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Die mit »warmer Hand« überwiesen« große Spende der treuen Verwandten besaß Zauberkraft. Und die einfache Lebensführung des jungen Paares, der eiserne Fleiß des Gutsherrn Dankwart, auf den sich die wohlbedachten Ratschläge des alten bewährten Bauern stützten, waren aufbauende Kräfte für das ehemals so vernachlässigte Gewese. Man diente plötzlich gern auf diesem Gut, das von einem ernst-frohen Mann bewirtschaftet wurde, der niemals mit barschen Worten den Herrn herauskehrte. Dankwart arbeitete so selbstverständlich Schulter an Schulter mit seinen Leuten, hörte auch gern einmal auf den Rat des braven Oberknechtes seines Schwiegervaters. Und dann verglichen die beiden Jüngeren ihre Meinungen mit der des Bauern Kreihorst, die dann fast immer die ausschlaggebende war. Und wie man ehemals heimlich und öffentlich, jedenfalls selbstverständlich vom »untergehenden«, ja »verlotterten« Gut gesprochen hatte, so hieß »der Eulenried« jetzt nur noch das »fröhliche Gut«. Denn man hörte singen, allein und im Chor, immer, wie es die Arbeit mit sich brachte. Das hatte der musikalische Dankwart angeregt. Und seine Frau Elisabeth hatte eine Strickstube eingerichtet, lehrte auch das Flicken, das nicht nur im raschen Zusammenziehen eines Loches oder einer Naht bestand. Und im Winter sollten die Thüringer Spinnstuben wieder ihr Recht bekommen. Wenn dann die Bürschchen sich dazu gesellten, dann verlor freilich das Wirtshaus an diesem Sonnabend seine Gäste. Dafür war aber auch in der Dorfstraße kein »Gröhlen« zu hören, sondern zwei- und dreistimmige Volkslieder. Auch Bauer Kreihorst war ganz froh geworden. Die Aussicht auf einen Enkel und zugleich Stammhalter der Eulenrieds ließ ihn noch einmal so beschwingt arbeiten und auch die Gewißheit, daß der alte Löwe da oben im Schloß sein Brüllen eingestellt hatte und sich auf alte Ritterlichkeit besann, die Tochter Elisabeth beglückte. Am Tage, da die große Versicherungssumme im Hause Kreihorst einlief, die dem Bauern Kreihorst gleich zum neuen Haus- und Scheunenbau verhalf, sah Dankwart mit Schrecken in den Büchern, daß sein gottverlassener ehemaliger Administrator in Schulden bei der Versicherung stand. Blind war der alte Baron an diesem Schlendrian vorübergegangen. Und in den Herzen des jungen Ehepaares wuchs immer fester die Dankbarkeit für das alte, sorgende Jüngferchen Hermine, das die Mittel zu neuer Versicherung herbeigeschafft hatte. Dankwart ging wie auf Federn. Die Disteln blühten reich und voll und sagten einen schönen, warmen Herbst voraus. Dann würden auch die Zugvögel sich nicht vor Michaelis verabschieden und gutes Wetter gar bis Weihnachten gewährleisten. Und kämen Herbstgewitter mit Schnee, so würden sie doch dem nächsten Jahre nicht schaden.
