Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre - Erster Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Reformation und Renaissance

Vergelt's Gott!

1862

Erstes Kapitel.

Seit vielen Jahren lagerte der »krumme Hans« im Südportale des Augsburger Domes und bettelte. Er hatte keinen Familiennamen und wußte auch nichts von seinen Eltern; denn ein Bettler kann der Ahnen entbehren, er steht auf sich allein, und alle mildtätigen Leute sind seine Vettern und Basen. Wie alt er war, wußte Hans ebensowenig; doch konnte er sein Alter ungefähr schätzen. Als kleiner Bube hatte er nämlich mit zugeschaut, wie Ulrich Schwarz, der Augsburger Bürgermeister, im samtenen Ratsmantel gehenkt wurde; Hans saß damals rittlings auf einer Mauer, in dem Augenblicke aber, als der Bürgermeister von der Leiter fiel, verlor auch er das Gleichgewicht und fiel herab, brach das Bein und war und hieß nun nach übel vollendeter Kur der krumme Hans. Das krumme Bein verschaffte ihm dann später den Freibrief der Bettelei und die prächtige Stelle im Domportal. Nun hatte man 1478 geschrieben, als der böse Bürgermeister an den Galgen kam, also schätzte der krumme Hans, daß er selber so um 1470 geboren sei.

Tag für Tag und Jahr um Jahr hielt er seinen Platz warm und hatte endlich den Stein hinten in der linken Ecke des Portales ganz glatt gesessen; das alte Jahrhundert war versunken und das neue heraufgestiegen, Kaiser Friedrich war gestorben und Kaiser Maximilian, böse und gute Zeiten waren vorübergegangen: der krumme Hans blieb so fest auf seinem Steine, als gehöre er mit zu den Standbildern, welche ringsum das Portal schmückten. Er war allmählich alt geworden und erschien doch immer der gleiche, ein Mann des Jammers in Mienen und Gebärden, innerlich aber seelenvergnügt über seinen Beruf, den er für den allergemütlichsten hielt, und über seinen Stein, welcher ohne Zweifel der würdigste und einträglichste Bettelplatz in der ganzen Reichsstadt war.

Nun geschah es, daß der Bettler in seinen alten Tagen einen Schatz fand, den mancher Reiche vergebens sucht, nämlich einen Menschen, welchen er liebhaben konnte, als wäre er sein leibliches Kind, einen jungen Freund und Bettelgenossen, gleich seelenvergnügt im gemeinsamen Berufe wie er selber, einen Freund, in welchem ihm die Jugend zum zweitenmal wieder blühte. Dieser Freund hieß Veit Roluf.

Als ihn der krumme Hans kennenlernte, war Veit etwa sechzehn Jahre alt, und Hans witterte augenblicklich des Jünglings reiches Talent zum Betteln. Denn obgleich der arbeitsscheue Bursche noch so jung war, wußte er doch schon die ganze Stadt zu täuschen, daß sie glaubte, er habe einen lahmen Arm und eine entsetzlich verstümmelte rechte Hand. Mit bewundernswerter Kunst hielt er den Arm allezeit steif und zog die Schulter schief hinauf, als gehe ihm die Lähmung bis zum Halse. Die kranke Hand aber war dicht mit schmutzigen Tüchern umwickelt, und begehrte jemand den Schaden zu sehen, so schälte Veit mit so herzzerreißendem Stöhnen einen blutigen Lappen nach dem anderen los, daß jener gewiß schon genug hatte, bevor nur die Hälfte dieser Hüllen gefallen war. Selbst den Bettelvogt hatte Veit Roluf hinters Licht geführt und ihm das Blechzeichen abgelistet, durch welches er sich nun als ein wegen schwerer Gebrechen obrigkeitlich geduldeter Bettler ausweisen konnte.

