorschriftsmäßige Formel herunter. Aus irgendeinem Grunde gefiel er dem Kaiser nicht. Franz Joseph hatte den Verdacht, daß in dem Bataillon, das dieser Mann kommandierte, nicht alles zum Besten stünde, und er beschloß, es sich genauer anzusehen. Er blickte aufmerksam auf die reglosen Gesichter, zeigte auf Carl Joseph und fragte: »Ist er krank?«
Major Zoglauer berichtete, was sich mit dem Leutnant Trotta zugetragen hatte. Der Name schlug an das Ohr Franz Josephs wie etwas Vertrautes, zugleich Ärgerliches, und in seiner Erinnerung erhob sich der Vorfall, wie er in den Akten geschildert war, und hinter diesem Vorfall erwachte auch jenes längst entschlafene Ereignis aus der Schlacht bei Solferino wieder. Er sah noch genau den Hauptmann, der in einer lächerlichen Audienz so beharrlich um die Abschaffung eines patriotischen Lesebuchstückes gebeten hatte. Es war das Lesestück Nummer fünfzehn. Der Kaiser erinnerte sich an die Zahl mit dem Vergnügen, das ihm gerade die geringfügigen Beweise für sein »gutes Gedächtnis« bereiteten. Seine Laune besserte sich zusehends. Wohlgefälliger erschien ihm auch der Major Zoglauer. »Ich erinnere mich noch gut an Ihren Vater!« sagte der Kaiser zu Trotta. »Er war sehr bescheiden, der Held von Solferino!« »Majestät«, erwiderte der Leutnant, »es war mein Großvater!«
Der Kaiser trat einen Schritt zurück, wie weggedrängt von der gewaltigen Zeit, die sich plötzlich zwischen ihm und dem Jungen aufgetürmt hatte. Ja, ja! Er konnte sich noch an die Nummer eines Lesestücks erinnern, aber nicht mehr an die Unmenge der Jahre, die er zurückgelegt hatte. »Ach!« sagte er, »das war also der Großvater! So, so! Und Ihr Vater ist Oberst, wie?« »Bezirkshauptmann in W.« »So, so!« wiederholte Franz Joseph. »Ich werd's mir merken!« fügte er hinzu: eine Art Entschuldigung für den Fehler, den er soeben gemacht hatte.
Er stand noch eine Weile vor dem Leutnant, aber er sah weder Trotta noch die anderen. Er hatte keine Lust mehr, die Reihen abzuschreiten, aber er mußte es wohl tun, damit die Leute nicht merkten, daß er vor seinem eigenen Alter erschrocken war. Seine Augen sahen wieder, wie gewöhnlich, in die Ferne, wo die Ränder der Ewigkeit schon auftauchten. Dabei bemerkte er nicht, daß an seiner Nase ein glasklarer Tropfen erschien und daß alle Welt gebannt auf diesen Tropfen starrte, der endlich, endlich in den dichten, silbernen Schnurrbart fiel und sich dort unsichtbar einbettete.
Und allen ward es leicht ums Herz. Und die Defilierung konnte beginnen.