Dankwart schaffte neues Saatgut an und merkte, daß durch die frühere schlechte Bewirtschaftung sein eigener Boden nicht genug lieferte. So nahm er Saatwechsel vor. Sein Schwiegervater beobachtete all dies gute Mühen und freute sich innerlich, ohne darüber zu sprechen. Das sparte er sich für die kargen Stündchen auf, da er zu Tante Hermine »fensterln« ging und das noch starke, frohe Mitempfinden der lebendigen alten Dame genoß. Er wußte auch, wie warm sie seine anerkennenden Worte oben im Schloß der kranken Mutter wiederholen würde, damit sie endlich einmal wieder eine geruhige Nacht verbrachte. Und dabei machte es dem Alten Freude, Dankwarts Eifer zu beobachten. Er und Dankwart hatten heiße Zeit. – Dieser hatte Kunstdünger gekauft; es machte dem alten Landwirt Freude zu sehen, wie bedächtig sein Schwiegersohn darauf sah, daß mit Maß gestreut wurde. Auch hatte er nur von gewissenhaften Händlern gekauft, die ihre Ware unter Kontrolle der Versuchsstation stellten. Es ging nichts bei Dankwart verloren, was der Ältere ihm anriet; das machte dem Alten den Jüngeren so wert. Beide Landwirte bestellten jetzt Wintergerste, und von der Mitte des Septembers an sollte Roggensaat »in alte Furche« kommen. Kreihorst hatte seinem Schwiegersohn eine Drillmaschine geschenkt, weil er Drillkultur für besser als Handsaat hielt, schon weil man Saatgut dabei sparen konnte. Der verabschiedete Administrator hatte unverantwortlich in allen Beständen gewirtschaftet. – »Selbst ist der Mann«, war Dankwarts Parole, und er würde alles wieder einbringen. Wie Elisabeth aufblühte! Ihre derben, strengen Züge waren merkwürdig weich und zart geworden. Das hatte alles die Liebe getan, das Vertrauen und die Zuversicht des Geborgenseins bei diesem gütigen, starken Mann, der sie auf Händen trug. Und nicht zuletzt die beglückende Gewißheit, daß sie dem uralten Geschlecht, dem edlen Namen, der herrlichen Thüringer Burg als schlichte Bauernfrau den Erben schenken würde. – Sie war viel allein, die junge Frau. Deshalb stieg sie jeden Tag hinauf zur Burg, um nach der Mutter zu sehen, die sie tief ins Herz geschlossen hatte. Gut und lieb wurde sie immer von allen empfangen, wenn sie Grüße von Dankwart brachte. Der Beginn der Kartoffel- und Rübenernte hielt ihn auf dem Gute fest. Ebenso das Einbringen des Grummet und die Bewässerung der Wiesen.
Die junge Angela Distelfink, die glücklich gelandet war, hatte sich rasch mit den ganz veränderten Verhältnissen vertraut gemacht, und als muntere Thüringer Forelle schwamm sie auch in fremdem Gewässer herum. Sie betrachtete mit schier andächtiger Scheu die junge werdende Mutter. Elisabeth aber war als Dankwarts Frau sicher und unbefangen geworden. Und das Englein schämte sich solcher Freundlichkeit und Güte gegenüber, daß es jemals »wüst« getan.
Ilmenbach, im September 19.
Mein geliebter Illo!
Vergiß, daß mir das Schreiben mit meinen verkrümmten Händen schwerfällt, und schick' mir, bitte, als Antwort nicht nur eine kurze Notiz. Denn das Heimweh nach Dir ist viel zu groß für eine jämmerliche Postkarte. Kannst Du mein Geschreibsel lesen? Gelle ja?! Was hat mir der liebe Meister Distelfink für ein schönes Paketel geschickt ! Und ich eigensüchtige Frau habe es mit Freuden angenommen. Das Englein! Trägt wirklich seinen Namen mit Recht. – Manchmal freilich, wenn es eine böse Geschichte hört, oder gar erlebt, etwa so etwas von Tierquälerei, dann blitzt es in den schönen Augen auf, als wollt' ein Teufelchen herausspringen, – kommt aber doch nur ein Englein herfür. Sie kann sich fabelhaft auf Kandare reiten, die kleine Angela. Nun hat sie uns bereits alle am Bändel, von Deinem Vater an bis zum Hütejungen aus dem Instenhaus des Bauern Kreihorst, »unseres Schwiegervaters«, wie wir alle sagen. Als »Fräulein Distelfink« dem Vater vom Diener gemeldet wurde, ist er gar nicht nett gewesen. Er hat, wie er mir später polternd sagte, gefürchtet, die ganze Uhrmacherzunft wolle nach Burg Eulenried übersiedeln. Deinen