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Kent und die Canterbury-Geschichten.

1.

Dem Deutschen, welcher England besucht, wird vor allem unvergeßlich bleiben der erste Blick auf »Albions früheste Schönheiten«, wenn aus einem frischathmenden, grünen Meer die weißen Klippen von Dover vor ihm aufsteigen. Mit dem Gefühl, daß er hier ein neues Land betreten, verschieden von allem, was er bisher gesehen, betritt er den Boden von Kent. Andere Gesichter, andere Häuser, andere Landschaften, ein anderer Himmel und eine andere Art zu leben treten ihm plötzlich entgegen; aber dennoch heimelt ein Klang ihn an wie aus der fernen Vorzeit. Er erinnert sich, daß seine eigene Vergangenheit ihn hier begrüßt, und er gedenkt dieser Worte, die sich in Camden's » Britannia« finden, daß »hier das erste Sachsenreich in Britannien anno Christi 456 gegründet und von ihnen Cantwararyc genannt« worden sei ( edit. Francof., p. 242).

Wo jetzt die rothe Fahne mit den blauen Kreuzbalken weht, da flatterte damals das Sachsenbanner mit dem weißen Pferd. Es war das Pferd, dessen Figur die Schiffe der Sachsen schmückte, wie sie noch heut die Strohdächer der Bauernhäuser in Niedersachsen schmückt, das weiße Roß, welches Hengist und Horsa im Schilde führten und welches durch die hannoverische Succession sogar in das Wappen der drei vereinigten Königreiche gekommen ist. Erst seit der Thronbesteigung der Königin Victoria ward es wieder daraus entfernt; doch aus unvordenklicher Zeit ist es der Grafschaft Kent verblieben: und dort, im alten Sachsenreich, dem ehemaligen Reich der Männer von Cantium, erzählt es die Geschichte der Vergangenheit dem Wanderer, der dieses Land im Sonnenschein durchpilgert.

Ein herrliches Land, dieser »Garten von England«, gesegnet mit allem, was das Herz erfreut – mit Obst und Korn und Hopfen, mit Wiesen und Wäldern voll stattlicher Eichen und Ulmen, mit fischreichen Flüssen, mit Dörfern am Wege. Dazwischen hier und da, von seinem Park und hundertjährigem Baumwuchs umgeben, eine der baronialen Hallen, an welchen keine andere Grafschaft so reich ist als Kent, oder eins jener altmodigen Manorhäuser im Tudorstil, von jeher der Sitz der landbegüterten Gentry. Welch ein Reiz des Anheimelnden, des Ehrwürdigen und der Vertraulichkeit schwebt doch um die rothen Backsteinmauern dieser Landsitze, wenn sie, zwischen den Städten, deren Inneres dröhnt von dem Sausen der Arbeit, zur Seite des Wegs aus dem dunkeln Schos ihrer Baumkronen auftauchen; Bilder der vornehmen Ruhe, Bilder des sichern Besitzes, Bilder der Dauer und Beständigkeit inmitten des unaufhörlichen Wechsels, dem wir andern unterworfen sind. Alt und doch nicht überlebt, abgeschlossen und doch nicht feindlich, stolz und doch nicht beleidigend stehen sie noch immer da, verschont von den Stürmen, welche die Schlösser von Frankreich gebrochen und diejenigen von Deutschland bedroht haben, Sitze der Mannhaftigkeit, des Wohlwollens, der Gastfreundschaft, die ältern Brüder der Städte, die Ueberreste des herzigen Altenglands. Grundbesitzer lebten hier, – Squires genannt – Leute, die nicht eigentlich adelig waren, obwol sie eine lange Reihe von Ahnen haben mochten und ganz gewiß ein gutes Wappen hatten. In der Mitte stehend zwischen dem Adel und den Hüttenbewohnern bildeten diese »Squires« die berühmte alte »Gentry«, die Substanz des Landes, » the might of the realm«, den wahren Kern der englischen Nation, der den Reichthum und die Unabhängigkeit derselben repräsentirte und von dem eisernen Regiment Cromwell's gekräftigt wurde zu derselben Zeit, wo dieser die Häupter der Nobility zerschmetterte. Die Begriffe des »Squire«, der »Gentry« und damit zusammenhängend des »Gentleman« sind so durchaus englisch, daß man sie dem continentalen Verständniß nur durch Umschreibung erklären kann. Was der »Gentleman« im moralischen Sinne ist, wissen wir allenfalls und haben es sogar in unsern Sprachgebrauch aufgenommen. Allein dies ist doch nur eine Seite des Begriffs und erschöpft ihn keinesfalls ganz. Der »Squire« – eine veraltete Bezeichnung, an deren Stelle der »Country-Gentleman« getreten ist als eine der beneidenswerthesten Persönlichkeiten im modernen englischen Leben – war ursprünglich ein Ritterbürtiger, der Sohn eines Ritters, bevor er den Ritterschlag empfangen, dann jeder Inhaber eines einfachen Lehns von mehr als 20 Pfd. Sterling Einkommen, welches zum Ritterschlage berechtigte; mehr und mehr jedoch entzog er sich dieser kostspieligen Ehre und schon seit dem 46. Regierungsjahre Eduard's III. (1373) wurde der Titel »Squire« jedem größern Grundbesitzer zugestanden, ohne Rücksicht auf Ritterbürtigkeit oder Lehnsverhältniß. Der »Squire«, der » Lord of the manor« ist häufig als ein Gutsbesitzer von niederm Adel definirt worden: das ist er nicht, er ist mehr und er ist weniger; weniger, weil er einen legalen Status, wie der Edelmann, nicht hat – mehr, weil er unter Umständen von aristokratischerm Herkommen sein mag als jener und einen localen Einfluß besitzt, der auf kein Gesetz zurückzuführen ist, sondern mit dem Grundbesitz selber, oft durch Jahrhunderte, von dem Vater auf den Sohn sich vererbt hat. » Nobilis fit«; der englische Peer und Lord wird gemacht, unter den alten Titeln steckt oft eine sehr neue Familie. Aber » nascitur generosus«, zur Gentry muß man geboren sein, und sehr bezeichnend in dieser Hinsicht ist die Antwort, welche Jakob I. in den Mund gelegt wird, als er, nach seiner Thronbesteigung in England, von seiner Amme gebeten ward, daß Seine Majestät die Gnade haben möge, ihren Sohn zum Gentleman zu machen. »Meine gute Frau«, soll er gesagt haben, »ich kann ihn zum Lord machen; aber es ist außer meiner Gewalt, ihn zum Gentleman zu machen.« Ja, Selden, der berühmte englische Jurist, dessen 1614 publicirter » Treatise on titles of honour« noch heut in Bezug auf alle die Rangverschiedenheit der Nobility und Gentry betreffenden Fragen als Autorität gilt, ging sogar so weit zu behaupten, »daß nicht einmal Gott der Allmächtige einen Gentleman machen könne«. Man wird sich das Verhältniß am besten folgendermaßen klar machen: dem eigentlichen, dem hohen Adel, wenn man sich eines unsern continentalen Begriffen ungefähr entsprechenden Wortes bedienen will, der »Nobility«, steht die »Gentry« gegenüber. Die Gentry zerfällt in die titulirte und die nicht titulirte, von denen die erstere aus Baronets und Knights gebildet wird. Die Baronets und die Knights machen die beiden Klassen desjenigen Grades aus, welche, mit der »Nobility«, dem hohen Adel, verglichen, als die » lesser« oder » lower nobility«, der niedrigere Adel, bezeichnet wird. Allein weder der Baronet noch der Knight hat jemals außer seinem Titel und dem Vortritt in der Rangliste das geringste Privileg vor dem alten Squire oder untitulirten Gentleman vorausgehabt; sie bildeten vielmehr und bilden immer noch zusammen die Gentry, welche nur für das Unterhaus wahlberechtigt und wählbar, während die Nobility durch Gesetz zum Oberhaus berufen ist.

Aber der Adel in England, die Nobility, kann sich, was das Alter betrifft, weder mit dem Adel in Deutschland, noch viel weniger mit dem in Frankreich messen. Es kommt das zunächst daher, daß er seiner Natur nach ein politischer ist, der, wie vorher schon angedeutet, auf das genaueste mit der Repräsentation im Oberhause zusammenhängt: ein Lord ist auch immer ein Peer; und daß er demgemäß ein charakteristisches Merkmal seines Ursprungs besser bewahrt hat als der Adel in irgendeinem andern Lande der Christenheit. Aller Adel ist und konnte nur ursprünglich ein Verdienstadel sein; aber durch die unbegrenzte Erblichkeit einer ihrem Wesen nach persönlichen Auszeichnung ist in den meisten übrigen Ländern dieser Charakter fast ganz verloren gegangen. In England hat er sich principiell nicht nur erhalten, sondern es scheint in neuerer Zeit die Tendenz dahin zu gehen, ihn auch factisch immer mehr zur Geltung zu bringen. Wiewol Erblichkeit vorhanden, ist sie doch eine beschränktere; die Kinder der großen Geschlechter kehren nach einer bestimmten Zeit in das Volk zurück, aus welchem ihre Väter emporgestiegen; ja der älteste Sohn eines Peers, der nach Ableben seines Vaters selber Peer werden wird, gilt bei Lebzeiten desselben wenn auch conventionell ( title by courtesy, durch einen Titel der Höflichkeit), doch nicht rechtlich als ein Lord, und kann deshalb so lang ins Unterhaus gewählt werden. Umgekehrt ist es in England mehr als anderswo Gebrauch, das Verdienst als solches zu adeln, indem man ihm einen Sitz im Hause der Lords gibt. Zwanzig der größten Adelsfamilien sind durch Bürger und Kaufleute der City begründet worden, und siebenzig Peers verdanken ihre Erhebung einer erfolgreichen Laufbahn als Advocaten oder Verwaltungsbeamte. Der englische Adel ist eine Institution mit lebendigem Organismus, in welcher das Blut sich durch Assimilation sowol als Ausstoßung der verbrauchten Elemente beständig erneut; anstatt sich von dem Volke zu trennen, hat er stets seine beste Kraft aus dem Zusammenhange mit demselben gezogen, und wenn er daher weniger Ahnen hat als der Adel des Continents, so besitzt er dafür mehr Popularität und größern Reichthum. Ein »Titel ohne Mittel« gilt nicht viel in England, und Bankrott ist daher immer als ein hinreichender Grund zur Degradation angesehen worden. Ein Dutzend Peers könnte man nennen, heillose Verschwender, welche, nachdem sie das Ihrige durchgebracht und in Armuth versunken, deswegen zu ihrem Sitze im Oberhaus entweder nicht mehr berufen, oder aus der Liste desselben geradezu gestrichen worden sind. Noch massenhafter haben in den frühern Jahrhunderten die Kriege, in den spätern die Revolutionen und Verschwörungen unter den Lords aufgeräumt. Der Krieg zwischen der rothen und weißen Rose hat ganze Hekatomben adeliger Schlachtopfer gefordert: wurde doch ganz ausdrücklich vor den Bataillen der Befehl ertheilt, nur den Gemeinen Pardon zu geben, alle vom Adel aber zu tödten. So kam es, daß in den dreizehn Schlachten, vom Tage von St.-Albans im Jahre 1455 bis zu dem von Bosworth im Jahre 1485, 2 Könige, 4 Prinzen, 10 Herzöge, 2 Marquis, 21 Grafen, 2 Viscounts und 27 Barone fielen – sei es auf offenem Felde, sei es nachher, infolge von Mord. Andererseits war es Anklage wegen Hochverraths – attainder – welche seit den Tagen des Eroberers die Reihen des englischen Adels blutig gelichtet hat: nicht weniger als 80 Lords starben unter den Händen des Scharfrichters oder Henkers.

Von dem großen Normannenadel Wilhelm's des Eroberers ist keine Spur mehr übrig; ebenso wenig von den Schöpfungen Königs Johann ohne Land. Von den ältesten titulirten Familien Englands können drei ihren Stammbaum bis zu den Tagen Heinrich's III., und drei bis zu denen Eduard's I. verfolgen; aber merkwürdigerweise finden sich diese Familien auf der untersten Rangstufe der englischen Peersliste, während die höhern Würden derselben auf einen immer modernern Ursprung zurückdeuten. Kaum ein Sechstel aller gegenwärtig im Oberhause vertretenen Häuser besaß seine Titel schon zur Zeit der Revolution von 1688, und seit 30 Jahren ist die Liste der Peers um mehr als 60 neue Namen vermehrt worden. Von 20 Herzogthümern stammt nur eins aus dem 15. Jahrhundert, und das älteste Marquisat ist nicht älter als das 16. Von 108 Earlthümern stammen nur zwei aus dem 15., dagegen 31 aus dem 18. und 54 aus dem 19. Jahrhundert, und von den Viscounts datirt nur einer sein Haus aus dem 16. Jahrhundert. Aus dem 13. und 14. Jahrhundert gibt es nur noch Baronien: vier aus dem 14., sechs aus dem 13. Jahrhundert, von denen drei durch Frauen – » peeresses in her own right«, Peeressen in ihrem eigenen Rechte – vertreten werden. Eine derselben, Baroneß Boscawen, vertritt die Baronie Le Despencer; diese und die Baronie de Ros sind die beiden ältesten Adelsgeschlechter des heutigen Englands: sie sind creirt worden im Jahre 1264. Darüber hinaus kann kein zur Peerage gehöriges Haus seinen Ursprung verfolgen, während der Name und die Familie von manch einem Angehörigen der Gentry verzeichnet steht im Doomsday-book des Eroberers, wie z. B. diejenige des heute so sehr bewunderten Malers der »Hugenottenbraut«, John Millais Esq. Freilich war der Squire der alten Zeit ein anderer Mann, als es sein Nachkomme, der Country-Gentleman der Gegenwart ist; aber doch war der Unterschied nicht größer als der des Lebens von damals und von heute überhaupt. Wer ihn in seiner rauhen, zuweilen rohen, aber immer doch im Grunde jovialen Weise kennen lernen will, der muß die Romane des vorigen Jahrhunderts lesen, z. B. »Tom Jones, der Findling«, in welchem Fielding uns ein gar ergötzliches Bild der beiden würdigen Nachbarn Squire Western und Squire Allworthy gibt, von denen der eine nichts thut, als andere Leute glücklich zu machen, während der zweite – offenbar ein treueres Bild seiner Zeit – nichts thut, als auf die Jagd zu reiten, zu fluchen und sich mit seinen Pastoren zu betrinken.

