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Die Juden in England.

Die Geschichte der Judenemancipation ist überall und in einem ganz allgemeinen Sinne die Geschichte der siegreich fortschreitenden Entwickelung des modernen Geistes und der Freiheit. Mit dem Worte, welches die Pforten der Judengassen sprengte, hat sich auch die letzte Fessel des Mittelalters gelöst, welche jenen Geist noch bedrückte; und sie fiel in demselben Augenblicke, wo die Befreiten der Ghetti sich mit ihren ehemaligen Verfolgern bürgerlich und gesellschaftlich zu mischen begannen. Das Verhältniß der Christen zu den Juden, in irgendeinem andern als religiösem Betracht, kann als der Gradmesser politischer Bildung gelten; die Befreiung der einen geht Hand in Hand mit der Befreiung der andern – von Vorurtheilen!

»Die Vorurtheile sind die Könige der Menge«, sagt Voltaire. Derselbe Mann jedoch, so stolz und aufrecht gegen die Könige mit einer Krone, beugt sich vor diesen des Pöbels, indem er in seiner »Literatur der Geschichte der Philosophie« erklärt: »Man wird in den Juden nur ein unwissendes und barbarisches Volk finden, welches seit langer Zeit den schmuzigsten Geiz zu dem abscheulichsten Aberglauben hinzufügt und zu dem unbesieglichsten Haß gegen alle Völker, welche sie dulden und welche sie bereichern. Uebrigens braucht man sie darum nicht zu verbrennen« – » Il ne faut pourtant pas les brûler «.

Gar köstlich und erhaben nimmt sich dieser Satz im Munde des großen Philosophen aus, der sein Jahrhundert aufgeklärt, die Religion und die Vorurtheile geleugnet, und vielleicht nur das Eine den Juden niemals verziehen hat, daß sie in Geldgeschäften ihn ein- oder zweimal überlistet haben, wie jener Abraham Hirsch in Berlin, der von Voltaire für gute Steine schlechte Wechsel erhalten hatte und dem hernach, um sich aus seiner ärgerlichen Situation zu ziehen, Voltaire beides bezahlen mußte, die Steine und die Wechsel. » Il ne faut pourtant pas les brûler!« – Wie tolerant von Herrn von Voltaire nach einer solchen Erfahrung! Und wie richtig, wenn Lessing in seinem bekannten Epigramm sagt: »Herr Voltaire war ein größerer Schelm als er!« –

Wie fast alle staatlichen Fragen hat Deutschland auch diese mehr auf dem Wege der vorbereitenden geistigen Arbeit, in den stillen Stuben seiner Denker und Dichter erledigt, als auf dem eines verfassungsmäßig geführten, parlamentarischen Kampfes, zu welchem freilich zwei Dinge fehlten, nämlich die Verfassung und das Parlament. Als diese kamen, war die Sache reif; für die Juden in Deutschland war Lessing's »Nathan der Weise« so viel werth als ein ganzer siegreicher parlamentarischer Feldzug. Der Proceß verlief der deutschen Art gemäß vorwiegend innerlich, und seine Merkmale traten erst dann äußerlich sichtbar hervor, als der erleuchtete Geist der Zeit den Wahrspruch fällte. Die Frage, mit einem Worte, ist in Deutschland eine culturgeschichtliche gewesen, in England aber eine politische. Es markiren sich daher in England die Phasen dieser Bewegung schärfer, weil sie hier frühe schon, in einem vergangenen Jahrhundert, aus dem Gebiete der nur philanthropischen oder philosophischen Speculation und Debatte gehoben, zu einer Verfassungsfrage gemacht ward, welche wir alle Stadien einer solchen bis zum endlichen Triumphe durchlaufen sehen. Die Geschichte der Judenemancipation in England bietet der Betrachtung daher auch ein deutlich übersehbares Gesichtsfeld, in welchem wir Anfang, Mitte und Ende klarer übersehen können als in irgendeinem andern Lande.

1.

Längst befinden sich die englischen Juden im Vollgenuß aller bürgerlichen und politischen Rechte. Sieben Juden sitzen im Parlament, und zweimal im Verlauf weniger Jahre sind Juden mit den höchsten städtischen Ehren, der Lord-Mayorswürde von London, bekleidet gewesen. Allein dem war nicht immer so. Grausamkeiten, wie wir deren in unserm eigenen Jahrhundert gegen die Juden in den wenig civilisirten Ländern des Ostens verüben sahen, haben einst auch die Juden in England erduldet. Es scheint, daß sie dort schon im 8. Jahrhundert angesessen waren. Wilhelm der Eroberer zog eine größere Zahl von ihnen aus der Normandie herüber, unter ihm, seinem Nachfolger und den ersten Königen aus dem Hause Plantagenet erging es ihnen wohl in dem neuen Lande. Wie fast überall zu jener Zeit waren sie die Bewahrer der Wissenschaft, die Lehrer und Aerzte, die geehrten Freunde der Könige – » dilectus et familiaris noster«. Sie hatten in London ihr eigenes geschütztes Quartier und einige der vornehmsten Collegienhäuser von Oxford waren ihr Eigenthum. Mit dem Tage, an welchem Richard Löwenherz den Thron bestieg (1189), wandte sich das Blatt. Als nach seiner Krönung eine Deputation sämmtlicher Juden Englands dem Könige huldigen und reiche Gaben bringen wollte, wurden sie auf Veranlassung des Erzbischofs von Canterbury fortgewiesen; man sollte von Juden keine Geschenke nehmen und die Juden sollten den Schloßhof nicht betreten dürfen. Die Roheit der Menge, welche die Juden niemals geliebt, ward durch diese Worte aus geistlichem Munde sanctionirt und entfesselt. Man hatte mit Unwillen das kleine Häuflein derselben wachsen und gedeihen, an Reichthum und Macht zunehmen sehen. Man war ihnen Geld schuldig geworden, und fand es unbequem, es ihnen wiederzubezahlen. Man legte ihnen unerschwingliche Steuern auf und klagte sie des Wuchers an, wenn sie hohe Zinsen nahmen, um das Verlangte aufzubringen. Wir können uns eine genaue Vorstellung davon machen, wenn wir an die Dinge denken, welche vor unsern Augen sich in Rumänien zugetragen und was ein englisches Blatt ( Saturday Review, März, 1872) über diese gesagt, paßt genau, wenn wir es zurückdatiren, auf England und das 13. Jahrhundert. »Es muß für den barbarischen Geist etwas sicherlich sehr Süßes darin liegen, zuerst eines Mannes Geld zu nehmen, und wenn er sein Geld zurückverlangt, ihn zu stoßen und zu schlagen und halb zu tödten aus hochreligiösen Gründen.« Es ist die alte Geschichte, die sich leider nur zu oft und überall, wo Juden waren, wiederholt hat. Das unheilvolle Feuer verbreitete sich aus dem Königshofe von Westminster über ganz England, die Monarchie wurde die Mitschuldige der Prälaten und das Volk in ihrer Hand ein blindes Werkzeug der Habsucht der einen, des fanatischen Glaubenseifers der andern. Das alte schauerliche Märchen vom Christenblut, welches die Juden in der Osternacht gebrauchen sollten, ward aufs neue vorgebracht – sie, denen in den fünf Büchern Moses sogar der Gebrauch des Thierbluts verboten – sie, denen Grausamkeit ein Greuel und Mord ein Unding war! Die Judenverfolgungen begannen. Mit unmenschlicher Fühllosigkeit gehetzt und massacrirt von ihren Feinden und Widersachern, die meist in jenen Zeiten ihre Schuldner zu sein und ihre Erben zu werden pflegten, begrub sich einmal, da kein anderer Ausweg der Rettung und Ehre blieb, in der berüchtigten Brand- und Mordnacht von York eine ganze Gemeinde von 500 jüdischen Männern, Weibern und Kindern mit ihrem Rabbiner an der Spitze unter den rauchenden Trümmern des Castells – eine That des Heroismus, wol würdig des Geistes der Makkabäer!

Durch fast hundertfache Jahre von nun ab mußten die Juden in England ihr Dasein, Tag für Tag, mit Gold erkaufen; und endlich sollte die Schale des Grimmes doch voll werden, sollte der zürnende Gott Israels auch über seine Verirrten an den Küsten des Meeres sie ausgießen! Die Juden wurden, unter Eduard I. im Jahre 1290 aus England verbannt. Man hat diese grausame Maßregel, welche Tausende und abermals Tausende von dem liebgewordenen Boden, den bescheidenen Heimstätten und den Gräbern ihrer Todten vertrieb, darauf zurückführen wollen, daß die Juden sich der Falschmünzerei schuldig gemacht. Doch neuere Forschungen haben ein anderes Resultat an das Licht gebracht. Grätz, Geschichte der Juden, und Adler, The Jews in England (London, Longmans, 1870). Man würde die Juden so leichten Kaufs wol nicht aufgegeben haben; im Gegentheil, man machte sehr häufig Versuche, sie zum Christenthum hinüberzuziehen. Der letzte derselben sollte verhängnißvoll für sie werden. Ein Dominicanermönch, Namens Robert de Redding, ein gewandter Redner und tüchtiger Hebräer, ward mit der Aufgabe betraut; allein anstatt sie zum Christentum zu bekehren, ward er zum Judenthum bekehrt. Die Dominicanermönche, entsetzt über die Schmach, die sie ihrem Orden zugefügt glaubten, drangen in die Königin-Mutter Eleonore, und diese setzte bei ihrem Sohne Eduard I. das Verbannungsdecret durch. Hume, der, als er seine » History of England« schrieb, den eigentlichen Grund der Verbannung der Juden aus England noch nicht kennen konnte, legte doch schon, aus einem richtigen Instinct der Wahrheit, kein besonderes Gewicht auf die »Imputation der Falschmünzerei«, sondern wälzte die ganze Schuld auf den König, den ein verkehrter Zug von Heldenverehrung in unsrer eigenen Zeit als den »größten der Plantagenets« zu feiern unternommen hat. Hume nannte die Sache beim rechten Namen, wenn er sagt, daß Eduard, »von seinem Zelotismus und seiner Habsucht getrieben, das Königreich ganz von der verhaßten Rasse zu säubern und als den Lohn seiner Arbeit ihr Eigenthum an sich zu nehmen beschloß«. Das Herz schaudert einem, zu lesen, wie nun 16 000 Bettler das Inselreich verließen, wie die Bootsknechte sie schon auf der Themse mishandelten, wie die Bewohner der fünf Häfen ihnen sogar das Reisegeld nahmen, welches die Raubsucht des Königs ihnen gelassen, wie hierauf die Schiffseigner sich weigerten, sie an Bord zu lassen, und wie sie zu Hunderten angesichts der offenen See umkamen. »Ein Verbrechen«, sagt Hume, »für welches der König, welcher der einzige Plünderer in seinen Besitzungen zu sein beschlossen hatte, schwere Strafen verhängte. So wurden die Juden ihres Vermögens beraubt und aus dem Königreiche verwiesen; aber«, fügt er hinzu, »da es für ein Königreich unmöglich ist, ohne Geldverleiher zu existiren, und niemand ohne Compensation Geld leihen wird, so ward der Wucher, wie man es damals nannte, fortan von den Engländern selbst besorgt.«

So endet der erste Abschnitt der Geschichte der Juden in England.

Nur wenige Spuren aus dieser Zeit ihres ersten Aufenthaltes in England sind übriggeblieben: in der alten auch durch Reste römischer Bauten ausgezeichneten Stadt Bury St.-Edmunds in Suffolk hat sich das prachtvolle Gemäuer einer steinernen Synagoge erhalten, welches gegenwärtig in eine Polizeistation verwandelt worden ist, aber vom Volke noch immer »Moses' Halle« und »die Judensynagoge« genannt wird. Ebenso heißt der Stadttheil in der City von London, in welchem sie damals wohnten und ihre Gotteshäuser hatten, bis auf den heutigen Tag » Jewry« (Judenviertel).

Aber beinahe vierhundert Jahre lang, von 1290 bis etwa 1650, ward kein Jude in England gesehen, und nur hier und dort erschienen sie noch in der englischen Dichtung: man kann sich wol denken, in welcher Gestalt!

Immer, wenn Juden auftreten, bildet ihr grimmiger Haß gegen die Christen, ihr Durst nach Christenblut das düstere Thema des Gesanges. Schon unter den frühesten englischen Balladen, welche sich in Percy's » Reliques« aufbewahrt finden, ist eine von »des Juden Tochter« ( The Jew's daughter), aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Die Juden, bevor sie England verließen, müssen den »Mord- und Nachtklang« dieses Volksliedes noch gehört haben, welches Herder, der es in seinen »Stimmen der Völker« übersetzt hat, »ein schauderhaft Märchen« nennt, »dessen Sage einst so vielen Juden oft Land und Leben gekostet«. Es stützt sich auf eine Erzählung des mönchischen Geschichtschreibers Matthew Paris († 1259), nach welcher im Jahre 1256 ein Christenkind in Lincoln von den Juden gekreuzigt worden wäre. Der Knabe Hugo läuft zum Ballspiel, als die Judentochter ihn listig mit einem Apfel heranlockt:

Und aus zog sie ein spitzig Mess'r
Sie hat's versteckt beiher;
Sie stach's dem jungen Knaben ins Herz,
Kein Wort sprach nimmer er mehr.

Lachend rollt sie ihn in einen Kasten Blei und wirft ihn in einen fünfzig Faden tiefen Brunnen; der Schmerz der Mutter, als sie ihren Sohn vermißt, ist sehr ergreifend geschildert:

Als Betglock klang und die Nacht eindrang,
Jede Mutter nun kam daheim;
Jede Mutter hatt' ihren herzliebsten Sohn,
Nur Mutter Anna hatt' kein'n.

Endlich als sie an den Brunnen kommt, und nach ihrem »besten Hugo«, ihrem »schönsten Hugo« ruft, hört sie eine Stimme aus der Tiefe antworten:

Geh heim, geh heim, meine Mutter theu'r,
Mach mir ein Leichenkleid!

Offenbar von derselben Tradition eingegeben ist, etwa 100 Jahre später, als schon längst keine Juden mehr in England waren, »die Erzählung der Priorin«, in Chaucer's » Canterbury Tales«, nur daß hier schon das Mirakel hinzutritt und der blutigen That einen legendenhaften Hintergrund leiht. Eben dieser Heiligenschimmer, der die judenfeindlichen Legenden umgab, war um so mehr darauf berechnet, den Haß gegen die armen Verfolgten immer fanatischer aufzustacheln. Während der Knabe in der Ballade nur zum Ballspiel geht, läßt Chaucer ihn, in so jungen Jahren schon, einen Ausbund von Frömmigkeit sein, der, wenn er durch die Judenstadt zur Schule geht, laut sein Lied: » O alma mater Redemptoris!« singt. Die Juden beschlossen ihn deswegen zu ermorden, und er wird ein Opfer seines Glaubens. Man verscharrt ihn in einer Düngergrube; dort findet ihn die Mutter, denn noch zerschnittenen Halses singt er seinen Sang: » O alma Redemptoris mater!« Die Juden ließ der Profoß natürlich unter Folterqualen zum schmachvollen Tode führen:

Sie wurden erst geschleift von wilden Pferden
Um dann nach dem Gesetz gehängt zu werden.