Berufswechsel hat er Dir ja immer noch nicht verziehen. – Aber Dein lieber Vater ist ja leider oder in diesem Falle Gott sei Dank der letzte, der einem so einzig schönen Geschöpf widerstehen könnte. Er hat aber keineswegs ihren Namen »Englein« aufgenommen, sondern nennt sie das »Ührchen«, zieht sie auch mindestens dreimal am Tage gehörig auf, weil dann das Teufelchen in den Augen erscheint, wie der Kuckuck in einer Schwarzwälder Uhr. Ihre schnabelfertigen Antworten entzücken ihn, während Dankwart und Tante Hermine sie ducken. Ich selbst bleibe neutral. Denn Angela betreut mich rührend, scheut keine Arbeit und entlastet Tante Hermine. Gestern aber hat ihre Art Deinen Vater sehr verschnupft. Er rang sich nach langem Kampf die Anregung ab: »Erzählen Sie doch mal von meinem Sohn, dem Baron Illo ...« Und da sagt das Ding mit langgezogenem verächtlichen »Aaaach: Unser Lehrling??? Von dem weiß ich gaaar nichts!« Das war nicht böse von ihr, aber recht urwüchsig und durfte nicht sein. Vater hat es sehr übelgenommen und spricht nun viel von kleinbürgerlichen, schlechten Manieren. Diese hat sie aber durchaus nicht, und als ich sie freundlich zur Rede stellte, klagte sie sich selbst an. Erzählte, daß sie Dich eben durchaus nicht leiden könne, und bat deshalb herzlich um Verzeihung. Denn Du seist so gut und lieb und klug wie kein Mensch sonst auf der Welt, und fein und ritterlich auch gegen die einfache Base Konkordia. Und sie wisse nicht, wie es komme, daß Du ihr, der Angela, so widerwärtig seist. Bitterlich weinte das arme Ding, und ich erzähle Dir alles treulich als Deine mit Dir fühlende Mutter. Armer Illo, es muß schwer zu ertragen sein, wenn man so »gehaßt« wird ... Eines aber weiß das Englein ganz genau und beichtete es mir mit rührender Offenheit, nämlich daß ihr Großvater ein sehr reicher Mann ist und sie seine einzige Erbin. – »Aber was soll ich mit dem vielen Gelde, wenn ich doch meinen Großvater dann nicht mehr habe?« – Auch daß sie außergewöhnlich hübsch ist, weiß sie und leidet darunter. »Alles sieht mich an«, klagte sie, »und das ist kaum zu ertragen. Ich wollte, ich sähe aus wie Muhme Konkordia.« Da gab ich dem Schafköppchen recht und meinte, Du würdest sie dann auch abscheulich finden, und ihr wäre geholfen. Nun ist sie nachdenklich geworden, geht versonnen ihres Weges, und das kleidet sie erst recht gut. Du siehst, wir Frauenzimmer haben andere Nöte als Bauern und Uhrmacher. Und ein gütiges Geschick mag geben, daß Du in absehbarer Zeit das Räderwerk des »Ührchens« in Ordnung bringen kannst. – – Dies ist der aufrichtige Wunsch
Deiner treuen Mutter.
P. S. Daß wir Eulenrieds allesamt uns die Nachschriften nicht abgewöhnen können. Ihr Jungens müßt es von mir geerbt haben, denn euer Vater schreibt ja gar nicht. Aber er bangt sich nach Dir, wenn er Dich auch nicht grüßen läßt. – Der Fürst hat mir geschrieben, daß am nächsten Sonntag die Überführung unseres lieben Wildrichs und seiner Braut Sybille in das Waldgrab stattfinden soll. Es ist neben der uralten fürstlichen Waldkapelle ausgeschaufelt worden. Du kennst den Platz, mein Illo, und weißt, wie einzig schön er ist. Viel dummes Zeug habe ich Dir geschrieben, ehe ich diese ernste Sache zu Papier brachte. So wunderlich sind Mutterherzen ... Es reißt mich immer noch um, wenn ich an unseren Wildrich denke. Kannst Du es nicht möglich machen, zu dem feierlichen Tage herzukommen? Du darfst nicht daran denken, daß Dein Vater Dich damals »zum Teufel« geschickt hat, gelle, Illo? Seitdem ist ja so viel Wasser die Ilm hinuntergelaufen. Sei gut, Illo! Um meinetwillen komm' zur Ruhestätte Deines Bruders und an das Herz Deiner alten Mutter. –
Illo sah recht wie ein fahrender Gesell aus, als er am Sonnabend vor Michaelis in aller Herrgottsfrühe von seinem Meister für drei Tage Abschied nahm. Nebenbei sah er mißmutig aus, denn er grübelte über einen Fehler in seiner Erbuhr und hatte ihn in diesen Tagen finden wollen. Aber der Meister hatte es ihm verwiesen.
