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Die Odyssee des auf Pump Gehens. – Tod in der Wüste. – Die Deserteure der Legion. – Eine unglückliche Flucht im Automobil. – Das tragische Geschick eines österreichischen Ingenieurs. – Im Ghetto von Sidi-bel-Abbès. – Fluchtgeschäfte. – Oran und Algier. – Das Konsulat als Mausefalle. – Deserteure mit Geld und Deserteure ohne Geld. – Der Leidensweg der 100 Kilometer. – Hamburger Schiffe. – Selbstverstümmelung. – Künstliches Fieber. – Simulierter Wahnsinn. – Im Suezkanal. – Massendesertionen. – Das Wunderland Marokko.
Auch Herr von Rader hatte den Cafard – den Desertionscafard – und verlor zusehends an Humor. Er hatte es verstanden, sich zu dekorieren – an kleiner Gaunerschlauheit maß er sich selbst mit dem ältesten, geriebensten Legionär – aber als Veteran des Landstraßenlebens hatte er ein sehr entwickeltes Gefühl für die praktische Seite der menschlichen Dinge. Zu nehmen ohne zu geben, war sein heiligstes Lebensprinzip gewesen – ein Leben ohne Arbeit bedeutete ihm den Inbegriff menschlicher Klugheit. Jetzt aber rechnete sich Herr von Rader immer wieder mit immer längerem Gesicht das Rechenexempel aus, daß er höllisch viel arbeiten mußte und überhaupt nicht bezahlt wurde.
Darunter litt er sehr!
»Bruderherz,« sagte er einmal zu mir, »Ick schieb ab! Ick will dir nich' weiter mit Einzelheiten belästigen, aber ick bedaure, dir die Mitteilung machen zu müssen, dat det verehrliche Rejiment sich demnächstens ohne mir behelfen muß. Der Herr von Rader jeht!«
Ich riet ihm ab und redete lange auf ihn ein, daß es eine fürchterliche Dummheit sei, ohne Zivilkleider und ohne Geldmittel aufs Geratewohl zu desertieren.
Herr von Rader schüttelte nur den Kopf: »Ick habe janz bedeutenden Ueberfluß an Jeldmangel, det is wahr! Aber ick besitze dafür 'ne jediejene Portion von Frechheit – massenhaft, kolossal viel Frechheit – un' ick denke mir, ick werde doch eine kleine Vergnügungsreise machen und mir die Jejend besehen. Et muß doch hier in der weiteren Umgebung Nejerherrschaften jeben, die et sich zur Ehre anrechnen sollten, wenn so en Menschenkind mit jänzlich weißer Haut ihnen wat Jediegenes vorzaubert und sich 'nen anjesehenen Posten als Medizinmann erwirbt. So oder so, ick schieb ab! Mensch, wenn du gescheit bist, jehste mit. Wenn es auch vielleicht nich' lange dauert, schön wird's doch. Im Vertrauen jesagt: im Zimmer des Feldwebels hängt der Dienstrevolver janz jemütlich an der Wand. Ick hab' so 'ne Ahnung, als ob sick det Dings jleichzeitig mit mir empfehlen würde, uff Französisch! Det is mir eine jroße Beruhigung, janz abgesehen davon, dat ick mir freue, wenn der Feldwebel sick mal jehörig ärgert, der Affe! Nu, jehste mit?«
Ich lehnte dankend ab!
Nun warb sich Herr von Rader andere Anhänger. In jeder freien Minute versammelte er eine Gefolgschaft von jungen Legionären um sein Bett. Sie saßen herum, rauchten Zigaretten und schmiedeten Fluchtpläne. Mehr als einmal hörte ich ihnen zu, und mehr als einmal riet ich ihnen ab, aber sie hatten sich so in ihre Ideen verbohrt, daß alles Reden zwecklos war. Sie wollten schnurgerade nach Süden, nur nachts marschieren und alle Häuser und Ortschaften vermeiden. Dann gedachten sie sich nach Westen zu wenden und sich nach Marokko durchzuschlagen. Einer von ihnen hatte eine alte Karte des nördlichen Afrika aufgetrieben, und auf dieser hatten sie ihren Reiseweg ausgerechnet. Ihre Bajonette und der zu stehlende Revolver des Kompagniegewaltigen sollten ihre Waffen darstellen. Araber und Marokkaner fürchteten sie nicht. Ueber Verpflegung machten sie sich keine besonderen Sorgen, da Herr von Rader kaltlächelnd darauf hinwies, daß sie ja sechs Mann seien und sich die nötigen Lebensmittel mit Gewalt verschaffen könnten. In Wirklichkeit waren ihnen ja auch alle diese Einzelheiten unendlich gleichgültig, denn in ihren Köpfen rumorte nur die Vorstellung, daß sie das elende Leben, die Langeweile, die tägliche Arbeitsplage hinter sich werfen würden und als freie Männer unter freiem Himmel dahinschlendern könnten.
Sie waren gründlich angesteckt vom Desertionsfieber, das unaufhörlich in der Legion grassiert. Geflüster und Geraune über Fluchtpläne und Fluchtmöglichkeiten gehören ja zur Legionsatmosphäre – die Desertion bildet ewig den Gesprächsstoff in Mannschaftszimmern und Kantinenwinkeln. Das ist kein Wunder. Gibt es doch keinen Legionär, der nicht recht bald den »Legionskatzenjammer« verspürt und merkt, daß er den dümmsten Streich seines Lebens machte, als er im Werbebureau den ominösen Kontrakt unterschrieb. Er muß arbeiten, wie er vielleicht in seinem Leben noch nicht gearbeitet hat – er hat weniger Geld in seiner Tasche, als in den schlimmsten Zeiten seines bürgerlichen Lebens. Selbst wenn er ein armer Bettler gewesen war, so hatte doch sicherlich ein elendes Kupferstück nicht solch' ungeheuren Wert für ihn gehabt, war so schwierig zu erwerben gewesen wie jetzt in den Armutszeiten der Fremdenlegion. Er ist ein bitterarmer Teufel, der unter harter militärischer Fuchtel steht, der schwer arbeitet und weniger als nichts von seinem Leben hat. Eine Zeitlang reizt die fremdartige Umgebung; aber je härter er arbeiten muß, und je häufiger er mit den schweren Strafen Bekanntschaft macht, denen kein Legionär auf die Dauer entgeht, desto schneller kommt der Freiheitsdrang.
