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Als Weihnachten hereinbrach, war auch im Distelfinkhaus viel festliche Vorbereitung, was Kuchen, Braten, Tannenbäume und Lichter anbetraf. Und am 23. Dezember war Illo mitten in der Packerei seines Rucksackes, nachdem die Geschenke vorausgeschickt waren. Der Meister sah etwas scheel drein und gönnte doch so herzlich dem jungen Freund das Fest bei seinem Englein. Aber er hatte am Vorheiligabend sich ein Fest für den Illo ausgedacht, zu dem wohl auch das Englein gepaßt hätte. Doch die Mutter Eulenried auf der Burg war eben erst von einer Krankheit genesen und brauchte das Mädchen noch nötiger als sonst. – Distelfink hatte auch ein Weihnachtsgeschenk für Illo, den Gesellenbrief. Und viele Meister und Gesellen der Stadt hatte er in den großen Saal des Distelfinkhauses eingeladen, darinnen früher reiche Feste gefeiert worden waren. Die Seele des Festes war aber Kaspar Gärisch, der sich nicht genug tun konnte, dem »Gesellen« Illo liebes anzutun. Denn mit der hoffnungslosen Liebe zur schönen Meistertochter im Herzen fühlte er sich dem Illo gegenüber schuldig. Das wollte er gutmachen. So lief er sich beinahe die Füße ab, wie weiland die Hündin von Münchhausen. Ein Karmen hatte er verfaßt, das er vorsichtigerweise dem Meister vorlas, ehe er es »aufsagte«. Und Meister Distelfink lehnte es rundweg als »schwülstig« ab. Grollend legte Kaspar es zu seinen anderen Gedichten, die desgleichen von jeder Druckerei zurückgewiesen waren, hoffte aber, es doch einmal dem Illo versetzen zu können, sei es auch dereinst an seinem Sterbetag.
Der »Gesellentag« verging in aller Feierlichkeit. Die Meister beglückwünschten den Gesellen und besichtigten die Erbuhr mit uneingeschränkter Bewunderung. Es war wohl nicht einer unter diesen wackeren Bürgern, der dem strebenden Handwerker-Baron seinen raschen Aufstieg neidete. »In knapp einem Jahr die Lehrlingszeit beendet. Alle Achtung! Glückauf weiterhin!« Das waren die Trinksprüche.
Am 24. Dezember war Illo voll Unrast. Er hatte einen Kasten in Arbeit gegeben, in den er die Spieluhr legen wollte, eine würdige Umrahmung und ein angemessener Aufenthalt für das Meisterstück. Schmied Westermann, der sich für alles interessierte, was es zwischen Himmel und Erde gab, hatte die Arbeit mit Freuden übernommen und hämmerte und feilte nun schon wochenlang an dem schönen Stück herum. Nun war die schwere Kassette fertig, und es brauchte nur noch der überaus fein geschmiedete, kleine Distelstrauch mit dem singenden Finken aufmontiert zu werden. Illo hatte sich schon von jedem arbeitsreichen Tage, in dessen Verlauf ihn der Meister zur Erholung in den Wald jagte, ein Viertelstündchen abgerungen, um in der Westermannschmiede einzukehren. Dort verfolgte er mit Staunen und Bewunderung die arbeitende Künstlerhand des Schmiedemeisters. Wie dieser mit Ballhammer und Spitzhammer arbeitete! Mit den Dörnern den Distelstrauch mit dem Finken darauf austrieb, dessen Reliefbild sich rings um die Truhe wiederholte. Liebevoll betrachtete Illo die Werkzeuge, betrachtete sich den Flachhammer und die Platte aus Blei, die als Unterlage diente, und kam aus dem Staunen nicht heraus, mit welch sicherer Hand die Ornamente vom Schmiedekünstler hineingetrieben wurden. Bräuniert sollte die Kassette erst später werden, wenn Illo von seiner Burg zurückkehrte. Auch der Zaponlack wartete ihrer, um den Rost zu verhindern. Illo schüttelte dem Meister dankbar die Hand. Wie froh war er, daß er ihn für seine mühsame Arbeit auch angemessen und gleich auf der Stelle entlohnen konnte. Durch eigenen Verdienst, der auch den Geschenken an die Seinen einen höheren Wert verlieh. Und das nahm er sich vor, allezeit dafür zu werben, auf daß jedermann den Handwerker in dem Augenblicke bezahlte, da er die fertige Arbeit aus des Meisters Hand empfing. Dann trug er den fertigen Schatz wohlverwahrt auf seinen Armen in das Uhrmacherhaus. Auf der Straße grüßten ihn festliche Gesichter, und aus den niedrigen Bürgerhäusern duftete es nach »Weihnachtsschittchen«.
