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Herbst an den englischen Seen.

(1862.)

 

et haec olim meminisse juvabit.
Aen. I, 203.

 

1.
Furneß-Abtei.

Der District der Seen – » the lake district« – nimmt die äußerste Nordwestecke von England ein, umschließt einen Theil der Grafschaften Lancaster, Westmoreland, Cumberland und stößt hart an die Ausläufer der Berge von Schottland und das » border-land«, jene Grenzscheide, auf welcher – hochgefeiert in der alten Dichtung beider Völker – die blutigsten und romantischsten von allen Kämpfen zwischen Schotten und Engländern ausgemacht worden sind. Der Boden ringsum ist reich an kriegerischen Spuren der Vergangenheit; die letzten von Nessel und Stechpalme überwucherten Reste römischer Stationen, sowie die zahlreichen Burgen, die theils in Trümmern liegen, theils von den späten Nachkommen der ersten Erbauer noch bewohnt werden, geben Kunde von jenem wilden Geist der Fehde, der hier länger als ein Jahrtausend getobt, der mit dem düstern Namen der Picten verbunden zuerst in der Geschichte auftaucht, und die Tage innerer Zerrissenheit, die Kriege der weißen und der rothen Rose überdauernd, sein Ende erst fand in jenem Staatsacte, welcher die beiden Königreiche zu einem Namen und einem Parlament verband.

Aber seitab von diesem Schauplatz des ununterbrochenen Haders hat die Natur alles, was sie Schönes, Liebliches und Friedevolles besitzt, in einen Umkreis der Berge geflüchtet, welche mit blauen, weichen Contouren eine Gegend umschließen, mannichfaltig geschmückt mit allen Reizen landschaftlicher Anmuth, mit Wald und Wiese, mit Hügeln und Abhängen, vor allem aber mit dem, was der Landschaft die Seele ist und ihr den Ausdruck des Seelischen verleiht: mit Wasser, mit Seen! Dieses ist das Land der Seen – ein Heiligthum der englischen Vorzeit, deren Andenken sich mit den Ueberresten des celtischen Druidenthums hier in so manchem stillen Seitenthal verbindet – ein Heiligthum der englischen Poesie, welches den Erinnerungen an Coleridge gewidmet ist, das Grab von Wordsworth birgt und in dem Namen der »Seeschule« ein unvergängliches Denkmal in der Geschichte der englischen Literatur erhalten hat.

Man kann sagen, daß das »alte romantische Land« bei Lancaster beginne, eine Stunde (mit der Eisenbahn) hinter Preston, der Baumwollenstadt, und zwei hinter Liverpool, der Stadt der Schiffe und des Welthandels. Hier, in Lancaster, steht ein altes wettergraues Schloß, mit alten wettergrauen Thürmen, von denen einer durch des römischen Reiches Kaiser Hadrian im Jahre 122, und ein anderer, mehr als 1000 Jahre später, durch den ritterlichen Plantagenet, Eduard III., erbaut worden ist. Auf dem höchsten dieser Thürme stand ich einst, an einem sanften Herbstnachmittage vor Jahren, das Auge gefesselt von der rings ausgebreiteten Schau – von der Stadt, die sich mit ihren grauen Bleidächern terrassenförmig an dem Berg emporzieht – von Feld und Wald, grün im bläulichen Herbstduft – von dem Fluß, der sich ruhig durch die Ebene schlängelt, von dem Irischen Kanal, mit langsam darüber hinwandelnden Segeln und Masten, und von den Westmoreland-Hügeln, hinter welchen die Seen liegen. Mein Blick folgte einer Rauchsäule, welche fein durch den blauen Herbstäther zog – es war die Eisenbahn, die zu diesen Seen und nach Schottland ging; und ein Gefühl ergriff mich, ähnlich demjenigen, welches der Dichter schildert – »das Land der Griechen mit der Seele suchend«.

An diesen Herbstnachmittag gedachte ich, als ich, vier Jahre später, an demselben Schloß und unter demselben Thurme vorbeifuhr. Es war ein Herbstnachmittag, wie jener, aber voller, sonniger, nach einer Reihe schwerer und dunkler Tage; und so war auch meine Seele reifer und voller ergriffen von dem Glück, wieder frei zu sein. Von einer kurzen Wanderung durch die damals hart bedrängten englischen Weberdistricte hatte ich eine so traurige Empfindung, einen solchen Druck von Schwere und eisiger Kälte mitgenommen. Ich kann an die Bilder menschlichen Jammers, die ich dort gesehen, nicht ohne Pein zurückdenken; und sie vermischen sich in meiner Erinnerung mit dem Nebel, zäh und gelb, mit dem Regen und dem Winde, welcher scharf und schneidend vom benachbarten Meer heraufwehte und jene Tage zu den düstersten machte, die ich in England erlebt habe.

Aber hier, bei Lancaster, wo die Wege sich scheiden, kam die Sonne wieder. Sie vergoldete mit ihrem späten Lichte den Thurm, auf welchem ich schon einmal gestanden, und die Fläche von Grün und Blau, welche mir nicht mehr unbekannt war. Ein unbeschreiblich schönes Gefühl neuer Lebenslust erweckte dieser Abschiedsschimmer des Tages, welcher auf grünen Gräsern und Halmen sprühte, feucht noch von großen Regentropfen, die zuweilen funkelnd wie Diamanten zu Boden fielen. So warm in den Farben, dabei so klar und verheißungsvoll wie an jenem Abend über dem Gestade und dem Gewässer der Morecambe-Bai, hatte ich die Sonne sehr lange nicht niedergehen sehen. Die Morecambe-Bai ist eine tiefe Einbucht, welche die Irische See in die Küsten von Lancaster und Westmoreland gebrochen. Ein breiter Sandgürtel, silberschimmernd gegen das dunklere Blau des Wassers, welches nun in den röthlichen Goldtinten des Abends wogte, umspannt diese Bai, und dicht am Rande derselben liegen die Schienen der Bahn. Es gibt nichts Erhabeneres für die Seele und das Auge als den Anblick des Meeres in solchen Momenten der Feier, – wenn über dem Meer ein anderes Meer von Licht und Farben, von Glut und Herrlichkeit ausgegossen scheint. Es hat etwas Märchenhaftes alsdann, von jenem Glanz und Zauber, welcher die Vorstellung des Menschen hinreißt und ihr in den großen purpurnen Wolken die Bilder von phantastischen Gebirgen und Palästen zeigt, als ob die verschollenen Inseln für einen Augenblick aus der Meerestiefe emporgetaucht seien. Jetzt steht die Sonne wie ein feuriger Ball auf dem schauernden Rande des Gewässers – jetzt fliegt ein Dunst über sie, wie wenn man eine blanke Scheibe anhaucht – ihre reine Schönheit wird getrübt, das Feuer löscht aus, das Roth geht in Grau über, Wolken steigen auf, das Meer ist kalt, der Zauber ist zu Ende, die Sonne ist fort. Es ist dunkel, und die Fahrt geht in ein unbekanntes Land. Denn Dämmerung und Nacht sind am Meer kaum unterschieden.

Solch eine Fahrt in ein dunkles, unbekanntes Land hat etwas ungemein Ahnungsvolles für die Seele. Man weiß nicht, wo sie enden und wohin sie uns führen wird. Mitten in der Monotonie des Eisenbahngerassels bewahrt sie uns noch ein Stück von der alten guten Art, wo das Reisen an sich noch eine Wonne war, wo es das Gemüth noch und nicht blos das Auge beschäftigte. Kaum nun war der letzte Sonnenfunken verglommen, so blitzten schon aus den Bergschluchten die Abendlichter herauf, wie Märchenlichter aus Bergspalten. Bald war ein dumpfes Rollen und Rauschen zur Linken – das Meer; bald ein leises Flüstern und Wehen zur Rechten – der Wald, der zuweilen bis dicht an das weithin flache Ufer reicht, halb um schroffe Felsvorsprünge hoch hinauf klettert.

Endlich hielt der Zug, und wir waren in der Abtei, oder vielmehr erst an der Station, die von ihr den Namen hat – Furneß-Abtei. Aber beide sind Wand an Wand, und unter einem Dache. Welch ein wunderlich Stück Romantik ist das doch, daß man mit der Eisenbahn mitten in eine alte Abtei hineinfährt! Aber so ist es. Hier, wo die Maschine hält, umgeben von Hecken mit Herbstrosen und Ruinen mit Epheu, steht noch das alte Manor-Haus, in welchem einst vor 700 Jahren der Abt von Furneß residirt hat. Das Kloster und die Kirche sind zerfallen; aber in diesem Manor-Haus hat sich's die Gegenwart wieder wohnlich gemacht, und berühmt wie ehemals wegen der Heiligkeit seiner Mönche, ist heute dieses Thal wegen des Comforts seines Hotels und der malerischen Grandeur seiner Ruinen – »das Thal des tödlichen Nachtschattens«, also genannt nach einer Pflanze, die hier vor alters reichlich blühte und noch zu sehen ist in dem zerbrochenen Siegel der alten Abtei.

Es war bis vor kurzer Zeit bei uns Mode, England für das Land der Prosa zu halten, und nur selten fiel es jemand ein, anders als in Geschäften dorthin zu reisen. Und doch ist England nicht blos eins der schönsten, sondern auch eins der poetischsten Länder – reich an lieblichen Landschaften sowol wie an großartig wilden Moor- und Heidescenerien. Nirgends wieder auf so engem Raume sind so viele Gegensätze vereint, bietet die Reise eine solche Mannichfaltigkeit der Anblicke. Aus einer Stadt, welche schwarz ist vom Rauche der Fabriken, tritt man in eine andere von stillem, mittelalterlichem Aussehen mit Giebelhäusern und ehrwürdigem Dome. Das Meer, welches zwei Welten verbindet, brandet an seinen Küsten und versammelt in den geräumigen Häfen derselben die Flotten aller Nationen. Baroniale Hallen, von weiten Thierforsten umgeben, und herzogliche Schlösser, mit Epheu umwuchert, erheben sich in seinem Innern. An den Abhängen seiner Berge weidet die fette Heerde, und in der flachen Ebene bestellt der behäbige Farmer den fruchtbaren Ackergrund. Wie durch einen gutgepflegten Garten fährt man durch ganz England, und das Gefühl des Wohlergehens, welches überall herrscht, theilt sich dem Wanderer mit. Er nimmt theil an dem Segen, der lachenden Anmuth und Zufriedenheit, welche ringsum ausgebreitet sind, und findet in dem kleinsten Wirthshaus am Wege noch ein wie immer beschränktes Maß von jenem Comfort, welchen der Engländer zum Genusse des Lebens nothwendig erachtet, und selbst in jener verrufensten Klasse von Sterblichen, den Kellnern, etwas von dem steifen Anstand und gemessenen Würde, die in einer höhern Stufe des Lebens den »Gentleman« charakterisiren.

Ein solcher Biedermann mit weißer Halsbinde und schwarzem Frack empfing mich beim Aussteigen, und nicht ohne einen innern Kampf gegen meine angeborene deutsche Ehrfurcht vor solchen Kleidungsstücken erlaubte ich demselben, sich meiner Reiseeffecten zu bemächtigen, worauf ich ihm durch eine von späten Rosen und Verbenen umflüsterte offene Halle auf die steinerne Flur der alten Residenz der Aebte von Furneß folgte.