Die Idee zur Flucht reift in ihm. Er spricht mit seinen Freunden und Zimmergenossen darüber, er wäscht und putzt in jeder freien Minute für Unteroffiziere und »begüterte« Legionäre, um ein paar Kupferstücke übrig zu haben, und sitzt Abend für Abend mit alten Legionären zusammen, mit grauhaarigen Leuten, die so lange Legionsluft geatmet haben, daß sie für jeden anderen Beruf verdorben sind und wie unter einem Bann immer wieder zur Legion zurückkehren, wenn sie sich auch zehnmal geschworen haben, niemals wieder die rote Hose anzuziehen. Sie kennen Algerien wie ihre Tasche, sind verschwiegen wie das Grab und verkaufen für einen Liter Kantinenwein gerne unbezahlbare Weisheit. Aber die guten Ratschläge sind wenig wert.
Zu einer Flucht aus der Fremdenlegion gehört Geld. Wenn es mit dem guten Willen allein getan wäre, würde der Prozentsatz der Desertionen fabelhafte Ziffern erreichen; die armen Teufel jedoch, die zu Fuß und ohne Mittel ins Land hinauswandern, kommen nur in ganz seltenen Fällen durch und werden fast immer in wenigen Tagen von Gendarmen eingefangen. Hunger und Durst treiben sie immer wieder in die Araberdörfer und die spanischen Bauernansiedlungen, auf Verkehrsstraßen, die so häufig patrouilliert werden, daß eine Entdeckung fast unvermeidlich ist. Da nützt die Weisheit alter Legionäre nichts – alle Energie scheitert an Hunger und Durst.
Zum Freiheitsdrang kommt meistens immer der cafard hinzu, der Ueberdruß an allem, was Legion heißt, dieses merkwürdige Gefühl, lieber tolle, von vorneherein gänzlich aussichtslose Dinge zu unternehmen, als auch nur noch einen einzigen Tag lang den verhaßten Legionsdienst zu tun. Wenn die Legionsüberdrüssigen dieses Stadium erreicht haben, laufen sie aufs Geratewohl davon – ohne Ueberlegung, ohne jede Vorbereitung.
Die Legion hat für diese Art von Durchbrennen einen besonderen Ausdruck geprägt: Auf Pump gehen. Französisch: »Aller au poump«. Das Wort ist sonderbar und seine Herkunft rätselhaft.
Man »geht auf Pump«. Als wir einmal abends um den großen Tisch saßen, arbeitend, Lederzeug putzend, stand auf einmal ein alter Legionär auf, ein Oesterreicher.
»Bande, verfluchte!« schrie er. »I' geh' halt spazieren. I' geh' auf Pump.«
Sprach's und schnallte sein Bajonett um.
In der Tür blieb er nocheinmal stehen:
»Habt's mi' gern, G'sellschaft miserablige.«
Er ging und blieb verschwunden.
Nach vielen Wochen wurde uns bei der Befehlsausgabe die Photographie einer fürchterlich verstümmelten Leiche gezeigt. Es war der Oesterreicher. Bei der Marokkogrenze hatte ihn eine französische Grenzpatrouille gefunden. Der führende Offizier, zu dessen Ausrüstung vorschriftsmäßig eine Camera gehört, hatte die Aufnahme gemacht, und alle Kompagnien der Legion hatten eine Kopie des grauenhaften Bildes bekommen, um den Toten zu identifizieren. Das Regiment besitzt eine ganze Reihe solcher Photographien, die alle den Rumpf eines nackten Mannes darstellen, der immer auf unbeschreibliche Weise verstümmelt ist. Das Werk marokkanischer Grenzräuber, denen ein im cafard dahintaumelnder Legionär viel Freude macht. Seine Uniform, sein Bajonett, sein Lebelgewehr sind unschätzbare Besitztümer, mit ein paar Säbelhieben leicht erworben. Und es ist ja ein Allah und seinem Propheten wohlgefälliges Werk, einen ungläubigen Christenhund hübsch langsam und qualvoll zu Tode zu martern.
Hunderte von Menschen, Legionäre, die es im cafard hinaustrieb, sind in den Grenzwüsten einen entsetzlichen Tod gestorben, gemartert, gefoltert, geschändet.
Im allgemeinen jedoch findet der Legionär das »Auf Pump Gehen«, die spontanen Ausflüge ins Land hinaus, das Davonlaufen ohne rechtes Ziel und ohne jeden Plan, etwas sehr Selbstverständliches und durchaus nicht Tragisches, das einmal wenigstens jeder unternimmt. Im Cafard...
In kleinen Gruppen flüchten die Legionäre gewöhnlich, ohne jede Ausrüstung als die Uniform, die sie auf dem Leibe tragen, und das Bajonett, das an ihrer Seite klirrt. Nachts gehen sie fort, vor 9 Uhr, wenn die Kasernentore noch geöffnet sind, und laufen durch die sandigen Weinfelder hinaus in die Dunkelheit. Sie frieren erbärmlich in der Kälte der afrikanischen Nacht und hungern gewaltig, enthält doch ihre Feldtasche höchstens ein Stückchen Brot. Aber sie marschieren vorwärts. Sie sind gewöhnt, staunenswerte Leistungen mit schwerem Gepäck zu vollbringen; ohne solche Last legen sie fabelhafte Entfernungen zurück. Fünf Minuten Laufschritt in den langen, springenden, katzenartig leichten Schnellschritten der Legion, die denjenigen, der den Trick gelernt hat, nicht ermüden – dann fünf Minuten Marschschritt. So geht es unaufhaltsam in die Nacht hinein, und am nächsten Morgen sind die Ausreißer sechzig Kilometer von der Garnison entfernt. Irgendwo auf einer einsamen Ferme ergattern sie sich im Morgengrauen ein Stück Brot und einen Schluck Wein. In den wenigsten Fällen freilich ist es das mitleidige Herz der algerisch-spanischen Weinfeldbesitzer, das sich der Flüchtlinge erbarmt, sondern die Bajonette sind es, die zur liebenswürdigen Konzilianz raten. Tagsüber verstecken sich die poumpistes zwischen Felsen oder graben sich ein Loch tief in den Sand hinein. Nachts marschieren sie wieder weiter, immer dem Süden zu, sich nach den Sternen orientierend, wie es die Instruktionsstunde der Legion sie gelehrt hat – allerdings zu ganz anderen Zwecken. Wenn sie Pferdegetrappel hören, verstecken sie sich in wilder Panik und liegen stundenlang mäuschenstill, bis die arabische Patrouille weit über den Horizont hinweg ist. So vergehen die Tage. Haben sich Ausreißer zusammengefunden, in denen die Energie und die Gewalttätigkeit des Abenteurers steckt, dann terrorisieren sie manchmal die Araber der einsamen Ansiedlungen viele Wochen lang, bis die Unterdrückten Hilfe herbeiholen und ein Kampf gegen die Uebermacht entsteht, in dem die Legionäre elend unterliegen.