(Hertzberg's Übersetzung.)

Der Knabe dagegen, der junge Märtyrer, wird von dem Abt und den Mönchen feierlich in einem Marmorgrab zur ewigen Ruhe gebettet, und damit in dem Sündenregister der Juden ja nichts vergessen werde, recapitulirt der Dichter zum Schluß jene andere Mordgeschichte, welche nach fast anderthalbhundert Jahren noch in der Erinnerung und dem Munde des Volkes lebte:

O junger Hugh (Hugo) von Lincoln, du auch bist
Von den verruchten Juden, wie bekannt,
Erschlagen worden ...

(Hertzberg.)

Aus dieser, wie sehr auch barbarischen, im Grunde doch eigentlich recht naiven Anschauung sehen wir den Juden gleich bei den ersten Dramatikern in eine etwas höhere Sphäre gehoben: er ist hier wenigstens ein Mann, der einen Zweck hat. Obwol Grausamkeit noch immer seine Haupteigenschaft bleibt, so wird sie doch für ihn zu einem Mittel, um etwas anderes zu erreichen. Er ist nicht mehr der Vampyr, der Christenblut lediglich zu seinem Vergnügen saugt. Zwei Motive leiten ihn fortan: Habsucht und Rachsucht; und diese, wenn auch böse, verwerfliche, sind doch mindestens die Eigenschaften eines Menschen. In dem »Juden von Malta« ( The famous Tragedy of the Rich Jew of Malta) von Christopher Marlowe (1563-93), einem der Vorgänger Shakspeare's, finden sie sich chaotisch zusammengeballt, aber in der wüsten Masse von Ungeheuerlichkeiten, wie wir sie von Marlowe gewöhnt sind, doch immerhin schon erkennbar. Er vergiftet die Brunnen (auch eine von den Lieblingsbeschäftigungen der Juden im Mittelalter); schneidet den Kranken im Schlafe den Hals ab, steckt Klöster in Brand, sprengt die ganze Besatzung von Malta in die Luft und gräbt dem Gouverneur eine Grube (mit ungelöschtem Kalk), in die er schließlich selbst hineinstürzt, um elendiglich darin zu verbrennen. Die Leichen müssen zu Dutzenden auf der Bühne umhergelegen haben, auf der Barrabas, der Jude Marlowe's gewüthet, und es gibt wol keine Todesart, die derselbe nicht angewandt hätte, um seine Opfer zu erreichen. Allein es ist ein menschlich verständlicher Grund zu diesen Wuthausbrüchen vorhanden, wenn es auch gerade nicht nöthig gewesen wäre, dieselben durch eine solche Massenmetzelei zu illustriren. Man hat ihm, weil er nicht Christ werden will, sein Hab und Gut genommen, sein Haus in ein Nonnenkloster verwandelt: und zuletzt verliert er auch seine Tochter Abigail, die ihm so lieb ist »wie Iphigenia Agamemnon war« –, sie bekehrt sich, nachdem ihre beiden christlichen Liebhaber durch des Vaters Anstiften einander umgebracht, zum Christenthum und wird Nonne. Badenstedt, Shakspeare's Zeitgenossen, III, 319 fg. –

Man sieht, daß es genau dieselben Motive sind, die Liebe zum Geld und die Liebe zur Tochter, welche Shakspeare in seinem Shylock aufgenommen. Aber wie ganz anders erscheint Shakspeare's Jude gegen Marlowe's Juden! Es ist nicht anzunehmen, daß Shakspeare die Juden mehr geliebt als sein dramatischer Vorgänger; aber er war der größere Dichter. Er fühlte, daß ein Gegenstand des moralischen Abscheus, wo dieser nicht durch einen wenn auch noch so geringen Zusatz der Theilnahme, hier des Mitleids, gemildert wird, niemals eine Figur für das Schauspiel werden kann. Er legt daher, aus ästethischen sowol als den höchsten ethischen Beweggründen, gleich zu Anfang das größte Gewicht darauf, in dem Juden Shylock uns den Menschen verstehen zu lernen, um erst daraus das Unmenschliche seines Beginnens erklärlich zu machen. »Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen? ... Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die will ich ausüben ...« Um ganz zu würdigen, was Shakspeare für seinen Juden gethan, muß man die beiden Quellen vergleichen, aus welchen er die Geschichte desselben genommen, die Novelle von Gianetto und Anselmo. aus dem » Pecorone« des Giovanni Fiorentino In englischer Übersetzung mitgetheilt bei Delius, in der Einleitung zum » Merchant of Venice«, S. II-VIII. und die Ballade » Gernutus, the Jew of Venice« aus Percy's » Reliques«. Die Novelle sowol als die Ballade geben Zug für Zug die geringsten Einzelheiten an, aus welchen Shakspeare, nachdem er sie mit dem Reichthum seiner dichterischen Kraft erfüllt, diesen Theil seines wunderbaren Dramas aufgebaut hat: die Freundschaft Antonio's und Bassanio's, die rettende Dazwischenkunft Porzia's, sogar die verliebte Neckerei mit dem Ring findet sich in der Novelle, während die Ballade (zu singen nach dem Tone »Schwarz und Gelb«) das genaue Vorbild der Gerichtsscene, speciell Shylock's Benehmen seinen Schuldnern gegenüber, enthält. Aber was in der einen und in der andern fehlt: das ist des Juden Tochter, Jessica! Sie ist des Dichters eigenstes Werk; durch diese Gestalt wird dem ganzen Vorgang, soweit er den Juden betrifft, ein neuer Inhalt gegeben. Wir sehen zuerst und vor allem nicht den Juden, nicht den Wucherer, nicht den hündischen, grausamen Mann in ihm, sondern den Vater, den tief gebeugten, den in seinen heiligsten Empfindungen verletzten Vater, dem das Einzige, was er außer seinem Geld liebte, seine Tochter geraubt wird, und zwar von einem derjenigen, die er am meisten haßt – von einem Christen.

– ich hab 'ne Tochter,
Wär' irgend wer vom Stamm des Barrabas
Ihr Mann geworden, lieber als ein Christ!

So groß ist diese Gewalt der Liebe zur Tochter, daß, indem ein Strahl derselben auf jene andere niedrige Liebe zum Geld fällt, auch diese in unserm Auge weniger gehäßig erscheint; daß da, wo beide zusammen auftreten, wir geneigt sind, die eine mit der andern zu entschuldigen, und tiefstes Mitleid, welches sogar die Schauer der Gerichtsscene überlebt, uns ergreift, als wir sehen, daß er beides verloren, die Tochter und das Geld. Das eine hat keinen Werth für ihn ohne das andere. »Der Fluch ist erst jetzt auf unser Volk gefallen«, ruft er, als er die Kunde von Jessica's Entführung vernahm; »ich hab' ihn niemals gefühlt, bis jetzt ... Ich wollte, meine Tochter läge todt zu meinen Füßen und hätte die Juwelen in den Ohren! Wollte, sie läge eingesargt zu meinen Füßen, und die Dukaten im Sarge!« ... Weit entfernt, in diesen Worten, wie Kreyßig will, einen Beweis dafür zu finden, daß dem Wucherer die Nationaltugend seines Stammes, das starke hingebende Familiengefühl, abgesprochen werde, redet es uns aus denselben vielmehr in seinen wildesten, verzweifeltsten Accenten an. Die furchtbare Oede des Todes gähnt ihm überall entgegen, mit nur Einem lichten Punkte, der ihn an das Leben fesselt: der Gier, sich zu rächen; diese jedoch wird ihm zur tragischen Schuld, infolge deren ihm auch das Letzte genommen werden soll, was er noch sein genannt, sein Vermögen. Nun gellt der erschütternde Schrei von seinen Lippen: »Nehmt mein Leben auch, schenkt mir das nicht« – und jetzt wird man wol begreifen, daß er »die anerkannte und sehr hoch zu stellende Nationaltugend seines Stammes« nicht verleugnet, weder »weil«, noch »obgleich« er ein Jude ist, sondern daß sie recht eigentlich den menschlich versöhnenden Zug bildet, ohne welchen ein Shylock im Sinne Shakspeare's überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Seine Grausamkeit verschwindet vor der größeren und unentschuldbarern seiner Richter; wir hören nur noch den Jammer seines mishandelten, seines in den Staub getretenen Herzens. »Als ich dieses Stück«, erzählt Heinrich Heine, »in Drurylane aufführen sah, stand hinter mir in der Loge eine schöne blasse Britin, welche am Ende des vierten Actes heftig weinte und mehrmals ausrief: The poor man is wronged! (dem armen Mann geschieht unrecht!) Es war ein Gesicht vom edelsten griechischen Schnitte und die Augen waren groß und schwarz. Ich habe sie nie vergessen können, diese großen und schwarzen Augen, welche um Shylock geweint haben!«

Wir wagen nun allerdings nicht zu glauben, daß die Wirkung auf Shakspeare's Zeitgenossen dieselbe gewesen wie auf Heine's »blasse Britin« des 19. Jahrhunderts; möchten sogar bezweifeln, daß Shakspeare selbst sie beabsichtigt. Sein Interesse für den Juden, so denken wir uns, mag anfangs ein rein pathologisches gewesen sein; allein es ward mehr, indem er sich mit ihm beschäftigte. Denn es war unmöglich, daß er sich in seinen Zustand versetzte, wie nur eben Shakspeare sich in eines andern Zustand versetzen kann, ohne daß er mit einem scharfen Gefühl das ganze Unrecht erkannte, welches ihm geschehen; ohne daß er mit der angeborenen Hoheit seines Geistes Partei genommen hätte gegen die Unterdrücker und für den Unterdrückten. Unwillkürlich wächst dieser aus der anfänglichen Niedrigkeit heraus zu der eigentlich großen und beherrschenden Figur des Stückes, während alle andern, mit Ausnahme von Vorzia, vor ihm wahrhaft zusammenschrumpfen. Es ist wahr, daß Shakspeare seinen Juden mit all den traditionellen Greueln des Mittelalters ausstattet, und daß er ihn, wie er noch in den Wahnvorstellungen seiner eigenen Zeit leben mochte, nach Christenblut lechzen läßt; allein dafür gibt er ihm eine bittere Art der Beredsamkeit, vor welcher kein Argument seiner Gegner Stich hält, eine Fülle schneidenden Witzes, welche – nicht das Christenthum, wohl aber die Bekenner desselben, die in diesem Stücke auftreten, mitten ins Herz trifft. Wer möchte, wenn er das Betragen dieser saubern Herrn untersucht, von christlicher Demuth oder christlichem Erbarmen reden? Es fehlte nur noch die letzte Consequenz, und der verachtete, der geschmähte Jude, wie er der eigentliche Held des Dramas geworden, wäre auch als Sieger aus demselben hervorgegangen. Allein diese Consequenz zu ziehen verbot dem Dichter vielleicht die Rücksicht auf das Publikum seiner Zeit, dem er ja auch sonst mannichfache Concessionen gemacht. Es wäre wenig nach dem Geschmack desselben gewesen und würde sicherlich nicht seinen Beifall gefunden haben, wenn der Jude, nachdem er den Proceß verloren, in einem höhern und moralischen Sinne dennoch recht behalten hätte. Viel populärer und verständlicher war die Moral der Ballade von »Gernutus dem Juden«, welche damit schließt, »alle Christenleut' insgemein« vor den Elenden zu warnen, »die mit ihrer Habgier und List uns zu fangen suchen und vor denen Gott der Herr uns beschützen möge, in Ewigkeit, Amen!.« Demgemäß überhäuft Shakspeare den gänzlich Gebrochenen mit Hohn, in welchen, wie wir uns vorstellen können, die »Gründlinge« des Blackfriar- und Globe-Theaters weidlich mit eingestimmt haben mögen; und läßt ihm am Ende die Wahl zwischen der Hälfte seines Vermögens und seinem Glauben. Was Shakspeare persönlich über Proselytenmacherei gedacht, hat er dem Spaßmacher seines Stückes, Lanzelot Gobbo, in den Mund gelegt: »Dies Christenmachen wird den Preis der Schweine steigern; wenn wir alle Schweinefleischesser werden, so ist in kurzem kein Schnittchen Speck in der Pfanne für Geld mehr zu haben.« Allein das Publikum zu Anfang des 17. Jahrhunderts mochte wol anders denken, und Shylock wird Christ. Dadurch verwirkt er, als Jude, mit Einem Schlag alle die Sympathien, die wir ihm als Menschen bisher geschuldet; indem der Vergewaltigte sich so tief demüthigt, den Glauben der Vergewaltiger zu bekennen, hebt er alle Prämissen auf und sinkt in eine Niedrigkeit zurück, die größer ist als die, aus welcher er sich anfänglich erhoben. Das war der wahre Jude nicht mehr – er, der eben um jene Zeit, in Spanien und Portugal, mit dem Lobe seines Gottes auf den Lippen, lieber als ihm entsagen, den Scheiterhaufen der Inquisition bestieg oder diesem nur entgehen konnte, indem er in fremde Länder wanderte zu einem freudlosen Exil.

Diesen Juden, der mehr noch als seine Dukaten, ja mehr noch als sein Kind, seinen Gott liebte, den Gott seiner Väter, den Gott Abraham's, Isaak's und Jakob's – den kannte Shakspeare nicht, oder wenn er ihn gekannt, so durfte er ihn seinen Zeitgenossen nicht zeigen. Allein nicht fünfzig Jahre später, und England sollte ihn sehen!

*

2.

Dieser Jude war Menasseh den Israel Kayserling, Menasseh den Israel. Sein Leben und Wirken (Berlin 1861.), S. 54., ein Gottesgelehrter aus Amsterdam.

England war durch die furchtbare Prüfung des Bürgerkrieges gegangen, Karl I. auf dem Schaffot gefallen und Oliver Cromwell stand auf der Höhe seiner kurzen, aber für alle Zukunft entscheidenden Laufbahn, die gleichsam mit einem scharfen Strich das Mittelalter von der neuen Zeit trennt. Er, als der erste fast, sprach diese beiden Worte aus, deren Echo nie mehr gänzlich verhallen sollte: Gedankenfreiheit und Toleranz. Sein Kampf gegen die dunkeln Mächte der Geistesknechtschaft und des Gewissenszwangs, gegen das Papstthum und dessen weltliche Verbündete mag ihn zu harten Mitteln genöthigt haben; aber seitdem wir Aehnliches in unserer eigenen Zeit erlebt, seitdem wir unsere Feinde, die auch die seinigen waren, aufs neue kennen gelernt, werden wir ihm aus seiner Härte keinen Vorwurf mehr machen können. Denn ihm entsprach ein großes Herz für die Heiligthümer der Menschheit und eine starke Hand für alle, die um ihretwillen bisher gelitten hatten. Der Gedanke seines Reiches war der eines Gottesreiches, in welchem kein Platz war für die Verfolger; aber die Verfolgten fanden in ihm allezeit das, was der einzige Titel, den er annehmen wollte, besagte: den Protector!