Wie durch einen Zauberschlag war ich hier mit einem mal in die Romantik des Mittelalters versetzt. Nicht in eine solche, wie wir sie zuweilen in Museen und Kunstkammern bewundern – nein, sie lebte wirklich rings um mich her und ich lebte mitten in ihr. Gestern noch im nebelig trüben Liverpool, heute noch in der Armuth des bedrängten Weberdistricts von Preston, und jetzt in der lieblichen Stille, in dem köstlichen Frieden des »Nachtschatten-Thales«! Welch ein Name schon! Aber nichts auch riß den Wanderer aus dieser seltenen Illusion. Ich stand in einer hohen Halle, welche mit gebräuntem Balkenwerk gedeckt war. Nach beiden Seiten öffneten sich Kreuzgänge mit jenen Spitzbögen und massiven Pfeilern, die mir so wohl bekannt waren aus der alten Klosterschule, in welcher ich meine Jugend verlebt habe. Alles, bis ins kleinste Detail, war streng im Stile jener lange vergangenen Zeit gehalten: die Fensterbögen, das Balkenschnitzwerk, die Treppengeländer und Fußböden, die Stühle, die Hausgeräthschaften, sogar die Lampen, Candelaber und Kronleuchter, welche, obwol sie mit Gas erleuchtet waren, doch sehr altmodig aussahen und aus Messing verfertigt waren. Ein großer schlanker Windhund war der zweite, der mich nach dem Mann in Frack und Binde gastlich begrüßte; er kam, als ich eintrat, von der Treppe dahergeschritten, legte seinen schönen Kopf traulich an meine Knie und sah mich mit seinen braunen Augen zärtlich an, ganz so, wie es in alten Zeiten Mode gewesen, wo die Hunde noch bei der solennen Bewillkommnung der Fremden in ritterlichen oder klösterlichen Aufenthalten nicht fehlen durften. Ein süßer Geruch von den Blumen des Herbstes, Levkoien und Reseden, wehte mir entgegen, draußen schon aus den Beeten der Veranda, innen in der Halle aus hohen Sträußen steigend und mit manchem andern Parfüm gemischt, zuletzt dem starken Geruch von Weihrauch nicht unähnlich, welcher denn der Vorstellung, als ob man in ein klösterliches Gebäude trete, neue Nahrung gab.

Nun aber ging zum Glück diese Illusion nicht weiter. Denn sogleich erschienen vor der »Culina« – in der Sprache der modernen Wirtschaft »Küche« genannt – einige allerliebste Mädchen, deren klösterliches Habit in schneeweißen säubern Küchenschürzen bestand, und aus dem »Refectorium«, alias »Speisesaal«, traten einige nicht minder liebenswürdige junge Damen, die aber die Klosterregel gar so weit gebrochen hatten, daß sie an den Armen junger Herren gingen und unter dem Portal, welches nach dem Garten führt, demnächst verschwanden. Eine von den allerliebsten Nonnen aus der Küche nahm einen Messingleuchter, mit vielen wunderlichen Schnörkeln und Fratzen verziert, und führte mich über allerlei Treppen und durch allerlei Gänge, welche mit schweren grünrothen Plüschteppichen bedeckt waren, in ein lauschiges Kämmerlein mit kleinen, bleigefaßten Spitzbogenfenstern, durch welche von außen wilder Wein hereinrankte. Die Bäume und die Wasserfälle rauschten, der Sternenhimmel glänzte; und nur einen Blick hinaus in dies Schimmern, Klingen und Flüstern – einen Athemzug that ich. Dann wandte ich mich wieder um. Aber meine kleine Nonne war indessen verschwunden.

So gut es ging suchte ich ihren Spuren zu folgen, denn es war nichts Leichtes, sich in diesem Labyrinth von Ecken und Winkeln, von Treppen und Treppchen zurechtzufinden. Nicht sie, doch den Ausweg fand ich wieder und trat in den Garten, welcher an der Seite eines plätschernden Baches zu den Ruinen führt. Sie standen im Dunkel der Nacht ehrwürdig, ausgedehnt, ein wenig schauerlich da – als ob jeden Augenblick ein Geist aus ihnen heraustreten könne. Aber es blieb still. Nur zwei Bäche rauschten, der eine munter plätschernd, der andere etwas ferner, dumpf, geheimnisvoll, wie die unverständlich gewordene Stimme einer weiten Vergangenheit.

Auf dem Rasen, unter der Veranda und hinter der Klostermauer in dem Schattengange hoher, düsterer Kastanien ging es indessen viel lebhafter zu. Hier promenirten und kicherten viel lustige Pärchen. Da ward in dunkeln, abgelegenen Pfaden so viel gewandelt, – da rauschten über den Rasen so viele Frauengewänder – und da hinten, vor der Thür, leuchteten wieder die weißen Nonnenschürzen ... Nun auf einmal trat der Mond über dem dunkeln Waldgebirg herauf, klar, licht, ganz silbern – ein wundervoller Contrast zu dem goldenen Kometen an seiner Seite, dem dunkelblauen Walde gegenüber. Das war ein Blick! Der Garten ganz in Licht gebadet, die Bäume, die Gebüsche tiefe, breite Schatten werfend und im Hintergründe wie wirklich auferstandene Geister die hohen, offenen Bogen der Fenster und Portale, durch welche das Mondenlicht floß. Die Stimme der Natur mit all ihren süßen, gerngehörten Tönen redete hier unablässig mit dem Menschenherzen; und lange noch, bis zu einer späten Stunde saß ich da, um das Flüstern, Rauschen und Tropfen von Wind, Wasser und Laubwerk zu hören, welche diese Einsamkeit rings umweben.

Plötzlich war mir, als ob ich einen andern Klang mitten in dieser bezaubernden Monotonie vernähme. Ich erhob mich und schritt den Ruinen noch einmal zu, welche jetzt silberweiß, von großen dicken Schattenmassen rings umgeben, unter dem Mondenhimmel dastanden. Wieder kam mir jenes bängliche Gefühl, als ob ein ungekanntes Etwas aus den Ruinen heraustreten müsse, und diesmal sollte ich mich nicht ganz geirrt haben. Es war zwar nur ein Lied, aber ein süßes Lied, und gesungen von einer weichen, jugendlichen Frauenstimme. Als ich hinlauschte, da war es das schottische Volkslied: » Corn-rigs are bonnie, oh« – und hell und lieblich klang es mitten aus den schauerlichen Ruinen her zu mir:

Es war in einer Sommernacht;
Wenn's still im Korn und wonnig, oh!
Und bei des Mondscheins klarer Pracht
Stahl ich mich leis zu Annie, oh!
Die Zeit flog hin, wir merkten's kaum,
Bis daß der Strahl, der erste,
Des Tags uns weckte aus dem Traum
Im Feld, wol in der Gerste.

Langsam in jener dem schottischen Volkslied eigentümlichen Weise war der Gesang verklungen; doch nur, um alsbald wieder aufgenommen zu werden, und zwar diesmal von einer kräftigen Männerstimme:

Ich hab' mit Freunden oft gezecht,
Und lustiglich getrunken,
Und bin dabei oft, recht und schlecht.
Auch untern Tisch gesunken:
Doch all die Lust beim Becherschall,
Die größte und die hehrste:
Die eine Nacht war werth sie all
Im Feld, wol in der Gerste!

Hierauf vereinigten sich die beiden Stimmen gar anmuthig zu dem Refrain:

Kornfeld und Gerstenfeld,
Und jedes Feld ist wonnig, oh!
Nie will vergessen ich die Nacht,
Die Nacht im Feld mit Annie, oh!

Noch war der Vers nicht zu Ende, als es in den Ruinen rauschte und eine Gestalt heraustrat, im leichten, lichten Gewande – eine Frauengestalt, schlank, fein, zierlich und schön, wie der Mond mir zeigte, der ihr Gesicht jetzt voll bestrahlte.

Sie sah mich nicht. Neckisch faßte sie ihre Kleider zusammen und rief nach dem Thurme gewandt: »Harry, jetzt lauf ich weg!« Aber ehe sie ihre Drohung ausführen konnte, war »Harry« schon auf der untersten Stufe des Thurmes zum Vorschein gekommen, sprang herab, umfaßte sie, hielt sie fest und sagte fröhlich: »Nun versuch's, Jessie!« Worauf er sie herzhaft küßte.

Gern wäre ich in der Dunkelheit geblieben. Allein jetzt hatten sie mich bemerkt. » I beg your pardon«, sagte ich, indem ich ihnen Platz machte; Jessie schien sehr bestürzt und rief: »Um Gottes willen«, aber Harry beruhigte sie und mich mit einem » Never mind« und war sogar so liebenswürdig, mich um Feuer für sein Pfeifchen zu bitten. Meine brennende Cigarre mochte mich ihnen wol verrathen haben.

Dann traten wir zusammen unsern Rückzug an, und unterwegs erzählte mir Harry, daß sie ein junges Ehepaar seien und hier und an den Seen ihren »Honigmond« (bei welchem Worte Jessie kicherte) verleben wollten. Es waren übrigens zwei bildhübsche junge Leute, und schienen sich sehr lieb zu haben. Im Manor-Haus war es schon ganz still geworden. Der einzige, der sich noch auf der Flur sehen ließ, war mein Freund, der Windhund, der den beiden jungen Eheleuten die Hand leckte und ihnen nachlief bis an die Thür ihres Zimmers, worauf er umkehrte und mir lange nachsah, als ich mich entfernte, um das meine zu suchen. Mondenschein und der Schalten des wilden Weins tändelten an der Wand, als ich die Thür öffnete; und welch ein heller, lieblicher Morgen, als ich am andern Tage erwachte! Alles schwamm in goldener Sonne, der Rasen funkelte, über den Bäumen lag der bunte Herbstschimmer, und hoch darüber, am warmblauen Himmel, stand noch die blasse Mondsichel. Vor mir, von Grün umwuchert, ernst und heilig auf dem smaragdgrünen Teppich des Rasens, standen die Ruinen der Abtei – wunderbar hehre Ruinen, so weit, so ausgedehnt, so überall zerfallen und doch überall noch so grandios. Hier zum ersten mal in dieser köstlichen Beleuchtung, heiter belebt durch den Hintergrund des blauen Himmels und den Vordergrund des grünen Rasens, übersah ich sie in ihrem deutlichen Zusammenhangs. Die Phantasie ersetzt leicht die fehlenden Theile und bevölkert den stattlichen Bau mit Gestalten der vergangenen Zeit. Das Bächlein singt seinen Gesang dazu, und rauschend wie Orgelschall und Chorgesang stimmen die ewig bewegten Bäume und Gesträuche ein. Welch ein Lied, das ich hier oben vernahm! Wie brauste es zu mir herauf in der heiligen, sonnigen Morgenstille! Ich saß an meinem von wildem Wein umsponnenen Bogenfensterlein und blickte durch die bleigefaßten Scheiben. Nichts als dieses Lied des Baches und der Bäume – das Schwirren der Insekten – das Trillern der Lerche – der entfernte Schall einer Axt aus dem Walde, das Dengeln einer Sense von den Wiesen – nun dazwischen ein dumpfes Gepolter und Rollen von fern, näher kommend, jetzt mit einer Dampfwolke voran in langer Reihe aus dem grünen Hügel hervorbrechend und vorübersausend: die Eisenbahn mit Kohlenwagen, welche mitten durch das Territorium und den ehemals geweihten Grund der Abtei läuft! – Jetzt alles wieder still – die neue Zeit ist vorübergejagt, die alte Zeit mit ihrer Sonne und ihren Träumen steigt wieder herauf und steht allein vor der andächtigen Seele.

Dies ist die Schwelle zu dem District der englischen Seen. Hier, wo ich jetzt sitze, hat damals der Abt von Furneß gesessen, und ihm folgten im Manor-Haus die edeln Herren von Preston. Halb mönchisch, halb ritterlich ist alles noch in diesem Hause – die bunten Glasfenster, die hochgedeckten Hallen, die stattlichen Kamine ... Ich aber schaue träumend in den Wald und den Himmel, und das Bächlein von unten murmelt und flüstert ...