»Grüß Gott, Herr Geselle!« rief man ihm zu. »Gelle, das geht sich jetzt leichter, denn als Lehrling?!« Da Illo aber die schwere Truhe schleppte, konnte er die Wahrheit dieser Worte nicht recht spüren.
Die Base empfing ihn scheltend, und Meister Distelfink sah ernst drein. »Das ganze Mittagessen versäumt«, rief sie. »Und ich hatte extra ›Hutzeln und kalte Nanscherle‹ für den Herrn Gesellen gemacht. Jetzt schlägt's ein Uhr, und Sie müssen nun ohne Warmes im Leib auf die kalte Wanderschaft gehen, wenn Sie noch vor Dunkelheit bis Ilmenbach kommen wollen.«
»Und das nennst du ›erholen‹?« warf der Meister ein. »Kommst heiß und rot vom Spaziergang und schleppst gar Steine ins Haus?«
Aber Illo lachte recht wie der »Spötter« auf dem Tannenbaum, oder auch wie ein echter Eulenried mitten in den Jammer der Base hinein: »Man kann den Tod von solcher Unpünktlichkeit kriegen!«
»Am Heiligabend stirbt man nicht, Base Konkordia, da würde man ja seine Geschenke einbüßen. Hunger hab' ich nicht, hab' den ganzen Bauch voll Freude!«
»Du liebe Zeit! Und hat nicht mal'n Bauch. Ist so lang und dünn als ›Lewerenzen sein Kind‹.«
Illo nahm die schwere Truhe noch einmal auf und schleppte sie in die Werkstatt. Der Meister selbst hielt ihm die Tür offen. »Niemand darf hereinkommen, bevor das Christkind geklingelt hat«, rief er den beiden zu.
»Das Christkind wird wohl gar nicht hier sein«, nörgelte der Meister, »ist ja auf Burg Eulenried ...«
Illo trat wieder zu ihnen. »Das Christkind ist überall«, sagte er fast feierlich. »Wir wollen alle recht weihnachtlich gestimmt sein, gelle?«
Liebevoll umfaßte er den Meister. »Ich bleibe heute bei Euch, Großvater, ist dir's recht?«
Ganz wild wurde da das graue Männchen, und die Motte flog wieder in der Stube herum. »Das soll mir doch niemand nachsagen, daß ich ein doppelter, elender Selbstsüchtling bin. Und was soll mein Englein sagen?«
»Kein doppelter und kein einfacher«, entschied Illo. »Und das Englein erwartet mich erst morgen. Ist schon alles abgemacht.«
Da ward freilich der Meister eitel Freude, aber die Base aufs neue erschrocken.
»Den Tod kann man haben von diesen Überraschungen. Und nun hab' ich kein Geschenk für den Herrn Gesellenbaron. Hatte mir gedacht: Braucht er uns nicht, brauch' ich mich auch nicht für ihn zu sorgen. Aber ich weiß was, ich weiß was.« Und als dann am Abend das Tannenbäumchen brannte, da holte sie aus ihrer Truhe ein geheimnisvolles Paket, das sie Illo feierlich überreichte. »War auch einmal Braut«, sagte sie verschämt. »Sind jetzt fünfundvierzig Jahre her, da hab' ich diese Strümpfe dem Bräutigam gestrickt. Er ist gestorben, und nun weiß ich keinen Würdigeren, als den Herrn Gesellenbaron. Nehme Er's freundlich an!«
Illo dankte geziemend. Und wenn es sich auch in der Folgezeit erwies, daß von den derben Strümpfen nur noch ein Häuflein mottenzerfressener Wolle übrig war, so erfuhr doch die Base niemals von diesem traurigen Umstand und konnte nicht »den Tod davon haben«.