Der Ruhm dieses Gewaltigen, dessen Erscheinung in den Augen seiner biblisch geschulten Zeitgenossen etwas Messianisches haben mußte, drang auch übers Meer zu den Juden, welchen seit nunmehr bald 400 Jahren die Küsten Englands gesperrt waren; und einer derselben, Rabbi Menasseh den Israel, faßte den kühnen Entschluß, ihre Wiederzulassung bei Cromwell zu betreiben. In Portugal geboren und einer Familie angehörig, welche, von der Inquisition verfolgt, ihr Heimatsland verlassen hatte, war Menasseh schon als Kind nach Amsterdam gekommen und hier, nachdem er seine Studien vollendet, in der jüdischen Gemeinde Rabbiner und Talmudlehrer geworden – auch Spinoza war sein Schüler. Das aufsteigende Gestirn Cromwell's erregte seine Aufmerksamkeit, und als er die Zeit gekommen glaubte, trat er mit seinem Plane hervor, dessen Ausführung durch die bekannte, in den damals herrschenden Independentenkreisen weitverbreitete Vorliebe für das Alte Testament wesentlich begünstigt ward. Nach mehrern Schritten einleitender und privater Natur that Menasseh ben Israel endlich im Jahre 1650 den ersten öffentlichen, indem er sich mit einer Bittschrift in Sachen der Juden ans Parlament wandte.

So sehen wir denn, so früh schon und von diesem ersten Punkte an, die Frage auf den politischen Boden gehoben, welchen sie fortan auch, bis zu ihrer gänzlichen Lösung in unserm eigenen Jahrhundert, immer behauptet hat. Es war im Jahre 1653, wo sie, auf Veranlassung einer erneuten Petition Menasseh's, im englischen Parlament unter lebhaften Debatten zum ersten mal zur Sprache kam, und im nächsten Jahr erging an den Rabbi von Amsterdam, der sich inzwischen persönlich an den Lord-Protector gewandt, auf diplomatischem Wege eine Einladung, infolge deren er nach London reiste und dort als »Abgesandter der jüdischen Nation« erschien. Er ward mit der größten Auszeichnung behandelt und von Cromwell in feierlicher Audienz in Whitehall empfangen, um diesem eine Schrift zu überreichen, welche die Wünsche der Juden zusammenfaßte und den Titel führte: »An Seine Hoheit, den Lord-Protector des Gemeinwesens von England, Schottland und Irland: die unterthänige Adresse des Menasseh ben Israel, eines Gottesgelehrten und Doctors der Physik, im Namen der jüdischen Nation«. Im Jahre 1868 ward in Melbourne (Australien) ein Wiederabdruck dieser Adresse veranstaltet, von welchem uns ein Exemplar vorliegt. Cromwell nahm die Adresse huldvoll entgegen und suchte die darin vorgetragene Sache nach Kräften zu fördern.

Allein es fehlte nicht an einer sehr heftigen Opposition, namentlich von seiten der presbyterianischen Geistlichkeit, welche Cromwell soviel als möglich zu schonen allen Grund hatte, und der Kaufmannschaft, welche in der Rückkehr der Juden nach England eine Beschädigung ihrer Interessen erblicken mochte. Man suchte das uneigennützige und hochherzige Wohlwollen, welches Cromwell den Juden bewies, auf das unlautere Motiv einer Geldspeculation zurückzuführen, als ob er sich mittels ihrer Reichthümer aus finanziellen Verlegenheiten habe ziehen wollen. So sagt Abraham Cowley, ein zeitgenössischer Royalistenschriftsteller in seinem »Discours über die Regierung Oliver Cromwell's«, nachdem er von der Schuldenlast des Protectorats gesprochen: »Der andere Plan, um eine verfügbare Summe Geldes zu erheben, welchen er leidenschaftlich verfolgte, doch nicht ausführen konnte, war die Zurückberufung und Wiederzulassung der Juden in London ... und zu diesem Zweck kam er, wie man sagt, auf den Einfall, ihnen St.-Paul's als Synagoge zu verkaufen, wenn ihre Börsen und ihre Frömmigkeit für den Handel groß genug wären. Und wenn er es nur gethan hätte, um die Nation zu belohnen, welche das erste noble Beispiel gegeben, ihren König zu kreuzigen, so möchte es noch einen Anschein von Dankbarkeit gehabt haben; aber er that es nur aus Liebe zu ihrem Mammon.« Dieses gehässige Gerücht, welches man damals als ein Agitationsmittel gegen die judenfreundlichen Bestrebungen Cromwell's in Umlauf setzte und seitdem als Beschuldigung gegen seinen Charakter unzählige male wiederholt hat, hatte nichts Unglaubliches, wenn man erwägt, daß um die Zeit, wo es verbreitet ward, die Kathedralkirche von London als ein Pferdestall benutzt ward Carlyle, Oliver Cromwell's Letters and Speeches (Tauchnitz-Edition, II, 136): » Paul's Cathedral, we remark, is now a Horseguard; horses stamp in the Canons' stalls there.« und daß (während des Seekriegs mit den Niederlanden) mehrfach Gesetzesvorschläge ins Parlament eingebracht wurden, welche die Regierung, ermächtigen sollten, einige Kathedralen auf den Abbruch öffentlich zu versteigern. Guizot, Histoire de la Révolution d'Angleterre, III, 295: » Des bills furent aussi proposés pour la vente des forèts royales et même de quelques cathédrales, qu'on se proposait de démolir.« Allein Cromwell hatte mit diesen Dingen so wenig zu thun als die Juden, und Menasseh ben Israel widerlegte sie ganz direct in seiner Schrift zur Ehrenrettung der Juden ( Vindiciae Judaeorum), indem er ausdrücklich bemerkt: Deutsch von Moses Mendelssohn, in dessen »Gesammelten Werken« (Leipzig, 1843), III, 218. »Es ging z. B. allgemein die Rede, daß unsere Nation die St.-Paulskirche gekauft habe, um sie zu ihrer Synagoge zu machen ... So sind noch mancherlei andere Dinge von uns erzählt worden, die uns nie in den Sinn gekommen ...« Dagegen ward von Harrington, den wir als Gründer des ersten politischen Clubs, des Rota-Clubs in einem vorhergehenden Abschnitt kennen gelernt, allen Ernstes in seiner »Oceana« der Vorschlag gemacht, das Königreich Irland an die Juden zu verkaufen, um England auf diese Weise zugleich von seiner Staatsschuld und von Irland zu befreien. Allein die Juden würden viel zu gute Geschäftsleute gewesen sein, um auf einen solchen Antrag einzugehen, selbst wenn er ihnen gemacht worden wäre. Neben diesen kleinlichen Insinuationen fehlten auch nicht Stimmen, um die alten Märchen von den gemordeten Christenkindern wieder vorzubringen, welche dem englischen Volk aus seinen Balladen noch so wohl bekannt waren. Unermüdet aber während seines mehrjährigen Aufenthaltes setzte Menasseh den Israel den einmal begonnenen Kampf gegen Uebelwollen und Vorurtheil fort, gleichsam Aug' in Auge mit seinen Widersachern. Wol sollte er das große Ziel, das er sich vorgesetzt, nicht erreichen: die Zurückberufung der Juden mittels Parlamentsbeschlusses. Für eine solche Maßregel, welche das Princip der Judenemancipation anerkannt hätte, war die Zeit noch nicht gekommen. Doch war das Wort gesprochen worden, um nach allen Niederlagen immer und immer wieder aufgenommen zu werden, bis zu seiner endlichen Erfüllung. Der Widerstand, der sich damals noch von allen Seiten heftig erhob, machte Cromwell bedenklich. Er berief einige der angesehensten Persönlichkeiten der Geistlichkeit und des Richterstandes zu einer Conferenz in die Empfangssäle von Whitehall, gewissermaßen um die Stimmung zu sondiren, bevor er mit der Angelegenheit vor das Parlament trete. Nur spärliche Nachrichten haben sich über diese denkwürdige Versammlung erhalten; so viel aber wissen wir, daß Cromwell sich der Juden mit dem wärmsten Eifer angenommen, und ein Ohrenzeuge sagt, daß er niemals einen Mann so gut habe reden hören, als der Protector bei dieser Gelegenheit geredet habe. Dabei blieb es jedoch; Cromwell hatte sich überzeugen müssen, daß ein Gesetzesbeschluß nicht durchzubringen, und entschied sich daher für den praktischen Weg der stillschweigenden Duldung, den Juden überlassend, auf dem ihnen also wiedergegebenen, freilich noch unsicheren Boden in der Zukunft durch eigenes Bemühen sich bessere und dauerndere Rechte zu erwerben. Was er persönlich zu Gunsten der Juden und des ehrwürdigen Vorfechters ihrer Interessen thun konnte, das hat er gethan. Er zeichnete den Rabbi Menasseh dadurch aus, daß er ihm unter dem großen Staatssiegel eine Pension verlieh, und ließ von der Universität Oxford, als Kanzler derselben, des Rabbi gelehrten Sohn, Samuel ben Israel, zum Doctor machen – der erste und bis jetzt einzige Fall, daß man einem Juden in England die viereckige Doctorenkappe, den goldenen Ring und den Friedenskuß gegeben.

So kehrten, von den Königen vertrieben, die ersten Juden unter der Republik wieder nach England zurück, allerdings nicht auf Grund eines Gesetzes, sondern nur auf Grund der ihnen von Cromwell zugestandenen Toleranz; allein diese schien, in Ermangelung jenes, ausreichend zu sein, wie aus einer Bemerkung des englischen Diaristen Evelyn unzweifelhaft hervorgeht, welcher unter dem 14. December 1655, nach der letzten Sitzung der Conferenz in Whitehall, folgende Worte in sein Tagebuch eintrug: »Nun sind die Juden zugelassen worden.«

Mit dieser Aussicht für sein Volk und mit hohen Ehren für sich kehrte Menasseh ben Israel im Jahre 1657 nach Holland zurück, doch sollte er sein Haus in Amsterdam nicht Wiedersehen; er starb nach der Landung in Middelburg und ward auf dem jüdischen Gottesacker in Oudekerk begraben. Die Inschrift seines Leichensteins Ich verdanke die Mittheilung obiger Grabschrift und die Uebersetzung derselben der Güte des Herrn Dr. M. Wiener in Hannover, welcher sie der von de Castro veranstalteten Sammlung alter Epitaphien jenes Friedhofs entlehnt hat. lautet:

Der ruhmgekrönte Menasseh ruht zwar verborgen unter mir,
Doch durch den Griffel von Eisen und Blei (d. h. durch die Buchdruckerkunst)
Ist er in der ganzen Welt als Glanz und als Zierde bekannt,
Da seine Werke seinem Haupte als Krone dienen.

Unter diesen hebräischen Zeilen steht in spanischer Sprache: »Er ist nicht todt, sondern lebt in des Himmels Höhen in heiligem Schmucke; hier auf Erden aber sind seine Leistungen zum ewigen Angedenken geblieben.« Rings um den Stein steht dann noch in hebräischer Sprache: »Grab des ausgezeichneten Gelehrten Menasseh ben Israel, welcher starb am 14. Kislew 5418 (d. i. am 20. November 1657).

Als zwei Jahre später sein mächtiger Freund und Beschützer Cromwell in einer stürmischen Septembernacht ihm in das stille Land folgte, nach welchem er sich unter der Last des auf ihm ruhenden Werkes so oft gesehnt, da fanden die Juden in London sich schon ruhig angesiedelt, theils in Bevis-Marks (Aldersgate), theils in und um Duke's Place, noch heut ausschließlich von Juden bewohnt, und der Platz ihrer großen Synagoge. Noch unter Cromwell, im Jahre 1657, hatten sie einen Ort zur Bestattung ihrer Todten in Stepney erhalten – genau da, wo heute ihr Hospital steht. In demselben Jahre errichteten sie ihre Synagoge in Kingstreet, in der Nähe von Duke's Place. Sieben Jahre später stifteten sie ihre erste mildthätige Gesellschaft zum Studium des Gesetzes und zur Pflege von armen jüdischen Kindern, und zehn Jahre später war ihre Zahl so beträchtlich gewachsen, daß sie in der Person des großen Talmudisten Jakob Sasportas, welcher schon mit Menasseh den Israel herübergekommen war, ihren ersten Rabbiner wählten. Bisher hatten sich nur portugiesische Juden in London niedergelassen; nun kamen auch deutsche, bildeten bald eine Gemeinde und schon im Jahre 1692 errichtete ein ebenso frommes als reiches Mitglied, Moses Hart, Bruder des ersten Rabbiners derselben, auf eigene Kosten eine Synagoge in Duke's Place, an der Stelle, auf welcher ihr hundert Jahre später, 1791, die noch heute daselbst stehende Synagoge folgte, welche die größte in London und der officielle Sitz des »Land- und Seerabbiners« von England ist.

Der Traum eines Gottesreichs, welches seinen Richter und Führer in Cromwell, dem Protector, und seinen heiligen Sänger in Milton, dem Dichter des verlorenen und wiedergewonnenen Paradieses gehabt hatte, war nach zehnjähriger Dauer vergangen und ihm folgten nun, wie in der Bibel, die Könige.

Die Stuarts, als sie nach England zurückkehrten, fanden die Juden dort angesiedelt, und da sie von ihnen nur profitiren konnten, so vertrieben sie sie auch nicht wieder daraus. Es ging ihnen damals in England nicht besser und nicht schlechter als in den meisten andern Ländern.

Die Geldgeschäfte florirten zwar, besonders in den Tagen der Restauration und König Karl's lustiger Hofhaltung, deren Kosten zumeist durch jüdische Darlehen bestritten wurden. Profitabel mochte das für die Negocianten von Duke's Place sein; viel Ehre hatten sie nicht davon. Je mehr man ihnen zu verdienen gab, desto mehr glaubte man sich im Recht, sie übel zu behandeln. Da man ihnen ihr Vermögen nicht mehr geradezu nehmen konnte wie in den einfacheren Zeiten der Plantagenets, so schmeichelte man ihnen, wenn man es gebrauchen wollte, und machte sich lustig über sie, wenn man es gebraucht hatte. Wie Ludwig XIV. »seinen Juden« Samuel Bernard in den Gärten von Versailles spazieren führte, wenn er einen Angriff auf seine Kasse meditirte, so machte die Herzogin von Mazarin, nachdem sie in Knabenkleidern aus Frankreich entflohen und in London angekommen war, immer erst einen Angriff auf das Herz »ihres Juden« Moses, wenn sie Geld nöthig hatte. Saint-Evremond, ihr Vertrauter und ihr Freund, schrieb seiner schönen Gebieterin, der er eine platonische Neigung widmete, während sie in dem Schlosse Karl's II. wohnte: »Moses hat mich die Hälfte des Wegs zu Fuß gehen lassen, indem er von Ihnen in einer Weise sprach, daß unter den achthundert Frauen Salomo's nicht eine sei, welche Ihrem Geist, Ihrer Schönheit und Ihren Reizen gleichkäme. Um alles zu sagen: wenn er der Meister des Ladens ist, so werden wir gute Einkäufe machen.« Aber wie ein anderer von den Landsleuten der schönen Herzogin gesagt: »Es ist weit angenehmer zu borgen als wiederzubezahlen.« Man nahm ihr Geld zu hohen Zinsen und hielt sich hernach schadlos, indem man sie Wucherer und Betrüger schimpfte; man half ihren Reichthum vermehren und belegte ihre Person mit dem Makel der Anrüchigkeit, wobei man freilich nicht bedachte, daß »da, wo Reichthum ist, Macht unvermeidlich folgen muß«.