Als ich später in das Frühstückszimmer trat, hatte ich das Vergnügen, all die jungen Liebes- und Ehepaare (denn in dem ersten Stadium derselben pflegt beides noch identisch zu sein), welche gestern im Mondenschein durch den Garten entwandelt waren, um kleine Tische versammelt zu sehen, an welchen sie sich's recht trefflich schmecken ließen. Auch »Harry und Jessie aus den Ruinen« fand ich wieder. Sie saßen an dem Tisch unter dem großen Gartenfenster, halb beschattet von dem zitternden Laub, halb besonnt von den schmalen Lichtstreifen, die sich durch die Blätter und Zweige hereinstahlen. Sie hatten ihren Tisch wohl bestellen lassen mit all den guten Dingen eines »substantiellen« englischen Frühstücks, und luden mich ein, an demselben theilzunehmen. Nach beendigtem Mahle stopfte sich Harry sein kleines hölzernes Pfeifchen. Jessie setzte ihren großen Strohhut auf, nahm ein schöngebundenes Exemplar von Moore's »Liebesgeschichten der Engel« unter den Arm, und so entfernten sie sich mit heiterm Gruße, stiegen den Hügel hinter den Ruinen hinan und verschwanden unter dem Walde.

Zu mir aber gesellte sich mein Freund, der Windhund. Doch auch dieser verließ mich schnöde mitten auf dem Rasen vor der Abtei, als ich Miene machte, weiter zu gehen. Denn er war, in der Ruhe dieses Klosteraufenthaltes verwöhnt, kein Freund von beschwerlichen Gängen, streckte sich neben einer Bank unter ein Rosengebüsch nieder, dehnte sich behaglich in der warmen Herbstsonne und ließ mich allein fürbaß ziehen.

» Quaerite primum regnum Dei« – diese Worte, welche ich beim Heraustreten aus dem Speisesaal in einem alten Stein über der Treppe gelesen, hatten sich meinem Gedächtniß tief eingeprägt, und dahin ging ich nun in die Ruinen, um »zuerst das Reich Gottes zu suchen«. – O, wie still waren die Höfe! Wie predigte der rauschende Wind, der durch die Kreuzgänge flüsterte, die Nichtigkeit aller irdischen Dinge – aller ohne Ausnahme, der weltlichen wie der geistlichen, der Liebe wie der Entsagung, – der traulichen Gemächer verschwiegenen Glückes, der hohen Wölbungen voll inbrünstiger Andacht! Seht, hier hat einst ein herrliches Kloster gestanden mit stolzen Portalen, mit starken Pfeilern und hohen Thürmen. Es ward gegründet im Jahre 1127 unter der Patronage von Stephan, Earl von Montaigne und Boulogne, nachmals König von England, von Mönchen des Klosters Savigny in der Normandie, welche nach England gekommen waren unter der Führung von Evan, ihrem ersten Abte. Sie blieben drei Jahre und drei Tage in Tulkett bei Preston, bevor sie sich niederließen im Nachtschattenthale und dieses Kloster gründeten, welches sie der Jungfrau Maria weihten. Hier in der tiefen Einsamkeit haben jahrhundertelang die Mönche gebetet. In ihrem Klostersiegel führten sie das Bildniß ihrer Heiligen. Da steht die Jungfrau Maria unter einem Thronhimmel mit Sternen – auf ihrem linken Arme trägt sie das Kind, um dessen Haupt ein Glorienschein gewoben ist, und in der Rechten hält sie eine Kugel, als Königin der Welt. Zu beiden Seiten ist ein Wappenschild mit den drei normannischen Leoparden, darüber steht ein Zweig des Nachtschattens, und darunter ein Mönch in voller Ordenstracht. Der fliegende Drache ward zu Ehren des zweiten Earls von Lancaster angenommen, des Verwandten der königlichen Plantagenets, und ringsum waren die Worte zu lesen: » Sigillum. commune. domus. beate. Marie. de. Furnesio.« In welch entfernte Zeiten der Geschichte entführt dies Siegel die Seele des Beschauers! Und doch, mit allem, was es Heiliges, Rührendes und Ehrwürdiges für uns hat, ist es zerbrochen – zerbrochen wie die Mauern des Klosters selber, seitdem im 16. Jahrhundert König Heinrich VIII. von England den Glauben Roms verließ und alles Klostergut confiscirte. Seitdem ist die alte Herrlichkeit zu Staub geworden, und nur noch diese Ruinen sind da, um die melancholische Geschichte ihres Verfalls zu erzählen. Durch die schön gezackten Fenster zieht abwechselnd Regen und Sonnenschein – die hohen Pfeilerschäfte, aufrecht stehend auf dem Rasen, werfen ihren einsamen Schatten in öde Hallen und Mauern, Strebepfeiler und Spitzbögen sind zerstückt. Die kunstreiche Arbeit lange zu Asche gewordener Steinmetzen liegt nun gleichfalls zersprungen im Grase herum; zwei Köpfe schauen vorn Hauptportal hoch hernieder: die Kopfe von König Stephan und seiner Gemahlin, die sich, solange sie lebten, dieser Abtei freundlich erwiesen. Aber Königsgunst ist ebenso vergänglich wie alles andere. Auch Könige müssen zu Staub und Asche werden, und nur von den wenigsten behält die Nachwelt die Namen. Was sollen diese aufrecht stehenden Figuren mit abgeschlagenen Köpfen und gefalteten Händen, in denen sie ein Brevier halten? Was bedeuten diese steinernen Kreuzfahrer, welche platt auf dem Boden liegen? Was diese Grabsteine mit dem Krummstab auf geborstenen Platten, diese unleserlichen Inschriften, diese auseinandergefallenen Kreuze? Sie zeigen uns das Bestreben einer untergegangenen Zeit, ihr Gedächtniß auf eine kommende zu vererben; und sie zeigen uns, wie fruchtlos dies Bestreben ist, wenn ihre Namen in nichts anderes geschrieben sind als in Steinplatten. Die Natur selber verwischt diese Namen mit unerbittlichem Finger – sie säet ihre grüne Saat in alle Fugen und Risse, sie klettert auf die höchsten Thürme und läßt ihre grünen Sturmleitern flattern, sie bedeckt die Kirchhöfe mit ihren wuchernden Pflanzen, sie begräbt eine Generation nach der andern, aber ihr Lächeln und ihre Schönheit gehört allen.

Da drang ein greller Pfiff durch die Stille. Das Geisterreich versank, die Locomotive sauste vorüber. Es war der Zug, der nach den Seen ging. Auch die beiden, die oben am Walde in die »Liebesgeschichte der Engel« versunken gewesen, hatte er geweckt. Sie kamen hastig an mir vorbei und riefen mir ein schnelles Lebewohl zu, da sie mit diesem Zuge weiter reisen wollten an die Seen. Ein zweiter Pfiff, etwas später, sagte mir, daß Harry und Jessie das Nachtschattenthal verlassen hatten. Dumpf noch eine Weile hallte das Rollen des forteilenden Zuges in den Ruinen wider; dann kehrte die vorige Stille zurück. Leise nur über mir nickte das Laub und der Epheu, gedämpft aus der Ferne rauschte das Wasser unter der alten, dichtumbuschten Brücke, und nichts mehr störte mich, zu sinnen und zu träumen.

*

2.
Die Seen von Westmoreland.

Der See von Windermere ist der umfangreichste und mannichfaltigste der Westmoreland-Seen. Er ist der »Diamant des Seenlandes«, und »die Königin der Seen«. Seine Länge von Ambleside bis Newby-Bridge beträgt etwa elf englische Meilen, seine Breite im Durchschnitt eine englische Meile. Er ist tiefer als einer der andern Seen, und zahlreiche Eilande, üppig bewaldet, verleihen seiner Oberfläche den Anblick großer Abwechselung. Der vorherrschende Charakter seiner Landschaftsscenerie ist eine weiche anmuthige Schönheit. Er hat nichts von der wilden Erhabenheit der benachbarten Seen von Cumberland, die in dieser Beziehung schon denen von Schottland ähneln; und nur hier, bei Ambleside, erheben sich die Uferberge zu einer beträchtlichen Höhe, während sie an den übrigen Theilen des Ufers sanft gewellte Hügel bilden, an deren weichen Linien das Auge gern hängt. Aber ein überraschender Blick ist es, wo der Weg, von Ambleside kommend, sich auf den See öffnet. Im Vordergrund die bunte Staffage von Kutschen, Nachen und Dampfgondeln, mit Menschen, welche ein- und aussteigen; im Hintergrund die Berge, deren ungeahnte Pracht nun plötzlich aufsteigt, und dazwischen der See – so selig still in der Abendsonne! Wir besteigen die Dampfgondel – »die Feenkönigin« – welche in dem Augenblick abgeht, wo die andere, »die Feuerfliege«, ankommt. Das goldene Wasser wiegt uns und im Hintergrund stehen die Berge – einer über dem andern gegipfelt, in jenen weichen ätherischen Umrissen und Formationen, ganz mit den Farben und der Gestalt von lichtangehauchten Wolken, zuletzt entschwindend und von einem feinen Duft umflattert, gleichsam nach oben sich lösend, sodaß dem Auge beinahe die Unterscheidung zwischen Lust und Erde verloren geht. Alles verschwimmt in eine bläuliche Dämmerung, in welcher das Auge nur phantastische, aber sanfte Contouren erkennt, von denen es kaum noch weiß, sind es die der Berge oder die der Wolken. Aber um uns das Wasser glühte von der späten Nachmittagssonne, und in seiner dunkeln Tiefe spiegelten alle Farben der Wolkenberge, der Bergeswolken, des Himmels, welcher sich mit all seinem Blau, mit jedem seiner rosigen Wölkchen unter dem Wasser wölbte. Hier und da stand eins von den blühenden Eilanden im See – wie ein Blumentopf aus Porphyr mit dem dicken, goldgrünen Bouquet üppigen Niederholzes, welches einen ähnlichen Schimmer ringsum im Wasser verbreitete. Eine solche Traumstimmung bemächtigte sich der Seele – und dennoch wurde sie nicht müde, zu. der Gegenwart des Lebens zurückzukehren, die hier so namenlos schön ist – zu den Wiesen, von Sonnenhauch umduftet, zu den Wäldern, die blau schienen von den Purpurschatten des Nachmittags, und zu den weißen Häusern am Gestade – den » villas« und » cottages«, die, von glühendrothen Fuchsiabüschen umglänzt, Bilder des Friedens und heimatlichen Glückes gewähren, fast lieblicher noch in ihrer Wirklichkeit als jene Träume. O, in diesen blumenumdufteten, seeumrauschten Häusern wohnen, unter den Bergen, auf den Wiesen – in gänzlicher Abgeschiedenheit hier sein Leben der Betrachtung, dem Blicke nach innen widmen zu dürfen! Und hier haben Dichter gewohnt, – Dichter, deren Namen das englische Volk mit Stolz und mit Liebe nennt. Hier, an diesen Seen und unter diesen Hügeln ist Wordsworth geboren worden; hier hat Southey gelebt und Coleridge gedichtet; hier ist die Heimat der Seeschule, so genannt nach den Seen, auf deren einem wir jetzt schaukeln und in deren damals von dem Reiseschwarme noch ungestörter Einsamkeit sie zu Ende des vorigen Jahrhunderts erblühte. Reich von Erinnerungen an sie ist rings dieser Umkreis, und gefeit durch ihre Dichtung jeder Wald, jeder Berg, jeder Bach, jeder See. Es ist unmöglich, in diesen Bezirk zu treten, ohne ihrer zu gedenken oder an sie erinnert zu werden und ihren berühmten Freundeskreis, in welchem eine der interessantesten Persönlichkeiten de Quincey ist, der Opiumesser. Ja, etwas wie Opiat scheint selbst in der Luft und Schönheit dieses Seedistricts zu liegen; etwas Hinschmachtendes, wollüstig Einschläferndes, traumhaft Befangendes. Ein solcher Charakter ist auch der Seeschule eigen. Die meisten ihrer größern Gedichte haben die Formlosigkeit, zuweilen die Planlosigkeit von Träumen – von Träumen noch dazu eines unruhigen Schlafes, eines Opiumrausches (Coleridge ist an Opium gestorben); aber sie haben auch das kühn Phantastische derselben und ihre ganze Verachtung von irdischen Schranken, von Unmöglichkeiten, die nur im Raum und in der Zeit liegen. Man kann sie nicht eigentlich Spiritualisten nennen, da sie vielmehr von einer starken, wenn auch nicht ganz gesunden Sinnlichkeit sind; aber »ihr Reich liegt im Wolkenland und ihre Welt ist nur zu oft eine visionäre«, sagt Freiligrath von ihnen, unser eigener Dichter, welcher einige ihrer bedeutendsten Gedichte übersetzt und diejenigen von Coleridge (in der »Tauchnitz-Edition«) herausgegeben hat. Ich kann mir denken, wie diese düstern Phantasien, in ferne, unbekannte Länder und Meere verlegt, unsern Dichter anziehen mußten – er, der ja auch die Wunder der heißen Zone, die Mirage der Wüste nur träumte. Aber er träumte die Wirklichkeit, den Löwen in den Rücken der Giraffe gekrallt, den Tiger im Kampfe mit dem Weißen; während ihre Träume Phantasmagorien sind, die wie Wordsworth's Geisterschiff über der Wirklichkeit schweben. Es ist wahr, dies gänzliche Hinwegsetzen über das, was wir als feste Ordnung betrachten, macht zuweilen einen kindischen, aber öfter noch macht es einen gigantischen Eindruck, als ob die ganze Verzweiflung eines Genius an Schranken rüttele, die doch keine Gewalt umzureißen im Stande ist. Man wird sogleich eine gewisse Verwandtschaft mit der deutschen Sturm- und Drangperiode herausfühlen, nur mit dem Unterschiede, daß diese zur Erde strebte und sie wirklich festen Fußes erreichte, während jene, die Seeschule, nach dem Himmel strebte und in den Wolken stecken blieb. Aber dennoch sind sie es, welche die englische Dichtung von den Fesseln einer seit Dryden und Pope herkömmlichen Convenienz in Form und Inhalt befreit und die Erscheinung der großen Romantiker Byron und Scott vorbereitet haben.