Illo spielte auf dem gut erhaltenen Spinett, auf dem das Englein seine Studien gemacht hatte, einen Choral: »Kommet ihr Hirten, ihr Männer und Frauen, kommet das lieblichste Kindlein zu schau'n. Fürchtet euch nicht.«
Da öffneten sich die Türen der Nachbarhäuser, und die Leute kamen in das Distelfinkgewese, traten in die Vorhalle und lauschten andächtig. Fielen auch mit ein bei den folgenden Strophen, und Illo sang hell mit seinem schönen, geschulten Tenor.
Ein Weihnachtslied folgte dem andern, bis Illo endlich sacht das Spinett schloß. – Still entfernten sich die Nachbarn, ohne zu stören, und die Zurückbleibenden reichten sich beglückt die Hände.
Die Truhe mit dem Distelbusch und dem Finken, der den Schnabel zum Singen geöffnet hatte, stand auf des Meisters Tisch. Der war weiß behangen mit einer Decke, die mit alter wertvoller Klöppelspitze umsäumt war. Tannen und Stechpalmzweige mit roten, leuchtenden Beeren gaben den grünen Untergrund, auf dem die Truhe ruhte.
Ein Kunstschlüssel öffnete das Kunstschloß.
Der Schlüssel zitterte in des Meisters Hand. »Was soll das? Was soll das?« fragte er hilflos.
»Es ist ein Weihnachtsgeschenk für Euch, Meister«, sagte Illo Eulenried mit bebenden Lippen. »Nehmt es an, ich bitt' Euch. Prüft es genau! Ich bin Euer Lehrling, durch Eure Güte seit gestern Geselle. Richtet über mein Werk.«
Lange war es still im Weihnachtszimmer. Die Lichter brannten ruhig und die Tanne duftete, als sei es Frühling, oder die Julisonne brenne auf sie herab. Längst hatte Distelfink die Spieluhr aus der Truhe gehoben, hatte sich davor gesetzt und mit scharfen, gesegneten Uhrmacheraugen das Werk geprüft. Jetzt berührte seine Hand einen Hebel und drückte ihn nieder.
Da klang es zart und melodisch in die tiefe Weihnachtsstille hinein: »Du, du liegst mir im Herzen!«
Wie ein Schluchzen kam es aus der Brust des grauen Männleins: »Meister! Junger Meister!«
Dann straffte er sich und faßte Illos Hand, Feierlich stand er vor seinem Lehrling.
»Ich segne den Tag, da ich dich im Thüringer Walde fand. Dies ist ein Meisterwerk. Und in meinem Hause wurde es geboren. Gebt ihm die Hand, Base Konkordia und du, Geselle Kaspar Gärisch.«
Nach und nach verlöschten die Wachslichtchen, aber sie dufteten stärker im Vergehen.
Draußen sangen die Glocken das uralte Lied der Heiligen Nacht.
*
In Ilmenbach wie in aller Welt hatte man das neue Jahr angetreten. Nur daß es im kleinen Dorf und Gut und auf der einsamen hohen Burg stiller geschah als in Groß- und Kleinstadt.
Dankwart Eulenried hatte im Januar ebenso fleißig und stetig mit seinen alten Insten gearbeitet wie im Dezember. Aber es hatte längere geruhsame Abende gegeben, an denen die Frauen spinnen und stricken, die Männer gute Bücher lesen konnten. Bei allem, was förderte, war der junge Gutsherr immer voran. Man gehorchte gern dem fleißigen, bedächtigen Führer, der Hand in Hand mit dem bekannten und bewährten Bauer Kreihorst ging.
Dankwart hatte seine saubere, richtig gehandhabte Buchführung abgeschlossen und seinen Reingewinn geprüft. Er war gut gewesen. Dankwart konnte hoch aufatmen, und Bauer Kreihorst klopfte ihm auf die Schulter.
»Dein Junge kann sich freuen!« bemerkte er trocken.
Gemeinsam machten sie ihre Bestellungspläne und brachten ihr Inventar in Ordnung. Es kamen Bauern und Gutsbesitzer aus der Umgegend, um seine Ställe zu sehen, und es sprach sich herum, wie genau es Dankwart mit der Pflege seiner Tiere nahm. Wie er sie fütterte und putzte, seinen Insten ständig auf die Finger sah, daß sie immer verschlagenes Wasser reichten und die Ställe stets warm und doch gut gelüftet waren. Keller und Mieten waren bei ihm wohlverwahrt. Auch hatte er keinen Verlust an Pferden und Kühen, wie manche Bauern, und seine vor dem Kalben stehenden Kühe bekamen kein Milchfieber, weil er aufpaßte, daß ihnen beizeiten das Kraftfutter entzogen wurde.