Weil man in der ritterlichen und galanten Vergangenheit wenig von den Geschäften mit Geld hielt und diese Geschäfte in der That auch nur einen kleinen und nicht selten niedrigen Charakter hatten, so ließ man es sehr gern geschehen, daß die verachtete Rasse sich derselben vorzugsweise wieder bemächtigte. Jedoch mußte der Einfluß und die Stellung derselben sich heben, sobald die Geschäfte selber aus ihrer bisher so niedrigen Sphäre sich hoben, sobald sie an Großartigkeit zunahmen, sobald sie anfingen, in den staatlichen Organismus einzugreifen und demselben eine neue Kraft zuführten, welche dem Kapital den ihm von Rechts wegen zustehenden Antheil an den Geschicken des Staats einräumte und in jenen Kindertagen der Nationalökonomie das Verhältniß beider, des Staats zum Kapital, zu regeln suchte, wie man heute, auf einer viel fortgeschrittenem Stufe derselben, das Verhältniß von Kapital und Arbeit zu regeln sucht. Das Kapital war damals eine Macht, die um ihre Anerkennung nicht weniger zu kämpfen hatte als gegenwärtig die Arbeit: aber einer der ersten, welcher, zu seinem größten Vortheil, dem Kapital diese Anerkennung nicht versagte, war Marlborough, der große General.

Es ist wahr, daß »der Schlag jenes wunderbaren Pulses, welcher durch fünf Menschenalter fortgefahren hat, die Veränderungen des politischen Körpers anzuzeigen«, sich schon im Jahre 1692 zum ersten mal hatte vernehmen lassen, mitten in jenem langwierigen Kriege, welcher, um Frankreich zu bereichern, die Länder des Continents verwüstete; und daß er zum andern mal klopfte im Jahre 1699, dicht vor dem Ende des Jahrhunderts und dem Beginn jenes noch langwierigern Kriegs um die spanische Erbschaft. Aber dennoch war der große Mann, den wir genannt haben, Marlborough, englischer Herzog und deutscher Reichsfürst, wenn nicht der erste, der mit kühnem Feldherrnblick den Zusammenhang zwischen der Weltlage und dem Geldmarkte bemerkte, der erste jedenfalls, welcher der Ausbeutung desselben jene weiten Bahnen öffnete, in der sich die Speculation seitdem hauptsächlich bewegt hat und heute noch bewegt. Aktiengesellschaften gab es im Jahre 1692, und die ersten Zeitgeschäfte wurden, nach Macaulay, schon im Jahre 1694 gemacht; allein der Handel mit Staatspapieren konnte doch erst mit den Staatsschulden aufkommen, und für die letztern sorgte der spanische Successionskrieg. Die englische Schuldenlast z. B., welche im Jahre 1689 wenig über ½ Million betrug und jetzt allerdings einige 750 Millionen beträgt, war am Ende des Erbfolgekriegs, 1713, schon zu der respectabeln Höhe von 53 Millionen angewachsen. In diese Eventualität griff Marlborough mit geschickter Hand ein, und indem er dem Geschäft den Factor gab, der bis auf den heutigen Tag dessen eigentlicher Stamm und Stock geblieben, kann man den Herzog wol den Urheber der neuen Börse nennen, auf welcher jetzt täglich, wie F. C. Schlosser sagt, »in allen großen Städten das Schicksal Europas gekauft und verkauft wird«, wiewol man zu des Herzogs Ehre hinzufügen muß, daß man ihn nicht wohl auch als den eigentlichen Urheber des » stock-jobbing« bezeichnen darf. Johnson sagt in seinem Wörterbuch, daß dieses Wort keine Etymologie habe; aber wir finden es schon vor 200 Jahren gebraucht als ein » cant«-Wort, und » jobbery« war damals – ironisch genug, wenn man an das spätere Schicksal des Ausdrucks denkt – gleichbedeutend mit – » robbery« (Räuberei). Das Wort in seiner heutigen Anwendung begegnet uns in einer 1693 aufgeführten Komödie von Shadwell: » The volunteers or the stock-jobbers«, und Macaulay rügt es daher als einen Irrthum, daß man erst der Nationalschuld die Existenz des Stockjobbing zuschreibe, während letzteres der erstern doch um viele Jahre vorausging, um sich derselben dann freilich, sobald sie ins Leben getreten, mit aller Macht im eigenen Interesse zu bedienen.

Inzwischen hatte sich die Stellung der Juden in England einigermaßen verbessert, namentlich seit dem Regierungsantritt Wilhelm's III. Machado war sein Günstling, und ein anderer Jude, Namens Suasso, hatte ihm zu seiner Expedition nach England die Summe von 2 Millionen mit den Worten vorgeschossen: » Si vous êtes malheureux, je consens de les perdre« – eine Handlung, deren Hochherzigkeit von Friedrich dem Großen in seinen » Mémoires de Brandebourg« rühmend hervorgehoben wird. Vgl. Grätz, Voltaire und die Juden, in Frankel's Monatsschrift (1868, Maiheft), S. 214. Da Wilhelm glücklich war, so läßt sich denken, daß er auch dankbar war. So bemerkt denn auch schon der » Voyageur en Angleterre«, welcher England im Jahre 1698 besuchte: »Die Juden von London (und ich weiß nicht, ob es ihrer in England anderswo noch gibt), haben allmählich aufgehört, den gelben Hut zu tragen, welchen sie ehemals zu tragen verpflichtet waren, und gegenwärtig tragen sie gar kein Abzeichen mehr.« In Deutschland dauerte diese Verpflichtung für die Juden noch weit ins folgende Jahrhundert hinein; in Frankfurt a. M. z. B. hob erst Kaiser Karl VI. sie auf.

Es war ungefähr um diese Zeit, daß sich eine Manie der Köpfe bemächtigt hatte, die wir inzwischen in mancherlei Gestalt selber kennen zu lernen Gelegenheit gehabt haben: der Gründungsschwindel!

In Paris hatte sich ein schottischer Abenteurer Namens John Law etablirt und eine Gesellschaft auf Actien, die sogenannte »Indische Compagnie«, gegründet, um ein Handelsmonopol mit den Mississippiländern auszubeuten. Der Schwindel ist immer von ansteckender Natur, und bald war ganz Paris, ganz Frankreich davon ergriffen. Die Actien stiegen auf den zwanzigfachen Preis ihres ursprünglichen Werths, und der chimärische Werth derselben überstieg (vgl. Voltaire, Siècle de Louis XV) alles Geld, welches damals in Frankreich circuliren konnte, um das Achtzigfache. In der Rue Quincampoix, dem hauptsächlichen Schauplatz dieses Handels, drängte sich von Tagesanbruch an ein ungeduldiger und geschäftiger Haufe, welcher keinen andern Hunger als den nach Gold zu kennen schien, die regelmäßigen Mahlzeiten verpaßte und selbst des Nachts nur entfernt werden konnte, nachdem eine Glocke das Signal zum Schluß des Geschäfts gegeben. Das kleinste Zimmer in dieser Straße ward für enorme Summen vermiethet, die Commis waren nicht im Stande, die Namen der Kauflustigen so rasch zu notiren als diese sich herzudrängten, und Lord Mahon erzählt in seiner »Geschichte von England«, daß ein kleiner Krüppel in dieser Straße nicht weniger als 50 000 Francs machte, indem er den eifrigen Speculanten seinen – Buckel vermiethete, auf welchem dieselben ihre Contracte zeichneten.

Aber dieser Krüppel sollte der einzige sein, welcher bei all diesen ungeheuerlichen Speculationen reich wurde; denn wie der noble Geschichtschreiber, den wir genannt haben, sagt: »Obgleich die Posse zuerst kam, so war doch eine Tragödie dahinter.«

Das Ende fing damit an, daß es am Mississippi überhaupt gar keine Länder gab, nach welchen Handel getrieben werden konnte; aber noch bevor diese Entdeckung gemacht worden war – denn in jener Zeit gab es bekanntlich weder Dampfschiffe noch Telegraphen – hatte sich die Krankheit schon nach England verbreitet, nur mit dem Unterschiede, daß sie hier noch tiefer in das eigentliche Volk, und noch directer hinauf, in die Regierungskreise, ja bis an den Thron selber ging, welchen fünf Jahre zuvor Georg I. bestiegen, ein guter Hauswirth und sorgsamer Paterfamilias, soweit nämlich die hohen Procente in Betracht kamen. Diese ließen bei der neuen Unternehmung, welche sich »Südsee-Gesellschaft« nannte, in der That nichts zu wünschen übrig; die Actien, welche im Winter 130 gestanden hatten, standen im folgenden August auf 1000! Das Unglück war nur, daß die Reichthümer der Südsee, auf welche die englische Gesellschaft speculirte, womöglich noch weniger existirten als die Reichthümer am Mississippi, welche John Law monopolisirt hatte. Der Zusammenbruch geschah denn auch fast gleichzeitig (1720) und der Schlag war furchtbar in beiden Ländern. In Paris schrie der Pöbel nur nach dem Kopfe John Law's, und dieser rettete sein Leben durch die Flucht; in London aber gellte der Ruf: »Der Schwindel des Prinzen von Wales!« durch Change-Alley und die Corridore des Börsengebäudes. Man verlangte Blut und Confiscation; ein Aufruhr drohte, die Maitressen des Königs wurden verfolgt – das Parlament ordnete eine Untersuchung an, aber Tausende von bisher wohlhabenden Familien waren ruinirt.

Wie der Schuhflicker in Frankreich, so hatten auch in England nur zwei Männer in dem allgemeinen Zusammensturze gewonnen: ein Minister und ein Jude. Der Minister war Robert Walpole, welcher seine Actien, als sie 1000 standen, mit den Worten verkaufte: »Ich bin zufrieden«; und der Jude war Samson Gideon, der Sohn eines westindischen Kaufmannes.

Samson Gideon hatte sich nicht bereichert in einem Feldzug wie Malborough, oder mit einer Speculation wie Walpole: er hatte den langsamern Weg gewählt. Er hatte keinen Vortheil aus den Verlusten der andern gezogen, gleich dem Minister; mit Ausnahme dieses einen Vortheils: daß er nämlich lernte, wie man dergleichen Operationen nicht machen soll. Er hatte in der Südseeaffaire und den hundert andern Schwindelgeschäften, die damit zusammenhängen, die hohe Schule durchgemacht, und die Erfahrungen, die er darin erworben, sollten ihm bald zugute kommen. Ein ehrlicher, ehrenhafter und ein gescheiter Mann, wußte er sich mit Robert Walpole zu befreunden, welcher tolerant genug war, um sich in den finanziellen Verwickelungen, mit denen er fast immer zu thun hatte, der Hülfe eines Juden zu bedienen. Eine der hauptsächlichsten Einnahmequellen für den Staat waren in jenen Tagen noch die Klassenlotterien, und in diesem Zweige war es, daß Samson Gideon, protegirt von dem Minister, den Grund seines nachmaligen Reichthums legte. Den Meisterstreich aber machte er im Jahre 1745, wo der große Jakobitenaufstand die britische Welt, namentlich Kaufmannswelt, in die höchste Bestürzung versetzte. Karl Eduard, der letzte Stuart, war auf einer von den schottischen Inseln gelandet, hatte die Clans unter die Waffen gerufen, hatte seinen Vater, den Prätendenten, unter dem Namen Jakob's III. als König von Großbritannien und Irland proclamirt, und war nun mit seiner Armee von Hochländern auf dem Marsche nach London, nur noch wenige Meilen von der Hauptstadt entfernt. Die Panique an der Börse war allgemein, die Fonds fielen mit unglaublicher Schnelle, und jeder wollte um jeden Preis verkaufen. Samson Gideon war fast der einzige Mann, welcher den Kopf nicht verlor. Anstatt zu verkaufen verwendete er jedes Pfund, das er besaß oder borgen konnte, um zu kaufen. Dies war im Monat November. Während der folgenden Monate schwankte die Stimmung zwischen Furcht und Hoffen. Ende April des Jahres 1746 endlich kam die Nachricht von der Schlacht bei Culloden, von der gänzlichen Niederlage der Insurgentenarmee, von der Flucht des Prinzen, von der siegreichen Unterdrückung der Rebellion durch den Herzog von Cumberland. Nun begann Samson Gideon zu verkaufen, und in kurzer Zeit fand er sich im Besitze von etwas wie einer Viertelmillion, einer Summe, welche sich im Laufe der folgenden vierzehn oder fünfzehn Jahre vervierfachte. Während der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war Samson Gideon eins der größten, wenn nicht das größte Haus der City von London, besonders ausgezeichnet und verdienstvoll – nicht blos für eigene Rechnung, sondern für das allgemeine dauernde Beste – durch die Beförderung des Versicherung- und Rentenwesens. Allein Gideon's Ehrgeiz culminirte in dem Bestreben, ein englisches Haus zu begründen. Er sei zu alt, sagte er, seinen Glauben zu wechseln; aber er ließ seine Kinder taufen, und sein ältester Sohn ward durch Walpole's Vermittelung in seinem elften Jahre sogar zum Baronet gemacht. Der würdige Mann gab sich besondere Mühe, den präsumtiven Thronfolger seines Hauses in der neuen Religion recht fest zu machen, und einst versuchte er ihn über die Hauptpunkte derselben zu katechisiren. »Wer hat dich erschaffen?« war seine erste Frage. »Gott!« antwortete der Knabe. »Wer hat dich erlöst?« fragte er weiter, ohne daß sein Gewissen ihm dabei Schwierigkeiten machte. »Jesus Christus«, war die Antwort. Aber was war die Dritte Frage? Gideon konnte sich nicht besinnen, was er drittens fragen solle. »Wer ... wer ... wer ...« stotterte er, und da ihm absolut nichts Besseres einfallen wollte, so fragte er: »Wer hat dir diesen Hut gegeben?« Der junge Katechumen Samson Gideon jur., Baronet von England, war seiner Sache sicherer als sein Vater: »der Heilige Geists erwiderte er. H. R. F(ox) B(ourns), The merchant princes of England (»London Society«, 1866, Bd. 9).