Verzweifelten Pumpisten, die um jeden Preis Marokko erreichen wollen, gelingt es dann und wann, sich Gewehre zu verschaffen. Dann sind sie gerüstet für die Grenzräuber. Ihre eigenen Gewehre konnten sie bei der Flucht nicht mitnehmen. Sie wären mit der Waffe niemals durchs Kasernentor gelassen worden.
Solch ein alter, zäher Legionär, der alle Grenzeinrichtungen kennt, marschiert nur in den Nächten, mit unendlicher Vorsicht, bis er an die Linien der Grenzwachen kommt. Er weiß, daß die Zeltreihen dreifach sind, je einen viertel Kilometer entfernt. In dunkler Nacht schleicht er sich durch. Lange Zeit braucht er dazu. Die Zelte einer Reihe stehen zwar weit auseinander, und das Durchkommen scheint nicht sehr schwierig. Aber das ist nur scheinbar. Denn alle zweihundert Meter steht ein Posten, der die schräge Linie der 250 Meter bis zur nächsten Zeltreihe bewacht. Diese Posten sind staffelförmig angeordnet.
Die Zeltlinie ist endlos lang. Würde der Deserteur versuchen, einfach in gerader oder schräger Linie durchzuschleichen, so würde er sicherlich von einem der Posten, die ja in schräger Ordnung einander folgen, entdeckt werden. Er kennt aber den Trick. Er wartet geduldig, bis er einen Posten der ersten Zeltreihe entdeckt hat. Hundert Meter von diesem Posten schleicht er durch und schlägt dann sofort eine schräge Richtung ein, 250 Meter lang, bis er zur nächsten Zeltreihe kommt. Dann wieder geradeaus, dann wieder schräge...
Nun arbeitet er sich, auf dem Bauch rutschend, sich in den Sand eingrabend, in stundenlangem Kriechen zu einem Zelt der äußersten Linie hin.
Ein rascher Schnitt durch die Zeltwand, ein vorsichtiges Fühlen und Tasten – ein Lebelgewehr und ein Patronengürtel sind sein. Dann schleicht er fort. Er hat eine Waffe. Er hat eine Chance für sein Leben, für das Durchqueren Marokkos!
Gewöhnlich aber, nach wenigen Tagen goldener Freiheit, einer Freiheit, die sich aus endlosem Laufen und immerwährendem Hunger zusammensetzt, finden die Pumpisten ihr Schicksal in einigen berittenen Goums»Goums« heißen die arabischen Gendarmen. Der Verf. und fügen sich ohne viel Federlesens den vorgehaltenen Revolvern. Den gleichen Weg, den sie gekommen sind, müssen sie wieder zurücklaufen, gefesselt, mit einer langen Kette an das Pferd eines Goums gebunden, keuchend und zitternd vor Anstrengung das Tempo des Pferdes einhaltend, wenn sie nicht über Sand und Steine geschleift werden wollen. So geht es von Station zu Station zum Gefängnis ihrer Garnison. Wenn sie so glücklich sind, keine Waffen oder Uniformstücke verloren zu haben und nicht über acht Tage fort gewesen sind, werden sie vom Regiment bestraft und kommen mit sechzig Tagen cellule – Haft in einer dunklen Einzelzelle – davon. Fehlt aber irgend ein Teil der Uniform, so werden sie wegen Desertion und Diebstahl vor das Kriegsgericht gestellt.
»Traveaux forcés«, Zuchthaus, ist auf Jahre ihr Los – eine Strafe, die gewöhnlich den Tod bedeutet, denn wenige Naturen können das fürchterliche Leben in den Sträflingskolonnen aushalten.
Das ist die Odyssee des »auf Pump Gehens«.
Solche poumpistes waren Rader und seine fünf Freunde. Eines Abends fehlte der Mann der kräftigen Ausdrücke und des nie versiegenden Humors beim Abendappell.
Von anderen Zimmern wurden andere Vermißte gemeldet, und am nächsten Morgen ging es wie ein Lauffeuer durch die Kompagnie, daß sechs Deutsche »en bloc« ausgerissen seien!
Der Sergeant unserer Sektion nahm das Inventar der Uniformstücke und Ausrüstungsgegenstände auf, die Herr von Rader zurückgelassen hatte. Er schimpfte, wie nur ein fauler Legionssergeant schimpfen kann, über sein persönliches Pech, weil von den sechs Ausreißern vier zu seiner Sektion gehört hatten und ihm nun so viel Arbeit und Aerger machten! Der Feldwebel erschien beim Abendappell höchstpersönlich auf unserem Zimmer und ermahnte Korporal Wassermann, dafür zu sorgen, daß unter den Leuten seines Zimmers keine Desertionen mehr vorkämen. Sonst würde er ihn gehörig zwiebeln! Der Kapitän aber ließ sämtliche deutschen Legionäre der Kompagnie vor sich rufen.
Im Kompagniebureau hielt er uns eine lange Rede:
Wir hätten doch fast alle in Deutschland gedient, und wir könnten wirklich in seiner Kompagnie zufrieden sein. In der Legion würde doch nicht geprügelt! Wenn irgend einer Grund zu Beschwerden zu haben glaube, so möge er sich gefälligst bei ihm melden. Die Legion sei ein Regiment von Ausländern, in dem man jede Nation gleichwertig behandle – natürlich habe ein deutscher Legionär genau soviel Recht wie jeder andere. Er würde es sehr bedauern, wenn seine Legionäre sich zur Flucht verführen ließen. Sie sei doch völlig aussichtslos! Die telegraphische Beschreibung der Ausreißer sei schon längst an alle Militärposten, an die Gendarmeriestationen in ganz Algerien, an die Polizeibehörden aller Küstenstädte versandt, und wir würden sehen, daß man die Durchbrenner in wenigen Tagen beim Regiment einliefere.
»Ihr bringt nur das Unglück über euch, wenn ihr desertiert, denn ihr würdet sehr schwer bestraft werden.«
Wer irgend eine Klage habe oder ihn sprechen wolle, möge sich beim Feldwebel melden.
»Die Sach' is so,« sagte Guttinger, als wir wieder ins Zimmer zurückkamen: »Der Kapitän is' Champion-Florettfechter von Frankreich und meint, er müss' die ganz' Zeit im Fechtsaal übe'! Der hat kei' Ahnung, wie's in der Kompagnie ausschaut.«
Jeder Rekrut wisse mehr von den Dingen der Kompagnie als ihr Führer. Dafür sei schon gesorgt, daß der Kapitän nicht allzuviel erfahre ...