Und dann sollten wir Deutsche nie vergessen, daß es unsere eigene Poesie und Philosophie war, an welche jene Dichter sich anlehnten, daß sie in Deutschland und unter dem Einfluß deutscher Lehre und Lehrer ihre Richtung ausbildeten, ihre Ideen schulten. Zwei ihrer Häupter, Wordsworth und Coleridge, waren es, welche im September 1798 nach Deutschland kamen, um deutsche Sprache, deutsche Dichtung, deutsche Philosophie und Theologie zu studiren, um den Sänger des Messias zu besuchen und sich von ihm sagen zu lassen, daß »Bürger ein echter Dichter sei, welcher leben müsse, daß Schiller dagegen bald vergessen sein würde«. Nichtsdestoweniger erschien zwei Jahre darauf, 1800, Coleridge's Übersetzung von Schiller. Und würde Goethe's Einführung in England durch Carlyle möglich gewesen sein, wenn nicht die Seeschule vorhergegangen wäre? Sie war es, die durch die Philosophie von Kant, Fichte und Schelling den Gährungsstoff der gegenwärtigen Bewegung in die zähe Theologie von England und Amerika warf, und ihr vor allem sind wir für jenen mächtigen Austausch von Ideen und Anregungen verbunden, welche jetzt – beide Ufer desselben befruchtend – »hin- und herströmt über den deutschen Ocean«. –

Inzwischen hatten wir Bowneß erreicht und unser Schifflein legte an. Bowneß liegt am linken Ufer des Sees, ungefähr in der Mitte seiner ganzen Ausdehnung. Es ist ein gar freundliches Oertchen – halb Dorf, halb Stadt, wie die meisten in diesem Bezirke. Hier liegt ein Häuflein Häuser an und auf einem Hügel beisammen, wie schweizer Chalets, dort stehen ein paar andere, mit Holzgitterwerk und allerlei Schlinggewächs am Wasser. Eigentliche Straßen gibt es nicht, und am Ende führt hier alles zum See hinunter oder vom See herauf.

Von Bowneß zieht sich ein anmuthiger Gebirgspfad zwischen Wald und Landhäusern zum Dörflein Windermere und einem stattlichen Wirthshaus mit breiter Terrasse hinan, von welcher man eines wahrhaft entzückenden Rundblicks über den See und seine Ufer genießt. Zugleich mündet daselbst, dicht unter der Terrasse, aber von Blumen und Bäumen ganz zugedeckt, die Eisenbahn von London, und in diesem abgeschiedenen Idyll von See und Hügel, wo man wie in einer andern Welt lebt, an jedem Nachmittage die Briefe, die Zeitungen, die Magazine und die Bücher frisch von der Stadt zu haben, ist eine Bequemlichkeit, dergleichen auch nur in England möglich ist.

Am schönsten war es hier oben in den Vormittagsstunden, wenn das Frühstück vorüber. Draußen auf der sonnigen Terrasse saßen vielleicht noch einige Gentlemen und lasen die »Times« oder lustwandelten unter der Veranda, eine Cigarre rauchend. Dann aber fuhr ein Wagen nach dem andern ab, das große Haus auf der Spitze des Hügels ward leer, die Terrasse still, und ich blieb allein mit der Sonne und den Lorberhecken. lieber diese glänzenden Hecken, durch flüsternde Baumkronen, über die schimmernden Dächer des Dorfes und sanfte Hügel ging der Blick hinab zudem träumenden See und dem duftschweren Purpurblau seiner waldreichen Ufer. Lieblich dann war's, den Weg hinabzuwandeln zur Seite des Hügels, unter den majestätisch gewölbten Kastanien. Es war so still wie an einem Feiertag, als ob die Natur hier ewig in einem Gottesdienste begriffen sei; nur selten, daß ein einzelnes Wägelchen daherkam, oder daß ein Hund anschlug, oder ein Glockenton durch die Luft irrte. So still war's, daß man das Beben und Flüstern eines jeden Blattes, das leise Seufzen des Windzuges und jegliche Stimme im Chore der Vögel unterscheiden konnte. Stille Häuser mit schattigen Gärten, in denen zu leben schon ein Glück sein müßte, lagen zur Seite – dunkle Baumgruppen wechselten ab mit grünen Wiesen und duftfeuchten Waldwegen, die tiefer ins Gebirge führten, und überall durch das sonnezitternde Laub hatte man Blicke auf ein Stück blauen Wassers oder blauen Himmels. Solch ein unsagbarer Frieden, solch eine Andacht war ringsum! Und mit einer Empfindung wie Heimweh füllt sich mein Herz, wenn ich jener Tage gedenke, so golden und schön, so sonnig und still! Damals und dort, an den englischen Seen, wenn ich mich auf einen der moosigen Steine niedersetzte, unter den dichten Kastanien, in der balsamischen Frühe des Morgens, hatte ich ein Gefühl, als ob das Leben keine reinere Freude zu bieten habe als solch einen Augenblick seliger Trunkenheit und Versunkenheit in die Natur. Dann spricht der Geist in uns mit dem verwandten Geiste, der in der Blume blüht und im Zuge des Windes flüstert –, ja, er fühlt sich Eins mit ihm in reiner Harmonie, und die Seele beginnt mit jedem Blatte gleichsam, das sich regt, in seiner eigenen Sprache zu reden. Der trübe Flor, welchen der unlautere Beisatz des Tages über ihren Spiegel gehaucht, schwindet fort, und klar wieder einmal darin erscheint das sonnige Bild der Außenwelt mit all seinen Umrissen, seinen duftigen Farben und seinem geräuschlosen Leben.

Der untere Theil des Sees, von Bowneß ab bis Newby-Bridge, wo er sich in einem brausenden Wasserfall zu verlieren scheint, ist von einer mehr einfachen Schönheit, doch bleibt ihm der Charakter des Lieblichen. Es war in einer jener langen, von Farbe gesättigten Herbstabenddämmerungen, die auf die Stimmung einen so weichen und melancholischen Einfluß üben, als ich mir in Bowneß einen Kahn miethete, um den See nach dieser Richtung zu befahren. Die Berge des Hintergrundes verloren sich schon in das tiefe Lila des Abends und ließen dem Auge nur noch die schwachen Linien ihrer Contouren – alles andere schien in Dunst zu brauen – Schlucht, Anhöhe, Thal und Gipfel, ein graues, seltsames Nebelbild. Aber vor uns und um uns war Licht. Zur Rechten ging die Sonne hinter die hohen Gipfel, zuweilen aus einem Einschnitt der Bergkette noch einmal feurig aufflammend; zur Linken schimmerte der bunte Widerschein. Um den Wald hing der zwiefache Purpur des Herbstes und des Sonnenuntergangs – das Laub so kraus, so braun, so golden, windbewegt – hier und da ein sanfter Wiesenhang mit weidenden Kühen, ein traulich stilles Haus am Saume des Waldes oder des Wassers – nun blitzte die Sonne noch einmal auf, nun rollte sie zuletzt hinter eine Hügelwand und das Wasser dunkelte in tiefes Stahlgrau ab – immer dunkler und stiller, bis wir ganz allein waren auf dem weiten Wasser, schwarz von den Schatten der Berge, und nichts gehört ward als die Ruderschläge meines Kahnführers. Nur einmal noch zog ein Schiff vorbei – die »Feenkönigin«, mit Musik, welche weich und traumhaft in der Abendstille über dem See verklang. Dann ward die Einsamkeit der Nacht und des Wassers nicht mehr unterbrochen, und schon war der Himmel golden von jenen großen Sternen, schon hatten die Berge jene Farben tiefen, dunkeln Blaues angenommen, welche der Nachtlandschaft etwas so unaussprechlich Feierliches geben, als unser Nachen am Rande des Sees anlegte. Wir hatten noch eine kurze Strecke unter Bäumen zurückzulegen, indessen uns das Brausen eines großen Wassers immer näher zu kommen schien, ehe wir das Wirthshaus zum »Weißen Schwan« erreicht hatten, in welchem Madame White gastlich waltet. An diese Dame hatte ich eine Empfehlungskarte mitgebracht von einem Freunde des Hauses aus Preston, und ich muß sagen, daß ich niemals herzlicher bewillkommt und wirthlicher verpflegt worden bin als im Weißen Schwan von Newby-Bridge. Denn kaum daß ich meine Karte abgegeben hatte, als auch schon Madame White, eine stattliche Vierzigerin mit einem ganzen Morgenroth auf Wang' und Nase, in das kleine Stübchen trat, in welchem ich meinen Ranzen abgelegt hatte. Ihr folgten, rund gezählt, ein halb Dutzend allerliebster Mädchen, die sie mir sämmtlich als ihre Töchter präsentirte, und die, nachdem sie mir gar zutraulich, eine nach der andern und in absteigender Linie, die Hand geschüttelt hatten, jede einzeln entsandt wurden, um mir's bequem zu machen im Weißen Schwan von Newby-Bridge. Die eine ging ab mit dem Befehle, mir Bett und Schlafkammer in Stand zu setzen, die andere sollte für Thee und Abendbrot sorgen, die dritte meinen Rudersmann abfertigen, die vierte Stiefelknecht und Pantoffeln holen, die fünfte – aber was weiß ich? In meinem Leben war noch nicht so für meine Bequemlichkeit gesorgt worden, und das halbe Dutzend hatte alle Hände und Händchen voll zu thun, während Dame White sich in einem Lehnstuhl zu meiner Seite niederließ, um ein Gespräch mit mir über ihren Freund zu halten. Der Lehnstuhl, in welchem Madame White sich niedergelassen hatte, war das kolossalste Möbel, welches ich in dieser Gattung je gesehen, und dabei so alt, daß man sich selber um hundert Jahr älter vorkommen mußte, wenn man darin saß. Das ganze Stübchen war solch ein Wunder von altmodischer Bequemlichkeit mit Lotterbett und Stühlen, welche braun waren und geschnitzte Wolfsköpfe in den Lehnen hatten. Die Lampe auf dem Tische war so groß und so schwer wie ein kleiner Leuchtthurm. Die niedrigen Wände waren geschmückt mit Bildern von Landschlössern, Jagdhunden, Wettrennen, adelichen Herren und Damen des vorigen Jahrhunderts in langen Perrüken. Ueber dem Spiegel, welcher eine ovale Form und die Eigenschaft hatte, jedem Menschen, der hineinsah, ein Gesicht zu machen als ob er an Zahnweh leide, hing ein Fisch, gar kunstreich aus Holz geschnitzt und fein säuberlich bemalt und lackirt. Kurz, ich war hier in einem jener guten altenglischen » country-inns«, welche uns einige von den Romanschriftstellern des letzten Jahrhunderts auf eine so unübertreffliche Weise beschrieben. Mir fehlte nichts als mein Freund, der Squire Western aus »Tom Jones«, um mit ihm eine Pfeife zu rauchen und einen Krug, mag sein auch zwei zu leren. Gedacht an ihn habe ich an diesem Abend genug, ebenso an seine Tochter, die liebliche Sophie, obgleich dies letztere ein wenig ungerecht gegen Dame White sein mochte.