Gideon sen. starb im Glauben seiner Väter 1762. Er hinterließ als Erben seines Ungeheuern Vermögens einen Sohn und eine Tochter, und außerdem an Legaten die beträchtliche Summe von etwa 100 000 Thalern, welche zu gleichen Theilen an jüdische und christliche Wohlthätigkeitsanstalten und Arme vertheilt werden sollte. Es scheint, als ob er es auch auf dem Todtenbette noch mit keiner von den beiden Confessionen verderben wollte. »Gideon ist todt«, heißt es in dem Briefe eines Zeitgenossen, »und sein Nachlaß ist mehr wert als das ganze Land Kanaan.«

Samson Gideon gehörte zu dem Theile der Juden, welche sich unter dem Namen der »Sephardim« oder »portugiesischen« Juden gegenwärtig nur noch in einigen ziemlich unwesentlichen rituellen Dingen (z. B. Aussprache des Hebräischen) von den »Aschkenesim«, den »deutschen« oder »polnischen« Juden unterscheiden. Die portugiesischen Juden, unter den veredelnden Einflüssen des sonnigen Südens und jahrhundertelang im freundlichen Verkehr mit den hochgebildeten Mauren und den ritterlichen Spaniern, machten gleichsam den Adel des jüdischen Volkes aus, dessen Schönheit, Wissenschaft und Poesie sie bewahrten, und als sie vor der Inquisition flohen, ins zweite Exil mitnahmen, während der andere Zweig der Juden, zahlreicher und unternehmender als jener, nach seiner Wanderung durch die weniger cultivirten Länder des Nordens und seinem Aufenthalt unter den rauhern Bevölkerungen von Rußland, Polen und Deutschland die Spuren des leiblichen und geistigen Druckes mitbrachte. Zu sagen, daß diese beiden Zweige zwei Sekten wären, würde zu viel sein, obwol sie sich früher beinahe so betrachtet haben. Gegenwärtig existirt das beste Einvernehmen zwischen ihnen, in London und anderswo; doch noch vor dreißig, vierzig Jahren herrschte die bitterste Animosität zwischen den beiden Synagogen, von denen die portugiesische sich für viel vornehmer hielt und der Mehrzahl ihrer Angehörigen nach in der That wol auch war, als die deutsche, und eine Heirath zwischen Mitgliedern der einen und der andern ward für ein Familienunglück gehalten. Nirgends scheint diese Trennung schärfer hervorgetreten zu sein und endlich eine vollständigere Trennung hervorgebracht zu haben, als in England. Denn nur zu geneigt waren diese »Sephardim« oder »Kinder Israels«, vielleicht getrieben von einem Gefühle der Abneigung gegen ihre minder bevorzugten Brüder, sich von dem Glauben ihrer Väter abzuwenden, um in einer auch gesellschaftlich anerkannten Stellung den Adel geltend zu machen, als dessen Träger sie sich betrachteten. »Sie hatten niemals«, sagt der Right Hon. Benjamin D'Israeli in dem edeln und einfachen biographischen Denkmal, welches er seinem Vater, dem verdienten Forscher und Antiquar Isaak D'Israeli gesetzt, – »sie hatten niemals die Küsten des Mittelländischen Meeres verlassen, bis Torquemada sie aus ihren schönen Palästen und reichen Besitzungen in Aragonien und Andalusien und Portugal vertrieb, um größere Segnungen als selbst eine klare Atmosphäre und eine glühende Sonne, in den Marschen von Holland zu suchen.«

Es unterliegt keinem Zweifel, daß viele von den großen und angesehenen Familien der zweiten jüdischen Einwanderung, von Cromwell's Zeiten an, zu diesem portugiesischen Zweig gehörten; obwol es ebenso sicher ein Irrthum ist, wenn der Right Hon. D'Israeli sagt, daß alle von ihnen Sephardim gewesen, und daß sie ihre Synagoge den »Hebräern des nördlichen Europas, welche sich damals gelegentlich nach England hereinstahlen, als einer niedrigern Kaste« verschlossen hätten. Wie wir weiter oben gesehen haben, ward schon im Jahre 1692 von den deutschen Juden eine Synagoge auf Duke's Place gebaut; und wenn die Portugiesen ihnen im Anfang auch der Zahl, der Bildung und dem Range nach überlegen gewesen sein mögen, so hat sich doch schon im Laufe des 18. Jahrhunderts das Verhältniß der beiden Zweige der jüdischen Gemeinschaft in England durchaus zum Nachtheil des portugiesischen entschieden, nachdem ihre großen Familien ihnen untreu geworden: die Villa Real's, »welche Reichthümer an diese Küsten brachten, fast so groß als ihr Namen, obgleich dieser nur der zweite in Portugal ist, und welche sich zweimal mit der englischen Aristokratie verbunden haben«; ferner die Medinas, die Laras und die Mendez da Costas, von welcher letztern Familie jedoch ich Mitglieder in London gekannt habe und in Manchester kenne, die ihre Religion nicht gewechselt haben. –

Zu den Sephardim-Familien, welche zu der angegebenen Zeit und in der geschilderten Weise nach England kamen, gehörte die der D'Israeli. Auch sie war um das Ende des 15. Jahrhunderts von der Inquisition gezwungen worden, aus der spanischen Halbinsel auszuwandern; suchte, gleich so vielen andern ihrer Glaubens- und Leidensgenossen, ein Asyl auf dem damals tolerantem Boden von Italien, und fand es in der Republik Venedig. Hier legten sie den stolz klingenden spanischen Namen ab, welchen sie in dem Lande geführt, wo es bis zu ihrem Sturz unter Ferdinand und Isabella nichts Ungewöhnliches war, daß Juden die Minister und Leibärzte der Könige gewesen; und dankbar dem Gotte Jakob's, welcher sie durch Prüfungen ohnegleichen geführt und sie beschützt in unerhörten Gefahren, gaben sie sich den Namen »D'Israeli«, einen Namen, niemals zuvor oder seitdem von einer andern Familie getragen, damit ihr Geschlecht für immer daran erkannt werden möchte. Ungestört und unbehindert blühten sie als Kaufleute während zweier Jahrhunderte unter dem Schutze des Löwen des heiligen Marcus, und erst um die Zeit, wo der rapide Aufschwung von Samson Gideon's Haus die Augen der jüdischen Geschäftswelt nach London lenken mochte, sandte der damalige Repräsentant der D'Israeli zu Venedig den jüngsten seiner beiden Söhne dahin, Benjamin, »den Sohn seiner rechten Hand«, den Großvater desjenigen, der dreimal Schatzkanzler und einmal Premier von England gewesen.

Mit jener Feinheit, welche die Feder des letztern immer ausgezeichnet hat, erzählt er uns die Geschichte des Uebertritts seiner Familie zum Christenthum – reich an typischen Zügen und Motiven, welche wol überall in ähnlichen Fällen ähnlich gewirkt haben mögen. Sein Großvater verkehrte wenig mit den Glaubensgenossen, und war im besten Falle gleichgültig gegen sie; die Triebfeder des endlichen Bruchs war seine Gemahlin. »Meine Großmutter«, sagt der ehemalige Ministerpräsident von England, »die schöne Tochter einer Familie, welche viel von Verfolgung gelitten, hatte jenen Widerwillen gegen ihren Stamm eingesogen, welchen die Ehrgeizigen nur zu sehr geneigt sind, anzunehmen, wenn sie finden, daß ihre Geburt sie zu einer gesellschaftlich niedrigen Stellung verurtheilt. Das Gefühl der Erbitterung, welches für den Verfolger bewahrt werden sollte, wird, wo die Empfindlichkeit bis zu einem gewissen Grade gereizt worden, nur zu oft an dem Schlachtopfer ausgelassen und die Ursache der Beleidigung nicht in der Unwissenheit und dem bösen Willen des Mächtigen gesucht, sondern in der Ueberzeugung und dem Gewissen des unschuldig Leidenden.«

Dieses Gefühl persönlicher Kränkung, so richtig von einem Manne geschildert, welchem die Familientradition wol noch manch einen Zug davon aufbewahrt haben mag, hat mehr dazu beigetragen und trägt noch immer dazu bei, reizbare Naturen, wie die Juden sind, zu einem Entschluß zu treiben, den andere, weltliche Vortheile wol nur in den allerseltensten Fällen ihnen abringen würden. Doch dauerte der Kampf in der Familie D'Israeli's siebzehn Jahre. Erst im Jahre 1762 fand der Uebertritt zum Christenthum statt, und Benjamin D'Israeli, der Großvater, ward nun ein Mann, welcher, mit allen Gütern hinreichend gesegnet, sich in der Nähe von London eine Besitzung erwarb, daselbst einen Garten im italienischen Geschmack anlegte, »seine Freunde bewirthete, Whist spielte mit Sir Horace Mann, der seinen Bruder in Venedig, den Bankier, gekannt hatte, Maccaroni aß, die der venetianische Consul in London zubereitet, Canzonetten sang und trotz einer Gemahlin, welche ihm niemals seinen Namen verzieh, und trotz eines Sohnes, der alle seine Plane vereitelte, lebte, bis er fast neunzig war und dann, 1817, starb in dem vollen Genuß eines so langen Lebens«.

Dieser Sohn, »dem Vater bis zur letzten Stunde seines Lebens ein Räthsel«, war Isaak D'Israeli, einer der liebenswürdigsten Bibliophilen und Forscher auf den Seitenwegen der Geschichte, dessen Bücher einen aufgehäuften Schatz anekdotischen Wissens enthalten und noch lange eine Lieblingslektüre der Engländer bilden werden, wie sie für den Wißbegierigen jeder Nation ein Compendium von unschätzbarem Werthe sind. Isaak D'Israeli starb, zweiundachtzigjährig, im Februar 1848 auf seinem Landsitz Bradenham in Buckinghamshire; und hier, unter den Erinnerungen an John Hampden, dessen Tochter einst Herrin von Bradenham gewesen, an den großen Parlamentsmann und Lehrer des gesetzlichen Widerstandes, erwuchs Benjamin D'Israeli, der eminente Staatsmann und Romandichter, den wir alle kennen. Wohl mag es jener eigenthümlich aristokratische Zug seiner Vorfahren gewesen sein, der ihn antrieb, sich einen Platz zu erkämpfen unter dem großen Feudaladel des Landes, wie er sich auch in allen seinen Romanen spiegelt. Aber, zu seiner Ehre sei es gesagt, niemals hat er sich seiner Abstammung geschämt oder sie verleugnet, weder in seinen Romanen, wo er die Verherrlichung mittelalterlicher Romantik mit einer schwärmerischen Begeisterung für das Judenthum zu vereinen wußte, noch in seiner parlamentarischen Laufbahn, wo er, ein standhafter Vorkämpfer der Judenemancipation, nicht wenig dazu beitrug, diese Frage unter dem zweiten Derby-Ministerium, dem er angehörte, zum glücklichen Abschluß zu bringen.

Wenig hatte der Großvater des Schatzkanzlers diese Stellung und Richtung seines Nachkommen vorausgesehen, als er sich vom Geschäft zurückzog am Vorabend jener großen Finanzepoche, mit welcher zu ringen ihn seine Talente so wohl befähigten, und als die Kriege und Anleihen der Revolution anfingen, jene Familien von Millionären zu schaffen, unter deren Zahl er wahrscheinlich seine eigene hätte eingereiht sehen mögen. »Das war indessen nicht unsere Bestimmung«, sagt, mit einem bescheidenen Lächeln, der anerkannte Führer der englischen Tories.

In der That, das »Geldfürstenthum in Israel« war nun von dem portugiesischen Zweig auf den deutschen in London übergegangen. Während des ganzen 18. Jahrhunderts ist in Englands großen Städten, besonders London und Bristol, eine stetige Vermehrung des jüdischen Elements wahrzunehmen; und sie steigerte sich zu Ende des genannten Zeitraums, als der Krieg mit Frankreich und die von Napoleon angeordnete Continentalsperre den Schmuggelhandel in großem Maßstab hervorrief. Jetzt geschah der Zuzug meistens aus Norddeutschland, aus Hamburg, Hannover, vom Rhein und aus Holland, in welchem letztern Lande namentlich die Lage der Juden eine höchst prekäre geworden, indem sie, vom eigentlichen Handel ausgeschlossen, sich fast einzig auf die Diamantenschleiferei beschränkt sahen: ein Geschäft, in welchem einige reich wurden und die meisten zu Grunde gingen.

Fester hangend an den alten Ueberlieferungen, hatten diese Einwanderer aus dem Norden zwiefach zu leiden: von der Zurückhaltung, mit welcher ihre durch den Aufenthalt im Süden verfeinerten Glaubensgenossen auf sie heruntersahen, und von dem religiösen Vorurtheil der Engländer. Allerdings war schon einmal, in der Mitte des Jahrhunderts, der glückliche Versuch gemacht worden, ihnen Heimatsberechtigung in dem Lande zu geben, in welchem die Juden nun beinahe schon wieder hundert Jahre friedlich gelebt hatten. Eine Naturalisationsbill ging 1753 mit großer Majorität durch beide Häuser des Parlaments: allein die City von London, mit dem Mayor an der Spitze, nahm diese Neuerung so ungeberdig auf, daß es darüber fast zum Aufstand gekommen wäre. Große Volkshaufen wogten durch Londons Straßen mit dem Geschrei »Keine Juden! Keine Holzschuhe!« und die Wirkung auf das Land blieb nicht aus. Der witzige Horace Walpole schrieb damals an seinen Freund, Sir H. Mann, britischen Gesandten in Florenz: »Sie fürchteten, daß die Erfüllung der Weissagungen, welche den Juden Unglück und ewige Zerstreuung verkünden, durch eine Parlamentsacte verhindert werden könne, und es fehlte ihrem Eifer nichts, als die Eingabe einer Bittschrift an beide Häuser, um die Erfüllung dieser Weissagungen zu beschließen. Die Dorfpfarrer predigten gegen die Bischöfe, weil sie der Sache des Evangeliums ungetreu geworden, und Aldermen betranken sich in Grafschaftsclubs zu Ehren Jesu Christi, wie sie es weiland um König Jakob's willen gethan.« – Die Bill mußte zurückgenommen werden: allein die Judenfrage hatte ihr zweites Stadium durchlaufen und es hatte sich gezeigt, welche Fortschritte sie seit der Debatte vom Jahre 1655 gemacht, in welcher sie zum letzten mal öffentlich behandelt worden: der intelligente Theil der Nation, ihre Gesetzgeber und hohe Geistlichkeit waren für sie gewonnen. Wie sehr aber das Volk ihr noch entgegen war, das sollte noch einmal drohend bei Veranlassung des Gordon-Aufruhrs (1780) zum Vorschein kommen, in welchem es die Tumultuanten freilich zunächst nur auf die Katholiken abgesehen hatten, im Vorübergehen aber auch, die günstige Gelegenheit benutzend, die Häuser der Juden zu demoliren anfingen, welche letztere dann, um sich zu schützen, auf ihre Fensterläden schrieben: »Dieses ist ein treu protestantisches Haus.« Indessen nahm die Gemeinschaft, welche zu Anfang des Jahrhunderts in London nicht mehr als 60-70 Familien mit einer Synagoge gezählt hatte, durch die fortgesetzte Einwanderung so sehr zu, daß sie 1770 schon drei Synagogen hatte.