Alle wahre Freundschaft wurzelt in der Ergänzung zweier verschieden gearteter und dennoch verwandter Naturen. So war es auch bei den beiden Bettelleuten. Hans war krumm, und Veit war lahm, also jeglicher ein Krüppel. Aber das krumme Bein des Alten war Natur, der lahme Arm des Jungen Kunst. Darum glaubte Hans, daß er in diesem Stück bevorzugt sei, seines Gebrechens sicherer und daß also auch sein Beruf auf einer gediegeneren Grundlage ruhe. Den arbeitskräftigen Bettlern legte der Gassenknecht zeitweilig das Handwerk. Dagegen besaß Veit einen anderen beneidenswerten Vorzug: er war ein Augsburger Stadtkind; die eingeborenen Bettler aber duldete man dauernd, während die fremden so als ums andere Jahr aus der Stadt geschafft wurden. Da der krumme Hans selbst nicht wußte, wo er zur Welt gekommen, so würde ihn dieses Los schon längst getroffen haben, wenn er sich nicht in einem historisch so wichtigen Moment und angesichts der ganzen Stadt zum Krüppel gefallen hätte. Als ein lebendiges Wahrzeichen des denkwürdigen Tages ließ man ihn in Frieden, und Hans behauptete zuletzt, er sei zwar kein Eingeborener, aber auch kein Fremder, sondern ein Adoptivkind der Reichsstadt Augsburg. Dies also war der zwiefache Unterschied bei zwiefacher Gleichheit, welcher die beiden Bettler zu neidlos sich ergänzender Freundschaft führte: Hans war ein natürlicher und Veit ein künstlicher Krüppel, Veit dagegen ein natürlicher und Hans ein künstlicher Augsburger.

Der alte Hans wußte aber seine Zärtlichkeit an dem jungen Veit nicht inniger auszulassen, als indem er ihn aufs strengste in die Schule nahm: er wollte ihn zu einem Bettelvirtuosen ohnegleichen machen; so viel Geist und Gaben, wie sie Veit Roluf besaß, sollten der Vaterstadt nicht verlorengehen oder in Stümperei und Liebhaberarbeit verpuffen. Denn Hans konnte sich den vollkommensten Menschen nur in der Gestalt des vollkommensten Bettlers denken, und im ewigen Leben begehrte er kein besseres Teil, als daß er neben Sankt Peter an der Himmelspforte sitzen und in Ewigkeit die einziehenden Seelen anbetteln dürfe, ganz so wie hienieden die Kirchgänger am Südportale des Augsburger Domes.

Neidlos enthüllte darum Hans dem jungen Veit alle Geheimnisse der höheren Bettelkunst, die er sich ausgesonnen und während seiner langen Praxis bewährt gefunden. Keinem anderen Menschen würde er sie verraten haben, allein die Liebe öffnete ihm den Mund. Vor allen Dingen aber suchte er dem Freunde den echten Zunftstolz einzuflößen und ihn vor Zersplitterung seines Talentes in den niederen Zweigen der Bettelei zu behüten.

»Du darfst kein fahrender Bettler werden, mein Sohn«, so sprach er wohl, »kein Fechtbruder, der in Häusern und Gassen, ja wohl gar auf den Heerstraßen umherzieht: das ist gemeine Landstreicherart, die schickt sich nicht für unsereins. In jedem Beruf ist der seßhafteste Mann der ehrenfesteste, und ich sitze schon fünfundzwanzig Jahre auf diesem selben Stein. Aber ein sitzender Bettler und ein sitzender Bettler ist auch wiederum zweierlei: es kommt darauf an, wo er sitzt. Das sind geringe Leute, die an den Stadttoren und Straßenecken lagern; der Platz an der Kirche macht erst den rechten Mann. Der Schinder und Schäfer heißt ein Doktor, weil er Kranke kuriert, und mehr tut selbst des Kaisers Leibarzt nicht; so groß aber der Sprung vom studierten Doktor zum Doktor Schinder, so breit ist auch die Kluft zwischen dem seßhaften Kirchenbettler und dem sitzenden Gassenbettler. Der geistliche Stand ist der erste, und der Kirchenbettler gehört doch wohl mit zur Geistlichkeit, er ist nahezu so gut wie ein Bettelmönch, nur daß er's ohne Gelübde treibt und auf eigene Faust. Hat der Dompfarrer drinnen in der Kirche von den guten Werken gepredigt, so kann die Gemeinde beim Herausgehen an meiner ausgestreckten Hand erweisen, ob sie auch Täter des Wortes zählt, und spreche ich nach jedem Heller, der zu mir herabfällt: ›Vergelt's Gott tausendmal für die armen Seelen im Fegfeuer!‹, so ist das auch eine Predigt, kurz zwar, aber verständlich für jedermann.«