»Sieh in den Spiegel, Junge, und dann sag' mir ehrlich, ob du noch derselbe frische Kerl bist, der im Mai, im schönen Maien, viel noch im Sinn hatte. Hohläugig bist du geworden und schmal. Die Nachbarn reden schon drüber, und die Base Konkordia jammert, daß man Schlüsse auf ihre Kochkunst zieht. Was an mir liegt, so glaub' ich, du hast Heimweh, und das ist nichts Unrechtes, und wird am besten durch ein Wiedersehen geheilt. Wiedersehen mit der Mutter. Das ist's. Denn die Heimat, dein Thüringen, hast auch hier, und die hohen Tannen und die hohen Berge. Und »Hochland ist überall, wo ungeschreckt die Seele sich aus Bitternissen reckt«. Hast Bitternisse? Glaub's nicht.
Bist verliebt? Schaust ja kein Dirnlein an. Trotzdem du in Eisenach an der Quelle sitzt. So was Schönes wie dahier an Meidlis findst nimmer. Weiß Bescheid. Hab' mir auch einmal mein schönes Weib aus Eisenach geholt. Aber Schönheit vergeht, Schweinsleder besteht! sagt Krischan Anderson. Kannst glauben, daß Muhme Konkordia einmal das schönste Mädchen landauf, landab war, nach der sich Fürsten und Prinzen herumdrehten?«
»Nein, das glaub' ich nicht!« sagte Illo störrisch.
»War aber doch so. Aber herb wie eine Schlehe gegen alle Mannsleute. Blieb sitzen. Will als Jungfrau sterben.«
»Geschmacksache!« warf Kaspar Gärisch dazwischen, der sich im Hintergrund zwischen Riesenschränken befand.
»Bist auch da, Kaspar?« Der Meister war unwirsch. »Immer kommst du mit Schluderworten dazwischen. Und nun, Illo, übergib mir de ne Erbuhr zu treuen Händen. Wenn du wiederkommst – drei Tage sind bald verflogen –, wirst den Fehler schon finden. Dein Gehirn braucht Ruhe.«
»Und daß mir niemand an die Uhr kommt!«
»Schäm' dich, Illo. Meinst, ich, der Uhrmachermeister Distelfink, könnt' einem Genie in den Kram pfuschen? Und ihm seine Herzenssache fortnehmen? Eine Erbuhr, wie ich sie noch nie in Händen hatte? Von meinem eigenen Ahn gefertigt?«
»Meister, ich bitt' Euch, – ich hab's nicht bös gemeint l« rief Illo, denn das graue Männlein war ganz aus dem Häuschen.
Illo rannte in seine Kammer und holte die auseinandergenommene Uhr, alle Räder und Schräubchen und Plattinen, streng und sauber geordnet, und der Meister schloß alles mit zitternden Händen in seinen festen Geldschrank.
»Hast Vertrauen, Illo? Da, nimm diesen Schlüssel mit. Kein Mensch kann an den Schrank ohne deinen Schlüssel und du nicht ohne den meinen, den ich um den Hals trage. Am Montag abend bist wieder da. Und mein Englein grüß' mir, sie soll brav tun. Und sag' ihr nicht, daß es mir das Herz abstößt, sie bei fremden Leuten zu wissen.«
»Das Englein ist nicht bei fremden Leuten. Meine Mutter und Tante Hermine, das sind auch zwei Engel, so ist Ihr Kind unter seinesgleichen ...