Der große Mann dieser Zeit, der Aera Georg's III., war Aaron Goldsmid. Er war nicht so reich wie Samson Gideon, aber er war der bessere Mensch, und dem unverbrüchlichen Herkommen seiner Glaubensgenossenschaft gemäß der strengere Jude. Goldsmid war um die Mitte des Jahrhunderts von Hamburg gekommen und hatte sich in London als » merchant«, d. h. Großhändler etablirt. Den höchsten Flor erreichte sein Haus erst nach seinem Tode unter seinen vier Söhnen, und jenen Coup, den jedes Haus einmal machen muß, wenn es sich mit Einem Schlag über das Niveau der andern erheben will, machte diese Firma zur Zeit der französischen Revolution. An die Spitze des Geschäfts traten immer vorwiegender die beiden Brüder Abraham und Benjamin, Männer von der anerkanntesten Ehrenhaftigkeit und wohlbefreundet mit Newland, dem damaligen ersten Kassirer der Bank von England. Auch dieser war ein selbstgemachter Mann, welcher aus einem Bäckerladen emporgestiegen war zu seiner enorm einflußreichen Stellung, und von so großem Verdienst um die Verwaltung derselben, daß sein Bildniß gegenwärtig das sogenannte » Bank parlour«, das Sitzungszimmer der Bankdirectoren schmückt. Durch Newland wurden die Gebrüder Goldsmid in Verbindung mit dem Gouvernement gebracht, welches seit dem Jahre 1793 infolge des Continentalkriegs zu fortwährenden Anleihen gezwungen war. Aber nicht nur das, was sie durch eine bedeutende Betheiligung an diesen Operationen gewannen, steigerte den Reichthum der Brüder, sondern ebenso sehr das, was sie nicht verloren, zu einer Zeit, wo durch Krieg und Revolution an allen Ecken und Enden Europas große Häuser von einem Tage zum andern massenhaft zusammenbrachen. Eine der merkwürdigsten Eigenschaften Benjamin's war seine wahrhaft erstaunliche Firmenkenntniß, welche sich nicht auf England beschränkte, sondern den ganzen europäischen und außereuropäischen Geldmarkt umfaßte; er taxirte mit einer an das Unglaubliche grenzenden Sicherheit jeden Namen, der sich auf der Rückseite eines Wechsels finden mochte. Diesem Umstande hatte die Firma zu danken, daß in dem gefährlichen Jahre 1794, wo bei dem allgemeinen Umsichgreifen des Revolutionskrieges die Grundmauern der ganzen Geschäftswelt zitterten und rings um sie her in der That auch die großen Firmen wie die Kartenhäuser fielen, der Gesammtverlust der Gebrüder Goldsmid sich auf nicht mehr als 50 Pfd. Sterling belief! Es gab zu Anfang unsers Jahrhunderts in London kein größeres, glänzenderes und allgemeiner beliebtes Haus als dieses. Die Großartigkeit ihrer Unternehmungen war nicht weniger berühmt als die Solidität derselben. Ihre Wohlthätigkeit, namentlich gegen die Glaubensgenossen, kannte keine Schranken. Ihre Gastfreundschaft, mit offener Hand geboten, ward gern und freudig angenommen. Sie hatten prachtvolle Häuser in der Stadt und reiche Besitzungen auf dem Lande, wo sie nicht selten die Berühmtheiten und Spitzen der damaligen Gesellschaft um sich versammelten.

Allein ein sehr trauriges Ende war diesem Hause bestimmt, welches in jeder Beziehung so groß und geachtet dagestanden. Eines Morgens, im April 1808, fand man den jüngern der beiden Brüder, Benjamin, todt in seinem Schlafzimmer. Er hatte sich in einem Anfall von Melancholie, der er in letzterer Zeit immer häufiger ausgesetzt gewesen, am Pfosten seines Bettes selbst erhenkt.

Sein älterer Bruder Abraham sollte ihn nicht lange überleben. Immerfort trauernd um den Verlust seines Bruders, mit welchem er während seines ganzen Lebens innig vereint gewesen, schien es, als ob mit demselben der Stern von dem Hause Goldsmid gewichen. Kein Unternehmen wollte mehr in der alten Weise reussiren, und zuletzt, im Jahre 1810, setzte Abraham sein ganzes Vermögen auf ein neues Regierungsanlehn von 14 Millionen Pfd. Sterling, welches er in Gemeinschaft mit dem Hause Baring discontirte. Das Geschäft mislang; das Haus Baring, gleichfalls von deutschem Ursprung und noch heute von europäischem Rufe, überlebte den Sturz. Aber sein damaliger Chef, Sir Francis Baring, starb, und Abraham Goldsmid – erschoß sich.

In die Lücke, welche zwei so gewaltige Männer der City von London gelassen, trat ein neuer Name: Rothschild, ein. Das Haus Rothschild – oder wie der Engländer es beharrlich nennen wird: »Roß-scheild« – etablirte seine Weltmacht auf den Trümmern des Hauses Goldsmid.

Wenn wir den Namen Rothschild nennen, so weiß jeder, was das bedeutet. Größer als Gideon, größer als Goldsmid, beherrscht das Haus Rothschild nicht nur den Geldmarkt der City, sondern der ganzen Welt. Es war unserm Jahrhundert vorbehalten, die Anhäufung von Reichthümern zu beobachten, gegen welche diejenigen des Krösus sich etwa verhalten mögen wie die hängenden Gärten der Semiramis und die andern Wunderwerke der Alten Welt gegen, sagen wir nur den Krystallpalast von Sydenham, die Eisenbahn über den Semmering, die Durchbohrung des Mont-Cenis und das transatlantische Kabel. Und doch sind es nicht mehr als hundert Jahre, daß ein sehr bescheidenes Männlein in einem sehr bescheidenen Hause und in einem sehr bescheidenen Laden unter dem Zeichen des rothen Schildes in der Judengasse von Frankfurt saß; nicht mehr als 75 Jahre, daß die Franzosen in Frankfurt einrückten und Meyer Amschel sein Gold und Silber nach Kassel flüchtete und dem Landgrafen von Hessen zur Bewahrung anvertraute; nicht mehr als 66 Jahre, daß der, inzwischen zum Kurfürsten avancirte Landgraf seinerseits vor den Franzosen flüchtend, sein Gold und Silber dem frankfurter Geschäftsfreund anvertraute, und nicht mehr als 60 Jahre, daß dieser Meyer Amschel Rothschild, welcher sechs Jahre vor Goethe geboren war, in einem Alter von 69 Jahren und mit einer Hinterlassenschaft von 12 Millionen Gulden starb. Gegenwärtig allerdings, unter den neuen Conjuncturen und Constellationen in der Finanzwelt, ist das Haus Rothschild nicht mehr die Großmacht, die es noch vor zehn Jahren unbestritten war. Andere Mächte, die großen Creditinstitute, sind neben ihm emporgewachsen und drängen es in den Schatten; die Association, das Consortium hat die Einzelherrschaft gebrochen. Aber wir erinnern uns doch alle noch der Zeit, wo der Name dieser Dynastie mit jeder großen Operation auf dem Geldmarkte verbunden war; und neben so vielen andern Depossedirten des letzten Decenniums wird auch das Haus Rothschild immer ein historisches Interesse behaupten.

Mit welcher Rührung führt Börne den jungen Heine an einem Winterabend des Jahres 1827 durch die Judengasse von Frankfurt, die am Tage so düster, jetzt aufs fröhlichste illuminirt war, weil »die Kinder Israel an jenem Abend, wie mir mein Cicerone erklärte, ihr lustiges Lampenfest feierten«. Vor dem Hause der alten Madame Rothschild blieben sie stehen. »Sehen Sie«, sagte Börne, (vgl. Heinrich Heine über Ludwig Börne, S. 35) »hier in diesem kleinen Hause wohnt die alte Frau, die Lätitia, die so viele Finanz-Bonaparte geboren, die große Mutter aller Anleihen, die aber trotz der Weltherrschaft ihrer königlichen Söhne noch immer ihr kleines Stammschlößchen in der Judengasse nicht verlassen will und heute wegen des großen Freudenfestes ihre Fenster mit weißen Vorhängen geziert hat. Wie vergnügt funkeln die Lämpchen, die sie mit ihren eigenen Händen anzündete, um jenen Siegestag zu feiern, wo Judas Makkabäus und seine Brüder ebenso tapfer und heldenmüthig das Vaterland befreiten, wie in unsern Tagen Friedrich Wilhelm, Alexander und Franz II. Wenn die gute Frau diese Lämpchen betrachtet, treten ihr die Thränen in die alten Augen, und sie erinnert sich mit wehmüthiger Wonne jener jüngern Zeit, wo der selige Meyer Amschel Rothschild, ihr theuerer Gatte, das Lampenfest mit ihr feierte, und ihre Söhne noch kleine Bübchen waren und kleine Lichtchen auf den Boden pflanzten und in kindischer Lust darüber hin- und hersprangen, wie es Brauch und Sitte ist in Israel!«

Auf dem Todtenbette soll Meyer Amschel seinen fünf Söhnen einen Eid abgenommen haben, daß sie sich niemals trennen, sondern das Geschäft in Gemeinschaft fortsetzen, das Vermögen soviel als möglich vermehren, aber niemals theilen wollten. Jedermann weiß, wie gewissenhaft dieser Eid erfüllt worden, und die Folge davon war, daß das Haus Rothschild, mit den Jahren immer wachsend, nicht nur in seinen Reichthümern, sondern ebenso sehr in der Zahl seiner Söhne, Schwäger, Neffen und Enkel, zu einer Herrscherfamilie ward, welche die Hauptbörsen der Welt unter sich vertheilte, welche sich an den fremden Plätzen durch ihre Repräsentanten diplomatisch vertreten ließ, und welche endlich auch ihre innern Angelegenheiten, ihre Heirathen, Mitgiften und Erbschaften, durch Hausgesetze autonom ordnete. – Das Haupt dieser neuen Dynastie war, solange er lebte, der londoner Rothschild, Nathan Meyer, der dritte Sohn des alten Amschel.

Nathan Meyer war schon in seinem 21. Jahre gegen Ende des vorigen Jahrhunderts nach England gegangen, mit einem Anlagekapital von nicht mehr als 20 000 Pfd. Sterling. Er hatte sich zuerst nach Manchester begeben, wo zu dieser Zeit eben das Calicogeschäft einen bisher ungekannten Aufschwung genommen hatte. Der junge Mann wußte seinen Vortheil wahrzunehmen, und während seine bescheidenern Concurrenten sich damit begnügten, entweder die Manufacturisten oder die Verkäufer zu sein, war Nathan Meyer beides und machte noch dazu den Bankier für alle. Seine Mühe bezahlte sich so gut, daß nach sechs Jahren sein Vermögen sich verzehnfacht hatte. Mit diesen 200 000 Pfd. Sterling begab er sich im Jahre 1803 nach London, dem Schauplatz kaufmännischer Größe, woselbst er schon nach kurzer Zeit eine solche Figur war, daß Levi Barnett Cohen, einer von den jüdischen Citymagnaten ersten Ranges, ihm seine Tochter gab.

Man sagt freilich, daß dieser fast bereut habe, dem jungen Menschen, dessen Speculationen von Tag zu Tag kühner und gefährlicher wurden, das Schicksal seiner Tochter anvertraut zu haben; aber Nathan Meyer soll ihn beruhigt haben, indem er sagte: »Ihr habt mir nur Eine von Euern Töchtern gegeben; aber was das anbetrifft, Mr. Cohen, so hättet Ihr kein besseres Geschäft machen können, als wenn Ihr sie mir alle zusammen gegeben hättet.«

Das große Ereigniß für Nathan Meyer und sein Haus war der Befreiungskrieg. Indem er zuerst als Nebenbuhler über das damals noch souveräne Haus Goldsmid auftrat, erwartete er die Restauration der Bourbons. Er berechnete, daß für das Glück der Rothschilds der letzte Tag der Revolution ebenso entscheidend sein würde, als der erste Tag derselben für das Glück der Goldsmids gewesen. Er setzte sich in Kriegsbereitschaft bei Gelegenheit jener Regierungsanleihe von 1810, infolge welcher die beiden damals größten Bankhäuser Gideon und Baring stürzten, respective erschüttert wurden. Hierauf eröffnete Nathan Meyer seine Campagne: er kaufte die Wechsel auf, welche Wellington damals, mitten im Spanischen Kriege, discontirt und welche das englische Gouvernement zu bezahlen kein Geld hatte. Durch die Prolongation dieser Wechsel accreditirte sich Nathan Meyer bei der Regierung und machte zugleich ein gutes Geschäft für sich. Ein directes Verhältniß zwischen ihm und der Regierung kam nun zu Stande: sie fand ihn sehr brauchbar wegen seiner continentalen Connexionen und bediente sich seiner vielfach als ihres Agenten. Durch seine Hand gingen die Gelder an die Armeen, die Subventionen an die verbündeten Mächte. Mit den besten Nachrichten, welche zu haben waren, durch seine Brüder vom Continent bedient, erfuhr er zugleich durch seine Beziehungen zu dem englischen Ministerium mehr von der innern und äußern Politik desselben als irgendein anderer Mann in England. Und er blieb nicht hinter der Gelegenheit zurück. Plötzlich ward er Taubenzüchter. Seine Bekannten, welche bukolische Neigungen an dem starren Geldmann bisher nicht wahrgenommen, erstaunten; aber der Grund dieser Sache war, daß Nathan Meyer Kuriertauben abrichtete. Bald flogen seine Tauben nach Süd und Ost, während schnellsegelnde Boote auf den kürzesten Routen, die er selbst mit Hülfe von Seekarten ausgesonnen, seine Sendboten und Geldsäcke zwischen den Küsten von Deutschland, Frankreich und England hin- und hertrugen. Es macht dem Scharfsinne dieses merkwürdigen Mannes nicht wenig Ehre, daß die Kurierdampfer, welche heute zwischen Folkestone und Boulogne fahren, genau denselben Weg für die kürzeste Seereise gewählt haben, welchen Nathan Meyer einst für seine Segelboote ausfindig gemacht.