Das Zeichen des Hauses war ein Schwan, welcher in einem sehr schönen Exemplare von angestrichenem Holze hoch über der Thür saß. An einer andern Stelle des Hauses hing eine blaue Traube, wahrscheinlich als Gegendemonstration und zur bessern Belehrung derjenigen Wandersleute, welche mit einem Schwan unwillkürlich die Vorstellung des Elements verbinden, auf welchem dieser poetische Vogel lebt.

Der Weiße Schwan von Newby-Bridge liegt ganz einsam in diesem Thale, und nichts war zu hören außer dem Brausen des Wasserfalls gegenüber. Erst auf der andern Seite der Brücke, die hier gleich über das Wasser führt, war eine Schmiede, vor welcher ein paar Burschen standen und schottische Lieder sangen, und etwas weiterhin war ein » mansion«, d. h. der Landsitz eines Herrn von der Gentry mit Park und hoher Mauer. Das war alles, und sonst nur Berge, Wälder, Wasser und der prächtige Sternenhimmel in dieser Einsamkeit.

Um zehn Uhr ward es still im Weißen Schwan, und ich befand mich allein in meiner Kammer, gerade über dem Wasserfall. Es war so lauschig darin. Wieder hätte ich mir einbilden können, ich sei im Wirthshaus von Upton, – und ich würde mich nicht gewundert haben, wenn die Thür plötzlich aufgerissen worden und der irische Gentleman mit einem Knüppel in der Hand hereingestürzt wäre, um seine Frau zu suchen. – Allein nichts dergleichen. Dann waren so viele räthselhafte Winkel und Ecken in diesem Zimmer, Schränke in die Wand gemauert, Holzbänke an den Boden genagelt, Waschtische von unabsehlicher Länge. Und dann war das Bett da, ein so kolossales, ungeheueres Bett, wie ich seither in England, diesem Wunderland für Betten, noch keins gesehen hatte, – ein kleines Wohnhaus mit Dach, Wänden und Säulen – was sag' ich? – mit vier gewaltigen Pfosten wie Grenzpfähle, eine Art von kleinem deutschen Fürstenthum. In dieses Bett stieg man vermittels einer transportabeln teppichbelegten Treppe. Es hatte vollkommen die quadratische Form. Länge und Breite ließen sich daher nicht voneinander unterscheiden, die Begriffe von oben und unten nur errathen; so dachte ich mir das »Bett von Ware«, welches das englische Normalbett zu Shakspeare's Zeiten gewesen zu sein scheint und von welchem Sir Tobias in »Was ihr wollt« spricht: »Es maß zwölf Fuß im Geviert und zwölf Männer und zwölf Frauen konnten darin schlafen.« Wunderliche Dinge kann man in einem solchen Bette träumen! Und dazu rauschte der Wasserfall, welcher die Einsamkeit der Nacht mit einem starken, fast donnerartigen Brausen erfüllte. Ich hatte kurz zuvor ein Lied von Tennyson singen hören. Nun schien der Wasserfall sich der Worte des Laureaten bemächtigt zu haben, und unaufhörlich sauste er sie mir ins Ohr: » For men may come and men may go, but I go on for ever!«

Endlich wurde es Morgen und zu früher Stunde schon lebendig, namentlich vor dem Stall. Pferde und Kutschen wurden herausgebracht und gewaschen, der biedere » ostler« erschien auf dem Schauplatz und Dame White mit ihren schönen Töchtern begann aufs neue in Küche und Hofraum zu wirthschaften. Hier war es auch, wo ich die Bekanntschaft des Herrn White machte, nämlich auf der Brücke dem Hause gegenüber, wo er mit zwei großen, wildaussehenden Rüden stand und eine neue Peitsche »einklappte«, wie er sich ausdrückte. Herr White war so freundlich, mich auf die Schönheiten der Gegend aufmerksam zu machen. Da er mich wol für keinen sonderlichen »Sportsman« halten mochte, so verwies er mich namentlich auf die Fische, welche in dem Flusse gefangen würden, und empfahl mir als Lockspeise eine gewisse Gattung von Würmern, die ich an einer bestimmten Stelle des Ufers, weiter oben, finden könnte. Hierauf wandte er sich wieder zu seinen Rüden und fuhr fort, die neue Peitsche »einzuklappen«, während ich am Rande des Gewässers, unter den leise sich rührenden Bäumen hinaufwanderte, den frischen Duft des Morgens mit vollem Behagen in mich saugend. Dieses war so recht ein englisches Landschaftsbild: dort das kleine Wirthshaus mit dem weißen Schwan und der blauen Traube, den kleinen von Weinlaub umsponnenen Fenstern und der gastlichen Rauchsäule, welche aus dem umfangreichen Kamin ruhig aufstieg, die Knechte mit den Pferden und Wagen vor dem Stalle, die Mädchen mit Kübeln an den Brunnen, jetzt eine Kutsche mit Vieren heranrollend, stillhaltend und den Platz vor dem Hause mit allerlei bunten Gestalten erfüllend, unter welchen natürlich das Roth des » coaching gentleman« sich wieder besonders hervorthat – hier das stille Mansionhaus, wie ein verwunschenes Schloß im Grün versteckt, mit hoher Mauer, von Bäumen und Gebüschen überwachsen, ohne irgendein Zeichen des Lebens – dann die Schmiede, der Wasserfall, die reinlich stillen Wege zwischen Wiesen, auf denen Kühe weiden und ein Kind steht, das sie hütet – und rings, in fast greifbarer Nähe, die bewaldeten Berge, welche malerisch das kleine Thal von Newby-Bridge umschließen.

Es war neun Uhr morgens, als ich nach einem excellenten Frühstück die verschiedenen Hände von Dame White und ihren Töchtern zum Abschied schüttelte, um mich wieder auf das Dampfschiff zu begeben, welches mich über den ganzen See nach Ambleside zurücktragen sollte. Es war ein Tag ohne Sonne – ein melancholischer Himmel, ein duftverschleierter See. Die Luft war weich und voll des süßesten Herbstaroms; aber eine so tiefe Wehmuth lag über dem Wasserspiegel ausgebreitet, und jeder Baum an seinem Rande ließ sein gefiedertes Laub wie in Trauer niederhängen. Kein Licht war da als das eigene des bunt schattirten Grüns, welches Wald und Wiese zeigten – jener wunderbare Farbenreichthum des Herbstwaldes, mit Buchen, welche zuerst grün und zuerst gelb werden, mit Eichen, die nur langsam, wie starke Naturen, den Tribut des Daseins zahlen und mit Fichten und Pinien, dieser Nadelholzgattung, welche in den südlichern Gegenden Europas und dem ihnen durch die triebkräftige Milde seines Klimas verwandten England etwa unsere Kiefern ersetzt. – Auch die Inseln im Wasser – meine Blumenbouquets in Porphyrvasen – schimmerten nun, frei von Licht und Schatten, in der ganzen Pracht ihres eigenen Hellgelbs und Dunkelgrüns. Alles, was den Rand des Sees schmückte, der Wald, jede Wiese, jedes grünumsponnene Haus, jedes gartenumkränzte Dörflein, bespiegelte sich, als wie trunken von der ihm eingeborenen Schönheit, traumhaft in der Tiefe des Wassers. Und diese Spiegelung war beinah noch schöner als die Wirklichkeit selber; denn das Wasser war von einer so wunderbaren Klarheit, daß Felsen und Wiesengrün darin funkelten fast mit dem eigenthümlichen Glanze von farbigen Edelsteinen. Den Aspect des Sees schließend standen die Schatten der Berge, gleich dunkeln gigantischen Bildern; wie gestern, bei klarem Himmel, die Wolken von den Bergen, so heute in der That bei verdecktem Himmel waren Wolken und Berge kaum von ihrem Widerscheine im Wasser zu unterscheiden. Ein solcher Duft umfing uns von Wolken und Nebel und feuchtem Waldes- und Wasserhauch – es war wie ein Traum! Da trieb ein Nachen vorbei mit zwei Damen in weißen Gewändern und runden Hüten – die eine führte das Ruder in beiden Händen, die andere lag zurückgelehnt in die rothen Kissen und träumte. Dann kam ein Boot mit Segeln; andere schaukelten am Gestade. So gedämpft war alles, das Licht, der Schatten, jeder Ton in der Luft, jedes Plätschern der Welle, der Schlag des eigenen Herzens. Eine solche Harmonie war auch in diesem sonnelosen Tage, daß die Seele unbemerkt in dieselbe Stimmung überging. Dies war ein Tag, um Gräber zu besuchen und Feste der Erinnerung zu feiern!

Und solch einem Act der Pietät war auch dieser Tag geweiht, denn ich wollte die Wohnstätten der Poeten besuchen, diejenigen, welche sie innehatten, solange sie lebten, und diejenigen, welche sie nun innehaben, seit sie aus dem Leben geschieden, ihre Gräber. Die Kutsche, welche in dieses eigentlichste Land der Poeten fährt, erwartet die vom See Kommenden in Ambleside. Hier, wo jetzt die greise Dichterin Miß Martineau wohnt, öffnet sich ein anmuthiges Hügelland, durch welches der Weg sanft aufwärts führt. Hinter mir auf dem Kutschensitz der Außenseite saßen zwei junge englische Damen mit ihren ebenso jugendlichen Männern. Eine von den Damen hatte ein angenehmes, edles Gesicht, bleich und mit zwei Augen, so melancholisch wie dieser Tag. Wasserfälle rauschten – gedämpft – hier und da zu beiden Seiten des Weges hernieder. Das Rauschen von Wasser begleitet uns immerfort in diesem Lande der Seen: bald schallt es aus der Höhe, bald schallt es aus der Tiefe, und nicht lange, so begann auch der Kutscher von Wordsworth und Coleridge zu sprechen. Das ist kein Wunder. Jedermann hier spricht von ihnen.