Nicht minder alterthümlich als diese Wohnsitze der begüterten Landeigentümer in Kent sind die Städte. Da ist vor allem Dover, die erste Stadt, welche der in Kent Landende betritt, mit seinem uralten Normannenschloß, diesem »Schloß und Riegel des ganzen Reichs« ( clavis et repagulum totius regni), wie es der Chronist Matthew Paris (cit. bei Camden, S. 262) beschrieben. Da Kent der nächste Punkt zum Continent war, so sind alle Eroberer von England hier nacheinander gelandet: Julius Cäsar und die Römer bei Dover, die Sachsen an der Insel Thanet, die längst keine Insel mehr ist, endlich die Dänen. Darum ward seit der Normannenzeit diese Küste als eine der wichtigsten bewacht, und zu ihrem Schutze wurden die » cinque Ports«, die fünf Häfen erbaut – von denen übrigens einige, wie Sandwich, seit mehrern hundert Jahren mitten im trockenen Lande liegen. Der Gouverneur der »fünf Häfen« hieß Lord-Wardein; ein Posten, der, wie die Häfen versandeten, auch selbst an Bedeutung verloren hat und eine Sinecure geworden ist, welche verdienten Staatsmännern verliehen wird, wie zuletzt dem Herzog von Wellington und dem Lord Palmerston. Die Residenz der Lord-Wardeine ist Walmer-Castle, ein altes Schloß am Meere, nicht weit von dem Dörfchen gleiches Namens, in welchem ich Anfangs der sechziger Jahre längere Zeit gelebt und den damaligen Lord-Wardein Palmerston, mit seinem Jockey hinter sich, noch fröhlich habe reiten sehen. Es ist ein lieblicher Aufenthalt; der Geruch der Felder mischt sich mit dem der Brise, die vom Meere heraufweht; links liegt höchst malerisch das Hafenstädtchen Deal, und gegenüber im Meere die gefährliche Bank der Goodwin-Sands, »die Goodwins, denke ich, nennen sie die Stelle, eine sehr gefährliche Sandbank, wo die Gerippe von manchem stattlichen Schiffe begraben liegen« (Kaufmann von Venedig, III, 1) – einst, in fernen Tagen, das Besitzthum des Earl of Goodwin, des Vaters von Harold, welchen William der Eroberer bei Hastings besiegte. So hat das Meer unablässig gearbeitet und – hier fortspülend, dort anschwemmend – Theile von dem, was ehemals Festland war, in seinen Fluten begraben, um an andern Stellen Inseln, wie die von Thanet, oder Häfen, wie den von Sandwich, in Festland zu verwandeln. Sandwich, jetzt ein stilles Land- und Ackerstädtchen, liegt stundenweit von der See, die man nur sehen kann, wenn man in der alten, von Gräbern umgebenen Kirche den zerbröckelnden Thurm besteigt. Dem Fremden, der durch diese menschenleeren Straßen geht, muß es wie ausgestorben vorkommen, als ob alles von Schlaf und Traum befangen sei; nichts mehr wird er davon bemerken, daß einst ein sehr rühriges Leben hier geherrscht. Dreihundert Jahre sind es, daß Sandwich das Ziel einer eigentümlichen Invasion war, aber einer friedlichen und willkommenen: es waren die protestantischen Flamländer, welche hier eine Zuflucht suchten, als sie vor Alba flüchtend, lieber ihre Heimat verlassen wollten als ihren Glauben. Der Exodus von Belgiens reichsten Kaufleuten, tüchtigsten Fabrikanten und fleißigsten Handwerkern dauerte jahrelang; nach allen Richtungen hin wanderten sie aus, diejenigen aber, welche sich nach England wandten und seine Küsten begrüßten als » asylum Christi«, ließen sich zuerst in Sandwich nieder, wo wir schon im Jahre 1561 eine große Gemeinde derselben finden. Sie nahmen ihre Kunstfertigkeit, ihre Kenntnisse und ihre Liebe zur Freiheit mit, wohin immer sie gingen; und wol konnte man von ihnen sagen, hier in England, wie später in der Mark Brandenburg, »daß die Städte glücklich seien, in welchen sie wohnten; denn Gott folge ihnen mit seinem Segen«. Trotz päpstlicher Bullen gewährte Königin Elisabeth ihnen einen gastlichen Empfang. Bürgermeister und Rath von Sandwich wurden angewiesen, ihnen auf jede Weise freundlich entgegenzukommen und ihnen namentlich in der Ausübung ihres Gewerbes, der Tuch- und Seidenweberei, die sie nach England mitbrachten, jeglichen Vorschub zu leisten. So geschah es; man ordnete für den Verkauf ihrer Tuche zwei Wochenmärkte in Sandwich an, die bald aus allen Theilen Englands besucht wurden. Man gab ihnen eine Kirche und einen Kirchhof, so wie sie's verlangt hatten bei der Landung: einen Ort, um ihren Gott anzubeten, einen Platz, um ihre Todten zu begraben, und Freiheit, ihr Gewerbe zu üben. Sandwich, welches kurz zuvor durch die Versandung seines Hafens von seiner ehemaligen Höhe herabgesunken war, erhob sich zu neuer Bedeutung und Größe. Wol konnte daher Schiller seinen Marquis Posa dem tyrannischen Philipp II. zurufen lassen:

– Schon flohen Tausende
Aus Ihren Ländern, »froh und arm«.
… Mit offnen Armen
Empfängt die Fliehenden Elisabeth,
Und furchtbar blüht durch Künste unsers Landes
Britannien.

Der Colonie von Sandwich folgten bald andere. Samuel Smiles, dessen Geschichte von der Ansiedelung der Flamländer in Kent wir hier recapituliren, erzählt, daß gleichfalls in der ersten Zeit der Königin Elisabeth eine Schar von 18 wallonischen Familien unter Führung ihres Pfarrers, Hector Hammon, » minister verbi Dei«, nach Canterbury kam, wo sie nicht minder freundlich ausgenommen wurden. Sie stellten ihre bisher in England unbekannten Webstühle für Brocat, Orleans, seidene und halbseidene Zeuge hier auf. Der hochsinnige und freidenkende Matthew Parker, Erzbischof von Canterbury, wies ihnen eine ehemals der heiligen Jungfrau gewidmete Krypta der Kathedralkirche zum religiösen Gebrauch an; und in dieser Krypta, von deren einstigem Reichthum an Gold, Purpur, Juwelen und kostbaren Steinen Heinrich VIII. nur die Ringe übriggelassen hatte, an welchen die silbernen Lampen hingen, versammelten sich die Réfugiés zu Gebet und Predigt. Die Gemeinde, welche hier während des 17. Jahrhunderts florirte, hat sich dann später freilich von Jahr zu Jahr mehr verringert, indem schon seit Anfang des vorigen Jahrhunderts die Mehrzahl derselben, zusammen mit den Hugenotten, sich nach London gewendet hat, wo man ihre Nachkommen in den Webern von Spitalfields noch heute wiedererkennt. Allein der Rest ist in Canterbury zurückgeblieben; und obwol die Gemeinde nur aus 20 Mitgliedern besteht, von welchen zwei Aelteste und vier Diakonen, so hält sie doch immer noch in der sogenannten »Französischen Kirche«, wie jene Krypta jetzt heißt, ihren calvinistischen Gottesdienst, während über ihnen, in der Kathedrale, der ganze Pomp der Hochkirche von England sich entfaltet.

Fester saß die flämische Gemeinde in Sandwich, und dauerndere Spuren hat sie daselbst zurückgelassen. Hier machten sie nicht lange nach ihrer Landung ein Drittel der Bevölkerung aus. Obgleich das Weben von Tuchen ihre Hauptbeschäftigung, so beschränkten sie sich doch nicht darauf. Viele von den Industriezweigen, in welchen England heut unbestritten den vordersten Rang einnimmt und welche eine Quelle des Nationalwohlstandes bilden, wie die Tuch- und Wollmanufactur, führten sie zuerst hier ein, andere halfen sie vervollkommnen. Sie bauten die ersten holländischen Windmühlen hier an der Küste von Kent, sie fabricirten Porzellan, sie bestellten vor allem das Feld und die Gärten nach ihrer heimatlichen Weise. Bis zur Ankunft dieser Ansiedler, sagt Smiles, war die Kunstgärtnerei fast unbekannt in England; man glaubt es ihm, daß bis dahin Kohl, Wurzeln, Rüben und sonstige Gemüse kaum zu haben waren – versteht man es doch noch heute kaum, sie schmackhaft zuzubereiten! Die spanische Katharina, Heinrich's VIII. erste Gemahlin, von ihrer südlichen Heimat so sehr daran gewöhnt, konnte Salat in ganz England nicht haben, und mußte denselben sich aus den Niederlanden kommen lassen! Das alles, und noch weit mehr, brachten die Flamländer mit; sie verwandelten das schöne Kent in den Garten, in welchem alles grünt und blüht bis hinab zu den Ufern der See; und obwol Sandwich längst wieder eine stille Stadt geworden ist, welche von ihrem zweiten Aufschwung keine Kunde mehr gibt, so erinnern doch die Gärten, welche sich wie ein üppiger Kranz um die Häuser ziehen und sich ebenso sehr durch ihre Sauberkeit als ihre Fruchtbarkeit auszeichnen, noch heute an die Tage der niederländischen Ansiedler. Auch diese haben schon längst aufgehört, eine eigene Gemeinde zu bilden, aber, wiewol vermischt mit den andern, haben doch zahlreiche Familien noch ihre einst holländischen Namen bewahrt; ein directer Descendent der Bouveries, eines großen Wollfabrikanten, der im Jahre 1567 vor der Inquisition von Alba nach Sandwich floh, sitzt noch heute als Earl of Radnor im Hause der Lords, und E. Knatchbull Hugessen, Esq., Abkömmling der flämischen Weberfamilie Hugessen, vertritt die Stadt, die seinen Vorfahren einst ein Asyl geboten, im Hause der Gemeinen.

Die Stadt jedoch, welche mehr als alle andern Städte in Kent Erinnerungen an die alte Zeit bewahrt und demjenigen, der auf solche Stimmen der Vergangenheit horchen mag, ein ganzes Stück altenglischen Lebens und Dichtens erzählt: das ist Canterbury, im Inland gelegen, etwa halbwegs zwischen der Küste und London.

*

2.

Da ist sie, die alte erzbischöfliche Stadt, die Cantuaria der Sachsen, die Metropole der Männer von Kent, das »Kantelburg« der deutschen Studiosen der Theologie. Da steht sie vor mir mit ihrer alten Kathedrale, mit ihren alten Kirchen, Asylen, Klosterresten, alten Straßen und alten Giebelhäusern. Ein Gefühl überkommt mich, wie an jenem Morgen, unter dem Schatten der Häuser, nicht als ob ich selber alt, sondern als ob die alte Zeit wieder jung geworden wäre. Eine solche Ruhe ist darüber ausgebreitet wie aus vergangenen Jahrhunderten. Die Sonne bescheint ihre grauen Schieferdächer und ihre Thürme mit einem andern Licht; als ob weniger Farbe darin wäre, blasser, matter, träumerischer, wie die Sonne auf alten Heiligenbildern. Und ringsum ist die alte Mauer, an einigen Stellen eingesunken, aber überall bekleidet mit Epheu und wilden Blumen, welche stark in der Mittagssonne duften, und stille Gärten liegen hinter den Mauern und in den stillen Straßen sind alte Wirthshäuser mit dunkeln, kühlen, gewölbten Gemächern, und in der dunkelsten Ecke steht » mine host«, der Wirth, der darum seine rothe Nase nicht verloren hat, weil er seine neumodische weiße Kravatte trägt, und eigentlich nicht mehr » host«, sondern » waiter«, nicht mehr »Wirth«, sondern »Kellner« heißt; und der » butler«, der »Küfer«, der leider sein Schurzfell verloren hat, bringt mir einen zinnernen Krug und Humpen, und der » ostler«, der Pferdeknecht, sitzt im Hof auf einer Wagendeichsel, putzt sein silberbeschlagenes Pferdegeschirr und summt dabei ein Stück von einem Erntegesang, mit dem schönen Refrain:

Ueber, über, über und über, trink' jedermann nun seine Kann'
Und schwenk' sie dann über und über.

Und nun geh ich wieder in die Straßen und durch die Winkelgassen, welche voll sind von dem warmen Augustsonnenschein und Schatten, von dem Gedränge der Menschen und dem bunten Marktgewühl des Vormittags, und nun seh ich zwischen all den andern alten Häusern auch jenes »sehr alte Haus, welches sich weit über die Straße vorneigt; ein Haus mit langen niedrigen Gitterfenstern, welche sich noch weiter vorneigen, und Balken mit geschnitzten Köpfen an den Enden, welche sich auch vorneigen, sodaß ich mir einbilde, das ganze Haus lehne sich vorwärts, um sehen zu können, wer auf dem engen Pflaster unter ihm vorübergehe«.

Jeder Leser von Dickens' Meisterwerk »David Copperfield« weiß, daß in diesem Haus mit seinem altmodischen Messingklopfer, seiner niedrigen Bogenthür und Ecken und Winkeln und Schnitzereien und seltsamen kleinen Glasscheiben und noch seltsamern kleinen Fenstern (»obwol so alt wie die Berge, doch so rein wie der Schnee, der jemals auf die Berge fiel«) – daß hier, sag' ich, die blonde Agnes gewohnt hat, dieser Engel von einem Weibe, welche den armen David beglückt, als er, krank von den Freuden und Leiden der Welt, heimkehrte in diese alte Stadt seiner Jugend, um in ihrem traulichen Dunkel Frieden und in der vergessenen Gespielin die treue, gütige, verzeihende Freundin und Helferin zu finden, die er nie vergessen konnte.

O, tausend Erinnerungen werden wach, indem ich weiter schreite, durch die Hauptstraße der Stadt, High street, (so heißt regelmäßig in jeder englischen Provinzialstadt die Hauptstraße, die alte »Heerstraße«); hier ist ein schmales Gäßchen, Mercery lane, erreicht, welches noch alterthümlicher aussieht als all die andern alterthümlichen Gassen, und hier ist ein freier Platz, und darauf steht in ihrer mittelalterlichen Pracht und Herrlichkeit die Kathedrale.