Während in dieser Weise Nathan Meyer seine Bewegungen machte, machten die großen Armeen die ihrigen; die Siegesfeuer von Leipzig, der Einzug der Alliirten in Paris, Elba, die Hundert Tage – dies alles drängte Wellington und Blücher, aber auch Nathan Meyer zur Entscheidung: zur Schlacht von Waterloo. Dieser Schlacht wohnte Nathan Meyer in Person bei. Aus einem Versteck in der Nähe des Schlosses von Houguemont folgte er den Schwankungen des 18. Juni mit nicht weniger Spannung als Wellington und Napoleon. Als er aber gegen Abend vernahm, daß die Preußen da seien, und auf den Höhen von Belle Alliance sah, wie Blücher und Wellington sich bei Sonnenuntergang grüßten, da sagte er: »Das Haus Rothschild hat die Schlacht gewonnen!« und bestieg ein Pferd, welches während des ganzen Tages für ihn gesattelt und bereit gestanden hatte. Er ritt die ganze Nacht durch und kam früh am Morgen nach Ostende. Die See war so stürmisch, daß kein Bootsmann sich hinauswagen wollte. Zuletzt gelang es ihm, einen Fischer zu bewegen, für 80 Pfd. Sterling den Versuch zu machen. Am Abend war er in Dover, am 20. Juni früh in London und auf der Börse. Gerüchte der trübsten Art hatten sich hier inzwischen verbreitet, und Nathan Meyer hütete sich wohl, dieselben zu zerstreuen. Im Alleinbesitz des Geheimnisses, war er nebst seinen Agenten ebenso eifrig zu kaufen, als alle andern sich drängten, zu verkaufen. Als am 21. Juni die Börse schloß, da waren die Papierschränke Nathan Meyer's in St.-Swithin's Lane gefüllt; und eine Stunde später traf der Regierungskurier mit den Depeschen vom Schlachtfeld ein. Ganz London klang von Siegesjubel, und am andern Morgen eröffnete die Börse mit fabelhaften Preisen. Auf einem englischen Kriegsschiffe fuhr der gefangene Kaiser, dieser gigantische Sohn der Revolution, nach seinem Felsenkerker von St.-Helena. Ludwig XVIII. bestieg noch einmal den Thron der Bourbonen, und um eine Million Pfd. Sterling reicher stand Nathan Meyer unter seinem Pfeiler in der südlichen Ecke des Börsengebäudes von London.

Von diesem Tage an datirt der eigentliche Glanz des Hauses Rothschild. Unternehmungen von mäßigerm oder vielleicht schlechtem Erfolg (wie die englische Anleihe von 1819 oder die französische von 1823) wurden mehr als aufgewogen durch andere Unternehmungen, welche wie die Erwerbung der Gruben von Almaden in Spanien und von Idria in Illyrien den ganzen europäischen Quecksilberhandel zu einem Rothschild'schen Monopol machten. Nach und nach wurde das Haus der Agent fast aller Regierungen, und die großen Anleihen wurden zum größten Theil durch seine Vermittelung abgeschlossen. Dabei hielten die Brüder, eingedenk des Eides, den sie dem sterbenden Vater geleistet, treue Gemeinschaft, und dadurch, daß Cousins und Cousinen fast ausnahmslos untereinander heiratheten, blieb auch über die zweite Generation hinaus das kolossale Vermögen in unverminderter, stets sich durch sein eigenes Gewicht mehrender Masse zusammen. Wie reich Nathan Meyer für seinen eigenen Theil gewesen, weiß niemand. Einige schätzten ihn auf drei, andere auf zehn Millionen Pfd. Sterling. Aber beide Vermuthungen sind wahrscheinlich noch unter der Linie geblieben. Seiner Witwe hinterließ er eine Rente von 20 000 Pfd. Sterling das Jahr, nebst einer Residenz in London und einem Landgute bei London; jeder seiner vier Söhne hatte, sobald er majorenn geworden, 25 000 Pfd. Sterling erhalten und sollte ferner 75 000 Pfd. Sterling bei der Verheirathung bekommen. Seinen drei Töchtern, außer den 25 000 Pfd. Sterling, welche jede mit dem Eintritt der Majorennität erhielt, vermachte er letztwillig noch 100 000 Pfd. Sterling, die Hälfte als Hochzeitsgeschenk, die Hälfte, um im Geschäft zu bleiben und mit 4 Procent verzinst zu werden. Es war am Hochzeitstage seines ältesten Sohnes Lionel, welcher im Jahre 1836 zu Frankfurt eine seiner neapolitanischen Cousinen heirathete, daß Nathan Meyer plötzlich krank wurde. Wenige Tage später, am 28. Juli, starb er, nicht ganz 60 Jahre alt, und am folgenden Morgen wurde durch Zufall eine seiner eigenen Kuriertauben, welche über Brighton flog, geschossen. Sie sollte die Nachricht seines Todes nach London bringen. An ihrem Halse fand man einen Zettel mit diesen drei Worten: » Il est mort.« H. R. F. B., The merchant princes of England, a. a. O.

*

3.

Nunmehr war der Tag gekommen, an welchem sich das Wort Macaulay's bewahrheiten sollte, daß »da, wo Reichthum ist, Macht unvermeidlich folgen muß«. Zum dritten mal im Verlaufe zweier Jahrhunderte ward die Judenfrage ins Parlament gebracht, um diesmal vor ihrer endgültigen Lösung aus demselben nicht mehr zu verschwinden. Der Kampf dauerte 28 Jahre, doch das Ende war der vollständigste Sieg.

Es war im Jahre 1830, daß Mr. Robert Grant den Antrag stellte, eine Bill einbringen zu dürfen, welche die bürgerliche Unfähigkeit der Juden aufheben sollte. Der Antrag ging in der ersten Lesung mit einer Majorität von 18 Stimmen durch, fiel aber in der zweiten mit einer Majorität von 36. Hierauf schrieb, im Januar 1831, Macaulay sein classisches Essay über die bürgerliche Unfähigkeit der Juden ( Civil disabilities of the Jews). Es heißt darin: »Die Unterschiede zwischen Judenthum und Christenthum haben sehr viel zu thun mit der Fähigkeit eines Mannes, ein Bischof oder ein Rabbiner zu sein. Aber sie haben mit seiner Fähigkeit, eine Magistratsperson, ein Gesetzgeber oder ein Finanzminister zu sein, nicht mehr zu thun als mit seiner Fähigkeit, ein Schuhflicker zu sein. Niemals hat jemand daran gedacht, Schuhflicker zu zwingen, eine Erklärung über den wahren christlichen Glauben abzulegen ... Die Leute handeln so, nicht weil sie indifferent gegen die Religion wären, sondern weil sie nicht einsehen, was die Religion mit dem Ausbessern von Schuhen zu thun habe. Aber die Religion hat gerade so viel mit dem Ausbessern von Schuhen zu thun als mit dem Budget und der Armeevorlage.« Und weiter: »Man behauptet, daß es gottlos sein würde, einen Juden im Parlament sitzen zu lassen. Aber ein Jude kann Geld machen und Geld kann Parlamentsmitglieder machen. Gatton und Old Sarum können das Eigenthum eines Hebräers sein. Ein Wähler von Penrhyn wird 10 Pfund von Shylock lieber nehmen als 9 Pfund, 19 Schilling, 11 Pence und 3 Farthings von Antonio ... Daß ein Jude Geheimrath eines christlichen Königs sein sollte, wird eine ewige Schande für die Nation sein. Aber ein Jude kann den Geldmarkt beherrschen, und der Geldmarkt kann die Welt beherrschen. Der Minister kann in Betreff seines Finanzplanes in Zweifel sein, bis er mit dem Juden sich berathen hat. Ein Congreß von Souveränen kann sich gezwungen sehen, den Juden zu seiner Unterstützung herbeizurufen. Der Federzug des Juden auf der Rückseite eines Stückchens Papier kann mehr werth sein als das königliche Wort dreier Fürsten oder die nationale Bürgschaft von drei neuen amerikanischen Republiken.« – Im Jahre 1833 wiederholte Mr. Grant seinen Antrag, und diesmal ging er, von Macaulay's warmer Beredsamkeit unterstützt, glänzend durch.

Das Parlament war den Juden geöffnet; es galt nur noch, es zu betreten. Allein auch das war so leicht nicht. Zuerst mußte ein Jude gewählt werden; es mußte sich zeigen, ob das Volk in seiner Masse so erleuchtet war, wie seine Vertreter im Parlament. Hundert Jahre, von 1653 bis 1753 hatte es gedauert, bis das Parlament eine günstige Ansicht über die Sache gewonnen; jetzt mußte man sehen, welche Fortschritte das Volk in den andern hundert Jahren, vom 18. zum 19. Jahrhundert gemacht. Schon 1836 stellte sich der erste Jude, Mr. Salomon, einer englischen Wählerschaft in Shoreham vor, aber ohne Erfolg; 1841 erschien er aufs neue vor der von Maidstone, auch diesmal nicht glücklicher. Aber im Jahre 1847 wurden zwei Juden auf einmal gewählt: Mr. Salomon in Greenwich und Baron Lionel Rothschild, der Sohn Nathan Meyer's, für die City. Als die beiden jedoch von ihrem Rechte Gebrauch machen und ihren Sitz einnehmen wollten, da war noch ein letztes Hinderniß im Wege: die Eidesformel. Diese schloß sie noch für weitere 11 Jahre aus. Es war das letzte Stadium in dem zweihundertjährigen Kampfe.

Die Worte der Eidesformel » upon the true faith of a Christian« (auf den wahren Glauben eines Christen) hatten die Juden bislang auch von der Erwerbung des City-Bürgerrechts und damit aller bürgerlichen Ehrenämter ausgeschlossen. Es sollte nun aber geschehen, nachdem die Geistlichkeit und die Gesetzgeber längst gutgemacht, was sie gegen die Juden zu Cromwell's Zeiten gethan, daß die City, welche sich gegen sie noch zu den Zeiten der Pelhams erklärt, die erste war, welche ihnen den Weg ins Parlament öffnete. Der Umschwung zu Gunsten der Juden war allgemein, die ganze Bevölkerung von England in allen ihren Schichten bereit, in ihnen die Mitbürger zu sehen. Als ein bedeutsames Zeichen der veränderten Stimmung muß der ungeheuere Erfolg eines Stückes betrachtet werden, welches recht eigentlich zu dem Zwecke geschrieben ward, für den lange verachteten Stamm zu plaidiren: »Der Jude« von Cumberland. Im letzten Decennium des vorigen Jahrhunderts zum ersten mal in Drurylane aufgeführt (1793), blieb dieses Schauspiel über das erste Drittel des unserigen hinaus ein Liebling des britischen Publikums, ward auch auf der deutschen Bühne heimisch und erscheint selbst heute hier und dort immer noch einmal auf den Brettern. Ein Tendenzstück, wiewol im besten Sinne des Wortes, wird sein dichterischer Werth kaum bedeutend genug gewesen sein, um Vorurtheile zu besiegen; allein der schwerere Theil der Arbeit war, umgekehrt wie wir es in Deutschland gesehen, schon auf dem politischen Gebiete vollbracht. Den Kampf aufzunehmen, bedurfte es eines Lessing; in England war er so weit gediehen, daß es an einem Cumberland genügte. Andererseits zeigt der Unterschied der Auffassung zwischen Shakspeare's und Cumberland's Juden, zwischen Shylock und Schewa, die ganze Strecke, welche die öffentliche Meinung während der beiden Jahrhunderte zurückgelegt hat. Schewa hat, wenn auch noch immer kein bürgerliches Recht, doch schon eine Art von bürgerlich anerkannter Existenz: er lebt in Duke's Place, ist der Mäkler eines reichen Citykaufmanns, Sir Stephen Bertram's, »und keines Mannes Charakter steht höher in Change-Alley«, der damaligen Börse von London; seiner äußern Erscheinung nach nicht viel besser als Shylock, richtet sich doch sein beleidigtes Gefühl nicht hart und stolz und rachsüchtig auf gegen seine Verfolger, sondern sein Herz wird weich und demüthig und fließt »in ein Meer von Gutthätigkeit auseinander«. (Börne.) Ein Geizhals in Befriedigung seiner eigenen Wünsche, wird er ein Verschwender, um die der andern zu erfüllen; im harten Kampfe mit sich selbst macht er seine Feinde zu Freunden. – »Redet nicht von meiner Güte; ich gebe niemals etwas um der Güte willen. Wenn Mitleid es von meinem Herzen losringt, ob ich will oder nicht, dann gebe ich. Was kann ich dagegen thun?« ... Das Ende des Stückes zeigt nicht den armen Schewa gedemüthigt und beschämt, sondern den reichen Citykaufmann und Baronet von England; »seht hier«, ruft Ratcliffe, indem er auf seinen Wohlthäter deutet, »den Freund der Witwen! den Vater der Waisen! den Beschützer der Armen! den Mann, der die ganze Menschheit liebt!« Worauf Schewa, der seinem jungen christlichen Freund sein ganzes Vermögen verheißt, erwidert: »Ich vergrabe es nicht in einer Synagoge oder einem andern Gebäude; ich verschwende es nicht auf eitle Dinge oder öffentliche Arbeiten: ich vermache es einem mildthätigen Erben, und baue ein Hospital in einem menschlichen Herzen.«

Nicht alle Juden sind Schewas; aber, wie dieser dem reichen Citykaufmann zuruft, sind auch nicht alle Christen Bertrams. »Es ist merkwürdig, einen Aberglauben aussterben zu sehen«, meint Charles Lamb in seiner Analyse von Marlowe's »Juden von Malta« (vgl. Specimens of Englisch Dramatic Poets, Bohn's Edition, S. 28), »die Vorstellung von einem Juden (welche unsere frommen Vorfahren mit solchem Abscheu betrachteten) hat jetzt nichts Erschreckendes ( revolting) mehr für uns. Wir haben die Klauen des wilden Thieres gezähmt und seine Krallen gestutzt, und nun nehmen wir es in unsere Arme, liebkosen es, schreiben Stücke, um ihm zu schmeicheln; es wird von Fürsten besucht, gibt sich eine Miene von Kennerschaft, patronisirt die Künste, und ist das einzige wohlanständige Ding in der Christenheit, welches einem Gentleman ziemt ( the only liberal and gentlemanlike thing in Christendom).«