So kam es, daß ältere Bauern und Oberknechte den jungen Landwirt um Rat fragten und Dankwart ringsum geachtet und von seinen Insten geliebt war. Elisabeth Eulenried war glücklich und stolz und trug ihr Glück und ihren Stolz hinauf zur Burg, wo die Mutter und Tante Hermine sich mit ihr freuten. Das Englein aber lernte von allen und hütete das Ührlein, das Illo gebaut hatte und das an ihrem Arm tickte.
Der kurze Februar verging im Fluge. Er hatte schon Mehrarbeit gebracht.
Anfang März, es war der sonnigste Frühlingstag, den man sich denken konnte, traf ein Brief von Dankwart an Illo ein. Ein Jubelbrief. Die übermächtigste Freude lohte aus dem Schreiben. Illo wurde davon so angesteckt, daß er wie unklug in der Werkstatt herumtanzte und seine »tausend Räder und Rädchen« in Gefahr brachte. Ein Junge! Ein Erbe! Aus gutem Adel und bewährtem Bauernblut. Damit schloß der Brief, auf wunderlichem, rasch hervorgekramtem Papier geschrieben. Ohne Unterschrift. Aber es war doch Dankwarts Hand zu erkennen. Nach einer halben Stunde kam ein Bote mit hängender Zunge herangeprescht mit einem zweiten, diesmal sehr dicken Schreiben.
Fortsetzung: Der Junge wiegt sieben Pfund. Aber noch ein kleines Mädchen sechseinviertel kam hinterher. Lach' nicht, dummer Illo. Es ist ganz richtig so für mich. Als Uhrmacher kannst Du so etwas nicht verstehen. Ich muß doch ein Maidli zum Einheiraten in mein Gut haben. Hörst? Der Junge hat es seiner Mutter schwer gemacht. Unter Hagel und Sturm, Blitz und Donnerschlag ist er endlich erschienen. So ein Bengel! Wißbegierig, wie alle Eulenrieds sind, hat er sehen wollen, wo es brennt. Es brannte auch wirklich, denn ein kleines, unbedeutendes Schlägelchen war in die Kammer des Hütejungen eingedrungen und war bald gelöscht. Kaspar ist übrigens herausgestürzt mit »Hurra, ich bin gerettet! Meldet es nur gleich dem Fräulein Angela, die sorgt sich um mich!« Hast Du Worte, Illo? Der Hütejunge wird täglich verrückter. Aber so lange es dem Vieh nicht schadet, lasse ich ihn gewähren. Es soll Martin heißen.« –
Wer? Das Vieh? Der Hütejunge? Nein, wahrscheinlich das Kind! Das Erstgeborene. Illo faßte sich an den Kopf. Können schwere Geburten auch dem Vater schaden?
Aber Dankwarts Brief ging weiter:
»Ich bin von der Hebamme hinausgewiesen worden und habe deshalb Zeit, an meinen einzigen Bruder zu schreiben. Das Maidli (sechseinviertel) soll Angela heißen. Warum sollen wir nicht zwei Engel auf der Burg haben? Man kann von so was nicht genug kriegen. Ist dir's recht?«
Ja, es war ihm recht. Auch der Name seines Patenjungen. Alles, was im Bereich der Wartburg geboren wird, müßte Martin heißen. »Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen!«
Illo rief die Lutherworte so laut, ja schallend heraus, daß Muhme Konkordia erschrocken aus der Küche hereinpolterte.
»Was machen Sie für Sachen? Sind Sie unklug geworden, Geselle? Herr Baron?«
»Ich arbeite«, sagte Illo seelenruhig und hob mit der Pinzette ein winziges Plättchen vor das Auge.
»Man kann den Tod haben von solchem Gebaren«, murmelte die Base. »Wie kann man rufen, daß vor Schreck die Hühner auffliegen: ›Hier stehe ich, ich kann nicht anders!‹ Und gleich drauf sitzen und arbeiten?« Sie schlurfte verzagt in ihre Küche.