Die Kathedrale ist der vorherrschende Zug in dem Bilde von Canterbury, und wo man immer stehen mag in den Straßen oder in der Umgebung der Stadt, sie bleibt uns gegenwärtig wie ein ernster und feierlicher Gedanke. Ihre viereckigen Thürme sind in der weiten Ebene so lange sichtbar, als man noch einen Blick auf Canterbury hat, dem Reisenden, der auf der Eisenbahn vorüberfährt, eine letzte Reminiscenz an das mönchische England, wie ihm das Castell von Dover eine war an das feudale England.

Der Grundstein dieses Gebäudes ist unter Wilhelm dem Eroberer gelegt, worden, aber die einzelnen Theile stammen aus den verschiedensten Zeiten jener Jahrhunderte, welche für den Westen Europas das klassische Alter der nationalen Baukunst gewesen. Daher hat das Ganze den Charakter des Mannichfaltigen, innerlich gebunden durch den transscendentalen Geist, welcher damals das Höchste nur in steinernen Gedichten zu feiern liebte, welcher für die Fürsten und Großen dieser Welt finstere, feste Burgen, aber für den König der Könige jene lichten Dome schuf, deren Thürme sehnsuchtsvoll gen Himmel streben. Der Chor der Kathedrale ist von einer imposanten Wirkung, wenn man seine Pfeiler, seine Bogen zuerst erblickt und unter seine Wölbung tretend die zu Stein gewordenen Wölbungen eines Eichenhains über sich zu sehen meint, denen der germanische Heimatsgeist diese Art zu bauen abgelauscht hat. Es ist anglo-normannischer Stil, welcher sich nicht wesentlich von unserer Gothik unterscheidet, denn dieselben germanischen Grundelemente sind in beiden. Auf der Nordseite der Kathedrale sind die Kreuzgänge, das Kapitelhaus und die Reste des erzbischöflichen Palastes. Die Schatzkammer befindet sich in einem viereckigen Normannenthurm am östlichen Ende, und hier wurden vor der Aufhebung des katholischen Glaubens in England die zahlreichen Reliquien aufbewahrt, welche noch Erasmus beschrieben. Im Schiff, in den Flügeln und der Krypta, in der Dämmerung, welche durch gemalte Scheiben fällt, liegen begraben ein König von England, eine Königin, ein Prinz, viele Cardinäle und alle Erzbischöfe von Canterbury, welche in den vier Jahrhunderten von 1161-1502 hier lebten und gestorben sind; ihre steinernen Figuren mit der Mitra auf dem Haupt, mit dem Hirtenstab in der Hand und mit Gesichtern, als ob sie schliefen, ruhen auf den steinernen Sarkophagen. Welch eine Reihe von Särgen und von Erinnerungen! Doch nur zwei davon haben über die lange Zeit hinaus ihren romantischen oder historischen Zauber für uns bewahrt: »Des schwarzen Eduard's Helm und Becket's blut'ger Stein.« (Don Juan, X, 73.)

Der schwarze Prinz! Eduard's III. Heldensohn, wer kennt ihn nicht, den Liebling der alten Volksbücher, den Frohen, Lebenslustigen, Unerschrockenen, den Sieger von Crécy, dem es dennoch bestimmt war, in früher Mannesjugend dahinzusiechen und zu sterben? Noch heute bildet das Büchlein, welches unter dem Titel: »Historie von Eduard, dem schwarzen Prinzen, zusammen mit der Eroberung von Frankreich«, seine Kriegsthaten, seine Liebesabenteuer und frühen Tod erzählt, einen Hauptbestandteil jener »fliegenden« Literatur, der man in Londons alten Quartieren so oft noch begegnet in Gestalt eines langen Bindfadens mit zahllosen Blättern und Bildern daran. Wie jauchzen die Leser dieser Historie noch immer bei dem Gedanken, daß der Königssohn zuletzt eine Tochter des Volks, das schöne Mädchen von Kent, »ein überschäumendes, junges Ding«, liebt und freit; und wie wenig kümmert es sie, daß die historische Kritik längst erwiesen, daß das schöne Mädchen von Kent, dieses »überschäumende junge Ding«, eigentlich eine Wittib mit vier Kindern gewesen und alles in allem wol das Ideal jenes andern Prinzen von Wales hätte sein mögen, jenes, dessen sich unsere ältern Zeitgenossen so gut noch als des »feinsten Gentleman in Europa« erinnern, des famosen Prinz-Regenten und nachmaligen Georg IV., dessen Devise in Bezug auf das schöne Geschlecht war: » fair, fat and forty«, zu deutsch, ich bitte um Entschuldigung, wenn ich wörtlich übersetze: »blond, fett und vierzig«.

Nun, da liegt er in der Kathedrale von Canterbury begraben, in dem Boden von Kent, den er liebte, in der Stadt, in welcher er gern weilte und an der Stelle, welche er testamentarisch zu seinem Ruheplatz bestimmt. Auf seinem Sarkophag ruht seine Figur von vergoldetem Erz, vollständig bewaffnet, mit dem Stirnreif und der deutschen Legende: » Ich dien!« welche dieser Prinz nebst den Straußenfedern in der Schlacht von Crécy gewann und dem Wappen aller folgenden Prinzen von Wales bis auf den heutigen Tag vererbte, mit den geschlossenen Händen, aus welchen aber Cromwell das Schwert genommen, »der Frevler«, sagt mein Guide-book, welches wol einen strengen Hochkirchenmann zum Verfasser haben mag. Wer aus der Krone des todten Prinzen die Edelsteine gebrochen hat, das sagt mein Autor nicht; doch vermuthe ich, daß es seine eigenen Freunde, die Hochkirchenmänner aus Heinrichs VIII. Zeit gewesen. Seine andern Schätze hat man ihm gelassen, nämlich seine alten Handschuhe, seinen verrosteten Helm, sein zerrissenes Panzerhemd und seine selbstverfaßte normanno-französische Grabschrift:

Ich hatte Gold, Silber, prächtig Gewand,
Große Schätze, Pferde, Häuser, Land,
Doch nun, ein armer Lumpenhund,
Lieg' ich verscharrt im Erdengrund;
Und säh'st du mich, der einst so stolz und hehr,
Ich glaub', du kenntest mich nicht mehr
Und wüßtest nicht, wenn du's nicht würdest lesen,
Daß ich ein Mensch, geschweige denn ein Prinz gewesen.

Hat der englische Moralist nicht recht, wenn er sagt, daß man wol Feuer (und Diamanten auch, wie das vorliegende Beispiel zeigt) aus der Vergangenheit nehmen könne, aber niemals Asche?

Solch ein Feuer der Vergangenheit schimmert blutig um die andere große Trophäe von Canterbury: den Stein von Thomas à Becket.

Hier, in seiner eigenen Kathedrale, ward er ermordet am Altar, auf der Steinplatte, welche noch heut die Flecken seines Blutes zeigt. Ein Cityknabe von sehr bescheidener Herkunft, aber von den glänzendsten Anlagen, wußte er sich sehr bald bemerklich zu machen. Nach Vollendung seiner Studien in Oxford, Paris und Bologna ward er 1154 Archidiakonus des Erzbischofs von Canterbury. Von hier aus kam er an den Hof Heinrich's II., des ersten Plantagenet, welcher, selbst ein Mann von großer Bedeutung, ein scharfes Auge besaß für die Bedeutung anderer. Schon nach drei Jahren hatte Thomas à Becket durch die Gunst des Königs die höchste weltliche Stufe des Reichs erklommen: er ward 1157 Kanzler, – ein Titel, der in seiner Bedeutung als der eines ersten Ministers, eines Premiers auch uns heut wieder näher getreten ist und im englischen Sprachgebrauch, wenn nicht dem Sinne, doch dem Worte nach als »Lord-Chancellor« sich immer erhalten hat. Ein Weltmann war er, hielt eine gute Tafel, ein glänzendes Gefolge, zahllose Diener, herrliche Pferde und unterstützte seinen König in dessen Bestrebungen gegen die Hierarchie, bis er auch das höchste geistliche Regiment an sich gebracht, d. h. Erzbischof von Canterbury und Primas Regni, »Primas von ganz England«, geworden. Da kehrte er plötzlich den Spieß um: gegen den König! Und einen harten Widersacher hatte der König an ihm, hart wie er selber. Der Staat und die Kirche haben sich vielleicht während des ganzen Mittelalters nicht schroffer und in gleich starken Individualitäten ausgeprägt gegenübergestanden. »Becket, einst als Kanzler der sehr weltlich gesinnte Vollstrecker der Befehle seines Herrn«, heißt es bei Pauli (Bilder aus Altengland, S. 14), »sucht nunmehr als Prälat eifrig die Consequenz der pseudo-isidorischen Decretalen, die Summe der überspannten Machtansprüche Gregor's VII. und die jüngst publicirten kanonischen Lehren Gratian's in England durchzuführen; während in dem ihm, dem ersten Pair des Reichs, gemachten Processe Heinrich II. nachweislich zum ersten male diejenige Institution hervorzieht, welche in der englischen Geschichte als ein Geschworenengericht bezeichnet werden kann.« Becket floh, aber er setzte, auf die Autorität des Papstes gestützt, den Kampf fort und hatte, als er endlich zurückkehrte, keineswegs die Absicht, nachzugeben: sondern »sein Vorsatz war«, sagt Pauli, »Schimpf und Schande zu erdulden und im äußersten Falle an geweihter Stätte, da, wo er zu pontificiren pflegte, zu sterben und im Märtyrertode dennoch den Sieg davonzutragen«. Und so vollzog sich's; im Jahre 1170 trat die Katastrophe ein, welche Fitzstephen, der Historiker des Erzbischofs, und nach ihm Hume folgendermaßen erzählen: »Und der König selbst, welcher heftig erregt war, brach in einen Vorwurf gegen seine Diener aus, deren Mangel an Eifer, sagte er, ihn so lange den Unternehmungen dieses undankbaren und herrschsüchtigen Prälaten ausgesetzt hätte. Vier Herren seines Hofhaltes, Reginald Fitz-Urse, William de Tracy, Hugh de Moreville und Richard Brito, welche diese leidenschaftlichen Ausdrücke für einen Wink nahmen, daß Becket sterben müsse, theilten sogleich ihre Gedanken einander mit, und schwörend, den Streit ihres Fürsten zu rächen, entfernten sie sich heimlich vom Hofe (welcher damals, wie dies in jenen Zeiten sehr oft vorkam, innerhalb der französischen Besitzungen, zu Bayeux in der Normandie, gehalten ward). Drohungen, welche sie hatten fallen lassen, gaben einen Argwohn ihrer Absicht; und der König sandte ihnen einen Boten nach, mit dem Befehl, daß sie nichts gegen die Person des Primas unternehmen sollten. Aber er kam zu spät, um ihr verhängnißvolles Vorhaben zu hindern. Die vier Mörder, obgleich sie verschiedene Wege nach England eingeschlagen, kamen doch fast zu derselben Zeit in Saltwood bei Canterbury an, und nachdem sie sich dort mit einigen Helfern vereinigt hatten, eilten sie in großer Hast nach dem erzbischöflichen Palast. Sie fanden den Primas, welcher sich gänzlich auf die Heiligkeit seines Charakters verließ, sehr unzulänglich bewacht; und obgleich sie viele Drohungen und Vorwürfe gegen ihn ausstießen, so war er der Furcht doch so unfähig, daß er, ohne irgendwelche Vorsicht gegen ihre Gewalt anzuwenden, sogleich nach der Kirche des heiligen Benedict ging, um die Vesper zu hören. Sie folgten ihm dahin, griffen ihn vor dem Altar an, und nachdem sie sein Haupt gespalten, zogen sie sich zurück, ohne Widerstand gefunden zu haben. Dies war«, so schließt sein Chronist, »das tragische Ende von Thomas à Becket.«

Aber nur sein weltliches. Die Kirche hatte ein anderes Schicksal für ihn in Bereitschaft. Für sie war er als Märtyrer gefallen und darum sprach sie ihn heilig; ja, sie zwang den Monarchen, der ihn lebend nicht zu besiegen vermocht, zu dem Grabe des Todten zu pilgern.

Im Jahre 1172 wurde Becket als »Märtyrer des Glaubens« unter die Heiligen vom ersten Range versetzt, und am 7. Juli 1220 bestattete man seine Gebeine unter großen Feierlichkeiten in der von Heinrich's II. Nachfolger erbauten Kapelle, welche fortan ihm gewidmet war und bis zur Reformation blieb »die Kapelle des heiligen Thomas, des Märtyrers«. Der päpstliche Legat und die Erzbischöfe von Canterbury und Rheims trugen den Sarg auf ihren Schultern. Von allen Heiligen in England war er der populärste, und der echte Brite schwur nur noch »beim heiligen Thomas von Canterbury«. Aber auch außerhalb Britanniens verbreitete sich die Popularität des heiligen Thomas so rasch, daß z. B. schon 1194, nur 24 Jahre nach seiner Ermordung, in dem von Heinrich dem Löwen gestifteten Blasiusdom zu Braunschweig die Geschichte vom Tod und Martyrium des neuen Heiligen auf den Wandgemälden des Chors dargestellt wurde, welche, wahrscheinlich zur Zeit der Reformation mit Tünche bedeckt, erst neuerdings wieder zum Vorschein gekommen sind. Ebenso bemächtigte sich die Legende des willkommenen Gegenstandes. Sie erzählt uns, daß die Mörder zwar entkamen, aber daß die Hunde sich weigerten, die Krumen zu essen, welche von ihrem Tisch gefallen, und daß sie zuletzt selbst ihre Waffen und Rüstungen zu Boden warfen, unwillig, die Last länger zu tragen. Einer von den Rittern soll seinen eigenen Sohn getödtet haben. Alle vier suchten das Heilige Land. Drei von ihnen erreichten es und wurden, nachdem sie unter dem Kreuz gebeichtet und ihre Sühne gefunden, dem heiligen Grabe gegenüber bestattet. Der vierte, Tracy, ward durch Stürme zurückgetrieben und starb eines elenden Todes. Allein die Geschichte weiß nichts von alledem; weniger moralisch als die Legende, berichtet sie vielmehr, daß alle vier Mörder innerhalb der nächsten beiden Jahre nach ihrer That sich ganz vergnügt am Hofe zeigten, mit dem König auf die Jagd ritten und auch sonst auf dem allerbesten Fuß mit ihm standen. Anstatt »den Wind gegen sich zu haben«, wie die Legende will, ward Tracy vielmehr unmittelbar nach dem Morde zum – Oberrichter der Normandie gemacht und lebte später in Devonshire. Fitz-Urse siedelte nach Irland über und die Spuren der Morevilles haben sich lange in England erhalten.