Hier nun, wo der Berg bis an den Weg vorspringt, wo der Park, halb Wald, halb Garten, sich zur alten Burg emporzieht, wo die Wasserfälle rauschen und dort durch die verschleierten Bäume unter dem schwermüthigen Himmel ein neuer See sichtbar wird: hier ist wol auch ein Land für die Dichter! Es ist von einer so ahnungsreichen Schönheit, es liegt so viel Seele, so viel Stimmung darin. Denn, um es zu wiederholen, das Wasser ist die Seele der Landschaft. Wie sagt unser Goethe?

Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es
Und wieder nieder
Zur Erde muß es,
Ewig wechselnd.

Darum fühlt unsere Seele eine Art Wahlverwandtschaft zu dieser Seele der Landschaft, und mit einer stillen Sehnsucht folgt sie wol stundenlang den anmuthigen Windungen eines Stromes oder versenkt sich zu seliger Träumerei in das sympathische Dunkel eines bergumfriedeten Sees.

Der Park mit dem castellartigen Wohnsitz darin, dicht an unserm Wege, ist derjenige der alten Normannenfamilie le Fleming; der See, den wir durch die Bäume schimmern sehen, ist Rydal Water. Rydal Water oder Rydal-Mere ist ein so liebliches Stück Wasser, als nur eins im Seedistrict gefunden wird; so klein zwar, daß man alle Ufer übersehen kann, aber ebendeswegen um so lieblicher. Wie ein kleiner Schmuck für sich liegt es in dem reichen Schatzkasten dieser gesegneten Lande. Und auf dem Berge über dem See und dem Park, Rydal Mount genannt, steht noch das Haus, in welchem William Wordsworth gewohnt. – Gleich nach diesem Seechen kommt der etwas, aber nicht viel, umfangreichere von Grasmere; und in einem kleinen, hüttenartigen Hause am äußersten Rande desselben lebte Coleridge und nach ihm de Quincey. Traumhaft genug für den Opiumesser! Hohes Schilf wächst am Rande des Wassers. Schwäne rudern auf seiner schlaftrunkenen Fläche. Dämmerige Hügel lassen ihr verschwimmendes Abbild hineingleiten. Alles schlummert, alles träumt an diesem See von Grasmere.

Auch in dem Hof und Garten des Hotels, vor welchem die Kutsche hält, war es nicht lebendiger. Ich saß – ich weiß nicht wie lange – dicht am Seerande, wo die späten Herbstrosen dufteten. Es war so still hier! Man hörte die Käfer schwirren und jeden Vogel in der Luft singen. Berge und Waldwiesen schließen das regungslose Wasser ein – eine rothe Gondel trieb darüber hin mit einem jungen Paare darin, und drei Schwäne, wie im Volksliede, schwammen langsam hinterher.

Endlich, am späten Nachmittag, erhob ich mich von dem See. Auf Hügelpfaden, die sich vielfach zwischen hohen Hecken an den Hängen dahinziehen, hier sich scheinbar verlierend, dort wieder auftauchend, bin ich durch Wiesen gewandert, an stillen Landhäusern vorbei. Ich sah keinen Menschen, ich hörte nur dann und wann einen Wagen. Tief unten, wo der See zu Ende und die Hügel sich ein wenig öffnen, liegt Grasmere, das Dorf: vornan die Kirche, eine solche, deren bescheiden-frommes Aeußere das Herz nicht nur zur Andacht, sondern auch zur Demuth mahnt, – und hinter dieser Kirche ist der Kirchhof mit dem Poetengrabe. Wenn die Todten jeden Tritt fühlten, den man auf ihre Hügel thut! Ich habe eine Erinnerung aus meinen Kinderjahren, daß man es uns strenge verboten, wenn wir auf den Gottesacker gingen, auf die Gräber zu treten. Seit der Zeit ist mir's unmöglich, meinen Fuß auf ein Grab zu setzen, und thut mir allemal weh, wenn ich von einem andern es sehe. – Doch ruht von den Poeten nur einer hier in Grasmere: William Wordsworth. Hartley Coleridge, der neben ihm schläft, ist nicht der Dichter, welcher Samuel Taylor Coleridge hieß, sondern der geniale, aber leider etwas zerfahrene Sohn desselben. Er selber, der Dichter, starb auf Highgate-Hill, in London, und im Hause des Dr. Gillman, dem er sich anvertraute, damit dieser ihn von der Gewohnheit des tödlichen Opiums befreie. Dort, über dem Lärm und Rauch der tosenden Weltstadt, in der reinern Luft des Vorstadthügels, ruht er in seinem Grabe. Southey, welcher nicht weit von diesem See, in der Nähe von Keswick gelebt, liegt auch dort auf dem Kirchhof seines Dorfes bestattet. An Wordsworth's Grabe erhebt sich eine sehr einfache eiserne Tafel. In diesem einen Grabe zusammen ruhen der Dichter und sein Weib, und auf dieser Tafel ist nichts zu lesen als die Worte: »William Wordsworth, 1850. – Mary Wordsworth, 1859.« – Aber wie viel sagen diese Worte – wie viel von jener Treue, die ein ganzes Leben umschließt, und von jener Liebe, die an ein Wiederfinden nach dem Tode glaubt! Wie freundlich von dieser gemeinsamen Gruft lenken sie unsern Blick in das Jenseits! und dann – Pyramiden und Urnen, an denen selbst dieser kleine Dorfkirchhof so reich ist, mögen für andere sein; der Dichter und sein Weib haben nichts als diese einfache Tafel, aber ihre unsterblichen Namen darauf. Und untenhin rauscht der Wiesenbach dem See zu – demselben See, den der Dichter im Leben so gern gegrüßt und besungen, – ein Vöglein trillert in der Abendluft, und leis über dem Grabe zittert die Pinie. O – so in seiner eigenen Erde zu schlafen wie dieser Poet, umgeben von allem, was die Herrlichkeit des Lebens gewesen, von seinen Bergen, seinen Wäldern, eingesungen von dem Chore der bekannten Bäume, des vertrauten Bachs, der heimatlichen Vögel! Nun denn: wenn Todte zu beneiden sind, William Wordsworth ist es! Nichts stört die Einsamkeit dieses Ortes, als die Verehrung seines Volkes, wenn dann und wann ein Wandersmann kommt, um am Grabe des Sängers zu rasten. Nichts ist da als das graue Kirchlein, das Haus des Todtengräbers, die Pinie, der einsame Vogel, der über dem Kirchhof seinen Dämmerungsgesang singt, der Bach, der, leise plätschernd, die Mauer des Kirchhofs küßt, leise rauschend »für immer, für immer, für immer«. Hier auf dem Grabe des Dichters war es, wo ich die Engländerin mit den melancholischen Augen noch einmal wiedersah; zum letzten mal, denn sie blieb, als ich ging. Sie war mit ihrer Gesellschaft eingetreten, als ich den Kirchhof verlassen wollte. Nach einer Weile, als ich mich vom Weg aus umblickte, sah ich sie noch auf dem Grabe sitzen – mit ihren lichten Gewändern in der einbrechenden Dämmerung einem Genius stiller Ergebung nicht unähnlich.

Der Tag ging grau in den Abend hinüber, und die Nacht lag weich und schwer und dunkel wie Sammet auf den Hügeln, als ich nach langer Wanderung den See wieder erreichte.

*

3.
Die Seen von Cumberland.

Das war wieder ein Morgen von glorioser Pracht, jener Morgen, wo ich Abschied nahm von meinem lieben See von Windermere! Die Landschaft, das Wasser, die Hügel strahlten in einer wahrhaft goldenen Herbstherrlichkeit. In der heißen Mittagssonne fuhr ich ab, in einem kleinen Wägelchen, mit einem Pferd, spindeldürr, aber gewaltig zum Laufen und Steigen, und einem gar bescheidenen Männlein in grünem Friesrock, das als Kutscher fungirte. Denn der Stolz von rothen Röcken und Kutschen mit Vieren hatte hier ein Ende, wo es auf steinigten schmalen Pfaden in die Gebirge und zu den Seen von Cumberland geht.

Es war einer der wärmsten Tage in diesem Jahre und auf dieser Höhe. Alles war blau von Duft und Schimmer. Gleich vom Hotel ab stieg der Weg fast ununterbrochen; und ebenso ununterbrochen als der Weg mußte ich selber steigen. Denn das Männlein im Friesrock hatte viel mehr Erbarmen mit seinem Pferd als mit seinem Passagier, und den größten Theil des beschwerlichen Weges wandelten alle drei, Kutscher, Pferd und Reisender, friedlich nebeneinander. Wir ließen unter uns Windermere, den See, das Dorf, zuletzt die Berge, die mir dort so hoch geschienen, und hatten aus der immer kahler werdenden Höhe einen wundervollen Blick hinab, wo alles zuletzt in einer Art transparenten Blaues hinschwand, in welches nur noch zuweilen die weißen Schillerstreifen des Sees gewoben schienen. Endlich deckte sich ein heißer Duft auch darüber, und kühler wehte es uns von oben an: hier, auf ödem Gebirgskamme hatten wir die Grenze von Cumberland erreicht.

Diese Grafschaft ist, mit Northumberland, die nördlichste in England. Sie stößt auf die Grenze von Schottland und hat in ihrem Aussehen viel Aehnlichkeit mit demselben. Dieser wildere Charakter von Cumberland trat uns sogleich in den hohen, nackten Steinfelsen entgegen, die, nur schwach von dem Grün der Heide oder des Mooses überflogen, ihren kolossalen Schatten auf die breite Sonnenfläche der gegenüberliegenden Felswände warfen. Auch an irländische Scenerie und Einsamkeit ward ich mehrfach erinnert, und etwas Fremdartiges für die Seele, etwas Erstarrendes mitten in dieser ungewöhnlichen Herbstsonnenglut hatte der fast unvermittelte Wechsel aus den wald- und wiesenduftigen Seeufern zu der Ungeheuern Monotonie dieser baum- und strauchlosen Hochebenen.

Hier, auf diesen Plateaux, welche an einigen Stellen mit ihren, schroffen, kaum ersteigbaren Felswänden natürlichen Festungen gleichen, hat sich lange ein Rest der ersten Ansiedler Englands, der sognannten Kymrus oder Kumrier, und bis auf unsere Zeit ihr Name in demjenigen der Grafschaft, Cumberland, erhalten, nachdem ihre celtische Ursprache, ja dieses Völkerschaft selber in der englischen untergegangen ist. Die Briten von Strath-Clyd und Ryed und Cumbria schmolzen allmählich in die umgebende Völkerschaft dahin und hörten mit dem Verlust ihrer Sprache auf, als eine eigene Rasse erkennbar zu sein. Aber es ist sehr wahrscheinlich, daß sich dieser Proceß erst in einer verhältnißmäßig neuern Zeit vollendete. – Im Bischofthum Glasgow, welches den größten Theil des alten cumbrischen Königreichs umfaßt, ist die »barbarische« Sprache der Briten jenem Dialekt des sächsischen Englisch, welchen man das »Niederland-Schottisch« nennt, etwa um das 13. Jahrhundert gewichen; in einigen entlegenern Districten soll sich die Sprache bis zur Reformation hingehalten haben, dann und durch das Kirchenregiment der protestantischen Geistlichkeit gänzlich zerstört worden sein. Aber das breite »u«, welches der Reisende an den Ufern der Seen von Cumberland vernimmt, erinnert ihn an die dunkle Klangfarbe der alten Celtensprache, welche noch heute von den Bewohnern des Fürstenthums Wales gesprochen wird, ebenso wie einige britische Traditionen in Cumberland auf jenes eigentliche Land der Cambrier, auf Wales, hindeuten. Das Schloß Pendragon, indem es den fabelhaften Uther, den Vater Arthur's, in sein Gedächtniß zurückruft, beschwört mit einem mal die ganze Merlinspoesie vor seinem Blick herauf. »König Arthur's Rundtafel«, eine von den zahlreichen druidischen Ueberresten in diesen abgeschlossenen Berggegenden, dem letzten Asyle jener düstern Form des Heidenthums, läßt mit einem mal, schon durch seinen Namen, den ritterlichen König und seine tapfern sagenhaften Genossen mit allen Erinnerungen an Ginevra und den heiligen Graal vor unsern Augen erstehen. Einige von den Gebirgen welche dieser Landschaft einen zugleich so düstern und so erhabenen Ausdruck verleihen, haben die ihnen von der ursprünglichen Bevölkerung gegebenen Bezeichnungen bewahrt; und der »Skiddaw« und »Helvellyn« erheben sich nun als die gewaltigen Grabdenkmale eines ganzen Geschlechts, welches dahingegangen.