Und also bewies Hans ganz klar, daß er zum höchsten Bettleradel gehöre. Allein damit war es noch nicht genug. Seines Erachtens behauptete er wiederum, innerhalb dieses Adels den höchsten Posten im Römischen Reiche zu Lehen zu tragen; denn eben jener Stein, welchen er seit fünfundzwanzig Jahren glatt gesessen, ruhte auf einer ganz eigen privilegierten Stelle. Als nämlich die Bischöfe von Augsburg den gotischen Westchor zum altromanischen Bau des Domes fügten, lag ihnen ein Stück Reichsstraße quer im Wege. Die Stadt erlaubte den Bau auf diesem ihrem Grund und Boden, behielt sich aber das Recht des Durchganges vor vom Süd- zum Nordportale quer durch die Kirche.

»Darum«, sprach Hans zu seinem Freunde, »ist der Stein zwar, worauf ich sitze, bischöflich, der Boden aber, in welchem der Stein sitzt, ist reichsfrei, und also kann ich mich wohl einen landesherrlichen und einen reichsunmittelbaren Bettler zugleich nennen. Nur wenn es im Mittag die Sonne gar zu gut meint, ziehe ich mich tiefer in den Schatten des Gewölbes auf rein bischöflichen Boden zurück. Allein dies ist eben wiederum ein Vorzug vor meinem Nachbar am Nordportale, der sonst einen fast gleich guten Platz behauptet; denn er bettelt zwar auch bischöflich und reichsunmittelbar zugleich, er bettelt aber das ganze Jahr im Schatten.«

Hier machte der krumme Hans eine lange Pause und fuhr darauf bewegteren Tones fort: »Muß ich einmal sterben, dann sollst du, mein Sohn, der Erbe meines Platzes sein. Das geht freilich hier in Augsburg nicht wie in Köln, wo die Bettelleute ihren Töchtern so ohne weiteres einen guten Kirchenplatz zur Aussteuer mitgeben, bei uns muß man Schritt für Schritt den Berg erklimmen. Setze du dich darum einstweilen vor das Pförtchen bei St. Anna; die Stelle ist gering und trägt nicht viel, aber für einen Anfänger ist sie doch nicht zu verachten. In Jahr und Tag kannst du dann vielleicht zum Nordportal des Domes vorrücken, denn der Bettler da drüben hustet in einem fort, daß ich's bis zu meinem Stein herüber höre: er wird's nicht lange mehr treiben. Hast du aber erst einmal dort im Schatten festen Fuß gefaßt, so magst du auch leicht mir hieher auf die Sonnenseite nachrücken, wenn es einmal Gott gefallen wird, mich aus diesem irdischen Bettelloch abzurufen an das Südportal seines himmlischen Domes.«