Weiter knüpfte die Legende an den Umstand an, daß der Tag von Becket's Ermordung, der 29. December 1170, ein Dienstag war; nun erinnerte man sich, daß es gleichfalls ein Dienstag gewesen, an welchem er geboren, ein Dienstag, an welchem er getauft, an welchem er England als Flüchtling verlassen, an welchem er durch eine Vision vor seinem Tod gewarnt und an welchem er dennoch zurückgekehrt, um den Märtyrertod am Dienstag zu erdulden: durch das ganze Mittelalter hindurch finden wir daher den Dienstag als einen dem heiligen Thomas ganz besonders geweihten Tag bezeichnet. – Der Tag seines Begräbnisses, der 7. Juli, ging als der Tag der » Translatio D. Thomae« in den Kalender und ward bis zum 16. Jahrhundert in ganz England mit Freudenfeuern festlich begangen. Durch das ganze Mittelalter dauerte der Cult des Heiligen, und gipfelte in den Canterbury-Processionen. Diese fanden alljährlich im Frühling statt und sie waren Tage der Lustbarkeit für ganz England, aus dessen entferntesten Gegenden sich dann die Pilger einfanden in Canterbury, um an dem Schrein des heiligen Thomas zu opfern. Könige machten hier Schenkungen, das Volk brachte seinen Sparpfennig dar, und aus den reichen Schätzen, die so gesammelt wurden, vollendeten die folgenden Erzbischöfe das herrliche Werk, welches sonst vielleicht unvollendet geblieben sein würde, die Kathedrale, welche sich über dem jetzt freilich leeren Grabe des letzten britannischen Märtyrers erhebt.

Alles das änderte sich jedoch unter Heinrich VIII. Nach seiner Trennung von der römischen Kirche bemächtigte sich dieser nicht nur der unermeßlichen in Becket's Kapelle aufgehäuften Reichthümer, sondern er ließ den Heiligen auch vor seinen Gerichtshof citiren, und – »da dieser ausblieb« – als einen Hochverräter verurteilen. Von nun ab finden wir den ehemaligen St.-Thomas von Canterbury nicht anders mehr genannt als »Thomas Becket the Traytor«; sein Name ward aus dem Kalender gestrichen, die Feier seines Festes untersagt, seine Gebeine wurden verbrannt, die Asche in die Winde gestreut, und nur das Blut auf dem Steine blieb als die letzte Spur des Heiligen übrig.

Nun hörten auch die Wallfahrten auf, welche durch das 13., 14. und 15. Jahrhundert den Charakter eines Volksfestes bewahrt hatten; aber sie sind es, denen wir die »Canterbury-Geschichten« verdanken, dieses große Gedicht von Geoffrey Chaucer, welches, in seiner Art, nicht minder eine monumentale Bedeutung beansprucht als die Kathedrale selbst. Denn es bezeichnet den Beginn der englischen Nationalliteratur und verschaffte seinem Schöpfer den ehrwürdigen Beinamen, »der Vater der englischen Poesie« zu sein.

Geoffrey Chaucer war ein Zeitgenosse von Petrarca und Boccaccio. Die Stadt, in der er geboren, war London und das Jahr wahrscheinlich 1340. Damals regierte König Eduard III., glorreichsten Andenkens, der Vater des schwarzen Prinzen. Die Strömung des nationalen Lebens ging in hohen und stolzen Wogen. Herrscher aus normannischem Blut, aber durch fast zweihundertjährige Bande fest an den neuen Boden gefesselt, saßen auf dem Thron von England; das gedrückte sächsische Volk erhob zuerst wieder sein Haupt und bereicherte mit den kräftigen Klängen seines heimatlichen Idioms, welches noch den Wurzelgeruch des Eichenwaldes und der Heidekrauthügel an sich trug, die elegantere Mundart der normannischen Barone, deren feinere Sitte und höfisches Betragen allmählich auch in die lang vereinsamten Hallen der bäuerlichen Sachsenthane drang. Aus den bisher feindlich geschiedenen anglosächsischen und normanno-französischen Elementen wurden die eine und einzige englische Sprache und das eine und einzige englische Volk; es war eine große Zeit für England und alles hatte den Charakter frischen und fröhlichen Werdens. »Während Frankreich« so sagt Macaulay, »vom Kriege verwüstet ward, bis es zuletzt in seiner eigenen Verheerung einen elenden Schutz gegen Angreifer fand, herbsteten die Engländer ihre Ernten, schmückten sie ihre Städte, saßen sie zu Gericht, handelten und studirten sie in Sicherheit. Viele unserer edelsten Architekturen gehören jenem Zeitalter an. Eine reiche und kräftige Sprache, welche durch eine Infusion des Französischen in das Deutsche sich bildete, war nun das gemeinsame Eigenthum der Aristokratie und des Volks. Auch sollte es nicht lange währen, bis der Genius dieses bewunderungswürdige Werkzeug zu würdigen Zwecken anzuwenden begann. Während englische Bataillone, die verwüsteten Provinzen von Frankreich hinter sich lassend, Valladolid im Triumph betraten und Schrecken ausbreiteten bis unter die Thore von Florenz, malten englische Poeten in lebhaften Tinten all die weite Mannichfaltigkeit menschlicher Sitten und Schicksale, und englische Denker strebten zu wissen oder wagten zu zweifeln, wo die Bigoten zufrieden waren, sich zu wundern und zu glauben. Dasselbe Zeitalter, welches den schwarzen Prinzen und Derby, Chandos und Hawkwood, hervorgebracht, brachte auch Geoffrey Chaucer und John Wicliffe hervor.« ( History of England, Tauchn. Ed., I, 20.)

Das war der Frühling von England und Geoffrey Chaucer sein poetischer Herold, sein erster Sänger. Mehr noch: er hat etwas in seiner Erscheinung, was mich mächtig an den »bibelentfaltenden« Luther erinnert. Ein Freund der Studien, von einer großen Belesenheit, mit mannichfachen Kenntnissen und so frei vom Aberglauben seiner Zeit, als der Stand der Naturkenntniß zu sein erlaubte, war er zugleich ein Mann des Lebens, der Welt und des Volks, der die Sprache desselben verstand, liebte, und wenn nicht schuf, so doch in ihrer nationalen Eigenart fixirte, formte und zum Schriftgebrauch fertig machte.

Das Leben Chaucer's ist ein mannichfach bewegtes gewesen. Er hat die Gunst und die Ungunst des Schicksals reichlich erfahren, hat die Freuden dieser Welt herzhaft genossen und mit allen Verdrießlichkeiten des Daseins bis an sein Ende sich herumgeschlagen. Fremde Länder hat er gesehen und mit Menschen aller Stände verkehrt. Mit der höfischen Pracht des Königspalastes war er nicht minder vertraut, als mit den täglichen Geschäften des Städters und des Bauers. Mit einer gelehrten Bildung war er nacheinander Hofmann, Soldat, Diplomat, Beamter und Vertreter seiner Grafschaft im Parlament. Er kannte vor allem sein eigenes Volk und fühlte sich Eins mit ihm. Er liebte seine Heimat mit einer noch in seinem Alter jugendlichen Innigkeit; bis zuletzt spiegelte seine Seele den Glanz und die Frische der englischen Landschaft. Dies Glück nahm ihm nichts von seiner liebenswürdigen Bescheidenheit und keine Widerwärtigkeit war stark genug, um ihn gänzlich zu Boden zu schlagen; obwol es seinem äußern Lebenslauf nicht an Stürmen und Dunkelheiten gefehlt, so steht doch seine dichterische Erscheinung am Anfang der englischen Literatur und des englischen Volkslebens wie ein erster, schöner Frühlingstag.

Alle seine Biographen welche vor dem Jahre 1866 geschrieben (so noch Hertzberg in der vortrefflichen Einleitung zu seiner Uebersetzung der Canterbury-Geschichten und Pauli in seinen Bildern aus Altengland), geben als das früheste beglaubigte Datum im Leben Chaucer's den Herbst 1359 an, in welchem er unter Eduard III. den Feldzug gegen Frankreich mitmachte. Seitdem ist unsere Kenntniß in dieser Beziehung aber auf eine merkwürdige Weise bereichert worden. Es war in dem genannten Jahre, daß Mr. Bond im Britischen Museum zu London »zwei Pergamentblätter fand, welche vor einigen drei oder vier Jahrhunderten in den Deckeln eines alten, inzwischen von dem Britischen Museum angekauften und als« Additional MS. 1862»bekannten Manuskriptes zusammengeklebt worden waren«. (» Fortnightly Review«, August 1866, cit. in » Chaucer's England, by M. Browne«, London 1869 und Lehmann's »Magazin für die Literatur des Auslandes«, Nr. 17, April 1867.) Aus den weitern Mittheilungen Mr. Bond's geht hervor, daß, als das erwähnte Manuscript neu gebunden werden sollte, diese Fragmente möglicherweise hätten weggeworfen werden können, wenn nicht im Britischen Museum die Regel auf das strengste befolgt würde: jeglichen noch so gering scheinenden Streifen alter Schrift aufzubewahren. Diesem Umstand verdanken wir eine der werthvollsten Entdeckungen zur Geschichte von Chaucer's Leben. Die beiden Pergamentblätter zeigten sich nämlich als zu einem alten »Haushaltsbuch« ( Household Account) gehörig, welches für die Gräfin Elisabeth, die Gemahlin von Eduard's III. Sohn, Prinz Lionel, geführt worden war. Die Gräfin, Tochter und Erbin von William de Burgh, letztem Earl von Ulster dieses Namens, war nach der Wahl des Königs von seiner Gemahlin erzogen, im neunten Jahre (1341) mit dem Prinzen verlobt und im Jahre 1352 mit ihm verheirathet worden. Unter ihren Ahnen mütterlicherseits war Joan von Acre, die Tochter Eduard's I.; und ihre Mutter war Maud, Schwester von Heinrich, erstem Herzog von Lancaster. Die geretteten Pergamentstreifen scheinen aus dem Kloster von Amesbury zu sein, in welchem eine Tante der Gräfin Elisabeth Aebtissin war; und die darauf enthaltenen Rechnungsnachweise beziehen sich auf die Jahre 30-33 Eduard's III., d. h. 1357-60. Hier nun ist es, daß wir dem Namen Geoffrey Chaucer's zum ersten male begegnen. Es ist im April 1357 und die Gräfin befindet sich in London, um Einkäufe für ihre Garderobe zu einem Besuch im Windsorschloß zu machen, wo das St.-Georgsfest diesmal, zur Feier des jüngst von Eduard III. gestifteten Hosenbandordens, mit besonderm Pomp begangen werden sollte. Da finden wir nun in dem Rechnungsbuch eingetragen: »einen kurzen Unterrock, ein paar rothe und schwarze Hosen und ein paar Schuhe für Geoffrey Chaucer«. Zum zweiten male wird dieser Name genannt am 20. Mai, wo wieder ein Kleidungsstück für Chaucer angeschafft worden, und dann noch einmal um Weihnachten, wo er mit einem Geschenk von 3½ Schillingen für » necessaries« bedacht ist.

Aus diesen an sich so geringfügigen Notizen geht hervor, daß Chaucer im Jahre 1357 wahrscheinlich als Page sich im Gefolge des Prinzen Lionel oder der Gräfin Elisabeth befand; sie können ferner dazu dienen, einen Punkt in Chaucer's Leben zu bestimmen, der bisher immer ein wenig unklar gewesen ist. In den ältern englischen Biographien wird nämlich mit einer gewissen Vorliebe von seinem Aufenthalt in dem herrlichen. Park und Schloß von Woodstock gesprochen, welche noch über die Zeit von Elisabeth hinaus existirten, wiewol sie jetzt, längst von der Erde verschwunden sind. Ein eigenthümlicher Schimmer der Romantik ruhte immer auf dem Parke von Woodstock und ist noch jetzt mit der Erinnerung an denselben verbunden; Heinrich I. soll ihn als den ersten Park in England angelegt haben und hier, unter den Rosen des Gartens, spann sich der lieblich-wehmüthige Roman zwischen Heinrich II. und seiner schönen Geliebten Rosamunde (der Heldin von Körner's gleichnamigem Trauerspiel) ab. Noch im Anfang des 17. Jahrhunderts zeigte man zu Woodstock im Palaste das Gemach Rosamundens – » Rosamond's bower« – welches seitdem nicht aufgehört hat, ein Gegenstand der englischen Dichtung und Sage zu sein. Hier nun, so recht im Herzen der schönen englischen Landschaft, auf den anmuthigen Höhen von Oxfordshire, an denen der Glyme sich malerisch hinschlängelt, hat man lange geliebt, den Dichter sich in seinem Alter zu denken. Hierher soll er sich aus dem Geschäftsleben zurückgezogen haben in ein stilles Haus, welches ihm in der reizenden Umgebung des königlichen Forstes verliehen worden wäre; und hier soll er die »Canterbury-Geschichten« geschrieben haben:

In einem Hause, weit ab vom Weg,
Bei einem Brunnen im Walde.

Man malt es sich so schön aus, wie der Mai, der seinem Herzen und seiner Phantasie stets ein Fest gewesen, die Wiesen noch einmal mit »weiß und grün« geschmückt, und indem die ehrwürdigen Eichen vor seinen Erkerfenstern rauschten, Frühlingswind und Blumendüfte die Erinnerungen an ferne Tage in sein Zimmer hereintrugen, wo er, unter seinen Büchern sitzend, das große Gedicht seines Lebens dichtete. Man zeigt dort in Woodstock noch einen Weg, den er am Morgen gern gewandelt sein soll, und einige von den alten Bäumen, die liebreich über ihm sich gewölbt; ja, noch in Elisabeth's Tagen stand dort bei Woodstock Park ein steinernes Haus, welches unter dem Namen von »Chaucer's Haus« bekannt war. Allein wir fürchten, daß dieser Weg »den er am Morgen gern gewandelt« aus einem Gedichte » The Dream« (der Traum) stammt, welches bis vor wenigen Jahren unbestritten Chaucer zugeschrieben worden ist, von welchem aber B. Ten Brink (Chaucer: Studien zur Geschichte seiner Entwickelung u. s. w.) nachgewiesen hat, daß es unecht sei. Dieses Gedicht ist das einzige, in welchem Chaucer angeblich die landschaftliche Scenerie von Woodstock geschildert und seinen dortigen Aufenthalt in einer Stelle verewigt hat, welche folgendermaßen lautet: »Ganz am frühen Morgen, wenn ich den Tag erspähte, wollte ich nicht länger im Bette bleiben. Ich ging aus, allein und frohgemuth, und hielt den Weg abwärts an eines Berges Seite, bis ich zu einem Lande kam von weiß und grün, so schön, wie ich nimmer in einem gewesen. Der Grund war grün, bestreut mit Maasliebchen, die Blumen und die Wälder gleich hoch, außer grün und weiß war nirgends etwas zu sehen.« Da dieses Gedicht jedoch nicht von Chaucer ist, so wird damit auch das Zeugniß hinfällig, welches man für seinen Aufenthalt in Woodstock bisher in seinen Schriften zu finden gemeint. Nichtsdestoweniger war der Glaube daran so festgewurzelt, daß ein Poet des 18. Jahrhunderts, Mark Akenside, für eine imaginäre »Statue des Dichters zu Woodstock« sogar eine Inschrift dichtete, welche die Zeilen enthielt:

So war der alte Chaucer –
Hier hat er gewohnt
Manch einen wonn'gen Tag. Das Mauerwerk
Vernahm ihn, wenn die fröhlichen Legenden
Er sang, von Lieb' und Ritterthum und Kurzweil'
Des heimatlichen Lebens; Stand und Alter,
Die Moden und die Narrethei der Welt
Mit sichrer Hand abbildend.