Der Meister beruhigte sich. »Brav bist, Illo, und sorg', daß das Englein mir schreibt. Du lieber Gott, wie ist mir das Dinglein ans Herz gewachsen.«
»Wenn du wüßtest, daß sie niemand mehr aus meinem Herzen losreißen kann«, dachte Illo. Und dann versprach er dem Meister alles und auch seine eigene pünktliche Rückkehr.
Kaspar Gärisch gab ihm ein Stück das Geleit. »Ein ›Schenie‹ hat der Meister dich genannt. Wenn er das mal in der Handwerkskammer sagt, bist du ein gemachter Mann. Illo, ich nenn' dich ›Sie‹, wenn du wiederkommst. Will mich diese drei Tage üben. Werde es an einem Besenstiel üben, der ist auch so lang und mager wie du. Es ist gut, Illo, daß du mal fortgehst. Du verwirrst mich. Bist ein Baron. Hättest eine lebendige Prinzessin zur Schwägerin gehabt, wenn sie nicht tot wäre. Sowas habe ich sonst nur in Märchen gelesen, und die lügen doch wie gedruckt. Jetzt gehst du los in deiner Lehrlingskluft, aber inwendig bist du ein Baron und bist von unserem Fürsten eingeladen, damit du deinen Bruder und seine Tochter beerdigst. Illo, sowas kann der stärkste Mensch nicht verdauen. Sieh mal, wenn ich dich nicht so liebte, würde ich dich verhauen ob deiner großen Anmaßung, aber so nenne ich dich lieber ›Sie‹. Grüß mir auch das Englein. Es ist mir eine Beruhigung, daß es dich ebensowenig leiden mag wie mich. So werden wir ewig Freunde bleiben. Geh' mit Gott und allen Heiligen!«
»Du bist närrisch, Kaspar. Ich wollte, ich könnte dich mitnehmen, meine Leute würden unsagbaren Spaß an dir haben.«
»Nein, Till Eulenspiegel kann ich nicht spielen. Und drei Tag lang mit Fürsten umzugehen, da würde ich mir was vergeben. Ich bin ein Uhrmachergeselle und bitte mir Respekt aus.«
»Leb wohl, Kaspar. Hier trennen sich unsere Wege.«
»Das ist gut, Illo. Denn du hast, ohne es zu wissen, mich geduzt. Rasche Trennung ist das beste. Leb wohl, Lehrling.«
Er stelzte steif davon. – Illo war ganz fröhlich geworden. Heimat, Heimat l Er durfte die Mutter ans Herz nehmen, die treue Tante Hermine, durfte Wildrich die letzte Ehre geben und seinem Dankwart die Hand schütteln. Ja, – und das Englein wiedersehen... Lautauf jauchzte er und jodelte in den Wald hinein. Menschen, die ihm begegneten, drehten sich lächelnd nach ihm um. – Der herbe Duft der Tannen berauschte ihn. Nach zwei Stunden Weges warf er sich längelang auf den Heimatboden und küßte ihn. – Er pflückte Preißelbeeren, und Brombeeren, die in warmer Septembersonne die Nachreife bekommen hatten. Dann sprang er wieder auf und wanderte weiter. Glückselig lachte und sang er vor sich hin. Einen mächtigen Hunger fühlte er, wie er ihn in seinen Stubenhockerwochen nie gespürt. Wieder hielt er kurze Rast. Die Butter-, Wurst- und Schinkenbrote der Base Konkordia verschwanden hinter seinen festen Zähnen. Heißen Kaffee barg die Thermosflasche, und in den tiefen Taschen des Rucksackes lagen noch leckere Schmalzsemmeln und harte Eier. Oh, die Welt war doch eine schöne Einrichtung! Zuletzt nahm er einen prallen, festverschnürten Beutel aus dem Rucksack, schnürte ihn auf und schüttete das Geld aus, nachdem er seine Joppe über den Schoß gebreitet hatte.