Der Alte hatte anfangs im gewohnten weinerlichen Ton gesprochen, als flehe er um ein Almosen, zuletzt aber kamen ihm die wirklichen Tränen. Veit hörte leuchtenden Auges, welch glänzende Zukunft ihm eröffnet wurde, und sagte halb lächelnd, halb weinend: »Vergelt's Gott tausendmal!« und drückte dem väterlichen Freunde die Hand. Und der stille Jubel über den Ruhm, den ihm der Freund erschloß, verdrängte bald den wehmütigen Gedanken, daß der Gipfel dieses Ruhmes doch erst mit des Freundes Tod zu erreichen sei. Darf ein Kronprinz nicht mit stolzer Freude dem künftigen Herrscherberuf entgegensehen, obgleich er weiß, daß er erst durch seines Vaters Tod zum Thron aufsteigen wird? Veit dünkte sich jetzt auch ein Kronprinz. Bettelnd war er aus den Träumen seiner Kindheit erwacht, Bettelbuben waren seine Spielkameraden gewesen, unter dem Bettlervolk fand der Jüngling Freunde und Gleichstrebende, nur durch Bettlerstreiche hatte er bei ihnen Lob und Bewunderung gewonnen; kein anderer Weg stand ihm in der zünftig ausgeteilten Welt offen als die Bettelfahrt. Sollte er die reichen Kaufleute und Handwerker beneiden und ihnen nacheifern, da er doch niemals ihresgleichen werden konnte? Es kommt darauf an, welches Glanzgestirn uns in der Jugend zum erstenmal recht tief in die Seele leuchtete: dem ersten Sterne folgen wir zumeist durchs ganze Leben. Wäre Cäsar jener Stern gewesen, so würde Veit Roluf nach dem Ruhme eines Helden gerungen haben, wäre es Homer, nach Dichterruhm; nun aber war ihm der krumme Hans, der so fest auf seinem Steine saß, jener Fixstern: Hans war ihm Cäsar und Homer. Darum dürstete er, den krummen Hans zu erreichen, ja zu überglänzen im Bettlerruhme.

Dankbar befolgte er den Rat des Alten und setzte sich vor das Pförtchen von St. Anna, und kein Heller war ihm zu abgegriffen, kein Stück Brot zu trocken, daß er's nicht angenommen hätte. Denn die Lust und List des Gewinnens reizte ihn mehr als der Gewinn selber. Jeden Abend aber ging er zum krummen Hans, erzählte ihm die Abenteuer des Tages, und mehr wiederum als die Lust des Gewinnens beglückte ihn dann des Alten sparsames Lob. So war Veit glückselig über seinen schönen Beruf und Hans glückselig über den Veit, und im ganzen Römischen Reich gab es wohl keine zufriedeneren Bettelleute als die beiden Freunde.

Zweites Kapitel.

Und dennoch kam alles anders, als beide gehofft, und zwar aus zwei gewichtigen Gründen.

Denn erstlich war der dröhnende Husten des Bettlers am Nordportale kein Zeichen der Schwindsucht, sondern vielmehr der ungebrochenen Kraft seiner Lungen. Dieser Husten, welcher selbst den krummen Hans täuschte, war ebensogut vollendete Kunst wie Veit Rolufs lahmer Arm, und also wurde auch in Jahr und Tag der ersehnte Platz nicht frei.

Zweitens aber zog die Reformation durchs deutsche Land und vorab durch die deutschen Städte. Da räumte nun wohl endlich der unverwüstliche Mann am Nordportale im Jahre 1537 seinen Platz, obgleich er immer noch mit frischer Kraft forthustete; allein auch die anderen Kirchenbettler wurden vertrieben und der ganze katholische Klerus dazu, und der Dom ward eine lutherische Kirche. Der krumme Hans folgte dem Bischöfe mit dem Kapitel und den Domschätzen ins Exil nach Dillingen: – weil er sich für eine Art lebendiges Inventariatsstück des Domschatzes ansah, so achtete er's unter seine Würde, an einen anderen Ort zu fliehen. Nun standen freilich die beiden Plätze mit einem Male leer, aber niemand wagte, sie wiedereinzunehmen; Veit Roluf, der nächste Anwärter, war längst sogar von der bescheidenen Kirchentür bei St. Anna verjagt worden: ihn hatte schon vor fünf Jahren die Reformation aus der Laufbahn eines seßhaften Kirchenbettlers hinausgeworfen, und er fristete, sich in den Häusern umherschleichend, ein kümmerliches und ruhmloses Leben; denn lutherisch bettelte sich's nirgends mehr so gut wie katholisch.