Die ganze Macht lag faktisch in den Händen des Feldwebels und der Unteroffiziere. Der Kompagniechef war nur Geschäftsinhaber, der den Strafzetteln und den Meldungen seiner Geschäftsführer nur die Unterschrift gab, ohne sich um Details zu kümmern. Die Unteroffiziere manipulierten mit dem Menagegeld, beantragten um ein Nichts Strafen für einen Mißliebigen und hätten einen Legionär, der sich zu einer Beschwerde aufgerafft hätte, sehr schnell zugrunde gerichtet, wenn er vielleicht auch zuerst Recht bekommen hätte mit seiner Beschwerde.
»Beim Bart des Propheten!« lachte Guttinger. »Des möcht' ich sehn, wie's dem geht, der sich b'schwert. Die ganze Unteroffiziersg'sellschaft sitzet ihm auf'm Buckel und in e paar Woche' wär' er bei de Zéphirs. So ist's mit'm B'schwere', signor capitano. Aber mit dem Desertiere' hat er recht, der Champion-Kapitän. Die allermeiste komme' wieder!«
Dann wandte er sich zu Rassedin und fragte ihn, ob er glaube, daß Herr von Rader und die andern fünf » poumpistes« durchkämen.
Rassedin schüttelte den Kopf, lächelte spöttisch und machte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand jene zählende Bewegung, die in der ganzen Welt Geld bedeutet.
»Nix Geld!« sagte er trocken.
Auch die andern alten Legionäre meinten, daß Rader und Genossen nicht die Leute seien, die unendlich schwierige Flucht ohne Geld durchzuführen.
Das Durchbrennen der sechs Kameraden war ein unerschöpfliches Gesprächsthema.
Guttinger erzählte eine Geschichte nach der andern über tollkühne Fluchtversuche. Zwei dieser Desertionshistorien sind mir unvergeßlich:
Als Guttinger beim zweiten Regiment in Saïda diente, waren in seiner Kompagnie zwei Brüder, Engländer aus guter Familie. Der letzte Leichtsinnsstreich eines tollen Lebens hatte sie in die Legion geführt. Als die Familie erfuhr, daß sie die Jacke der Legionäre trugen, wurden alle möglichen Hebel in Bewegung gesetzt, um die Brüder frei zu bekommen. Umsonst! Gesuche an das französische Kriegsministerium blieben erfolglos, und der englische Konsul in Algier lehnte natürlich jede Intervention ab. Schließlich sandte die Familie den beiden Brüdern eine große Geldsumme, und sie versuchten es mit der Desertion. Schon auf dem Bahnhof in Saïda wurden sie abgefaßt und spazierten prompt ins Gefängnis. Kaum waren sie wieder frei, so wagten sie einen zweiten Fluchtversuch und kamen bis nach Oran. Dort wurden sie auf Grund des telegraphischen Signalements verhaftet, als sie sich auf einem Dampfer einschiffen wollten. Diesmal schickte man sie auf sechs Monate ins Strafbataillon!
Die armen Teufel müssen verzweifelte Briefe nach Hause geschrieben haben! Ihre Angehörigen wollten sie um jeden Preis befreien. Durch Vermittlung irgend eines englischen Kaufmanns in der Stadt Algier bestachen sie einen dortigen Levantiner, der ein Automobil mietete und tagelang bei Saïda wartete, in dessen Nähe damals das Strafbataillon arbeitete. Endlich gelang es den Brüdern, nachts aus dem Lagerzelt zu entfliehen. Sie erreichten glücklich die verabredete Stelle, fanden den Levantiner mit seinem Wagen wartend und fuhren darauf los, so schnell es nur auf den sandigen Wegen möglich war. Das Automobil hatte jedoch in Saïda Aufsehen erregt, und die Militärbehörden kamen sofort nach der Flucht auf den Gedanken, daß die beharrlichen Deserteure das ungewöhnliche Mittel des Autos gewählt hatten. Der Telegraph spielte von Militärstation zu Militärstation. An einer engen Wegstelle nördlich von Sidi-bel-Abbès verbarrikadierten arabische Gendarmen die Straße, die hier durch eine felsige, für einen Wagen unpassierbare Hügelgegend führte.
Kurze Zeit nachher kam der Kraftwagen in voller Fahrt dahergejagt. Die Anrufe der entgegengerittenen Gendarmen beachteten die Flüchtlinge nicht und stürmten in voller Fahrt gegen die aufgetürmten Steine. Der Wagen überschlug sich. Die beiden Deserteure wurden sofort getötet. Den Levantiner brachte man schwer verletzt nach Sidi-bel-Abbès, und nach einigen Tagen starb er im dortigen Hospital.
Die andere Geschichte schilderte ein erschütterndes Menschenschicksal:
Ein österreichischer Ingenieur war in jungen Jahren aus irgendeinem Grunde in die Legion verschlagen worden. Zwei Jahre lang trug er die Uniform. Dann gelang es ihm, zu entfliehen und sich nach seiner österreichischen Heimat durchzuschlagen. In dem Mann muß ein tüchtiger Kern gesteckt haben, denn er eroberte sich rasch eine angesehene Stellung in seinem Beruf. Und dann schüttete das Glück ein Füllhorn von Erfolg über ihn aus. Er machte eine bedeutende Erfindung, die ihm ein Vermögen einbrachte. Der Ehrgeiz trieb ihn, die Maschine, die er erfunden hatte, auf die große Weltausstellung nach Paris zu senden, und er war leichtsinnig genug, selbst nach Paris zu fahren. In dem erfolgreichen Ingenieur würde niemand den desertierten Fremdenlegionär erkennen, mag er sich gedacht haben. Aber die Grausamkeit des Zufalls wollte es anders. Als er in der Weltausstellung bei seiner Maschine stand, erkannte ihn ein Offizier seiner Kompagnie, der in Paris auf Urlaub war!
Der Offizier tat seine militärische Pflicht und ließ den Deserteur verhaften. Mit einem Schlage wurde aus dem Mann, der sich aus tiefstem Elend zu den Höhen des Lebens hinaufgearbeitet hatte, dem die Legionsepisode seines Lebens nur einen dunklen Schatten der Erinnerung bedeutete, wieder ein Legionssträfling in grobem Drillich. Einige Tage in einem Pariser Militärgefängnis, einige Stunden Fahrt in einem Gefangenenabteil der Eisenbahn, die kurze Meerreise von Marseille nach Oran, die qualvollen Minuten der Verhandlung vor dem Kriegsgericht – und dann ewiges, stumpfsinniges Arbeiten in einem algerischen Bergwerk als Zuchthaussträfling, in geistigem Tod, in unablässigem Tod, in unablässigem Sehnen. So lebte dieser Mann viele Monate lang, bis ihn das häßliche Klima hinwegraffte ...
