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Wir haben nun einmal die Aufgabe, uns dafür zu interessieren, wer dem Gutsbesitzer Busgaard zu Braendholt die 2500 Kronen gestohlen hat.
Wir wollen einräumen, es gibt größere Fragen, es gibt viel größere Fragen im wirklichen Leben, in Romanen gibt es auch weit spannendere Fragen, z. B. ein gewaltsamer Mord, ein frecher Raub, eine häßliche Verleumdungsintrige oder ein dreister Mordbrand. Es gibt genug dergleichen, aber jetzt ist es der Diebstahl auf Braendholt, wofür wir uns interessieren sollen und wofür wir uns mit ein bißchen gutem Willen auch interessieren können, denn ein solcher Diebstahl ist wirklich etwas sehr Mystisches.
Das Geld war zu einem gegebenen Zeitpunkt vorhanden, es wurde in einem bestimmten Zeitraum entfernt, und es wurde von einer Person entfernt.
Wir haben Assessor Klem und dem Kreisrichter die Aufgabe gestellt, den Dieb zu finden. Die Untersuchung hat begonnen, und es ist nicht wenig, was dafür spricht, daß man in dem Verwalter Klemmesen eine Person gefunden hat, die den Diebstahl begangen haben kann.
Wir können es also den beiden Rechtsgelehrten nicht verdenken, wenn sie jetzt ihren Argwohn gegen diesen Mann richten.
Der Kreisrichter kannte ihn gar nicht, der Assessor ebensowenig; er hatte von Anfang an etwas gegen ihn aus Gründen, die wir kennen, aber nicht billigen.
Gleich beim ersten Blick sah Thomas indessen, daß der brave Verwalter ganz ungefährlich als Rival war.
Er würde ihn mit seinem guten Blick für Menschen gleich von jedem Verdacht freigesprochen haben, wenn nicht der merkwürdige Umstand mit dem Manschettenknopf und dem bei der Bank eingezahlten Geld gewesen wäre. Aber hier lag etwas Verdächtiges vor, und daher konnte man den Mann nicht außer acht lassen, ohne die Sache untersucht zu haben.
Eine Untersuchung der ökonomischen Verhältnisse Klemmesens hätte man gleich durch ein Verhör vornehmen können; selbst ein Jütländer wird den Mund vor dem Richter aufmachen, und es war nicht schwierig zu einem solchen Verhör zu schreiten.
Das wollte der Kreisrichter auch gern, aber Thomas bat um Aufschub, und es war Heidens Naturell nicht zuwider, ihn zu bewilligen.
Thomas beschloß, mit Tine über Klemmesen zu reden, und während dies geschah, wurde Polizeidiener Hansen beauftragt, einen Rapport über das Geschehene anzufertigen, der als Grundlage für ein kommendes Verhör dienen könnte. Heiden selbst wählte das beste Teil; er machte einen Spaziergang mit Busgaard, um sich den Hof und seine Umgebungen anzusehen.
Thomas und Tine wählten zu ihrer Zusammenkunft die Wohnstube. Thomas gehörte zu den Leuten, die, wenn sie einmal eine Sache begonnen haben, sie zu Ende führen müssen, und es fehlte nicht viel, daß er mehr Assessor als Liebhaber war.
Das merkte Tine, und da es ein alter Trick zwischen Liebenden ist, daß der eine Teil durch angenommene Kälte die Wärme des andern zu steigern sucht, fing sie an ein wenig zu schmollen und ihn leise zu schelten.
»Thomas,« sagte sie, nachdem sie sich ungewöhnlich weit von ihm entfernt aufgestellt hatte, »ich bin böse auf Dich, Du hast Dich sehr unfair benommen. Du kannst wohl begreifen, daß ich mit Klemmesen nichts zu tun haben will; aber darum ist es doch häßlich von Dir, einen geschickten und braven jungen Mann zu verdächtigen, nur um – –«
Thomas fiel ihr ins Wort: »einen Rivalen los zu werden! Ihr olympischen Götter, lacht im Chor! Martine Luthera, ich verweigere meine Mitwirkung zu der zwischen uns verabredeten Vornamenveränderung. Du sollst den Namen des heißblütigen Reformators bis zu Deinem Todestag tragen.«
Und Thomas lachte – etwas gezwungen, weil er, wie wir wissen, kein ganz reines Gewissen hatte.
»Ja, lach' Du nur!« sagte Tine, zwischen Kälte und Wärme schwankend.