Rührend war der Abschied der beiden Freunde, als der krumme Hans, ein so festgesessener hoher Sechziger, nun auch den Wanderstab des Flüchtlings ergreifen mußte. Während der Junge verzweifelnd klagte über die steigende Schlechtigkeit der Zeit, die nicht einmal einen Bettler mehr ruhig und ehrenvoll sein Brot gewinnen lasse, war der Alte voll Würde und Ergebung. »Bettle du nur stille fort«, sprach er, »bleibe treu deinem Berufe und meinen Lehren. In kurzer Frist werden wir alle wiederkommen und fester auf unseren Stühlen und Steinen sitzen als vorher. Wer der höchsten Ehren seines Berufes wert sein will, der muß auch für denselben dulden können. Dies, mein Sohn, bedenke zu jeder Zeit, dann wirst du auch den krummen Hans nicht ganz vergessen. Und nun behüte dich Gott!«

Veit vergaß in der Tat des väterlichen Freundes nicht und trug seine Lehren in treuem Gedächtnis. Da aber die ganze Stadt lutherisch geworden war, so bekam er fast immer Scheltworte zur kargen Gabe, wenn er nach seines Lehrers Weise sagte: »Vergelt's Gott für die armen Seelen im Fegfeuer«, und ward also endlich lutherisch gleich den anderen, schnitt die armen Seelen hinweg, schaffte das Fegfeuer ab und dankte nur noch mit einem kurzen »Vergelt's Gott!« Da ging es ihm eine Weile wieder ein klein wenig besser.

Zu selbiger Zeit brach eine pestartige Seuche in Augsburg aus. Die Spitäler füllten sich, und es fehlte an Pflege für die ansteckenden Kranken, manche Wärter liefen davon, andere erlagen der Seuche. Veit, der in den bösen Tagen kaum mehr das trockene Brot zusammenbettelte – denn die reichen Leute flohen aus der Stadt –, war des Lebens herzlich müde und dachte zum öfteren daran, sich selber aus der Welt zu schaffen. Da kam er zuletzt auf den Gedanken, die am wenigsten sündliche Art von Selbstmord sei wohl, wenn er als Krankenwärter in ein Pesthaus gehe. Also meldete er sich zu diesem Dienste. Man stutzte zwar anfangs über den lahmen Bettler, da aber die Hilfe eines Armes doch immer besser schien als gar keine, so nahm man ihn an.

Kaum aber befand sich Veit im Spitale, so geschah ein Wunder an ihm. Der faule Geselle, welcher bis dahin niemals eine wahre Arbeit geschmeckt, wurde wie berauscht von dem Gedanken, daß er nun auch arbeite wie andere Leute. Während er nur sonst »Vergelt's Gott!« gesagt, hörte er jetzt auf einmal, daß die anderen – Kranke, Genesende und Sterbende – ihm »Vergelt's Gott!« zuriefen, und nicht im leierhaften Bettlertone, sondern aus tiefstem, vollstem Herzen. Wie ein zündender Strahl fuhr es ihm durch die Seele, daß Geben seliger sei als Nehmen. Und nun eben geschah das Wunder. Veit, der bis dahin nie sich selbst vergessen, nie den Arm bewegt hatte und die steife Schulter so kunstvoll heuchelte, um zu faulenzen und sich fremde Barmherzigkeit zu erschleichen, vergaß nun sich selbst, da er gegen andere Barmherzigkeit übte, und griff plötzlich zu mit beiden Armen im seligen Taumel der Arbeit und der Menschenliebe.