Allein so wohl ist es dem alten Chaucer niemals geworden; die beglaubigten Thatsachen stimmen mit diesen gefälligen Phantasiegebilden nicht überein, ja sie widersprechen ihnen ganz direct. Zu der Zeit, wo die Sonne der Hofgunst ihm schien, hätte ihm sicherlich die Muße gefehlt, selbst wenn ihm ein Dichtersitz in Woodstock verliehen worden wäre, dort, 60 englische Meilen von der Hauptstadt entfernt, »fröhliche Legenden« zu singen; denn seine Geschäfte banden ihn an London, viele Jahre lang, unter Eduard III., als Zollinspector des londoner Hafens, und später, unter Richard II. noch einmal als Rechnungsführer der königlichen Bauten in Westminster und verschiedener Parks, bei deren namentlicher Aufführung jedoch Woodstock nicht erwähnt wird. Sagt er doch selbst in dem » House of Fame« (Haus des Ruhmes) welches dem Jahre 1384 angehört:

Von deinem nächsten Nachbarsmann
An deiner Thür hart nebenan
Hörst du kein Wort bei Tag und Nacht.
Denn wenn dein Tagwerk du vollbracht
Und jede Rechnung fertig hast,
So suchst du nicht Gespräch noch Rast,
Nein, gehst nach Haus und schlichst dich ein, u. s. w.

(In Hertzberg's Übersetzung. Canterbury-Geschichten, Einleitung, S. 30.)

Zu der andern Zeit aber, wo er, aus seinen Aemtern in Ungnaden entlassen, allenfalls die Muße gehabt, fehlte ihm die königliche Gunst, die ihm allein ein solches Asyl hätte anweisen können.

Sollen wir darum aber den Gedanken an ein frohes und dichterisch-anregendes Verweilen Chaucer's in Woodstock, der dadurch schon eine gewisse Substanz erhalten hat, daß man ihn so gern gehegt, gänzlich aufgeben? Ich glaube nicht. Nur müßten wir uns entschließen, in seine Jugend zu verlegen, was man von seinem Alter behauptet; auf seine ersten Gedichte zu beziehen, was man von seinem letzten gesagt. So viel sonniger und heiterer war das Leben, als er es anfing, als wo es damit zu Ende ging; alles, was das Schicksal an Fehlschlägen und Mishelligkeiten für ihn hatte, das sammelte sich über ihm in seinen letzten Tagen. Da hatte er keine Ruhe, um in den Wäldern von Woodstock zu lustwandeln. Nicht hier beschloß er sein Werk als Dichter; wohl aber ist es möglich, daß er es hier begann. Auch dafür bieten uns die beiden Pergamentstreifen, die Mr. Bond im Britischen Museum entdeckte, willkommenen Anhalt. Der Hofstaat des Prinzen Lionel und der Gräfin Elisabeth scheint damals im Schloß von Hatfield residirt zu haben; aber zahlreich waren die Reisen und Ausflüge, die sie von dort aus machten. Die beiden geretteten Blätter des Haushaltbuches nennen alle Orte, an welchen die Gräfin mit ihrem Gefolge während der drei Jahre verweilt; und unter diesen Orten ist Woodstock. Höchst wahrscheinlich ist in dieser Zeit Chaucer's Gedicht » The Assemble of Foules« (die Versammlung der Vögel) entstanden, denn es bezieht sich auf die Vermählung John's von Gaunt mit Lady Blanche von Lancaster, welche in dem Gedicht die Vermählung um ein Jahr verschiebt (vgl. Chaucer's England, by M. Browne, S. 19). Nun fand die Hochzeit im Jahre 1359 wirklich statt, sodaß wir als das Datum des ein Ereigniß der fürstlichen Familie verherrlichenden Gedichtes das Jahr 1358 haben, in welchem sich Chaucer nachweislich im Gefolge der Gräfin befand.

Aus dieser frühen Epoche, der Zeit und dem Orte nach, stammt auch sein Verhältniß unverbrüchlicher Treue zu dem Hause Lancaster, welches entscheidend und gewissermaßen verhängnißvoll für ihn werden sollte. John von Gaunt, Herzog von Lancaster, war der Bruder des Prinzen Lionel, in dessen oder dessen Gemahlin Dienste Chaucer stand, und er verweilte während der drei Jahre, über welche jene Blätter aus der Haushaltung sich erstrecken, gleichfalls in Hatfield. Hier muß daher der junge Poet die Bekanntschaft des Herzogs gemacht haben, dessen Hochzeit er besang, sowie er nachmals dem frühen Hinscheiden der Herzogin einen Ausdruck der Trauer in einem Gedichte: » Book of the Duchesse« (Buch der Herzogin) widmet. Im Jahre 1359 – dem Jahre, mit welchem seine bisherigen Biographen als dem ersten bestimmten Datum seines Lebens begannen – machte Chaucer den Feldzug gegen Frankreich mit, gerieth in Kriegsgefangenschaft, und ward erst durch den Frieden vom Jahre 1360 wieder frei. Nach London zurückgekehrt, vermählte er sich mit Philippa Roet, einem Ehrenfräulein der Königin Philippa, und Schwester der verwitweten Katharine Swynford, der Geliebten des Herzogs von Lancaster, die dieser aber nach dem Tode seiner zweiten Gemahlin in dritter Ehe rechtmäßig heirathete. In den letzten Regierungsjahren Eduard's III. und zumal nach dem Tode des schwarzen Prinzen wuchs der Einfluß des Herzogs von Lancaster; und mit diesem befreundet, noch bevor er mit ihm verschwägert wurde, genoß Chaucer nun Tage und Jahre des Wohlseins, so recht nach seines Herzens Wunsch. Nicht nur daß er ein einträgliches Hofamt erhielt und eine königliche Pension bezog, sondern er ward mit diplomatischen Aufträgen mehrfach ins Ausland gesandt, » in secretis negotiis domini Regis versus partes transmarinas«, und die Rechnungsrolle des königlichen Schatzamtes, in welcher die Summen für diese Sendungen verzeichnet sind, gibt ihm den Titel » armiger Regis«, was man etwa mit königlicher Kammerjunker übersetzen dürfte. Zwei dieser documentarisch beglaubigten Missionen führten ihn nach Italien, eine nach Genua, im Jahre 1372, die zweite nach Mailand, im Jahre 1377. Man hat aus einer Stelle der »Canterbury-Geschichten«, in welcher Chaucer sagt: daß Francesco Petrarca (Fraunces Petrark) ihm die Erzählung von der geduldigen Griseldis in Padua selbst mitgetheilt habe, mit Recht eine persönliche Begegnung und Bekanntschaft unsers Dichters mit dem »Laureat-Poeten« von Italien folgern wollen. Von jenen beiden angegebenen Reisen könnte nur die erste es sein, in welcher die Begegnung stattgefunden, da Petrarca 1374 starb, obwol von Genua nach Padua, in dessen Nähe auf seinem Landsitz Arquà derselbe die letzten Jahre seines Lebens zubrachte, ein weiter Weg war.

Vielleicht ist es erlaubt, hier mit M. Browne ( Chaucer's England, I, 25) noch einmal an die Pergamentblätter des Britischen Museums anzuknüpfen und aus dem Verhältniß Chaucer's zum Prinzen Lionel zu schließen, daß er sich im Gefolge desselben befand, als dieser im Jahre 1369 nach Mailand zog, um sich mit Violante, Tochter des Herzogs Galeazzo von Mailand, in zweiter Ehe zu vermählen. Es ist daher, wie man sie verstehen mag, kein Grund, an der Thatsache selbst zu zweifeln, welche, von Chaucer in so wenig miszuverstehenden Ausdrücken berichtet und von den begleitenden Umständen nicht widerlegt, zugleich etwas Symbolisches in sich trägt –, eine Art ritterlicher Huldigung, von dem jugendlichen Genius der englischen Poesie der gereiften Schönheit und Vollkommenheit italienischer Dichtkunst auf ihrem eigenen klassischen Boden dargebracht.

Nicht lange nachdem Chaucer den Himmel Italiens zum letzten mal gesehen, fingen die schlimmen Tage für ihn an. Eduard III. starb und sein Enkel, Richard II., Sohn des schwarzen Prinzen, folgte ihm auf dem Throne. In der ersten Zeit, während der Minderjährigkeit seines Neffen, behauptete sich nun noch der Einfluß des Herzogs von Lancaster, und so lange ging es auch unserm Dichter noch in der gewohnten Weise gut. Allein das Jahr 1386 bezeichnet den Wendepunkt. In diesem Jahre unternahm der Herzog, der Titularkönig von Castilien war, einen abenteuerlichen Zug nach Spanien, durch den er sich die Krone selbst zu erwerben trachtete. Doch das Unternehmen scheiterte kläglich und der Herzog blieb drei Jahre lang von England fort. Während dieser Zeit aber vollzog sich ein Umschwung in der Regierungsgewalt, eine dem Hause Lancaster feindliche Partei, unter der Führung des Herzogs von Gloster, bemächtigte sich unter dem schwachen König des Staatsruders. Das Jahr 1386 war aber auch zugleich dasjenige, in welchem wir Chaucer als einen Vertreter der Grafschaft Kent in dem Parlament sehen, welches sich am 1. October in Westminster versammelte. Es läßt sich annehmen, daß er hier die Sache seines Freundes, seines langjährigen Gönners und seines Schwagers, des Herzogs von Lancaster, nach Kräften vertrat. Aber die Folge sollte nicht ausbleiben; schon im December desselben Jahres ward er all seiner Aemter enthoben und im Jahre 1388 wird auch die Zahlung seiner Hofpension eingestellt, nachdem die seiner Gemahlin, als einer ehemaligen Hofdame, durch den Tod derselben schon im Jahre 1386 erloschen war. So kam es, daß der Mann, der bisher sein Leben lang an ein reichliches Einkommen gewöhnt war, sich fortan andauernd in Geldverlegenheiten befand.

Zwar besserte sich seine Lage noch einmal, als 1389 nach der Rückkehr Lancaster's das Regiment Gloster's gestürzt und ein Sohn des erstern, der Graf von Derby, Minister ward. Allein nur zwei Jahre bekleidet Chaucer die Stellung als Rechnungsführer der königlichen Bauten ( Clerk of the King's Works), die er der günstigen Wendung der politischen Angelegenheiten verdankt. Schon im Jahre 1391 finden wir ihn wieder ohne Amt und fast ohne Mittel, und so bleibt er bis zum letzten Jahre des Jahrhunderts und seines Lebens, wo das Haus Lancaster, an das er sein Schicksal nun einmal geknüpft, glorreich in die Geschichte von England eintritt, ihm eine Reihe von Königen gebend, aber zugleich auch die blutige Fehde zwischen der rothen und der weißen Rose vermachend. Alles in allem verbrachte Chaucer die dreizehn Jahre von 1386-99, wenn nicht in Elend und Armuth, doch mit Mangel und Entbehrungen jeder Art, mit Schulden und Gläubigern kämpfend. Nun aber sollte sich seine gottbegnadete, im tiefsten Innern sonnige Natur beweisen, die kein irdisches Ungemach verdunkeln konnte; denn in diesen dreizehn Jahren, gleich der Nachtigall in der Nacht singend, schuf er sein großes Gedicht, das, von Jahrhundert zu Jahrhundert getragen, der Weltliteratur angehört, wie es die von England eröffnet. Ich weiß nicht, welchen Unterschied er macht oder welche Intensität des Grades er annimmt, wenn John Morley (in seinen » English Writers from Dunbar to Chaucer«) sagt, daß nur der Engländer das Wesen dieses Dichters durchaus verstehen könne. Mir, ich muß es bekennen, kommt dies nicht so besonders schwer vor; ich habe mir diesen freien, heitern und unabhängigen Mann immer so vorgestellt, wie Morley ihn malt: »Als er reich war, scheint er sich zwanglos und naturgemäß aller guten Dinge erfreut zu haben, welche der Reichthum ihm gewähren mochte, und als er seines Vermögens beraubt war, erhob er keine gemeine Klage über Mangel, sondern, sich ruhig mit einem stärkern Genuß des Reichthums tröstend, den er in sich trug, aß er schlechter zu Mittag und schrieb seine Canterbury-Geschichten.«

*

3.

Nicht ganz so zufällig, wie auf den ersten Blick erscheinen mag, ist die Verbindung von Kent und den »Canterbury-Geschichten«. Abgesehen von dem localen Zusammenhange, auf den wir sogleich näher eingehen werden, besteht auch ein persönlicher, wenn man so sagen darf. Obwol man nicht mehr den Platz kennt, an welchem Chaucer's Geburtshaus gestanden haben mag, so kann doch die Grenze von Kent nicht weit entfernt gewesen sein, da die Riesenstadt an der Themse heute einen Theil davon bedeckt; und wie Chaucer von einer ritterlichen Familie abstammt, welche ursprünglich in Kent ansässig war, so muß er selbst dort noch Grundbesitz gehabt haben, da wir ihn, wie bereits oben gesagt, im Jahre 1386 als einen der Abgeordneten oder » Knights of the shire« für die Grafschaft Kent im Parlament sahen. So wurzelte er fest in dem Boden, welchen er zum Schauplatz seines Hauptwerkes ausersehen hatte.