Lange war uns kein Mensch, kein Wagen begegnet, und wie in einem ausgestorbenen und von allen lebenden Wesen verlassenen Lande waren wir unter der schweigend brennenden Sonne gewandert, immer steigend und steigend, bis wir ein Gitter erreichten, welches den Weg abschloß, mit einer Hütte dahinter, aus welcher auf unser Rufen ein altes Weib trat, um uns die schlagbaumartige Versperrung zu öffnen. Vor der Thür dieser Hütte pflegt jedes Fahrzeug zu halten, welches vorbeikommt; denn, wie eine kleine Tafel über derselben sagt, »dies ist das höchste bewohnte Haus in England«. Die alte Frau brachte dem Pferde Wasser und dem Manne Bier, und diese, unbekümmert um den fast märchenhaften Eindruck, den die Einsamkeit der Scene machte, ließen es sich beide sehr gut schmecken. Grau und in Sonne gebadet stand gegenüber das steinige Gebirge, im schwarzblauen Nachmittagsduft, ohne Baum, ohne Strauch, ohne Leben. Nur das Rieseln einer Quelle dicht bei dem Hause war zu vernehmen, und ein paar Hühner liefen gackernd auf dem dürftigen Rasen in der Schlucht herum. Außer der alten Frau schien niemand in dem Hause zu sein, und wenn sie mit ihrem Gesichte, welches so düster und runzelvoll war wie die Felsen gegenüber, vor der Thür erschien, so mußte ich unwillkürlich an das Märchen von der bösen Fee und den verlaufenen Kindern denken. Allein mein Mann, der Kutscher, ließ sich von solchen Vorstellungen nicht anfechten, und nachdem er sein Bier und meins dazu getrunken hatte, schirrte er sein Pferdlein wieder auf, und vorwärts ging's in dem nun schwächer werdenden Glanz der Sonne, welche bereits ihren Nachmittagsstand über den Bergen hatte. Ganze Bergschluchten voll blauer Schatten thaten sich vor uns auf, während in der reinern Aetherhöhe die Felsspitzen allerlei phantastische Umrisse anzunehmen schienen. »Dies ist die Kirche«, sagte der Mann, welchem die beiden Gläser Bier den Mund geöffnet hatten, »dies ist der Riese«, – »dies ist das Kreuz« – ich glaubte dem Manne alles aufs Wort, sah aber nichts von alledem, schon deswegen nicht, weil ich mich an der Lehne des Wägelchens festhalten mußte, um nicht herunterzufallen. Denn wie wir vorhin zuweilen auf beängstigende Weise gestiegen waren, so flogen wir jetzt in noch beängstigenderer Weise bergab, zuweilen so schmal am Abhang hin oder so scharf um vorspringende Felskanten biegend, daß ein Kopfüberstürzen fast die einzige Möglichkeit des Weiterkommens schien. Allein der Mann redete mir zu, mich festzuhalten, keine Angst zu haben und das Pferd laufen zu lassen; und da ich diese drei Vorschriften, soviel an mir lag, erfüllte, so ging denn in der That auch alles gut.

Uebrigens fing nun auch die Gegend an, etwas lebendiger zu werden nach der langen Monotonie, durch die wir bis hierher gekommen. An den Abhängen der zwar immer noch kahlen Gebirgswände kletterten Schafe, diese bescheidenen Thiere, zu deren Erhaltung die Fruchtbarkeit von Steinen auszureichen scheint, und überall rannen und rauschten Wasserfälle aus dem Granit und schlängelten sich, die Stille mit ihrer lieblichen Musik erfüllend, in langen Silberstreifen glänzend aus der Höhe herab oder brausten in breiten Cascaden über Steinblöcke und Felsgeröll.

Viehzucht ist das einzige, was den Bewohnern dieser unwirschen Gegend, welche mich an die »ungastfreien Höhen« der Horazischen Ode gemahnten, übrigbleibt. Man sieht ihre grauen Steinhütten zerstreut hier und da unter einem geschützten Abhang umherliegen, in diesem blendenden Sonnenlicht kaum zu unterscheiden von den Felsen, an welchen sie hängen. Steinwälle grenzen die einzelnen Bergparcellen ab, und wo der Weg am Rande dahinläuft, sind Gatterthore aufgerichtet, um welche ganze Scharen von Kindern aus den benachbarten Hütten lagern, die, sobald ein Wagen naht, sich erheben, um zu öffnen und ihren »Hä' penny« dafür als Zollgeld erwarten. Aber sie betteln nicht, wie ihre Verwandten in Wales, noch weniger verweigern sie Nichtzahlenden den Durchgang, wie diejenigen in Schottland, wo sich diese Art von zwangsweiser Steuererhebung noch als ein Rest des » black-mail« aus den alten Clanzeiten erhalten hat. Nein, diese Kinder der cumberlandischen Gebirge sind zwar sehr schmuzige, barfuß laufende und zerlumpt angezogene, aber dabei doch sehr bescheidene und artige Kinder. Eins von ihnen, ein Mädchen von 10 Jahren mit sehr hübschen dunkelblauen Augen, sprang hinten auf das Bret und jagte mit uns über Stock und Stein, ließ sich von mir die Haare, die Stirn, die Wangen streicheln und sah mich dabei immer so verschämt lächelnd an, als ob sie mehr verlange. Ich küßte sie zuletzt auf den Mund. Sie aber fuhr fort zu lächeln, und sprang endlich nach einer halben Stunde vom Wagen. Leider erfuhr ich von meinem Kutscher erst als es zu spät war, um ihren bescheidenen Wunsch zu erfüllen, daß es ihr nicht um einen Kuß, sondern um einen »Hä' penny« zu thun gewesen sei, woran ich in der That bei einem so hübschen Kinde gar nicht gedacht hatte.

Allmählich wird der Charakter der Landschaft, je tiefer der Weg sich senkt, um so sanfter; Bäume erscheinen wieder, zuerst nur Fichten und anderes Nadelholz, dann mischt sich Laubholz hinein, der Fuß der Berge bewaldet sich und der freundliche Abendsonnenschein beleuchtete sanfte Rasenflächen und liebliche Waldpartien, zwischen denen rothe Dächer und etwas weiter ein neues Wasser heraufglänzten. Es war das Dörflein Patterdale, welches sich fast bis zum Rande des Sees Ulleswater, eines der berühmtesten von Cumberland, hinabzieht. Welch ein freundlicher Wechsel, diese anmuthige Landschaft, in der die Biene von Rose zu Rose schwärmt und der Vogel sein Abendlied in heiterer Luft und wolkenloser Höhe singt, zu der steinigen Einöde, die ich eben durchflogen hatte! Hier nun ward auch der See in seiner vollen Abendglorie sichtbar. Die Ufer der andern Seite bildeten Felsen, kühngegipfelt, von Wind und Wetter zerrissen, und nur um den Fuß, wo er sich in den See stemmt, von grünen Wald- und Rasenstreifen gesäumt. Aber auf unserer Seite umschlossen Waldberge, zu einer dunkeln Schlucht vertieft, das in der Abendsonne flimmernde Wasser. Und hier, auf einem großen dichten Rasen, der wie ein Teppich am Rande des Sees ausgebreitet ist, liegt das Wirthshaus. Nichts Reizenderes ist zu denken als dies Wirthshaus, wie es mit seinen Blumenbeeten und seinem Rasen dicht unter der Waldschlucht und dicht an dem See liegt; wie es mit seinen hellen Fenstern hier in die kühle Blätternacht und dort auf das spiegelklare Wasser sieht. Es ist so ruhig hier – noch eine andere Ruhe als dort oben in Windermere. Es ist mehr die Ruhe eines wachen, in sich geschlossenen Glückes; frei von jedem wehmüthigen Zusatz, ein frisches, fröhliches Anschauen der Gegenwart. Ich mußte – ohne zu wissen warum, hier im fernen Cumberland viel an Berthold Auerbach denken und dachte, es müsse hier, unter den dunkeln Bäumen, so ruhig sein wie in seinem Schwarzwald. Aber nun erschien, während ich auf dem Rasen wandelte, ganz voll von all dem Duft und alle der kühlen Frische des Abends, plötzlich an einem der Fenster, welches bis auf den grünen Boden reichte, eine weibliche Gestalt, die, sobald sie meiner ansichtig wurde, ein lautes Gelächter erschallen ließ und dann wieder vom Fenster verschwand. Dieses Gelächter beleidigte mich sehr und brachte mich fast ganz aus der wunderbaren Abendstimmung. Was mag ich denn nur so Lächerliches an mir haben? dachte ich, indem ich zum See schritt, um meine Figur in der klaren Oberfläche prüfend zu bespiegeln. Ich entdeckte nichts, soviel ich mich auch drehte und wandte; bis ich auf einmal an dem Fenster die Dame wieder entdeckte, diesmal aber mit einem Herrn an ihrer Seite, die sich alle Mühe gaben, sich durch unaufhörliches Schwenken ihrer beiden Taschentücher kenntlich zu machen, und, als dies nicht zu helfen schien, mit ihren beiden frischen Stimmen anhuben zu singen:

Kornfeld und Gerstenfeld
Und jedes Feld ist wonnig, oh!
Nie will vergessen ich die Nacht,
Die Nacht im Korn mit Annie, oh!

Nun erkannte ich sie wieder, die beiden Geister aus der Abtei von Furneß, die mir hier, am See von Ulleswater, noch einmal zu liebenswürdigen Neckegeistern werden sollten. Sofort eilte ich den Rasen hinauf, stieg durchs Fenster zu ihnen und fand zu meiner Freude, daß Harry und Jessie sich, obgleich nun schon über acht Tage verheirathet, doch immer noch sehr lieb halten. Wir hatten an diesem Abend wol keine Ruinen und keinen Mondenschein mehr wie damals; aber wir hatten einen guten Thee und ein ausgezeichnetes Stück Roastbeef, um uns dafür zu trösten. Auch fand ich an diesem Abend, daß der Ehestand keine eifrigern Fürsprecherinnen hat als diese jungen Geschöpfe, welche noch auf der Hochzeitsreise begriffen sind. Später freilich, wenn das Leben sein Alltagsgesicht hat, und keine Berge, keine Seen und keine Flitterwochen mehr da sind, dann pflegen sie etwas ruhiger über diesen Punkt zu denken und zu sprechen. Aber nur mit Recht; denn »wahres Glück schweigt«. – Am Nachmittage darauf, kurz vor meinem Abschiede, tauschten wir, Harry und ich, unsere Karten aus, in der Hoffnung, uns, wo nicht in diesem District, so doch in diesem Leben noch einmal wiederzusehen, und noch lange, als ich das Dampfschifflein bestiegen hatte, welches sich langsam vom Ufer entfernte, sah ich beide an dem Fenster stehen, wie sie mir mit weißen Tüchern Lebewohl winkten.