Staunend bemerkte der Spitalpfarrer, wie der lahme Veit so frisch mit gesunden Gliedern ins Zeug ging und die schmutzigen Lumpen wegwarf, in welche seine Hand gewickelt war. Aber viel mehr noch staunte Veit selber, da ihm der Pfarrer zurief: »Veit, wo ist denn dein lahmer Arm geblieben?«

Jetzt erst gewahrte der Bettler, wie ganz er sich und seine Lahmheit dazu vergessen hatte, und fuhr auf wie aus einem Traume und blickte auf seinen Arm, ob der auch gewiß nicht mehr lahm sei. Dann erwiderte er endlich, rot bis über die Ohren: »Ein Arm reicht nicht mehr in diesem Elend, da muß ich wohl beide nehmen.« Weiter sprach er kein Wort und griff nur um so tapferer zu, daß er seine Beschämung verberge. Und auch der Pfarrer ging schweigend vorüber.

Aber die Mär von der plötzlichen Heilung des lahmen Veit lief rasch durch die ganze Stadt, und wie die Engel im Himmel ihre ganz besondere Freude haben über einen Sünder, der umkehrt, so freuten sich auch alle guten Leute in Augsburg ganz besonders über Veit Rolufs Wunderkur. Der lahme Veit war bis dahin ein volkstümlicher Lump gewesen, jetzt ward er über Nacht ein volkstümlicher Ehrenmann. Der Spitalpfarrer, welcher mit seinem Takte schwieg, als Veit beschämt vor ihm gestanden, redete nachgehends um so lauter bei anderen Leuten über Veit und erwirkte, daß man den ehemaligen Bettler auch nach dem raschen Verlauf des Sterbens beim Spitale behielt. Veit aber bewährte sich fort und fort so wacker, daß er nach Jahr und Tag zum Spitalhausmeister aufrückte, mit freier Wohnung, Kost, Holz und Licht, einem neuen Rock zu Georgi und Michaeli und einem Hausgärtchen für Obst, Salat und Petersilie, dazu auch etlichen Gulden Bargeld.

Das war abermals ein Wunder. Ein reichsstädtischer Magistrat hatte seinen lahmen Arm auch einmal bewegten Herzens vergessen, ganz ebenso wie Veit Roluf, und keinen Günstling aus vetterschaftlichen Kreisen zu jenem Posten befördert, sondern den im Feuer erprobten Mann, obwohl derselbe nur aus einer Bettlersippschaft stammte.

Dem Veit aber sah es nun kein Mensch mehr an, daß er so lange Zeit bettelnd auf der faulen Haut gelegen. Sein Blick war fester geworden, sein Gang mannhafter, mit gerechtem Stolz empfand er, was es heißt, im selbsterrungenen, gesicherten Behagen leben, geachtet von seinen Mitbürgern. Gar oft fragte er sich: »Was wird der krumme Hans dazu sagen?« Denn das süßeste bei allen später gewonnen Ehren bleibt doch, daß wir unseren Jugendfreunden zeigen können, zu welch einem Prachtburschen wir uns wider Erwarten ausgewachsen haben. Und Veit dachte, der krumme Hans müsse jetzt wohl glänzen vor Freude, wenn er seinen Freund und Schüler in so hohen Würden sehe. Mitunter überlief es ihn jedoch auch heiß, und er zweifelte, ob die Hausmeisterwürde dem stolzen bischöflichen und reichsunmittelbaren Bettler denn doch so ganz recht sei. Allein das war nur ein leichtes Wölkchen, welches beim nächsten Sonnenblicke wieder zerrann.

Da kam abermals eine neue Zeit. Die protestantischen Fürsten und Städte hatten im Schmalkaldischen Kriege das Spiel gegen den Kaiser verloren; am 23. Juli 1547 zog Karl V. mit vielem Kriegsvolk in Augsburg ein; Bürgermeister und Rat empfingen ihn, schwarz gekleidet, kniefällig und boten ihm vier Lastwagen voll Wein als Willkommtrunk, und in denselben Tagen weihte der neue Bischof und Kardinal Otto Truchseß, welcher inzwischen statt des im Exil verstorbenen Bischofes Christoph zu Dillingen erwählt worden war, den Dom und die meisten Kirchen der Stadt aufs neue zum katholischen Gottesdienste ein.