Das Gedicht selbst beginnt folgendermaßen: In den ersten Tagen des April, wenn mit den süßen Frühlingsschauern auch die Wanderlust erwacht, um diese Jahreszeit geschah es, daß sich in einem Wirthshause zu Southwark, einem alten Stadttheile Londons auf dem linken Themseufer, eine bunte und ziemlich ansehnliche, aus 29 Personen bestehende Gesellschaft zusammengefunden hatte, welche sämmtlich auf der Wallfahrt nach Canterbury begriffen waren. Wo heute die High-Street im Borough von Southwark ist, gewöhnlich High Street Borough. genannt, zum Unterschiede von den andern Straßen in London gleiches Namens, da führte damals die große Hauptstraße nach dem Süden und Südwesten von England. Das rechte Ufer der Themse, jetzt bevölkert von Hunderttausenden und geschwärzt von Rauch, eines der Hauptcentren von Londons gewaltigem Verkehr, mit zahllosen Fabriken, Schornsteinen und Lagerhäusern, war damals offenes Land, mit grünen Feldern und Gärten. »Nur am Ausgange der Brücke ( London bridge), dem Südwerk ( Southwark), war von alters her aus verschiedenen Ursachen eine städtische Ansiedelung entsprungen. Zwei Prioreien, St.-Mary Overies für Mönche und das Nonnenstift von Bermondsey hatten frühzeitig den in Verbindung mit solchen geistlichen Anstalten unvermeidlichen Erwerb und Verkehr gehoben. Nahe bei St.-Marien, gar nicht weit von der Brücke, stand auch bis in die Zeiten der Reformation der großartige Palast des Bischofs von Winchester, eines der reichsten Prälaten des Landes, dessen weite geistliche Jurisdiction die Grafschaft Surrey umschloß. Der mächtigste Hebel des Verkehrs aber war die große Straße, die von der Brücke auslief und zu den Häfen in Kent, Hampshire und Cornwall führte. Hier bewegte sich schwer beladenes Fuhrwerk hin und her; hier versammelten sich auch zu hergebrachten Jahreszeiten die bunten Pilgerscharen, die zum heiligen Thomas Becket nach Canterbury wallfahren wollten.« (Pauli, Bilder aus Altengland, S. 372.) Gleich hinter den Häusern, so viel davon in jenen Straßen gewesen sein mögen, begann der Weg nach Canterbury, der ganz mit grünen Hecken eingefaßt war, über eine gewölbte Brücke, Namens Lodsbridge, deren Reste 1847 wieder aufgeführt worden sind, ging und in einigen der engen Heckengäßchen ( lanes) von Kent noch heutigen Tages verfolgt werden kann. Es läßt sich denken, daß die Straße, welche in diesen Weg auslief, sich bald beleben mußte von Kaufläden, in denen die Pilger sich für die Reise versorgten, und von Wirthshäusern, in welchen sie mit ihrem ganzen Troß von Dienern und Pferden herbergten. Noch zu Stow's Zeiten, welcher 1598 sein » Survey of London« schrieb, »waren hier viele schöne Wirthshäuser zum Empfang von Reisenden; unter welchen das älteste » The Tabard« ist, so genannt nach dem Schild, welches, wie wir es nun bezeichnen, nach einem Jacket oder ärmellosen Rock ist, vorn ganz, offen auf beiden Seiten, mit einem viereckigen Kragen und Flügeln an den Schultern ... gegenwärtig nur getragen von den Herolden und ihr Wappenrock genannt, wenn sie im Dienste sind.« Später, wahrscheinlich nicht lange, nachdem Stow geschrieben, ward der Name » Tabard« in » Talbot« corrumpirt; aber unter dieser Bezeichnung existirte das alte Wirthshaus, oder wenigstens ein Theil desselben, an der alten Stelle bis in unsere Zeit. Dies nun, » The Tabard«, ist das Wirthshaus, in welchem die Pilger der Canterbury-Geschichten sich versammeln und unter den Gästen befindet sich auch der Poet. Der Prolog, welcher diese Gäste, das Wirthshaus und den Wirth schildert, ist die Krone des Werks. Es ist so viel Humor, so viel Frische, so viel Farbe und so viel Herzlichkeit darin, daß wir sogleich den Dichter vor seinem Werk und jede seiner Figuren vor der Geschichte lieb gewinnen. Sie sind fast ausschließlich dem begüterten Mittelstand der Nation entnommen: denn der Ritter mit seinem Sohne, dem » Squire«, oder Junker, bezeichnet nur eine Art von Zwischenstufe in der damals noch im Werden begriffenen englischen Gesellschaft, während der » Yeoman«, der ihn begleitet, sein freier, aber nicht ritterlicher Dienstmann ist, möglicherweise sein Förster oder Flurschütz. Einem ähnlichen, wenn auch etwas höhern Lebenskreise gehört der » Reeve« an, für welchen wir noch das deutsche Wort »Greve« haben; er ist der Güterverwalter oder Landvogt eines Edelmanns in Norfolk. Dann ist die Geistlichkeit, die weltliche sowol als der Mönchs- und Nonnenorden durch eine Priorin, eine Nonne, einen Benedictiner, einen Bettelmönch, einen Ablaßkrämer, einen Pfarrer und den Büttel eines geistlichen Gerichts vertreten; die Wissenschaft durch einen Studenten von Oxford, einen Juristen und einen Doctor der Medicin; Handel und Gewerbe durch einen Kaufmann, durch die Frau von Bath, diese köstliche Schöpfung voll launigster Jovialität, welche allein hinreichen würde, um ihres Dichters Namen der Vergessenheit zu entreißen, durch einen Krämer, einen Zimmermann, einen Weber, einen Färber, einen Teppichwirker, einen Koch, einen Matrosen und den Haushofmeister einer Juristeninnung, eines sogenannten » inn of court«. Die Repräsentanten der ländlichen Bevölkerung endlich sind ein Müller, ein » Ploughman« (Ackersmann) und ein » Franklin«, der Eigenthümer eines Freiguts, von der Klasse derjenigen, welche zusammen mit den » Squires« und seit Chaucer's Zeit zu diesen gezählt, allmählich das zu bilden begannen, was wir bereits weiter oben als die »landbegüterte Gentry« geschildert haben. Alle diese Personen sind in ihrer Individualität auf das lebendigste geschildert; sie treten auf in ihren alterthümlichen Costümen, sie unterhalten sich in ihrer wunderlichen Redeweise und sie geben zusammen ein so vollständiges und ausdrucksvolles Gemälde der mittelalterlichen Gesellschaft in England, daß wir, wenn jede sonstige Quelle uns verloren gegangen wäre, aus diesem Gedicht allein sie neu wieder construiren könnten.

Diese würdigen Leute haben sich allmählich in dem Hof und der Halle des Wirthshauses zum »Tabbard« eingefunden, um am andern Morgen ihre Reise nach Canterbury fortzusetzen; und wie gesagt, der Poet ist mitten unter ihnen. »Die Kammern und die Ställe waren weit, und wir wurden aufs beste besorgt«, sagt er; aber das erste Wort seiner Zärtlichkeit ist für den Wirth. » Mine host« in der That wird als ein Ideal und Vorbild jener vortrefflichen Klasse geschildert, welche den Poeten und Schriftgelehrten immer so theuer gewesen! – »Er machte es jedem von uns bequem«, so sagt und singt Chaucer von ihm, »und lud uns dann zur Tafel. Da bediente er uns mit den besten Lebensmitteln; stark war der Wein, und wir tranken gern davon. Ein ansehnlicher Mann war unser Wirth durchaus, er hätte können Marschall sein in einem Edelhause; ein großer Mann war er, mit Augen tief im Kopf; einen bessern Bürger gibt es nicht in »Chepe« (Cheapside, heute die Hauptader des Cityverkehrs, war im Mittelalter der Sitz von Londons reichsten und angesehensten Bürgern). Gradaus in seiner Rede, weise und wohlgelehrt, so mangelte ihm nichts an seiner männlichen Erscheinung. Auch war er dabei recht ein lustiger Mann, und nach dem Abendessen begann er zu spielen und zu singen und sprach von Kurzweil und andern Dingen. Als wir nun unsere Rechnungen bezahlt hatten, da sprach er so: »Seht, meine Herren, wahrlich, ihr seid mir recht herzlich willkommen; denn bei meiner Ehre, wenn ich nicht lügen soll, ich sah dies Jahr noch nicht solch lust'ge Compagnie in meiner Herberge, als jetzt darin ist. Darum wollt' ich euch gern etwas zu gute thun, wüßt' ich nur wie? Und über einen Zeitvertreib denk ich jetzt eben nach, der euch unterhalten und dabei nichts kosten soll. Ihr geht nach Canterbury; Gott sei mit euch, der gesegnete Märtyrer geb' dafür euch euern Lohn! Nun weiß ich wohl, wenn ihr die Reise macht, daß ihr euch vorbereiten werdet, unterwegs zu plaudern und zu singen, denn traun, es ist kein Vergnügen, zu reisen und dabei stumm zu sein wie ein Stock. Nun will ich euch einen Vorschlag machen, und bei der Seele meines Vaters, welcher todt ist! – wenn ihr euch morgen dabei nicht erlustigt, so schlagt mir den Kopf ab. Redet nicht viel mehr hin und her, sondern hebt die Hände auf!« Dieses einfachste aller parlamentarischen Verfahren ergibt Stimmeneinhelligkeit für den Wirth und dieser sagt: »Gut, nun hört. Jeder von euch soll auf dieser Reise vier Geschichten erzählen, zwei hinwärts, zwei herwärts; wessen Geschichten den besten Sinn und meisten Scherz enthalten, dem soll, auf euer aller Kosten, bei der Rückkehr, hier in meiner Herberge ein Abendessen gegeben werden, und um euer Vergnügen voll zu machen, will ich, auf meine eigenen Kosten, mit euch reiten, unterwegs euer Führer und nachher euer Preisrichter sein.«

Braver Mann, classisches Muster aller Wirthshaustugend! Mit Acclamation wird der Vorschlag des Uneigennützigen angenommen, welcher auf seine eigenen Kosten mitreitet, um hernach auf aller Kosten ein Souper zu arrangiren!

»Und darauf wurde wieder Wein gebracht, und wir tranken und gingen dann zur Ruh. Am andern Morgen, als der Tag begann zu grauen, kam unser Wirth und weckte uns und nachdem er uns alle in einer Heerde versammelt hatte, er voran, ritten wir ab!«

Und da reiten sie hin – und dem Themseufer entlang, im fröhlichen Schein der jungen Sonne, zwischen den Hügeln von Blackheath und Greenwich, wo die Heide grünt und der Zephyr süßen Duft entfacht, und in den zartbelaubten Bäumen kleine Vögel singen, welche die ganze Nacht mit offenen Augen geschlafen haben: auf Zelter, Roß und Saumthier, mit Muschelzaum und Schabracke, sehen wir sie dahinziehen, die Pilger von Canterbury. Wir hören das Klingeln der kleinen Glocken an ihrem Pferdegeschirr; wir sehen den armen Mann Gottes, den Studenten der Theologie von »Oxenford« (Oxford), »sein Gaul war so mager wie eine Harke, und er selber nicht recht fett«. Wir sehen den Ritter, der in Palästina gegen die Heiden gefochten, und seinen Sohn, den Squire, mit Aermeln lang und weit, und Locken so kraus, als ob sie »in der Presse gelegen hätten«. Wir sehen den Yeoman im grünen Rock und Hut, den Bogen in der Hand, das Jagdhorn an der Seite; den Ablaßkrämer von Rouncival, »ohne Bart, aber mit langem flächsenen Haar, lustig, alle Taschen bis oben hinauf voll von Ablaß aus Rom«; den Benedictiner, dessen feistes Gesicht dem Wirth den Ausruf entlockt: »Es muß eine gute Weide sein, auf der du gehst«; den Bettelmönch, »dessen Kragen immer voll Spendeln und Messern steckt, um sie schönen Frauen zu schenken«, und welcher das Englische lispelt, um es angenehm zu machen; dann Madame Eglantine, die Priorin, welche französisch »nach der Schule von Stratford am Bowe« spricht; die gute Frau von Bath, welche schon fünfmal verheirathet gewesen und darum aus Erfahrung redet, wenn sie sagt:

Denn halb so kühn und muthig kann kein Mann
Schwören und lügen, als ein Weib es kann.