*
Immer ist eine Flucht aus der Fremdenlegion ein schwieriges und waghalsiges Unternehmen, waghalsig, weil der ergriffene Deserteur den schwersten Strafen entgegengeht. Selbst der Besitz von reichen Geldmitteln bietet noch lange keine Gewähr für das Gelingen einer Flucht. Viele Hindernisse müssen überwunden, ein wahrer Berg von Schwierigkeiten muß überklettert werden.
Vom Beginn des Beginnens:
Die Zivilkleider liefert das Ghetto von Sidi-bel-Abbès.
Dort beginnt das erste Kapitel einer Legionärsflucht, die ersten Vorbereitungen, zu denen der werdende Deserteur nicht nur Geld braucht, sondern vor allem ein ausgeprägtes Talent für Handeln und Feilschen. Das Kaufen der Zivilkleider. Die Anknüpfung des Geschäftes ist sehr leicht. Der Legionär spricht in einer der winkeligen Gassen einen ganz beliebigen Passanten an und flüstert ihm zu, daß er jemand wüßte, der vielleicht Zivilkleider kaufen würde. Einmal in hundert Fällen mag der Passant den Kopf schütteln und seines Weges gehen. In den andern neunundneunzig Fällen macht er ein vergnügtes Gesicht und antwortet im gleichen Flüsterton, der Legionär solle unauffällig hinter ihm hergehen und mit in sein Haus kommen. Dort setzt der Schacher ein. Ganze Haufen von alten Kleidern werden hervorgesucht, bis sich etwas findet, das einigermaßen den Größenverhältnissen des Kunden entspricht. Stiefel kommen dazu, Wäsche und Kragen, Hut und Kravatte. Reell im Sinne des ehrbaren Kaufmannes ist die Geschäftstransaktion nicht!
Sie geht vor sich unter dem Prinzip: Möglichst schlechte Ware um möglichst teures Geld! In dem Käufer steckt schon die Nervosität der Flucht, und wenn er auch zu feilschen versucht, so bezahlt er schließlich doch einen Preis, der immer noch horrend ist. Fünfzig Francs kostet gewöhnlich solch ein alter Flüchtlingsanzug, dessen Hosen vielleicht aus Deutschland, die Weste aus Frankreich, der Rock aus Italien stammen, und der mit einem Zehn-Francsstück bedeutend über den Wert bezahlt wäre. Das Geschäft gestaltet sich aber noch weit besser. Ein Goldstück ist die Kompensation dafür, daß der Legionär im Hause seines »Geschäftsfreundes« sich umziehen darf; ein weiteres Goldstück verschlingt das »Disponieren« über die Uniform, die ein auch nur einigermaßen fürsorglicher Legionär nicht so leicht im Stiche läßt. Denn der ohne Uniform ergriffene Deserteur kommt wegen Diebstahls vors Kriegsgericht, und das durch seine drakonischen Sprüche berüchtigte Oraner Militärtribunal erkennt regelmäßig auf eine schwere Zuchthausstrafe. Aber der Mann Israels sorgt – gegen das bewußte Goldstück natürlich – gerne dafür, daß die Uniform und alle Ausrüstungsgegenstände seines Kunden dem armen Regiment erhalten bleiben. Die Methode bleibt sich immer gleich! Fein säuberlich zusammengeschnürt, lagert die Uniform drei oder vier Tage. Dann wirft nachts ein Ghettojüngling das Paket über die Mauer der Legionskaserne. Vorher ist es mit einem Zettel beklebt worden, auf dem Name und Nummer des verdufteten Besitzers stehen, damit die Herren von der Kleiderkammer sich nicht die Köpfe zu zerbrechen brauchen, wie die vom Himmel gefallene Sendung registriert werden soll.
Alles hübsch liebenswürdig!
Der Flüchtling aber wandert durch die Gassen des Judenviertels und die Straßen von Sidi-bel-Abbès und muß sehr aufpassen, daß er die ihm begegnenden Offiziere und Unteroffiziere nicht instinktiv militärisch grüßt! Sein Geld, das ihm die Zivilkleider verschaffte, und das noch für ein paar Wochen Unterhalt, für die Bahnfahrt und die Reise über das Mittelmeer ausreichen muß, ist ihm eine gewaltige Hilfe. Unendlich viele Schwierigkeiten liegen aber immer noch vor ihm.
Er darf nirgends auffallen, er muß seine Zunge hüten, damit ihn das eigentümliche Legionsfranzösisch nicht verrate, er muß die Rolle des unverdächtigen Reisenden meisterhaft spielen. Vom Bahnhof von Sidi-bel-Abbès, den Tag und Nacht ein Unteroffizierskommando der Legion bewacht, kann er natürlich nicht abfahren. Zu Fuß muß er nach irgend einer der Zwischenstationen laufen; je weiter von Sidi-bel-Abbès, desto unverdächtiger. Er macht einen gewaltigen Nachtmarsch, gefährlich durch die fortwährend streifenden arabischen Gendarmen. Dann kommt die Bahnfahrt nach einer Küstenstadt. In Frage kommen eigentlich nur Oran und die Stadt Algier, da nur von diesen beiden Plätzen aus regelmäßige Dampferlinien laufen. Oran wird wegen seiner Nähe und seinen vielen Legionsoffizieren gefürchtet. Die Reise nach Algier dagegen ist sehr teuer, und es kommt häufig vor, daß dem Flüchtling das Geld ausgeht und er mittellos in Algier steht. Deutsche Legionäre bestürmen dann gewöhnlich das deutsche Konsulat, bekommen aber den stereotypen Bescheid, daß »für solche Zwecke« keine Mittel vorhanden wären.
Das Konsulat kann aber nicht nur nicht helfen, sondern stellt obendrein noch die schönste und bequemste Mausefalle dar, die sich die französischen Gendarmen zum Fang von Deserteuren der Fremdenlegion nur wünschen können. Alte Legionäre warnen immer: »Geh' um Gotteswillen in Algier nicht zum Konsul.« Wenn aber ein Flüchtling dennoch den Konsul aufsucht, so bedeutet ihm dieser, wie gesagt, er könne ihm keinesfalls zur Flucht verhelfen.
Nun tritt die Mausefalle in ihre Fangaktion. Die Gendarmen in Algier wissen ganz genau, daß unter den Besuchern des Konsulats sich viele entflohene Legionäre befinden. Sie bewachen das Konsulatsgebäude mit scharfen Augen. Wenn ein »Herauskommender« auch nur im geringsten verdächtig aussieht, nehmen sie ihn sofort liebevoll in Empfang und erkundigen sich angelegentlichst nach seinen Legitimationspapieren. Damit ist der Flüchtling geliefert ...