Wir haben ähnliche Stoßseufzer allzu besorgter Gemüther auch in Deutschland gehört; aber weder hier noch in England hat dergleichen den ruhigen und stetigen Fortschritt gehindert, und nachdem die guten Bürger der City von London den edeln Schema 37 Jahre lang auf der Bühne von Drurylane bewundert hatten, gaben sie ihm das langersehnte Bürgerrecht. Es war im Jahre 1830, daß sie nach Aenderung der Formel den ersten Juden zum Bürgereid zuließen, und 1835 war Mr. David Salomon schon Sheriff von London und Middlesex; im Jahre 1845 ging unter Sir Robert Peel die Parlamentsacte durch, welche auch bei der Einführung in Corporationsämter erlaubte, den Zusatz »auf den wahren Glauben eines Christen« wegzulassen, und sogleich sehen wir zwei Juden als Aldermen von Aldgate und Portsoken. Durch das große Thor der City waren sie jetzt gegangen, und es konnte nicht lange mehr dauern, bis sie auch durch das des Parlaments schreiten durften. Das Präjudiz war gegeben und der Strom der öffentlichen Meinung zu stark, als daß auch das letzte Hinderniß ihm nicht endlich hätte weichen sollen. Indessen thaten auch die Juden alles, um diese Meinung zu verdienen, und an keinen Namen wird sich in dieser Beziehung für alle Zukunft ein ehrenvolleres Gedächtniß knüpfen, als an den Sir Moses Montefiore's. Einer der ersten jüdischen Sheriffs von London, war er auch einer der ersten, welchen in den Anfangstagen ihrer segensreichen Regierung die Königin Victoria die Ritterwürde verlieh (1837). Drei Jahre später sollten die grauenvollen Judenverfolgungen in Rhodus und Damaskus diesem seltenen Manne die Gelegenheit geben, sich in der ganzen Größe seines menschenfreundlichen Charakters zu zeigen. Es wird immer in dankbarer Erinnerung bleiben, wie damals in dem allgemeinen Schrecken, der die Welt ob dieses Rückfalls in die mittelalterliche Barbarei betäubte, dieser Eine sich thatkräftig erhob, um Rettung und Hülfe zu bringen. Sechshundert Jahre waren verflossen, seit auf diesem englischen Boden die Beschuldigung vergossenen Christenbluts gegen die Juden vorgebracht worden war; jetzt wiederholte sie sich im fernen Osten, und jetzt war es England, welches ein Regierungsschiff unter der Flagge von Großbritannien und Irland für die Bedrängten bereitstellte. Man weiß und wird es niemals vergessen, wie Sir Moses Montefiore seine selbstübernommene Mission ausführte, und wie seine Heimkehr einem Triumphzug glich. Jetzt war es nicht eine von Cumberland's Schauspielfiguren, die auf dem Drurylane-Theater von Schewa sprach, sondern im Mansionhouse, dem Palast des Lordmayors von London, hörte man vor einer großen und glänzenden Versammlung alles dessen, was angesehen und vornehm in England war, die Worte, »daß keiner unserer Mitbürger eifriger bemüht ist, Humanität zu befördern, Armen und Bedürftigen zu helfen, Waisen zu beschützen und Literatur und Wissenschaft zu begünstigen, als sie, und daß sich ihre Wohlthaten nicht nur auf die beschränken, welche ihres Glaubens sind, sondern daß auch Christen, sowie die Bekenner jedes Glaubens sich derselben erfreuen«. Die Königin Victoria, von dem Wunsche beseelt, »unserm getreuen und lieben Sir Moses Montefiore ... ein besonderes Zeichen unsrer königlichen Huld zu geben für diese seine anhaltende Bemühung zu Gunsten seiner gekränkten und verfolgten Brüder im Morgenlande und der Nation im allgemeinen«, ließ ihm eine Wappenbesserung zutheil werden, wie sie sonst nur den Pairs und Personen vom höchsten Range verliehen wird: sie gab ihm sogenannte » supporters« oder Wappenschilderträger, die sein Verdienst zu verewigen bestimmt waren, nämlich einen Löwen, einen Hirsch und eine Fahne mit der hebräischen Inschrift »Jerusalem«. Grätz, Geschichte der Juden, XI, 535 und 552.

So standen die Juden Englands aus der Schwelle des Parlaments bis in die funfziger Jahre: nur noch die Tories hinderten sie, dieselbe zu überschreiten, indem sie sich weigerten, in eine Fassung der Eidesformel, nach dem Vorgang der City, zu willigen. Da trat, aus ihren eigenen Reihen, ein Kämpfer auf, dem es beschieden war, die Sache, die er vertrat, zum ruhmreichen Abschluß zu bringen. Es war im Jahre 1851, daß er in der »Politischen Biographie von Lord George Bentinck« zum ersten mal laut und beredt für den Eintritt der Juden ins Parlament plaidirte, nachdem er in seinen Romanen schon lange vorher eine glühende Vorliebe für sie gezeigt. Der Verfasser dieser Biographie, kein anderer als Benjamin D'Israeli, damals noch ein Gentleman ohne Titel, hatte die Genugthuung, seine Sache bei seiner Partei allmählich durchdringen zu sehen, und in dem Jahre, wo seine Schrift die fünfte Auflage und er selbst es erlebte, zum zweiten male Schatzkanzler zu sein, ward endlich der entscheidende Sieg proclamirt, und am 26. Juli des Jahres 1858 trat, an seiner Hand, der erste Jude, Baron Lionel von Rothschild, in das englische Parlament, indem er zum ersten mal die Worte der Eidesformel: »auf den wahren Glauben eines Christen«, ausließ, und ihm folgten bald sechs andere jüdische Mitglieder.

Indem wir die Geschichte der Juden in England erzählt, haben wir ein Thema behandelt, welches fast ganz schon der historisch gewordenen Vergangenheit angehört; allein von allen interessanten, ja wunderbaren Zügen, die dabei zur Sprache gekommen, ist dieser letzte, der die Entscheidung durch D'Israeli herbeiführt, vielleicht der interessanteste und in seiner ganzen Verkettung wunderbarste. In der That, ein Phänomen, bezeichnend nicht nur für England allein, sondern für die ganze moderne Welt, er, von Geburt ein Plebejer, der die Torypartei reconstruirte und, als Haupt derselben, die Whigs mit deren eigenen Waffen, der Reformbill, schlug, um in dem Moment zu siegen, wo die von ihm durchgesetzte Reformbill zum ersten mal in Wirksamkeit trat; er, wenn nicht ein geborener Jude, doch erst seit seinem zwölften Jahre Christ (31. Juli 1817 »Getauft, 31. Juli 1817: Benjamin, angeblich zwölf Jahre alt, Sohn von Isaak und Maria D'Israeli, King's Road, Gentleman.« Taufregister der St.-Andreas-Kirche, Holborn, London. Mitgetheilt im » Athenaeum« vom 12. Sept. 1868, S. 336.), der Sohn von Aeltern, welche beide (seine Mutter war eine Basevi) noch Mitglieder der portugiesischen Judengemeinde von London gewesen waren. An dem Tage, wo man ihn im Jahre 1868 als ersten Minister an der Spitze von Ihrer Majestät Regierung sah, hat er jenen andern Tag gesühnt, wo im Jahre 1290 ein Plantagenet die unglücklichen Verbannten, seine Vorältern, übers Meer trieb, nachdem man sie gebrandschatzt und geplündert; und mit den vier englischen Herzogen zu seiner Rechten und zu seiner Linken hat D'Israeli damals den Plunder von einem halben Jahrtausend ein für allemal ausgekehrt.

Die Gesammtzahl der in Großbritannien und Irland ansässigen Juden beläuft sich auf 40 000, von denen der größere Theil in England, und in London allein 25 000 leben; 5000 von denselben kann man zu der bessern, 8000 zu der Mittlern und 12 000 zu der niedern Klasse rechnen.

In der obern Klasse der Juden finden wir englische Baronets: Sir Francis Goldsmid (1841), Sir Moses Montefiore (1846), Sir Anthony Rothschild (1846) und Sir David Salomons (1869); ferner sieben Parlamentsmitglieder und endlich zahlreiche Angehörige der von Gentlemen betriebenen Berufsarten, Juristen, Aerzte, Kaufleute.

Aus mannichfachen und begreiflichen Gründen, auf die wir noch zurückkommen, ist der Kreis des Handwerks unter den Juden in England immer noch ein verhältnißmäßig enggezogener, wiewol er die Tendenz hat, sich zu erweitern und bereits folgende Arten jüdischer Handwerker in London umfaßt: Goldschmiede, Uhrmacher, Cigarrenarbeiter, Schmiede, Schlosser. Es ist eine merkwürdige Thatsache, daß die Juden, besonders die aus Polen, sich mit Vorliebe dem Glaserhandwerk widmen. Cacroft, The Jews of Western EuropeEssays«, London 1868, Bd. 2). Die Frauen beschäftigen sich mit dem Anfertigen von Hemden, von Sonnen- und Regenschirmen, von Mützen und Pantoffeln. Auch der Fisch- und Fruchtverkauf wird vielfach von den Juden in London betrieben.

Während die obere und mittlere Schicht der jüdischen Bevölkerung von England also schon in reichem Maße der Segnungen einer erleuchteten Zeit genießt, kann dies von der eigentlichen Masse der untern jüdischen Klasse vorläufig noch nicht gesagt werden. Kein größerer Unterschied ist denkbar als zwischen den feinen und aristokratischen jüdischen Bewohnern des Westends und ihren in den dumpfen Citywinkeln zusammengepfropften Glaubensgenossen. Man muß sie da nur dichtgedrängt sitzen sehen in den alten schmuzigen und ungesunden Quartieren, welche schon ihre Väter und Vorväter innegehabt. Ihre Börse ist die Lumpenbörse in Houndsditch und ihre Hauptstraße ist Pettycoat-Lane, eine schmale, übelriechende Gasse, in der von früh bis spät gehandelt und gefeilscht, gebacken und gebraten wird. Vollgestopft sind die Sackgäßchen und Höfe ringsum von alten Kleidern und Trödelkram; eine wahrhaft morgenländische Fruchtbarkeit hat alle Treppenstufen und Rinnsteine mit kleinen, schmuzigen, schwarzäugigen und schwarzhaarigen krabbelnden Wesen bevölkert, und mit dem Kindergeschrei mischt sich das Keifen corpulenter Mütter, das Gelächter hübscher, nachlässig gekleideter Mädchen, Orgelspiel, Gesang und eifriges, lautes Gespräch handeltreibender Männer, die beständig irgendein altes Ding in der Hand haben, bald eine alte Hose und bald eine alte Uhr. Ueberall wird deutsch gesprochen, – nicht das Deutsch von Sanders' Wörterbuch, sondern ein Gemauschel, welches nur der Eingeweihte versteht. Zwischen dieser Klasse von Juden und den ihnen benachbarten Christen besteht allerdings noch eine Scheidewand, die, bis auf das Verbrennen und Häuserdemoliren, im Mittelalter nicht stärker hätte sein können; aber daran ist nicht die Religion der einen und das Vorurtheil der andern schuld, sondern das liegt ebenso sehr in der Natur der Sache als die Geringschätzung, mit welcher der christliche Londoner auf den christlichen Irländer herabsieht, der, nicht weit von der Gegend, die wir geschildert, ungefähr dieselben Geschäfte treibt wie sein Nachbar, der Jude von Pettycoat-Lane, arm und unsauber, wie dieser, aber sittlich durchweg viel verwahrloster und verkommener. Der Unterschied ist, daß die gebildeten und reichen Juden für ihre ungebildeten und armen Glaubensgenossen in ganz anderer und hochherzigerer Weise sorgen, als dies sonst bei einer religiösen Gemeinschaft der Fall ist und vielleicht auch der Fall sein kann. Wenn wir dies nicht aus eigener Anschauung und Erfahrung bestätigen könnten, so würden wir uns auf das Zeugniß eines Mannes berufen, der die Verhältnisse der Armen in London sehr genau kennt und die Resultate seiner Nachforschungen über diesen Gegenstand neuerdings in einem ausführlichen Werke niedergelegt hat. Dr. Stallard, London Pauperism amongst Jews and Christians (London 1867). Daß die meisten von den Neuankommenden mittellos sind, bedarf wol kaum der besondern Erwähnung. Die jüdische Einwanderung in England, besonders London, ist noch immer sehr stark, und den größern Theil derselben liefert Holland, Norddeutschland (Hamburg) und Polen. Sie helfen daher entweder den anfänglich nicht sehr ausgedehnten Kreis der Armuth unter den Juden vermehren, oder sie schließen sich ihren Brüdern von Pettycoat-Lane an und vermehren den Schacher. Gegen beides richtet sich die Tendenz der jüdischen Mildthätigkeit in London. Man sucht die niedrigere Klasse der Juden dem Handel und Trödel immer mehr zu entreißen, indem man sie für das Handwerk erzieht, für die Fabrikthätigkeit, für die Arbeit mit Einem Wort. Allein mannichfache Schwierigkeiten stellen sich diesem Vorhaben entgegen. Die einheimischen Juden der niedern Klasse sind durchgängig so strenge Anhänger des mosaischen Gesetzes, daß es nicht möglich ist, wenigstens vorderhand nicht, sie bei einem christlichen Meister in die Lehre zu geben, wegen der Sabbatfeier, der Speisegesetze, und jüdische Meister gibt es noch nicht oder nur wenige. Man versuchte, sie in den Docks arbeiten zu lassen; allein das war jedenfalls der am schlechtesten gewählte Platz für den Beginn der bürgerlichen Thätigkeit unter den Juden: die Dockarbeiter hatten ihre jüdischen Concurrenten bald genug aus den Docks herausgeschimpft und geprügelt. Für die Eingewanderten treten zu diesen noch andere, größere Schwierigkeiten hinzu. Sie kommen meist in einem höchst elenden Zustande an; sie kennen weder die Sprache noch sind sie in dem Alter, wo man überhaupt noch etwas lernen kann. Der Fortschritt der Reform nach dieser Richtung hin wird daher nur ein langsamer sein, muß sich naturgemäß mit kleinen Resultaten für die Gegenwart begnügen und die größern von der Zukunft hoffen; doch ist das Meiste gethan mit der Einsicht, daß es solch innerlicher Reform bedarf, um die Emancipation durchaus zu verwirklichen und sie, statt eines Privilegs für einzelne, zu einem Recht für alle zu machen. Zu dieser Einsicht scheint man nun auch in England gelangt. Die großen jüdischen Familien, sagt Dr. Stallard, wetteifern buchstäblich miteinander in Spenden und persönlichen Bemühungen um das Wohl ihrer weniger begünstigten Mitbrüder. Schulen und Stiftungen tragen dazu bei, nicht nur die Noth fern zu halten, sondern auch, namentlich in der heranwachsenden Generation, den Sinn für eine geregelte Thätigkeit zu wecken und mit der Lage der armen zugleich den Bildungsgrad der untern jüdischen Klassen insgemein zu verbessern.

Es verdient dabei hervorgehoben zu werden, daß selbst diese niedrigste Klasse der jüdischen Bevölkerung von London (wie die Juden im allgemeinen) in Bezug auf Sittlichkeit des allerbesten Rufes genießt und daß es zu den größten Seltenheiten gehört, in den londoner Gefängnissen eine Jüdin, alt oder jung, zu finden. Ferner kann ein jüdischer Armer nur dann Anspruch auf Unterstützung machen, wenn er nachweist, daß er – falls er Kinder hat – diese in die Schule schickt, in welcher übrigens der Unterricht unentgeltlich ertheilt wird.

Dies ist der Weg, um die Vorurtheile, welche in den höhern Gesellschaftsschichten factisch und rechtlich fast überall schon beseitigt worden sind, auch in der großen Masse der Bevölkerung verschwinden zu machen. Immer mehr werden die Juden von der einzigen Art des Erwerbes, welcher in den sublimen Regionen der Börse beginnt, um in den filzigen Buden des Trödelmarktes zu enden – von diesem Erwerb, zu welchem in der That die Kurzsichtigkeit früherer Jahrhunderte sie verurtheilt hatte, sich zu den übrigen Beschäftigungen wenden, um auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, arbeitend und kämpfend, theilzunehmen an dem Schicksal der Nationen, mit welchen die heiligsten Interessen sie bereits unzertrennlich verbunden haben.

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