Fünfzig Taler! Einhundertfünfzig Mark! Selbstverdient! Durch die unfaßbare Güte des Meisters Distelfink, der sowohl dem Gesellen, als auch dem Lehrling selbst verdienen ließ, weil er ihre Kraft über Gebühr einschätzte. Lernen sollten sie, unablässig durch die vielen Kunden, die Kurgäste, die Sommerfrischler, die mit seltsamen alten Uhren, aber auch mit neuen schönen Taschenuhren ankamen, Uhren, die stehenblieben, und Uhren, die über das Maß vorwärtsstrebten. Und die beiden fixen Kerle fanden die Schäden, und der Meister rieb sich die kleinen Hände vor Freuden. Und ließ seinen tüchtigen Mitarbeitern die Freude am klingenden Lohn. Er selbst hatte ja genug von seinen Eltern und diese wiederum von den ihren geerbt. Meister Distelfink hatte vorbildlich für sein Enkelkind gesorgt und gespart und auch seine Vaterstadt im Falle seines Ablebens reichlich bedacht. So brauchte er sich nicht am Verdienst seiner genialen jungen Helfer zu bereichern. Kaspar Gärisch und Illo Eulenried wurden oft von reichen Honoratioren herangezogen, um kniffliche Reparaturen an alten Uhren vorzunehmen. Und wenn sie gelangen, dann war nicht geknausert worden mit klingendem Lohn und ehrenvollen Worten. Illo brauchte nichts für sich. Seine guten Gesellschaftskleider waren daheimgeblieben, er war stolz auf seine Lehrlingskluft. Nahrung und Wohnung bekam er im gastlichen Distelfinkhause, er ging nicht zu Tanz und Lustbarkeit, sondern dachte nur an den Schwur, den sich die Brüder gegeben, Dankwart zu helfen, das Gut wieder flottzumachen und hie und da der Mutter eine besondere Freude zu bereiten. Diese Freude steckte in dem schweinsledernen Beutelchen, das er heute am Spätabend der Mutter auf den Schoß legen wollte. In knabenhaftem Eifer hatte er die Taler in heißem Seifenwasser gewaschen, mit Lederlappen sie trockengerieben, bis sie hell glänzten als das, was sie waren, blankes Silber. – Jetzt packte er seinen Schatz wieder fein säuberlich zusammen, grub das Papier, in das seine Butterbrote gewickelt waren, tief in den Boden ein, damit sein Wald sauber zurückblieb, wo er getafelt hatte. Und dann ging's unter Singen und Flöten wieder talab und bergauf. –
Die Abendglocke tönte feierlich vom Kirchturm in Ilmenbach. Der Eulenried folgte etwas später, sein Turm war ja viel älter als die Ilmenbacher Kirche, viel schwerer drehten sich die schon etwas müden Räder seiner Uhr. Aber wuchtig und hallend klang noch der Schall.
Illo nahm den Hut ab und senkte den blonden Kopf. Dann hob er ihn wieder und grüßte die Heimat, seine Burg, die so trutzig da oben ragte. – Einen Juhuschrei stieß er aus und lief einem Reh nach, das er aufgescheucht hatte, und das vor ihm herjagte, und das er doch bald einholte, weil es sich auf den moosigen Waldboden fallen ließ und trotzig zu ihm aufblickte. Es atmete hastig von dem raschen Lauf.
»Englein«, rief er glücklich, »hast du mich erwartet ?«
»Was du denkst, Lehrling. – Luft wollt ich schnappen.«
»Hast nicht genug und satt droben auf unserer Burg? Mußt ins Tal laufen?«
»Fängst schon wieder an, mich zu frozzeln, Lehrling? Soll das immer so bleiben? Hab erst vor ein paar Tagen deiner Mutter gesagt, – ja, – daß ich dich hasse, hab' ich gesagt.« Englein weinte.