Ich möchte wohl wissen, ob der deutsche Konsul in Algier eine Ahnung davon hat, daß er in aller Unschuld so und so oft das Verhängnis von deutschen Legionären geworden ist!
Der Flüchtling, dessen wenige Goldstücke die Eisenbahnfahrt verschlungen hat, und der die Passage übers Meer nicht mehr bezahlen kann, muß sich fast verloren geben. Seine Verhaftung ist meist nur eine Frage von Tagen. Ein unvorsichtiges Wort in einer Weinkneipe, verlegene Ausflüchte, wenn er sich Arbeit suchen will und keine Legitimationspapiere vorweisen kann, das Denunziantentum schließlich, das in Algerien in so wundervoller Blüte steht, liefern ihn bald den Gendarmen in die Hände.
Und selbst wenn das Geld reicht, wenn die Passage auf einer der Mittelmeerlinien bezahlt ist und das Passagierbillett schon in seiner Tasche steckt, ist er noch nicht geborgen. Die meisten Flüchtlinge, denen es gelungen ist, die Stadt Algier zu erreichen, machen den Fehler, auf einer der deutschen oder englischen Linien Passage zu nehmen, und werden im letzten Moment vor der Einschiffung verhaftet. Gerade die Passagiere der ausländischen Schiffe kontrolliert man außerordentlich scharf. Auf den französischen Paketbooten dagegen, die zwischen Algier oder Oran und Marseille laufen, werden Pässe oder Legitimationspapiere nicht abverlangt, weil sie nur zwischen französischen Häfen verkehren und als interner französischer Verkehrsweg gelten.
Völlig sicher für den flüchtenden Legionär ist die Route von Algier nach Tunis. Dort beachtet ihn niemand im Wirrwarr des riesigen Levanteverkehrs, und zur Passage nach einem italienischen Hafen braucht er keine Papiere. Aber die Kosten sind enorm!
Unter den desertierenden Legionären ist jedoch die Zahl derer, die in Zivilkleidern auf dem relativ einfachen Wege der Bahnlinien zur Küste und der Mittelmeerdampfer entfliehen können, verschwindend klein. Reisen kostet Geld ... Eine Flucht über die Stadt Algier erfordert ein kleines Kapital. Mindestens 150 Franks. Das ist noch sehr niedrig gerechnet, denn 70 Franks ungefähr verschlingt schon der Kleiderkauf in Sidi-bel-Abbès. Wie wenige Menschen gibt es in der Legion, die eine solche Summe auftreiben können!
In der großen Mehrzahl sind die armen Teufel, die nirgends in der Welt einen Menschen haben, der ihnen Geld schicken könnte oder wollte; die in ihren Legionsjahren niemals auch nur einen einzigen Silberfrank besitzen. Geschweige denn Goldstücke. Aus ihnen setzt sich das Gros der Deserteure zusammen und – das Gros der Sträflinge. Die Flucht gelingt ihnen selten, wenn sie auch Monate verbringen, um diese vorzubereiten und hundertmal mit alten Legionären den Reiseweg durchbesprechen. Es sind Leute, denen es tödlicher Ernst ist mit ihrem Fluchtvorsatz. Sie rennen nicht blindlings ins Land hinaus wie die poumpistes, die ja schließlich nicht mehr wollen als ein paar Tage vagabondierender Freiheit. Der natürliche Weg auch für sie ist der Weg zur Küste. In Uniform. Zu Fuß.
In den beiden Worten liegt der ganze Leidensweg dieser Flüchtlinge. Wenn auch die Entfernung zur Meeresküste von Sidi-bel-Abbès nur etwa 100 Kilometer beträgt, eine Strecke, die nicht viel besagen will für marschgewohnte Legionärsbeine, so ist dafür jeder einzelne dieser hundertundzwanzig Kilometer gefahrvoll. In seiner Uniform ist der Flüchtling auf weite Entfernung als Legionär zu erkennen. Zwar marschiert er nur nachts. Aber die Sternennächte sind hell in Algerien und er muß von Felsen zu Felsen, von Terrainwelle zu Terrainwelle schleichen, um ungesehen zu bleiben von spähenden Gendarmenaugen. Tagsüber liegt er regungslos im Sand. Er hungert und durstet tagelang, er lebt von Früchten, die er aus Gärten stiehlt, wenn ihn der Hunger dazu treibt, die Gefahr der Entdeckung zu riskieren.
Ist die Küste glücklich erreicht, so beginnt das Versteckspiel aufs neue. Lange Tage liegt er oft in einer der kleinen Küstenstädte, die von den Trampdampfern des Mittelmeeres angelaufen werden, in einem Schuppen oder in einem alten Boot am Hafen verborgen, bis ein Schiff einläuft, das die deutsche oder die englische Flagge führt. In tiefer Nacht schwimmt er dann zum Schiff hinaus, klettert an Bord und versteckt sich in einem der Schiffsboote oder zwischen den Kohlen oder im Laderaum. Erst wenn das Schiff auf hoher See ist, kommt er zum Vorschein, zur mehr oder weniger angenehmen Ueberraschung des Kapitäns. Nun ist er geborgen – über Bord kann man ihn schließlich nicht werfen. Es gibt übrigens viele Kapitäne, die ein Auge zudrücken, wenn ein solcher Flüchtling an Bord ihrer Schiffe entdeckt wird, auch dann, wenn der Dampfer noch im Hafen liegt – die ihn nicht wegweisen, die es in ihrer Menschenfreundlichkeit sogar auf Unannehmlichkeiten mit den französischen Behörden ankommen lassen.
Es sind meist deutsche Dampfer, und zwar Hamburger Schiffe. Immer wieder landen desertierte Legionäre in der alten Hansestadt und immer wieder ist im lokalen Teil der Hamburger Tageszeitungen die stereotype Notiz zu lesen, daß mit dem und dem Dampfer desertierte Fremdenlegionäre angekommen seien und vorläufig der Polizeibehörde übergeben wurden.
Dann und wann kommen sie sogar samt Uniform und Bajonett und Schärpe auf die Hamburger Zeitungsredaktionen und erzählen den geplagten Lokalredakteuren von ihrem Legionsleben und ihren Legionsleiden ...
Das sind die Glücklichen, der verschwindend kleine Teil der geldlosen Deserteure, denen die Flucht gelingt.
Der großen Mehrzahl winkt nicht die Freiheit, sondern das Gefängnis als Ende ihres Fluchtversuchs. Beziffern sich doch die Fangprämien der arabischen Gendarmerie für ergriffene Deserteure auf Tausende von Franks alljährlich!