Der alte Bischof Christoph hatte zwar seinen Sitz nicht wieder bestiegen, der krumme Hans aber war wiedergekommen mit dem neuen Bischofe und saß zum erstenmal wieder auf seinem Stein, als der berühmte Michael Sidonius vor dem Kaiser samt vielen vornehmen Herren und zahllosem Volke im Dom über das Meßopfer predigte.

Unverändert, als sei er gestern weggegangen, saß der fast achtzigjährige Bettler in dem Südportale, und doch lagen zehn Jahre der Verbannung hinter ihm. Auf drei Männer blickte alles Volk an diesem Tage mit besonderem Staunen: auf den Prediger, den Kaiser und den Bettelmann. Eine lebende Bildsäule, saß der Alte da, kein Lichtstrahl der Freude oder des Triumphes flog über seine steinernen Züge; als ob gar nichts derweil geschehen sei, sprach er heute seine Gebete wie vor zehn Jahren, reckte die welke Hand aus und murmelte in den langen weißen Bart: »Vergelt's Gott tausendmal für die armen Seelen im Fegfeuer!« Überreich flossen ihm die Gaben zu, daß er sie kaum bergen konnte; ihn aber berührte das scheinbar gar nicht, und hätte man ihm keinen Heller geschenkt, es würde ihn scheinbar ebensowenig berührt haben. So meisterhaft beherrschte er sich selbst und seine Kunst.

Am Nachmittag eilte Veit Roluf zum Dome; er hatte gehört, der krumme Hans sitze wieder dort; er wußte kaum, wie ihn seine Füße trugen, so fieberhaft schüttelte ihn der nahe Augenblick des Wiedersehens. Schon von der Ferne rief er dem Freunde laute Grüße zu und winkte und schritt in stürmischer Eile gegen das Portal. Aber es war, als ob er hier wider einen Stein pralle: der Alte rührte sich nicht; er ließ den Rosenkranz zwischen den Fingern gleiten und betete leise sein Paternoster fort. Veit trat ihm gegenüber, bot ihm die Hand und hieß ihn mit Tränen im Auge herzlich willkommen. Da hielt der Alte einen Augenblick an; seitwärts und von unten herauf blickte er lange und fest nach dem ehemaligen Freunde hinüber und maß ihn langsam vom Kopf bis zum Fuße: – es war ein Blick des tiefsten Mitleids und der tiefsten Verachtung. Alles war erstorben an dem alten Manne, nur das Auge bewahrte ein Feuer und eine Kraft, daß man sah, seine ganze Seele lebte noch und in dieser Seele sein ganzer Stolz und sein ganzer Zorn.

Veit stand wie vom Blitze getroffen. Er stotterte Entschuldigungen, er bat, er flehte um ein einziges gutes Wort; der Alte betete ruhig ein Paternoster um das andere, als säße er ganz allein auf seinem Steine, und als er Paternoster genug hatte und Veit noch immer weitersprach, fing er mit Ave-Marias an. Betäubt von Scham und Zorn, schlich Veit sich endlich hinweg. Der Alte schien es gar nicht zu sehen; er hatte nur einen Blick für ihn gehabt, und diesen einen hatte er ihm gegeben.

Drittes Kapitel.

Veit verstand den Blick und das Schweigen des Alten. Er wußte wohl, daß der krumme Hans nicht kindisch geworden sei und aus Stumpfsinn geschwiegen habe, und schloß auch ganz richtig, daß er ihm nicht wegen des Abfalls vom alten Glauben zürne, sondern lediglich wegen des Abfalls vom alten Bettlerberuf. Er stand jetzt in so hohen Ehren, wie er sie früher nie geträumt, und doch schnitt ihm der verachtende Blick des alten Bettlers so tief ins Herz, daß es ihm plötzlich dünkte, er stehe viel tiefer noch als der schlechteste Bettelbube.