Dieser See von Cumberland ist weniger mannichfaltig als die Seen von Westmoreland, und in Form und Substanz seiner Ufer im ganzen eigentlich düsterer und grotesker. Es sind nackte Felsen, die sich Gipfel über Gipfel aufthürmen. Aber in dieser Stunde, wo der Glanz der Sonne ihre Ränder gleichsam zu mattem Gold abschliff, nahmen selbst sie das wolkenhaft Weiche an, als ob eine Reihe hinter der andern stände, und eine Dämmerung sanften, sich immer erweiternden Blaues umschloß die bis zuletzt helle Wasserscheide des Sees. – Nach einer Stunde hatten wir das Ende desselben bei Pouley-Bridge erreicht, wo wieder einmal ein rother Rock, eine Kutsche und Viere warteten. Dieses war meine letzte Kutschenfahrt im Lande der Seen, durch nachtbedeckte Wiesen, Feldmark und stille Dörfer bis nach dem Städtlein Penrith, welches die hereinjagende Kutsche gar lustiglich mit flackernden Gaslichtern und fröhlichem Straßenlärm empfing. Von dem Städtlein selbst, obgleich es recht hübsch sein soll, konnte ich trotz der Gaslichter nicht viel sehen; desto mehr dagegen von der Rauch- und Trinkstube des »Royal George«, wie mein Hotel hieß. In besagter Stube ging es nämlich sehr hoch her wegen eines Viehmarktes, welcher an diesem Tage in Penrith abgehalten worden war. Da saß der behäbige Farmer in der ledernen Hose, da saß der schlaue Viehhändler aus dem schottischen Niederland, und da saß auch der ehrenwerthe Wirth des »Königlichen Georg«, alle drei mit großen Hüten auf, mit langen Thonpfeifen im Mund und mit silbernen Kannen und Rumfläschlein vor sich, denen sie fleißig zusprachen. Neben sich unter dem Stuhle hatte ein jeglicher sein » spittoon«, sein Spucknäpfchen, in welches sie ihre thönernen Pfeifen alle zehn Minuten einmal ausklopften, und vor sich, mitten auf dem Tische, eine zinnerne Büchse mit schwarzem Taback, » shag« genannt, aus welcher sie dieselben ebenso oft wieder füllten. Sie tranken und rauchten mit sehr ernsthaften Gesichtern und führten dabei sehr ernsthafte Gespräche über den Preis von Ochsen und andern nützlichen Thieren. An hübschen kichernden Mädchen war kein Mangel; aber wie der Engel mit dem flammenden Schwerte hatte sich die dicke Wirthin mit der rothen Nase auf die Schwelle der Küche postirt und ließ keins recht zum Vorschein kommen. Auf dem Sofa in der Gaststube räkelte sich ein »commerzieller Mann«, wie hierzulande der »Commis voyageur« genannt wird; sodaß mir, nach aller Erinnerung an Seesrauschen und Mondennächte, als letzter Rest nichts blieb als das Bett, welches mich demnächst denn auch unter seinen rothseidenen Himmel mit dito nur etwas abgeblaßten Flügeln traulich aufnahm.

Als am andern Morgen die Sonne aufging, befand ich mich schon auf dem Wege. Aber noch ein letzter Abschiedsblick der Romantik sollte mir vergönnt sein, bevor das Land der Seen sich mir gänzlich geschlossen hätte. Da stand ein stattliches Schloß, still unter dem jungfräulichen Morgenduft der Bäume, auf weitem, thaufrischen Rasen, sein mächtiges Zinnen- und Zackenwerk klar abzeichnend auf dem immer stärker glühenden Golde des anbrechenden Tages. Das ist der Stammsitz der Musgraves, und der Name des Schlosses ist Edenhall. Wer denkt nicht an eine der schönsten Balladen Uhlands, wenn er diesen Namen hört – »das Glück von Edenhall«? Nun, mich ergriff es wie ein starkes Heimaterinnern, wie ein voller Klang aus der Jugendzeit, als ich diesen Schauplatz eines meiner Lieblingsgedichte vor mir sah, und unwillkürlich bewegten sich meine Lippen:

Von Edenhall der junge Lord
Läßt schmettern Festdrommetenschall,
Er hebt sich an des Tisches Bord
Und ruft in trunkner Gäste Schwall:
»Nur her mit dem Glücke von Edenhall!«

Die Sage, wie sie am Orte selbst erzählt wird, lautet: Der Schenk von Edenhall kam einst, in alten Zeiten, an den dem Schlosse benachbarten Brunnen des heiligen Cuthbert, als eben eine Schar von Feen den Ringelreihen im Grase tanzte. Erschreckt flohen die luftigen Wesen, aber sie ließen ihr Trinkglas zurück. Eine kam hierauf zurück, um es zu holen; aber als sie sah, daß es sich in den Händen des Schenken befand, da flog sie traurig fort und sang:

If that glass should break or fall
Farwell the luck of Edenhall.

Oder wie Uhland es hat:

Kommt dies Glas zu Fall,
Fahrwohl dann, o Glück von Edenhall.

Die Musgraves sind eins der ältesten Geschlechter von England; sie leiten ihren Stammbaum von einem der Waffengefährten Wilhelm's des Eroberers ab. Wacker in Krieg und Frieden haben sie sich während der langen Zeit gehalten, sind Sheriffs ihrer Grafschaft und Mitglieder des Parlaments gewesen; geben uns aber zugleich ein Beispiel jener Familien, die, älter als das älteste Haus des englischen Adels, dennoch nur zur Gentry gehören. Einer ihrer Vorfahren, Thomas de Musgrave, in Eduard's III. Zeit, commandirte in der siegreichen Schlacht von Durham und nahm David Bruce, den jungen König der Schotten, gefangen. Später in den bürgerlichen Kriegen standen die Musgraves treu zu dem königlichen Banner der Stuarts, deren erster sie zu Baronets gemacht hatte. Der zweite Baronet, Sir Philip, schlug sich bei Marston Moor und unter der heroischen Gräfin von Derby für König Karl I., und bei Worcester für dessen Sohn, den nachmaligen Karl II.; ein anderer Musgrave, von der Seitenlinie, Sir Edward, verkaufte seine Besitzungen, um ein Regiment für dieselbe Sache zu werben. Die tapfern Royalisten unterlagen und König Karl fiel auf dem Schaffot, aber in der Schlacht von Worcester war Sir Edward wieder da, um noch einmal, zusammen mit seinem Vetter, für den Thron zu kämpfen. Hier war es, wo Karl II. das Pferd unter dem Leibe erschossen ward und Sir Edward ihm das seine gab. Nach dem unglücklichen Ausgange der Schlacht floh Sir Edward nach Schottland, wo er bei dem edeln Herzog von Gordon Schutz zu finden hoffte; aber sein Asyl ward entdeckt und der Herzog erhielt eine Botschaft von Cromwell: – »daß, wenn er nicht sogleich Ned Musgrave, diesen Erzrebellen, ausliefere, er, Cromwell, einen Trupp Reiter senden und des Herzogs Schloß stürmen lassen wolle«. Dem unglücklichen Royalisten blieb keine Wahl, als aufs neue zu flüchten: er begab sich übers Meer nach der Insel Man und dort starb er noch vor der Restauration, welche seine und seines Vetters Familien wieder in ihre Güter einsetzte. Doch ein Patent, welches die Musgraves, diese treuen Cavaliere, zu Baronen machte, ward niemals ausgeführt; sie waren und sind bis auf den heutigen Tag schlichte Baronets. Aber stolz auf ihre Familientraditionen von mehr als 800 Jahren – ein Alter, mit dem sich keins von den titeltragenden Häusern Englands auch nur entfernt messen kann – sitzen sie noch dort oben in ihrem Stammschloß Edenhall, unter den Bergen von Cumberland; und dort, mit andern Reliquien, wird auch der durch Sang und Sage berühmte Pokal, » the luck of Edenhall«, als ein Palladium der Familie bewahrt. Er steckt in einem ledernen Behälter, welcher mit Rollen von Weinblättern verziert ist und auf dem Deckel die Buchstaben J. H. C. hat. Der Pokal selber ist von grünem Glase mit Laubwerk und Emaille von verschiedenen Farben verziert; er ist tief, eng, faßt etwa ein englisches Pint und scheint, dem Stil seiner Ornamente nach, aus dem 15. Jahrhundert zu stammen.

In der Ballade unsers Uhland springt das Glas bei einem Gelage, und sogleich springt auch das Gewölbe, die Flamme dringt aus dem Riß, – die Gäste zerstieben, der Feind stürmt ein und erschlägt den jungen Lord, der in der Hand noch »das zersprungene Glück von Edenhall« hält. Am Morgen irrt der Schenk allein und sucht die Scherben des Pokales.

»Die Steinwand« – spricht er – »springt zu Stück,
Die hohe Säule muß zu Fall,
Glas ist der Erde Stolz und Glück,
In Splitter fällt der Erdenball
Einst gleich dem Glücke von Edenhall.«

So, mit einem Gedanken an den deutschen Dichter, damals nicht ahnend, wie bald er uns entrissen werden sollte, beschloß ich meine Herbsttage an den englischen Seen.

*

Zehn Jahre sind seitdem verflossen, und wie ein Traum, wenn ich rückwärts schaue, stehen diese in allen Duft und Zauber der Romantik getauchten Tage vor meinem Auge. Doch ganz besonders traumhaft erscheint mir eine Stimmung, ein Empfinden, welches mich lebhaft überkam, als ich die vergilbten Blätter von den englischen Seen wieder las: jenes zwischen ungestilltem Wandertrieb und mächtigem Heimverlangen getheilte Empfinden, welches den Deutschen in der Fremde damals ganz beherrschte, wie es in dem schönen Liede von Justinus Kerner einen so treffenden Ausdruck gefunden:

Und Liebe die folgt ihm, die geht ihm zur Hand,
So wird ihm zur Heimat das ferneste Land.

Mit diesen Versen – Gott weiß es – haben wir uns oft getröstet, wenn es uns da draußen, Hunderte von Meilen weit, nicht wohl werden wollte, wenn uns das bittere Weh nach der Heimat ergriff, die wir doch verlaßen hatten in Unmuth und Unbefriedigung ...

Das ist nun alles vorüber. Nicht wehr im »fernesten Land« brauchen wir unsere Heimat zu suchen; wir haben sie gefunden und werden sie nicht mehr verlieren, Dank euch, ihr treuen Todten, deren Lied uns freundlich begleitet, ein letztes unsichtbares Band zwischen den Herzen in der Fremde und im Vaterhaus. Was uns da draußen fehlte, war Deutschland; aber Deutschland war es auch, das uns zurückgerufen! Seine Neugeburt in Kampf und Sieg hat demjenigen, der einsam lange draußen weilte, seine Stelle wieder angewiesen, wo er sich heimisch fühlen und nützlich machen kann für das große Ganze. Nicht mehr »hinaus in die Ferne«, sondern heimwärts drängt jeder Wunsch und jeder Gedanke; mit dem Vollgefühl des Glückes und der Liebe umfassen wir diesen theuern Boden des Vaterlandes, an dessen Schwelle jetzt der Heimgekehrte voll inbrünstigen Dankes seinen Wanderstab niederlegt.

 


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