Das Landsknechtsregiment kennt noch viele andere Fluchtwege, wenn man den Begriff »Desertion« so auffaßt, daß dem Deserteur jedes Mittel zur Befreiung vom Legionsleben recht ist. Im glühendheißen Sommer, zur Zeit der enormen Temperaturwechsel zwischen Tag und Nacht, schleicht Krankheit aller Art durch Algerien. Das Trinkwasser wird schlecht und der Typhus kommt: der seines Dienstes überdrüssige Legionär kann mit einiger Gewißheit darauf rechnen, gründlich krank zu werden.
Um aber ganz sicher zu gehen, hilft er nach – mit einem merkwürdigen Legionsmittelchen: er trinkt eine Mischung von Absinth und Milch. Jeder alte Legionär schwört darauf, daß dieser Höllentrank mit unfehlbarer Promptheit einen schweren Fieberanfall hervorrufe! Zweck dieser selbstmörderischen Art von »Desertion« ist natürlich, durch eine lange Krankheitsperiode sich von der Legionsarbeit zu drücken – sie erreicht diesen Zweck immer: oft so gründlich, daß das Fieber seinen Erzeuger auf den Friedhof der Fremdenlegion bringt!
Auf gleicher Stufe steht die Selbstverstümmelung, das Abhacken der Finger, um dienstuntauglich zu werden. Wieder eine andere Art von Desertion ist das Simulieren von Krankheit oder Wahnsinn, das bei dem Mißtrauen und der praktischen Brutalität der Legionsärzte sehr schwer ist. Dann und wann jedoch gelingt es einem Legionär mit eiserner Energie und unbeugsamem Willen, die Wahnsinnskomödie erfolgreich durchzuführen.
Die Mittel sind manchmal drastisch. In meiner Kompagnie diente einige Jahre vor meinem Legionseintritt ein Belgier, der über ein Jahr lang simulierte. Er beschmutzte die Mannschaftsstube auf eine Weise, die bei seinen Stubenkameraden Wutausbrüche auslöste, und beantwortete alle Vorwürfe und »Repressalien« nur mit einem blöden Lächeln. Er ließ sich schimpfen, er ließ sich schlagen.
Dieser Mann war konsequent. Er führte seine für ihn wie für andere unangenehme Wahnsinnsrolle beharrlich durch. Man sperrte ihn ein, man zwang ihn zu harter Arbeit, man schaffte ihn ins Lazarett und ließ ihn bis zur äußersten Grenze des Möglichen hungern oder malträtierte ihn schauderhaft mit Laxativen; er wurde wochenlang in eine Dunkelzelle gesperrt, er wurde ins Spital nach Daya geschickt und monatelang mit Kaltwasserbearbeitung nach allen Regeln der Kunst geplagt – alles umsonst! Seine Methode und sein Lächeln blieben unverändert. Nach dreizehn Monaten fühlten sich die Aerzte chikaniert, gaben die Sache als hoffnungslos und auf die Dauer uninteressant auf und erklärten ihn für blödsinnig. Der Oberst ließ sich den Kranken aus purer Neugierde noch einmal vorstellen, wobei der Blödsinnige ausgerechnet im Regimentsbureau einen Anfall seiner speziellen Wahnsinnsart hatte. Dann wurde der Mann als untauglich entlassen.
Kaum aber war er in seiner belgischen Heimat angekommen, so schrieb er an die Offiziere und eine ganze Reihe Legionäre seiner Kompagnie höhnische Ansichtskarten – – Er habe sie alle zum Narren gehalten und sie seien Esel! Der kolossalste Esel sei seiner unmaßgeblichen Ansicht nach der Generalarzt des Regiments!! Noch dümmer, wenn möglich, sei der Generalarzt von Algerien!!!
Eine enorme Energie gehört jedoch dazu, um ein derartiges Simulieren erfolgreich durchzuführen, und die Fälle des Gelingens sind in winziger Minderzahl. Die Aerzte der Fremdenregimenter sind gewitzigt, sind mehr als mißtrauisch, und das Resultat ist, daß eine gehörige Dosis Legionsbrutalität sich in der Krankenbehandlung konzentriert. Jeder sich krank Meldende, der nicht eine äußerliche Verletzung aufzuweisen hat, wird von vorneherein als Simulant behandelt.
Unser médecin-major war unter den Legionären besonders berüchtigt. Persönliche Bekanntschaft habe ich nur zweimal mit ihm gemacht. Das erstemal auf dem Manövermarsch, als er eine Arznei verweigerte, das zweitemal beim Impfen. In Sidi-bel-Abbès war ein Pockenfall vorgekommen, und sämtliche Legionäre sollten schleunigst geimpft werden. Kompagnieweise marschierten wir in die große Regimentshalle, wo Monsieur le major und drei Assistenten im Schweiße ihrer Angesichter arbeiteten. Eine derartige Façon des Impfens. wie dieser Arzt sie beliebte, habe ich noch nie gesehen, und ich bin wohl ein dutzendmal geimpft worden in meinem Leben: ich kenne die Arten des Impfens von dem in Deutschland üblichen leichten Lanzettstich bis zu dem Hautabschaben mit einem Elfenbeinstäbchen in Amerika. Als unsere Kompagnie im Gänsemarsch an dem Aerztekollegium vorbeidefilierte, sah ich mit staunender Verwunderung, daß die Leute nach der Impfung stark bluteten. Als die Reihe an mir war, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Der Stabsarzt stieß die Lanzette dreimal so kräftig in meinen Oberarm, daß sofort Blut herabrieselte!
Es war Roheit. Weiter nichts. Das mag den Mann illustrieren. Kranke pflegte er bei der ersten Meldung prinzipiell in ihre Kompagnien zurückzuschicken und sie wegen Simulation mit drei Tagen Arrest bestrafen zu lassen! Kamen die Leute wieder, so operierte er zunächst mit Brechmitteln, auf die eine gehörige Hungerkur folgte. Liebenswürdig war er nur, wenn er Typhus vermutete, der seine spezielle wissenschaftliche Liebhaberei war.
Die Legionäre fürchteten das Lazarett! Und nur die ganz Verzweifelten wagten einen Versuch, zu simulieren!
Es ist fast unerschöpflich, das Thema von den Desertionen der Fremdenlegion. Wenn die militärischen Transportdampfer mit den ablösenden Kompagnien der Legion von Oran oder Marseille nach Indochina fahren, so ist der Suezkanal ein beliebtes »Desertionsmittel«. Nach den Kanalvorschriften müssen die Dampfer in der schmalen Suezwasserstraße langsam fahren und – die Legionäre benützen häufig die schöne Gelegenheit, über Bord zu springen. Sie schwimmen die kurze Strecke ans Land und sind in Sicherheit. Die Wachen des Transportdampfers dürfen in den internationalen Gewässern des Suezkanals keinen Gebrauch von Feuerwaffen machen und können nicht auf die Schwimmenden schießen. Die ägyptischen respektive die englischen Behörden aber liefern desertierte Legionäre nicht aus.