Wir sehen ferner den Koch und den Advocaten, der ganz häuslich in einem »gemischten Kleid mit seidenem Gürtel und schmalen Schnallen« reitet; den Doctor der Medicin in roth und himmelblau; den Schiffsmann, der schon manchmal eine Fracht Wein von Bordeaux herübergebracht hat, in seiner Barke »Die Magdalena« genannt; wir sehen den Müller, »einen starken Kerl mit rothem Bart und Dudelsack«; den Krämer, Zimmermann, Weber, Färber und Teppichmacher, brave Bürger, jeder von ihnen würdig, ein Alderman zu sein, vermögliche Leute, mit Frauen, die man wol »Madame« anreden durfte; weise Leute, vorbedächtige, mit einem Koch in ihrem Gefolge, der Hühner und Markbeine kochen und Torten in Cyperwein backen konnte: kurz, wir sehen sie alle, die unsterblichen Neunundzwanzig, ihn immer voran, den biedern Wirth, die Streitigkeiten schlichtend, welche, bezeichnend genug, sogleich unter dem geistlichen Theil der Gesellschaft ausbrechen. Kraft seiner ihm verliehenen Gewalt mahnt er zur Ruhe und trifft schon am zweiten Meilenstein der alten Chaussee von Canterbury, bei dem Brunnen des heiligen Thomas, durch das Ziehen von Strohhalmen die Entscheidung, wer die Reihe der Geschichten eröffnen soll. Das Los trifft den Ritter: er zieht, wie man zu sagen pflegt, den kürzesten (nämlich Strohhalm) und nun beginnen die »Canterbury-Geschichten«, nur noch unterbrochen durch die jeder einzelnen vorangehenden Prologe, in welchen jene kleinen ergötzlichen Neckereien der Pilger sowie die Bemühungen des Wirths enthalten sind, dieselben in den gehörigen Schranken zu halten. »Ach, Sir«, ruft er einmal dem Bettelmönch zu (denn, wie gesagt, die Geistlichkeit macht ihm das meiste zu schaffen) »Ihr solltet höflich und artig sein, wie es einem Mann Eures Standes ziemt; in Gesellschaft wollen wir keine Debatten. Erzählt Eure Geschichten und laßt den Büttel in Ruhe.« – Der Wirth ist fortwährend in Bewegung; er sieht und hört alles. Als »Richter und Reporter« führt er den Zug an, und jeder einzelne, der zum Erzählen aufgerufen wird oder sich freiwillig meldet, kommt aus dem Haufen zu ihm herangeritten, während die übrigen, so gut es gehen will, sich umhergruppiren. Es ist ein Bild des englischen Parlamentes, dieser schon im 14. Jahrhundert so festgewurzelten nationalen Staats- und Gesellschaftsform; ein Unterhaus zu Pferde, mit dem Wirth als selbstgewähltem Sprecher: » our host hadde the wordes for us alle« (V. 17361). Ungleich diesem allerdings mischte er sich fortwährend in die Debatte. Jede Erzählung entlockt ihm einen Ausruf, entweder des Beifalls oder des Tadels, er nimmt Partei für oder gegen die Helden, die darin auftreten, und er liebt, im ganzen, die lustigen Geschichten mehr als die traurigen. Als der Doctor der Medicin seine Erzählung von der Frevelthat des Appius Claudius und Virginia's Opfertod beendet, da läuft dem Wirthe die Galle über und er beginnt zu schwören, als ob er toll wäre – »Hängt ihn!« ruft er, »bei Gottes Nägeln und Blut! dies war ein verruchter Dieb, ein falscher Richter.« Dann aber, sich an den Doctor wendend, tadelt er diesen, daß er solch eine melancholische Geschichte zum besten gegeben. »Ich habe beinahe ein Herzweh davon bekommen«, sagt er, »und ich muß eine Medicin dagegen haben, oder einen Zug feuchten, körnigen Bieres, oder eine lustige Geschichte. Du Ablaßkrämer, erzähl' uns eine, denn du weißt wol manche.« – »Es soll geschehen«, erwidert der Ablaßkrämer, »aber zuvor, bei diesem Bierhauszeichen, will ich etwas trinken und einen Zwieback essen.« Aber sogleich beginnen die » gentils«, die anständigen Leute der Gesellschaft, welche nichts Gutes ahnen, zu rufen: »Nein, keine Schelmerei! Erzähl' uns ein moralisch Stück, davon wir etwas lernen mögen.« »Gern«, sagte der Ablaßkrämer, »aber beim Becher will ich über eine anständige Geschichte nachdenken, derweil ich trinke.«

Diese kleinen Einschaltungen voll Witz und Laune bilden sozusagen den Rahmen, welcher die verschiedenartigen Stoffe des Gedichts einheitlich zusammenfaßt, und sie geben dem Ganzen wiederum den Charakter des Mannichfaltigen und den Ton der unmittelbarsten Lebendigkeit. Indem wir den Erzählungen lauschen, vollendet sich zugleich das Bild der Erzählenden bis zur greifbarsten Anschaulichkeit. Unter den Hufen ihrer gemächlich schreitenden Pferde gleitet vor unsern Augen der Weg dahin; und während ihres bald ernsten, bald heitern Geplauders steigt die Sonne, sehen wir Dorf nach Dorf auftauchen und verschwinden. Bei Boughton, sechs (englische) Meilen vor Canterbury, wird uns noch einmal die Ueberraschung zutheil, ein Paar neuer Pilger zu der Zahl der uns bereits bekannten stoßen zu sehen, nämlich einen Kanonikus, der den Stein der Weisen sucht, und seinen Diener ( the Chanouns Yeman), welcher indeß von der Wissenschaft seines Meisters nicht sehr erbaut ist, da er bei derselben außer aller Arbeit, die das Anblasen der Kohlen ihm verursacht, bisjetzt nicht nur nichts gewonnen, sondern obendrein alles verloren hat, sogar seine rothen Backen. Diese beiden Figuren, abgesehen davon, daß sie einen sehr wichtigen Zug der Sittenschilderung der damaligen Gesellschaft hinzufügen, geben dem Dichter Gelegenheit, mit einer für jene Tage bemerkenswerthen Kühnheit und Klarheit das bereits zur Landplage gewordene betrügliche Treiben der Alchymisten zum Gegenstand seiner Satire zu machen.

Die Geschichte von dem Goldmacher, welche Chaucer der zuletzt geschilderten Persönlichkeit in den Mund legt, ist vielleicht die einzige von dem Dichter seiner unmittelbaren Gegenwart entlehnte. Die Stoffe der übrigen nahm er ausnahmslos, wo er sie fand: einige aus den französischen Fabliaux, dieser unerschöpflichen Quelle der mittelalterlichen » conteurs«, andere aus den wahrscheinlich von Deutschland nach England herübergekommenen » Gesta Romanorum«, andere aus andern meist lateinisch verfaßten Sammlungen gleicher Art: alle diese unter sich der Zeit und dem Orte nach so sehr verschiedenen Personen und Dinge gleichmäßig in das Costüm seines Jahrhunderts und die Localfarbe seines Landes kleidend, auch darin, bis auf die Anachronismen, das Vorbild der spätern Dichter, Shakspeare nicht ausgenommen.

*

4.

Chaucer's Werk hat in der Anlage, wie kaum der Erwähnung bedarf, die größte äußerliche Ähnlichkeit mit dem Werke Boccaccio's, welcher in seinem » Decamerone« bekanntlich sich desselben Mittels bediente, um eine Reihe unter sich zusammenhangsloser Geschichten durch eine zusammenhängende Erzählung zu verbinden. Aber diese Idee ist nicht das Eigenthum Boccaccio's. Sie stammt aus dem Orient, wo wir sie z. B. in den Geschichten der »Tausendundeine Nacht« finden. Lange, sowol vor Chaucer als vor Boccaccio, war sie nach Europa gebracht durch die » Disciplina Clericalis« des Pater Alfonsi oder Alfonsus, eines zum Christenthum übergetretenen spanischen Juden, welcher im 12. Jahrhundert lebte, und dessen Buch, eine Sammlung von Erzählungen und moralischen Betrachtungen in lateinischer Prosa, später unter dem Titel: »Castoiement d'un père à son fils«, in französische Verse übersetzt, vom 13. – 15. Jahrhundert als Erbauungsschrift sehr en vogue war und von Chaucer in der That auch sehr oft citirt wird. Noch populärer wurde diese Art zu erzählen durch ein Buch weltlichen Inhalts, welches schon aus diesem Grunde ein zahlreicheres Publikum hatte, nämlich die »Geschichte von den sieben weisen Meistern«. Dieses Buch, welches in England sehr verbreitet gewesen und von welchem die Percy-Gesellschaft vor einigen Jahren eine neue Ausgabe veranstaltet, mag dem englischen Dichter viel eher den Wink zu seinem Werke gegeben haben als Boccaccio. Freilich steht es außer Frage, nicht nur, daß er die italienische Literatur gekannt, sondern auch, daß diese einen großen Einfluß auf ihn ausgeübt hat. Er bezieht sich einmal (V. 15946) ganz direct auf Dante: » the gret poet of Itaile, that highte Daunt«; er war, wie wir schon bemerkt, mit Petrarca persönlich befreundet und hat Boccaccio's lateinisches Werk: » De casibus virorum illustrium« in den »Tragödien« des Mönchs und sein italienisch geschriebenes Gedicht » la Teseide« in der Erzählung des Ritters sehr stark benutzt. Aber Boccaccio's Hauptwerk, das »Decamerone«, scheint er nicht gekannt zu haben; er thut desselben nirgends Erwähnung, es zeigt sich keine Spur einer Benutzung und von der einzigen Geschichte, die sich in beiden befindet, bemerkt Chaucer ausdrücklich, daß er sie von Petrarca habe, dessen Andenken er in dem Prolog des »Studenten von Oxenford« einige so rührende Verse widmet: »Ich will euch eine Geschichte erzählen, welche ich gehört habe zu Padua von einem würdigen Gelehrten, wie dargethan durch seine Worte und sein Werk. Er ist nun todt, vernagelt in dem Sarg, nun gebe Gott seiner Seele gute Ruh! Francisk Petrark, Poeta laureatus, hieß dieser Gelehrte, dessen süße Redekunst erleuchtet ganz Italien mit Poesie.« Die Geschichte, welche hierauf folgt, ist die von der geduldigen Griseldis, und das Werk, auf welches er anspielt, Petrarca's lateinische Romanze » De obedienta et fide uxoria Mythologia«, deren Version sich Chaucer fast buchstäblich angeschlossen hat, obwol es der poetischen Illusion schmeichelt und der objectiven Wahrheit keineswegs widerstrebt, anzunehmen, daß er die erste Anregung den »Worten« Petrarcas verdanke, bei jenem glücklichen Zusammentreffen in der sommerlichen Ebene der Lombardei.

Denn die mündlichen Traditionen, auf welche namentlich Professor Ebert in seinem trefflichen »Handbuch der italienischen Nationalliteratur« (S. 18) so nachdrücklich hinweist, trugen nicht am wenigsten dazu bei, diese Novellenstoffe, in ihrem Kern kaum etwas anderes als Anekdoten, zum Gemeingut der mittelalterlichen Welt zu machen. Aus der Schrift in den Mund des Volks und aus diesem erst wieder von neuem in die Schrift übergehend, bereicherten, sie mit denselben antiken, mythologischen, ritterlichen, märchen- und legendenhaften Elementen den Vorrath der damaligen populären Literatur, aus welchem sowol Chaucer als Boccaccio schöpften. So entstanden, aus denselben Anregungen und in demselben Jahrhundert, aber unabhängig voneinander und an den beiden entgegengesetzten Punkten Europas, unter dem blauen Himmel Italiens und in dem Nebel von England, die beiden elastischen Muster moderner Erzählungskunst in ungebundener und gebundener Rede: das » Decamerone« und die »Canterbury-Geschichten«.

Eine fast auffallende Aehnlichkeit im Lebens- und Entwickelungsgang beider Poeten bedingt auch manch einen Zug innerer neben jenem bereits angedeuteten äußerer Verwandtschaft in ihren Werken. Beide waren Gelehrte, von höfischer Bildung, in Staatsgeschäften gewandt, Männer, welche die Welt auf Reisen und im mannichfachen Wechsel der Verhältnisse die Menschen kennen gelernt hatten. Es herrscht daher in ihren Schriften ein lebendiger Unterhaltungston voll Laune, Geist und Bonhomie; mit souveräner Leichtigkeit werden von beiden die sozialen Fragen jener Zeit behandelt, die Typen der damaligen Gesellschaft geschildert, und in culturgeschichtlicher Beziehung hat daher das » Decamerone« für das Italien des Boccaccio ganz dieselbe Bedeutung, welche die »Canterbury-Geschichten« für Chaucer's England beanspruchen.

Dabei braucht es wol kaum ausdrücklich bemerkt zu werden, daß sein Buch sowenig als das des Boccaccio frei sei von sogenannten »anstößigen Stellen«. Das lag zu sehr im Tone jener Jahrhunderte, für deren feinere moralische Bildung die Achtung, welche man der Frau zollte, »dieser Werthmesser des Zeitalters« (Rousseau), noch immer keinen besonders hohen Grad anzeigte. Niemals hat das Weib in der christlichen Welt eine sittlich degradirtere Stellung eingenommen als zur Zeit der Minnesänger und Liebeshöfe. Während in der Poesie Frauengunst und Minnedank das bis zum Ueberdruß wiederholte Thema war, behandelte man in der Wirklichkeit die Frauen mit einer empörenden Wegwerfung. Aber bestand denn in der That ein solcher Widerspruch zwischen dem Gesang und dem Leben? Wo wäre jemals in den Reimen der Troubadours ein Wort zu finden über den Geist, den Beruf, die Würde der Frau? Feierten sie nicht vielmehr ausnahmlos nur den Reiz und die Schönheit ihres Leibes? Man entkleide ihren Gesang der poetischen Hülle, und es wird auch da kaum etwas anderes bleiben als das Weib, dessen einzige Bestimmung scheint, dem Genusse des Mannes zu dienen. Was wunder, wenn das Weib allmählich ward, wofür der Mann es nahm; wenn Sittenlosigkeit im Wandel und Schamlosigkeit in der Rede so sehr charakteristisch für die mittelalterliche Frauenwelt wurden, daß Chaucer allen Ernstes und mit dem Anscheine sprechender Porträtähnlichkeit als ihre Repräsentantin die »gute Frau von Bath« hinstellen muß?

Dieser Ernst, wenngleich er nichts ändert an der Thatsache, vermehrt nur unsere Sympathie für den Dichter. Reife Lebensanschauung und Lebensklugheit geben selbst seinem Spott etwas Mildes, ohne ihm die Pointe abzubrechen. Er schont keinen Stand, keine Klasse der Gesellschaft; er geiselt mit treffender Ueberzeugung ihre Thorheiten, ihren Aberglauben, sogar die verkehrten Richtungen der Literatur, soweit von einer solchen damals die Rede sein konnte. Ein Vorläufer des Cervantes, verspottet er in der »Geschichte von Sir Topas« die vulgär gewordene Märchenpoesie der metrischen Romanzen, wie Jahrhunderte später der spanische Dichter in seiner köstlichen Parodie das heruntergekommene Ritterthum der Prosaromane. Aber in seinem Spott und seiner Satire bleibt Chaucer doch immer der »Gentleman«. Durch jedes seiner Worte weht der Hauch einer freien Seele, die sympathische Wärme eines guten und großen Herzens; »in dem Verse Chaucer's«, sagt Alexander Smith, »ist ewiger Mai und der Duft von frisch blühenden englischen Hagedornhecken.« –

Aber wenn dies gleichsam der Athem ist, welcher seine Poesie beseelt, so dürfen wir darüber nicht vergessen, was ihm wahrscheinlich die Hauptsache war: die Erzählung selbst. Man würde ihm sehr unrecht thun, wollte man ihn in dieser Beziehung für einen Naturalisten oder Empiriker halten; er hat im Gegentheil mit großer Klarheit über die Kunst des Erzählers nachgedacht und an einer Stelle seines Werks sich auch ganz bestimmt darüber ausgesprochen (V. 10715-19). Hier stellt er als Grundgesetz jeder Erzählung zunächst die Spannung hin. Er sagt, der Knoten ( the knote, why that every tale is told) müsse so geschürzt sein und gelöst werden, daß der Leser oder Hörer keine Langeweile empfinde ( be taryed), daß sein Interesse ( lust) nicht erkalte und der Geschmack ( savour) der Fabel nicht fade werde durch die Breite des Vortrags ( for fulsomnes of the prolixité).