Thomas wandte sich ihr zu, groß und breit, mit einer umarmenden Gebärde. »Du birgst eine Welt von Lieblichkeit, mein Mädchen; aber begabt bist Du nun einmal nicht, Gott sei Dank! Ich hasse begabte Frauen. Du irrst Dich! Da Du weißt, daß wir den braven Ackerbauer im Verdacht haben, so weißt Du wohl auch warum. Wir sind in unserm guten Recht. Er ist einer von denen, die das Geld genommen haben können, und es sind Indizien gegen ihn vorhanden; ganz gewiß ist etwas Persönliches an ihm, das mir gefällt, eine gewisse Offenheit, die indessen angenommen sein kann. Ich bitte Dich daher, bei einem kleinen privaten Verhör zugegen zu sein, das ich mit ihm abhalten will; aber erst will ich Dich fragen – was glaubst Du?«
»Klemmesen ist treu wie Gold,« antwortete Tine bestimmt.
»Betrügt er im Pferdehandel?« fragte Thomas inquisitorisch.
»Das tun gewiß alle Jütländer.«
»Und da wir vor Gott alle Jütländer sind,« lachte Thomas, »so betrügen wir wohl alle im Pferdehandel. Selber will ich das nicht behaupten; ich kann kaum ein Pferd von einer Kuh unterscheiden. Ich gebe Dir zu, daß das nichts zu bedeuten braucht, alldieweil aller Handel eine Art gesetzlichen Betruges ist, aber ich muß dem Mann auf den Zahn fühlen. Geh darum und mach' ihn Dir untertänig, bring ihn herein, und ich will ihn verhören.«
Tine verließ ihren Liebhaber und ging hinaus, während Thomas sich damit beschäftigte, über die ungezählten Möglichkeiten zu spekulieren, die immer im Gefolge der Unwissenheit auftauchen.
Er wurde von Niels unterbrochen, dem vortrefflichen Kutscher, dessen Nase sich in kein perspektivisches Verhältnis zu Roskildes Domkirche bringen lassen wollte.
Er war krummbeinig, klein, knorrig, mit einem runden schwammigen Gesicht, ganz kleinen grauen Augen und einer ungeheuer großen roten Nase, deren Farbe er dadurch erhielt, daß er seine Speiseröhre inwendig mit achtgrädigem Branntwein putzte – eine anerkannte Farbenquelle.
Seine Kleider sahen aus, als wären sie mit seinem Vorgänger begraben gewesen, und seine blanke, flache Mütze wartete nur auf ein paar Saatkörner, um in ihren Ritzen ein solides Feld hervorzubringen.
Seine Pferde hielt er gut, seine Wagen schlechter und sich selber hielt er garnicht, aber er war unentbehrlich und nahm eine Machtstellung auf Braendholt ein.
Um 2 Uhr jeden Tag kam er mit der Posttasche und in Erledigung dieser Angelegenheit trat er in die Stube, wo Thomas saß.
Thomas blickte auf.
»Na, Sie sind es, Niels?« fragte er. »Was wollen Sie?«
»Die Post,« sagte Niels kurz. Er gehörte zu denen, die kurz anfangen und nie aufhören, wenn die Mühle in Gang gekommen ist.
»Die Tasche ist geschlossen,« sagte Thomas und ließ den Blick über den schwarzbraunen Gebrauchsgegenstand gleiten, der die Verbindung der Familie Busgaard mit überseeischen Gegenden enthielt.
»Das ist sie,« sagte Niels würdig. »Aber wenn der Gutsbesitzer nicht da ist, habe ich die Vollmacht, sie mit diesem Schlüssel hier aufzuschließen.«
Niels nahm einen Schlüssel, der am Sekretär hing.
»Tun Sie es!« sagte Thomas.
»Das ist etwas, was ich bestimme,« erwiderte der Hüter der Tasche barsch.
Thomas hob den Kopf nicht einmal. »Natürlich,« sagte er freundlich. »Nun so bestimmen Sie! Ich erwarte einen wichtigen Brief vom Justizministerium.«
Niels sah ihn mit großen Augen an. »Erwartet Thomas einen Brief vom Justizmanister? Das ist ein mächtig großer Mann, nicht? – Es muß stolz sein, Briefe von so einem großen Mann zu kriegen; denk, Briefe von einem Manister zu kriegen.«
Niels sagte Manister.