Mehrere von diesen Legionstransporten passieren alljährlich den Suezkanal, und die Schwimmdesertionen sind so häufig, daß das Ghetto in Port Said einen festen Preis für die ausgezeichnet gearbeiteten Legionärsstiefel bezahlt – zehn Schillinge!
Massendesertionen kommen dann und wann vor, die mehr Meuterei sind als Desertion. Im tiefen Süden Algeriens, in der trostlosen Einöde der kleinen Forts brennt gelegentlich die ganze Besatzung durch, an der marokkanischen Grenze umherschweifend. Eine solche Massenflucht endet immer mit dem Erschießen der Rädelsführer. Die nächsten Truppen holen die Ausreißer sehr bald in Gewaltmärschen ein, und wenn auch einige Schüsse gewechselt werden, so bringt die Uebermacht die Meuterer bald zur Räson. Die letzte Massendesertion dieser Art hat ja in der ganzen Welt Aufsehen erregt. Solche Streiche verzweifelter Menschen sind nichts anderes als ein Wahnsinnsausbruch, herbeigeführt durch die entsetzliche Gleichförmigkeit, den unerträglichen Arbeitsdienst in den einsamen Wüstenstationen! Es ist weiter nichts als ein Ausbruch des Cafard! Die armen Teufel sollten von einem Psychiater beurteilt werden und nicht von einem Kriegsgericht!
Die Fremdenlegion ist ein fruchtbarer Boden für Massensuggestion. Zu meiner Zeit desertierten viele Legionäre aus Sidi-bel-Abbès, nur um sich nach Marokko durchzuschlagen, weil der Begriff Marokko durch all' das Debattieren von zauberhaftem Schimmer verklärt war. Das Unternehmen war ziemlich hoffnungslos – seine Ursache lag nur in der Suggestivkraft des Wörtchens » le Maroc«.
Marokko war das Wunderland, der Legionärsträume Sehnsuchtsziel. Kein Tag verging, ohne daß irgendein Gerücht über neue Konflikte im Nachbarland die Fremdenlegion in fieberhafte Aufregung versetzte. Die Kriegswolken ballten sich am marokkanischen Himmel zusammen. Von der Grenze kamen fortwährend neue Nachrichten über die geduldige Minierarbeit des Prätendenten, größere Gefechte fanden im Hinterland Marokkos in immer kürzeren Zwischenräumen statt, und in den wachsamen Offizierskreisen des französischen Afrika war man schon damals überzeugt, daß die inneren Unruhen in Marokko keine bedeutungslosen Thronzwistigkeiten, sondern die ersten Funken eines großen Brandes waren.
Die Fremdenlegion wußte das, denn was in den Offiziersmessen besprochen, beraten, gehofft wurde, sickerte durch viele kleine Kanäle zum Regiment durch. Ordonnanzen kamen fiebernd vor Aufregung in die Kaserne gerannt, wenn ihr Dienst in der Messe beendet war, und erzählten ihren Legionärsfreunden von den leidenschaftlichen Debatten am Offizierstisch, die sich alle um Marokko drehten. Burschen höherer Offiziere berichteten von geheimnisvollen marokkanischen Besuchen bei ihren Herren – abgelöste Spahis aus den marokkanischen Grenzgarnisonen, die auf der Durchreise nach Oran im Regiment verpflegt wurden, erzählten von scharfem Dienst an der Grenze und von Verstärkungen der Grenzstationen.
Die alten Legionäre steckten die Köpfe zusammen und spekulierten über die Aussicht auf blutigen Krieg! Wunderbare Dinge wußten sie zu erzählen über die goldenen Schätze Marokkos, über die Goldmünzen und den Schmuck, den vornehme Marokkaner bei sich tragen, und in phantastischen Träumen malten sie sich ein Eldorado von geplünderten Reichtümern und erbeuteten Schätzen aus. Täglich bekamen die geheimnisvollen Gerüchte neue Nahrung. Weit über die Hälfte der Offiziere des Regiments wurde nach den kleinen Grenzstationen abkommandiert, und es war sehr natürlich, wenn man in der Legion darin ein bedeutsames Kriegszeichen sah. Mit vielem Schmunzeln erzählte man, daß der Oberst sich zwei Instruktoren genommen habe, um seine Kenntnisse im Arabischen auf die Höhe zu bringen, und begeisterte sich über umfangreiche Munitionssendungen aus Frankreich, für die in aller Eile ein neuer Patronenschuppen gebaut werden mußte. Gegenüber in der Spahikaserne wurde eifrig rekrutiert. Täglich kamen die neuen arabischen Rekruten mit ihren prachtvollen Pferden an. Telegraphenabteilungen gingen zur Grenze ab, um die alten Linien nachzuprüfen und neue anzulegen, Freiwillige für den Heliographendienst wurden verlangt, und alte Legionäre, deren Dienstzeit abgelaufen war, bekamen von diesem oder jenem Offizier einen Wink, daß es für sie vorteilhaft sein würde, ihre Entlassung jetzt nicht zu nehmen ...
Marokko war die Losung. Auf dem Umwege über Unteroffiziere, Ordonnanzen, Offiziersburschen, mag allerlei hinzugedichtet und so manches ins Groteske verzerrt worden sein, aber es hörte sich alles sehr wahrscheinlich und sehr typisch an. Die Legion ist wie ein großes Hörrohr – sie fängt aus unzähligen kleinen Kanälchen den Offiziersklatsch, die Offiziersintriguen in sich auf und weiß eine Menge Dinge über die militärischen Affären des nördlichen Afrika: sie weiß, daß die leitenden militärischen Kreise in Algerien ihre höchsteigene Militärpolitik treiben, daß das kluge Schlagwort von der »pénétration pacifique« in einem Kasino geprägt wurde, daß das gewinnsüchtige Schielen nach Marokko so alt ist wie die Okkupation Algeriens!
Es war, als ob alle im Banne einer Suggestion stünden. Die Sehnsucht nach »le Maroc« übertrug sich auf die Legionäre, die das nervöse Sehnen nach Veränderung und Aufregung auf ihre Art ins Praktische übersetzten – sie rissen in Scharen aus – nach Marokko. Die meisten fanden den Tod. Die Grenzstämme schnitten ihnen den Hals ab.
Andere waren glücklicher. Im Heere des Prätendenten, des jetzigen Sultans Mulay Hafid, dienten viele ehemalige Fremdenlegionäre als Offiziere!