Diese Vorschrift hat er selbst durch sein ganzes Werk befolgt; nicht blos in den einzelnen Erzählungen, sondern auch in der Reihenfolge derselben, welche der Wellenschlag unaufhörlichen Wechsels bewegt. An eine heitere Geschichte schließt sich eine traurige; der Leser, eben noch erschüttert von dem tragischen Geschick Arcite's, wird gleich darauf zu unauslöschlichem Gelächter gereizt durch den possenhaften Vortrag des betrunkenen Müllers und seinen Disput mit dem empfindlichen Zimmermann. Keinen Augenblick in diesem umfangreichen Werke tritt ein Stillstand ein, stockt die Handlung. Wie die Personen wechseln, so wechselt auch das Thema und der Ton des Vortrags; Ritter und Advocat, Ablaßkrämer und Gutsherr, Mylady Priorin und die Meister der Zunft, diese mannichfachen Gebiete des mittelalterlichen Lebens, die Welt und das Kloster, die Universität und die Gildenhalle, die Stadt und das Dorf – sie alle liefern dem Poeten den Reichthum ihrer Unterschiede, dem Bilde seiner Zeit diese Fülle von Leben und Farben.

Kein Wunder daher, daß dieses Muster- und Meisterwerk das Lieblingsbuch aller folgenden Generationen wurde und blieb. Die Popularität desselben geht zunächst aus der Menge von Manuscripten hervor, in welchen es uns aufbewahrt ist. Wir besitzen in einer an ihn gerichteten Ballade des französischen Dichters Eustace Deschamps den Beweis, daß Chaucer und sein Gedicht bei Lebzeiten hohen Ruhmes sogar schon auf dem Continent genoß, während die Verse, in welchen sein Freund Gower († 1408) ihm seine » Confessio amantis« dedicirt, außer Frage stellen, wie sehr man ihn in seiner eigenen Heimat schätzte:

Von seinen Reimen und frohen Gesängen
Ist überall das Land erfüllt.

Ein anderer zeitgenössischer Poet, der ihn überlebte, Occleve (1420), malte sein Porträt auf den Rand eines Manuscripts, welches, erhalten und mannichfach nachgebildet, uns einen treuen Begriff vom Aussehen dieses Dichters gibt, der sich selbst als fein im Wuchs ( he in the wast is shape): nachdenklich, schmal, blond von Angesicht (» smal and fair of face, elvish by his countenance«) beschreibt. (V. 15113 und 15114), mit einem zweispitzigen Kinnbart, nach der Mode der Zeit. Als 50 Jahre später die Kunst Guttenberg's nach England kam, da waren die »Canterbury-Geschichten« eins der ersten Werke, welches aus Caxton's Buchdruckerpressen (1475-76) hervorging. Auch hier wieder macht sich die merkwürdige schon oben berührte Verbindung von Kent und den »Canterbury-Geschichten« geltend: denn William Caxton, ihr erster Drucker, war, wie er uns selbst erzählt, geboren in dem kentischen Dörfchen Weald.

Sechs Jahre nach dem ersten Druck der »Canterbury-Geschichten« veranstaltete Caxton einen zweiten, und noch vor dem 17. Jahrhundert existirte eine beträchtliche Anzahl von Ausgaben. Nun ward Chaucer der Quell, zu welchem Englands große Dichter pilgerten. Shakspeare entnahm einem von dessen kleinern Epen: »Troilus und Cressida«, den Grundstoff zu seiner Tragikomödie, und Milton, in seinem » Il Peneroso«, ruft unmittelbar nach den großen Sängern des Alterthums ihn auf:

– der uns ein Stück
Kambuskersage ließ zurück,
Vom Camball und von Algarsife,
Von Canace's Zauberglas und Reif
Und von dem Wunderpferd aus Erz,
Das den Tatarenkönig trug.

(Nach der deutschen Ausgabe von Spalding's »Geschichte der englischen Literatur«.)

Indessen ist die Geschichte des Squire, auf welche Milton in den obigen Versen anspielt, nicht das einzige Stück in den »Canterbury-Geschichten«, welches der Dichter unvollendet ( half told) gelassen: wir müssen vielmehr das ganze Werk, wie wir es besitzen, als ein Fragment betrachten. Mit Ausnahme der beiden Prosaerzählungen, welche Chaucer in den Prologen »Tractate« nennt, enthält es zwar immer noch 17368 echte, wirklich von Chaucer herstammende Verszeilen, also über 3000 mehr als die »Göttliche Komödie« und fast 2000 mehr als die Ilias: dennoch hat der Dichter kaum die Hälfte seines ursprünglichen Plans ausgeführt.

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5.

Es ist später Nachmittag und die Sonne steht schon tief, als die Reihe des Erzählens an den Mancipel (Oekonom eines londoner Juristenhofes) kommt. Der Koch ist eingeschlafen und fällt zum großen Spaß der Gesellschaft vom Pferde. Dieser Sturz hat glücklicherweise keine weitern Folgen als ihn zu wecken, worauf sich ein höchst ergötzlicher Disput zwischen ihm und dem Mancipel entwickelt, welcher natürlich ärgerlich über die Unterbrechung ist. Durch die Dazwischenkunft des Wirthes indessen löst sich auch dieser Streit zur allgemeinen Befriedigung, indem der Mancipel dem Koch aus seinem Weinschlauch zutrinkt. Mittlerweile hat man Harbledown erreicht (populär Bob-up-and-down genannt), das letzte Dorf vor Canterbury. Noch heut ist der Hohlweg zu sehen, der Schauplatz jener lustigen Scene, welche Chaucer beschreibt, die Strecke, welche zurückgelegt wird, während der Mancipel seine Geschichte zum besten gibt. Dort, auf einer von den Anhöhen, erblickt man heute, wie man es vielleicht schon damals erblickte, das Hospital des heiligen Nicholas von Harbledown, hochgeehrt in den Pilgertagen von Canterbury, und noch immer mit seinem Epheu und wilden Mauerblumen, mit seinen grauen Steinen, Rissen und Sprüngen in hohem Grade malerisch, wenn man das alte Kloster aus der einsam stillen Schlucht betrachtet, welche einst die belebte Straße von London bildete. Sobald man, aus derselben auftauchend, den Hügel erreicht hat, erblickt man unter sich, im fruchtbaren Thalgrund ausgebreitet, die Stadt Canterbury; und wie sie da liegt, im Abendsonnenschein, mit ihren zahlreichen Thürmen und Kirchen und ihrer Kathedrale – das Ziel der Pilgerfahrt: da mag der Pfarrer, der nun zuletzt das Wort nimmt, sie wol mit dem himmlischen Jerusalem vergleichen und in ernster Rede begrüßen. Seine Erzählung, wenn man sie so nennen will, ist ein Tractat über die Buße (in einigen Manuskripten geradezu » Tractatus de poenitentia« genannt), wie er sich so wohl eignet für den Abschluß einer Reise, welche dem frommen Mann Anlaß gibt, an das Ende menschlichen Erdenwallens symbolisch zu erinnern. Ein Hauch wie Abendluft umweht uns, und die Phantasie des Lesers malt sich aus, wie die Schar der Pilger nun im ersten Dämmern durch die gothischen Bogen des Westthors in die Stadt einzieht, dieses einzigen Thores ( Westgate), welches noch unverändert aus dem 14. Jahrhundert und auf der londoner Straße steht; wie sie Highstreet hinabreiten, wo schon aus den Fenstern die Abendlichter funkeln, und endlich vor der Herberge halten, Mercerylane gegenüber, diesem Gäßchen, in welchem sie sich morgen zur Procession versammeln werden, und an welchem, obwol Jahrhunderte vergangen sind, die Erinnerung der Canterbury-Pilger noch immer haftet.

Aber es war Chaucer nicht beschieden, dies alles zu schildern. Er sollte seine Pilger nicht in Canterbury sehen, noch sie wieder nach London zurückbegleiten: er blieb uns allen den Rest und dem braven Tabard-Wirthe das Abendessen schuldig.

Er starb im zweiundsiebzigsten Jahre seines Lebens, anno 1400, ein Jahr nachdem der Sohn des Herzogs von Gaunt, Shakspeare's Bolingbroke, Heinrich IV. den Thron bestiegen. Das war ein Jahr des Triumphs für den greisen Dichter, dies letzte Jahr seines Lebens: unmittelbar nach seiner Thronbesteigung verlieh der König ihm eine Pension und seinem Sohne Thomas eine Anstellung im Hofdienste. Die letzte Nachricht, die wir von Chaucer haben, ist, daß er sich ein Haus gemiethet, dem königlichen Palast gegenüber, dicht unter den Mauern von Westminster-Abtei, im sogenannten Klostergarten, wo heute die Kapelle von Heinrich VII. steht. Dieses Haus bezog Chaucer am Weihnachtstag 1399; aber schon am 25. October 1400 starb er und ward in Westminster-Abtei bestattet, an jenem stillen Platz derselben, welcher unter dem Namen des » Poet's corner«, des Poetenwinkels, so weltberühmt geworden. Er war der erste Poet, den man hier niederlegte, der Vorfahr einer langen, glänzenden Reihe, welche in der Zukunft ihm hier folgen sollte. Ueber seinem Grab erhebt sich ein Altar mit gothischem Dach, ein Denkmal, das ihm hier ein Verehrer erst 1555 errichtete, das aber doch schon schwarz und rostig geworden ist in der langen Zeit und besten Inschrift man kaum noch entziffern kann.

Auch das alte Wirthshaus in Southwark stand noch vor einigen Jahren. Das Aussehen der Gegend hatte sich in den fünf Jahrhunderten allerdings sehr geändert. Wo einst die Pilger sich zur Wallfahrt sammelten, da ist setzt der ungeheuere Bahnhof für die Linien der South-Eastern und South-Western-Railways, von welchen die eine dem alten Kent-Road, dem Wege nach Kent folgt, die andere nach der Seeküste von Hampshire läuft. Wie vor alters geht der Verkehr über London-Bridge noch dieselben Straßen; aber diese Straßen sind Eisenbahnen geworden, und wie massenhaft undurchdringlich ist der Verkehr gewachsen! Das Branden und Brausen dieser Menschenwoge, das eiserne Gerassel dieser Frachtwagen, dieser Omnibusse, Cabs, Hansoms, – alles bunt durcheinanderwirbelnd – dieser betäubende Lärm, dieser Anblick, der das Auge verwirrt – diese schwimmenden Seekolosse, die Schiffe, unten – diese Schienenstränge oben – dieser gewaltige schwarze Bogen, quer vor uns über die Straße gespannt und beständig dröhnend von den Zügen, die nach Charing-Croß gehen oder von dort kommen – diese Telegraphendrähte, die mitten in der Luft zittern – wer würde unter dieser Flut des modernen londoner Lebens das alte stille Southwark und die Straßen der Canterbury-Pilger wiedererkennen? Und doch sind wir hier zur Stelle. Zur Linken, wie versunken, in Wahrheit aber nur in einer Vertiefung, dadurch entstanden, daß die benachbarten Straßen erhöht worden sind, liegt die alte, aus jener Zeit uns noch wohlbekannte Kirche von St.-Mary-Overies, sie, die Chaucer noch gesehen hat und in der sein Freund Gower begraben ist. Zur Rechten, in der Richtung von Southwark-Bridge, nicht weit von Barclay und Perkins' berühmter Brauerei, ist der Platz, wo zu Chaucer's Zeiten der Palast des Bischofs von Winchester und zu Shakspeare's Zeiten das Globe-Theater stand. Neue Straßen, unter ihnen die erst 1865 vollendete neue, prachtvolle Southwarkstreet-Borough, beleben überall den alten classischen Boden; auch derjenige Theil der Highstreet, welcher in die alte London-Brücke mündete, ward vor einigen dreißig Jahren zerstört, um zwischen der neuen London-Brücke und den Bahnhöfen Platz zu schaffen. Aber unverändert erhielt sich das untere Ende von Highstreet und in ihr das Wirthshaus der Canterbury-Geschichten, der alte Talbot, soviel davon nach einem Feuer im Jahre 1676 übriggeblieben war. Noch im Jahre 1867 war es da zu sehen in einem Hofe, in welchen man gelangte, wenn man von Highstreet durch ein Haus ging, welches erst nach dem Feuer gebaut worden war und den Hof nach der Straße hin verbarg. Wenn man in den Hof trat, so hatte man zur Rechten die Taverne, welche gleichfalls erst aus dem 17. Jahrhundert stammte, also doch auch schon ihre 200 Jahre zählte, und an einem eisernen Haken das Schild trug: » The Talbot Inn. R. Gooch.« Daran aber schloß sich im Hintergrund und einen Winkel nach links bildend dasjenige, was vom alten Talbot noch stand, das Holzhaus des 14. Jahrhunderts, mit seinem spitzen Dach, seinen wurmstichigen Galerien, seinen von außen angebrachten Treppen, seinen Erkern und grünen in Blei gefaßten Fensterscheibchen. Unter einem der Erker war ein Schild mit » Alsopp's Pale Ale«, und an einem der Treppengeländer ein anderes » John Paice, Carman«. Unter der Galerie der Längenseite hing ein Bret, auf welchem die 29 Pilger abgebildet waren, mit der Unterschrift: » The Old Tabard Inn: Dies ist das Wirthshaus, in welchem Geoffrey Chaucer und die 29 Pilger logirten auf ihrer Reise nach Canterbury«; und daneben hing ein anderes Bret mit der Inschrift: » Midland Railway Receiving Office« – Annahmestelle für die Mittellandeisenbahn. Welch ein Contrast – das 14. und das 19. Jahrhundert! Die Canterbury-Geschichten und die Eisenbahn! Aber bis zuletzt ist dieser Hof seiner ehemaligen Bestimmung treu geblieben: »John Paice, Carman« hat dafür gesorgt, daß es demselben niemals an Pferden und Gepäckstücken aller Art fehle, während »R. Gooch«, als gerechter Nachfolger von » mine host« wie vor fünfhundert Jahren eine zinnerne Kanne mit einem guten Trunk darin für jeden Durstigen bereit hielt.

Doch als ich die neueste Ausgabe von »Murray's Handbuch des modernen London« – » London as it is« – nachschlug, da fand ich an der Stelle, wo sonst die Beschreibung gestanden, nur noch die Worte: » Tabard Inn. Southwark: the starting-place of Chaucer's Canterbury Pilgrims. Pulled down – Tabard Inn, Southwark: der Platz, von welchem Chaucer's Canterbury-Pilger aufbrachen. Niedergerissen.«

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