Thomas zuckte die Achseln. »Der Brief ist wichtig wegen des Mannes und nicht wegen der Stellung. Aber das versteht Niels wohl nicht?«
»Ach was,« antwortete Niels, »das ist doch nicht schwer zu verstehen. Es ist die Stellung, die den Mann schafft, nicht der Mann, der die Stellung schafft. Nehmen Sie unsern Reichstagsabgeordneten, Lars Madsen – er ist ein gewaltiger Schafskopf – und doch ist er Abgeordneter.
Verstehn wir –
Thomas lachte. Mit dieser Heiterkeit wollte er zeigen, daß, wenn die höheren Gesellschaftsklassen mit einer gewissen Verachtung auf die Ausüber der Macht, die sich auf die volkserwählten Repräsentanten stützen, herabsehen, dies in eben so hohem Grade bei dem wählenden Volk der Fall ist.
Und mit dem der irdischen Obrigkeit in Furcht und Zittern Gehorchen geht es bergab. Das ist eine von den Segnungen der Freiheit.
Thomas erhielt die Briefe aus der Tasche und durchblätterte das Bündel. Niels stand daneben und guckte zu.
Dann sagte er einschmeichelnd: »Thomas ist Kriminalassessor, und das ist ein hohes Amt, aber Thomas ist der Mann – nicht wahr?«
»Ja,« antwortete Thomas, »was ich bin, das bin ich.«
Darauf las Thomas den Brief vom Ministerium.
»Was sagt der Manister?« fragte Niels teilnehmend.
»Nichts,« antwortete Thomas und faltete den Brief zusammen.
»Das ist gewiß klug,« meinte Niels. – Thomas widersprach ihm nicht. Er musterte den alten Bekannten seiner Kindheit flüchtig von oben bis unten und schließlich fiel ihm ein, daß er ihn gut ein wenig verhören könnte. Es schien lange zu dauern, bis Tine den Verwalter fand.
»Sagen Sie, Niels, haben Sie jemand im Verdacht, der das Geld aus dem Sekretär genommen haben könnte.«
Niels kratzte sich am Nacken: »Das hat man vielleicht, aber man hat es zu keinem Menschen gesagt, und Thomas kriegt es nicht zu wissen.«
»Aber, wenn nun der Kreisrichter fragt?« fragte Thomas. Er wollte gern hören, welchen Eindruck die lokale Obrigkeit bei einem schlichten Mann wie Niels machte.
Niels Gesicht drückte eine bodenlose Verachtung aus.
»Der langhaarige Advokat,« sagte er, »hi, hi, – glaubt Thomas, der kann Diebe finden? Nee, der mag nur seine Violine spielen.«
»Nun, er ist doch sonst ein netter Mann,« schaltete Thomas lächelnd ein.
»Nett – er ist weder nett noch Mann, er ist langhaarig und sieht gefährlich aus, den können wir nicht gebrauchen. Unser Kreis ist ein wahres Paradies für Diebe geworden, so lange diese Figur hier 'rumspaziert. Nein, dazu gehören andere Leute. Doch mir kann es gleich sein, das Geld gehört nicht mir, und mir gibt Busgaard wahrhaftig keinen Heller davon – gutwillig wenigstens.«
Niels sah höchst geheimnisvoll und durchtrieben aus.
»Niels soll mir sagen, wen Niels im Verdacht hat,« sagte Thomas einschmeichelnd.
Niels legte den Kopf auf die Seite: »Was gibt Thomas?«
»Zwei Kronen,« schlug der Assessor vor, der die Wichtigtuerei des andern nach Verdienst einschätzte.
»Höher,« sagte Niels. Er war ein Stück von einem Handelsmann und es endete damit, daß er zehn Kronen für die Preisgabe seines Wissens erhielt. Bar und im voraus wollte er sie haben. Er bekam sie.
Darauf gab er einen langen Bericht von einem jungen Mann, der sich in letzter Zeit drüben beim Waldhüter herumgetrieben hätte. Ein schmächtiges Bürschchen, das etwa wie ein wandernder Handwerksgeselle aussah und höchst verdächtig war.
Niels hatte ihn selbst nicht gesehen, aber Klemmesen hatte ihm vor kurzem erzählt, daß er und Willumsen ihn bemerkt hätten, und jetzt wollten die beiden etwas arrangieren und den Kerl greifen, wenn der Kreisrichter das Spiel aufgeben mußte.
Es sollte sozusagen ein richtiges kleines Geschäft daraus gemacht werden – aber nun sollte Thomas mit dabei sein dürfen.