»O ich weiß, ich weiß, aber gelle, nun tut es dir leid, und du willst mir heute sagen, daß du mich lieb hast, ist es so, Englein?«
Sie nickte still. Das war so seltsam bei dem störrischen Kind, so beglückend. Illo umfaßte sie und zog sie mit sich bis zu einem Holzstoß, den hatten Holzfäller am Stamm einer hohen Buche aufgerichtet und zwischen dem Holz und der Buche noch ein Eckchen freigelassen, daß man recht wie in einem Hüttchen sitzen konnte.
»Wirst mich wieder schlagen, Englein?« fragte er leise, ehe er sie küßte.
Da schlang sie die Arme um seinen Hals. Nach einer Weile hob sie den Kopf und schob Illo von sich. »Ich muß dir beichten, du, sei nur nicht so gut mit mir. Ich hab deine Mutter belogen, – ich hasse dich gar nicht.«
»Ist die Möglichkeit! Und ich hatte geglaubt, man könne sich auf dein Wort verlassen!«
»Ich hab' dich lieb, Lehrling, – darauf kannst du dich verlassen.«
»Du närrisches Dinglein, mit Deinem ›Lehrling‹. Wenn ich auch noch kein Meister in der Zunft bin, der deinige bin ich auf jeden Fall, hörst?«
»Ja, ich höre, und ich hab' es schrecklich gern, wenn du so herrisch tust.«
Er küßte sie wieder, und sie lag still an seiner Schulter. Dann standen sie auf, und er sah ihr ernst in die Augen und strich sanft über ihr schimmerndes Haar.
»Sieh', Englein, es ist nicht ganz recht, was ich eben tat. Du bist die Enkelin vom reichen Distelfink, und ich bin gar nichts.«
»Du bist der Illo!« sagte sie strahlend.
»Ja, aber das ist nichts Rechtes und nicht genug. Ich habe erst heute gehört, von der Muhme Konkordia, daß dich schon junge Meister begehrt haben, die ganz große Werkstätten führen – – wirst du denn auf mich warten, bis ich auch so weit bin?«
Sie sah ihn erstaunt an. »Sagst doch selbst, daß Großvater reich ist. ... Ich brauch ihm nur zu schreiben, daß ich dich will, und er baut uns ein Haus.« »Du eingebildetes Närrlein! Ich hab' ja ein Schloß, wozu brauch' ich ein Haus? Und meinst du, ich will abhängig sein von irgendeinem Menschen auf der Welt? Und wenn's der liebste wäre? Du wolltest ja nachsehen, ob sich eine Werkstatt einrichten läßt in der Burg. – Nun? Wird es gehen?«
Sie sah ihn unsicher an. »Ich weiß es nicht«, sagte sie zaghaft.
»Du mein Liebes, es muß gehen. Und die Uhrmacherwerkstatt soll ein Schmuck für die Burg sein, – das ist mein Wort. Überleg' es dir recht oft, recht fest, ob du auf deinen Illo warten willst. Aber nicht zu lange ...«
Er sah ihr tief und gut in die Augen.
»Ich weiß schon, was ich will«, sagte sie fest. » Nunquam retrorsum! Deine Mutter hat es mir übersetzt.«
Dies liebe, feste, sichere Wort war wohl noch einen Kuß wert. Fest aneinandergeschmiegt schritten sie durch den tiefen Heimatwald.
Am Fuße des Burgberges trennten sie sich. Angela lief wie ein Wiesel den Berg hinauf.
Lachend, mit strahlenden Augen sah ihr Illo nach und dann begann sein bedächtiger Aufstieg. Denn er war ja nun Bräutigam, ein zielbewußter Mann, der eine Verantwortung übernommen hatte für ein anderes Menschenkind. Aber doch als er in der Burg angekommen war, versank für ein paar Minuten seine Liebesseligkeit in einem anderen, tiefwurzelnden Glücksbewußtsein, das keine Bedenken, keine Zweifel kannte. Er riß die Tür auf: »Mutter! Mutter!« Er lag auf den Knien vor ihrem Krankenstuhl, zwei Arme umschlossen ihn fest. –