Thomas hörte die Geschichte, die Bedeutung haben konnte, an. Auffällig darin war namentlich ein Moment, nämlich, daß Klemmesen seiner ganzen Natur nach sich kaum an einer Diebesjagd mit dem Ingenieur und Niels als Bundesgenossen beteiligen würde, wenn er nicht in gutem Glauben handelte. Niels kam nicht weiter in Betracht; aber der Ingenieur, ein gebildeter Mann, der sozial bedeutend höher stand als der Verwalter, ein Mann, der als zum Hause gehörig betrachtet wurde!
Thomas beschäftigte sich hier zum ersten Mal mit dem Ingenieur, dem er nur ganz flüchtig vorgestellt worden war. Und während er Niels lang ausgesponnener Geschichte zuhörte, saß er da und blätterte in den Briefen, die auf dem Tisch lagen. Auf einmal zog er einen Brief aus dem Haufen; er war an Willumsen adressiert, eben darum las er die Adresse genauer, gleichsam rein mechanisch infolge der Ideenverbindung.
Es war ein Geschäftsbrief; am oberen Rande des Kuverts stand gedruckt: Kaare Mortensen & Co., Klerkestraße 10. Die Adresse kannte Thomas.
»Sagen Sie mir, Niels,« sagte er, »was ist dieser Willumsen für ein Mann?«
»Der Ingenieur?« antwortete Niels.
»Das ist ein tüchtiger und ordentlicher Mann, der nie unnötige Worte macht und seine Arbeit verrichtet. Gute Trinkgelder gibt er auch, es ist nichts gegen ihn einzuwenden, ein respektabler Mann durch und durch! – Weshalb fragt Thomas nach ihm?«
»Ach, nur so,« sagte Thomas vor sich hin, »hier ist ein Brief für ihn – der Absender ist mir bekannt.«
Niels erhaschte den Brief. »Ist es Kaare Mortensen? – geben Sie her! Ich will Ihnen sagen, Thomas, der Ingenieur hat mich gebeten, ihm Briefe von dem Geschäft persönlich zu geben. Das sind so Geheimnisse – jeder hat ja seine –. Jesses, das ist ja nichts Unanständiges. Der Ingenieur hat ein Auge auf unsere Monny geworfen, und er ist ein Staatskerl durch und durch, dem kann Busgaard seine Tochter gern geben – d. h. die eine – hi, hi – die andere soll Thomas haben.«
»Sonst kommt jeden Freitag ein Brief, was – aber nun ist Thomas hier in naturalis, wie der Prokurator sagt. Ja, andere Leute haben auch Augen!«
Die Tür ging auf und Tine trat herein ohne Klemmesen.
»Nun kann Niels gern gehen,« sagte Thomas – Niels fing an allzu beredt zu werden.
»Ja, das kann er,« sagte Niels, und griente verschlagen, »denn jetzt soll Thomas etwas unter die Nase bekommen, was mündlich besser schmeckt als per Brief!«
Und so trollte sich Niels auf seinen krummen Beinen und mit seinem körperlichen Gebrechen, im Gehen noch einen Blick auf Tine und Thomas werfend. Es sah häßlich aus, war aber gut gemeint.
Die Briefe blieben auf dem Tisch liegen bis auf den Brief an den Ingenieur. Den nahm Niels mit, um ihn persönlich abzuliefern.
Die beiden Liebenden blieben allein.
»Ich konnte Klemmesen nirgends finden,« sagte Tine, »und niemand weiß, wo er ist.«
»Es ist gleich,« erwiderte Thomas nachdenklich. – »Ich habe es vorläufig aufgegeben, ihn zu verhören. Weißt Du, Niels hat mir zwei neue Gegenstände für meinen Verdacht gegeben. Du sollst nicht fragen wen – noch nicht! Aber jetzt wird es notwendig, sehr vorsichtig vorzugehen.«
Tine blickte ihren Verlobten an und lachte.
»Du siehst so komisch aus, wenn Du schlau bist. Ich kann nicht begreifen, daß Deine Arrestanten Angst vor Dir haben.«
Und Kriminalassessor Thomas Klem sprach kein Wort, sondern nahm Tine in seine Arme und küßte sie – es soll dafür gesorgt werden, daß er es bei gegebener Gelegenheit öfter tut, um die empfindsamen Leserinnen, die das Kriminelle langweilt, zu erfreuen.
Denn das liest sich so hübsch – nicht?