Doch das waren nur verfliegende Zweifel. Veit wußte ja recht gut, daß er inwendig und auswendig ein besserer Mann geworden sei.

Eines Tages ging er am Nordportale des Domes vorüber. Der Sitz stand leer; der hustende Bettler war nicht wiedergekommen aus dem Exil. »Was würde mich jetzt hindern, daß ich den lange beneideten und erstrebten Platz einnähme«, dachte Veit bei sich und blickte wehmütig auf die verwaiste Stätte. Es juckte ihn, sich einmal probeweise unter das Portal zu stellen. Allein er widerstand; er sah auf seinen sauberen Rock, seinen geraden Arm und schlich kopfschüttelnd weiter.

Mehrmals versuchte er es noch, dem alten Freunde ein gutes Wort zu geben, er wollte ihn erweichen durch seine standhafte Treue, aber auch der krumme Hans blieb standhaft; er blickte jeden alten Bekannten freundlich an und redete mit ihm, für den Hausmeister hatte er kein Wort und keinen Blick mehr. Kam der nur von ferne, so betete Hans seine Paternoster so laut und eifrig, als wolle er aller Welt Sünden abbeten.

Veit ward täglich tiefsinniger. Er hätte seinen Rock in Bettlerlumpen zerreißen mögen, wenn er nur wieder einmal »Vergelt's Gott!« hätte sagen dürfen. Das murmelte er zwar oft im Selbstgespräch zwischen den Zähnen, als wolle er's neu einüben, aber den rechten Bettelton fand er nicht mehr.

Eines Tages führte ihn ein Geschäft ins benachbarte Schmuttertal, und auf dem Heimwege ging er die Heerstraße über den Sandberg. Als er den Berg hinaufstieg, kamen Kaufleute von Ulm herüber mit Wagen und Saumtieren. Sie taten recht gemach wegen der Steigung; die Stelle war so einsam, kein Mensch weit und breit, die Kaufleute so nahe dem Ziele einer nicht ganz gefahrlosen Reise; sie mochten jetzt wohl dankbaren Herzens recht aufgelegt sein, einem armen Teufel ein Almosen zu geben. Diese und ähnliche Gedanken fuhren dem Veit berauschend durch den Kopf; die Abendsonne verglühte so schön, die Vögel sangen so süß; es war ein wonnevoller Augenblick zum Betteln. Ehe er selbst noch recht wußte, was er tat, stand er am Straßenrande und hielt den Kaufleuten, tief gebeugt, mit unverständlichem Gemurmel die Mütze entgegen. Die Kaufleute schauten ihn groß an. »Ist der Kerl doch fast besser gekleidet wie wir, der frischeste, kräftigste Mann, und schämt sich nicht zu betteln!« rief einer aus dem Zuge, und sie gingen weiter und schoben ihn mit strafender Verachtung beiseite.

Wie von kaltem Wasser begossen, kam Veit erst jetzt wieder zu sich selbst und schämte sich, daß er hätte in die Erde sinken mögen. Doch – so rätselhaft ist des Menschen Herz! – nicht weil er gebettelt, wurde er rot, sondern weil er so stümperhaft schlecht gebettelt hatte. »Am lahmen Arm hat's gefehlt«, dachte er dann, indes er langsam zur Stadt hinabwanderte; »hätte ich die Schulter steif gezogen wie vordem, so hätte ich auch wieder einmal ›Vergelt's Gott!‹ sagen können wie in alten Zeiten!«

Und im Gehen probierte er fort und fort, ob er den lahmen Arm wieder herauskriegen könne. Aber die selbstgewisse Zuversicht fehlte, es gab immer nur einen gestümperten lahmen Arm, und als er durch Oberhausen ging, wurde er durch einen Schwarm Bauernbuben aus seinen Träumen und Übungen aufgeweckt; denn diese liefen jubelnd hinter ihm drein und machten's ihm nach, wie er beständig übend mit der Schulter zuckte und den Arm bald höher, bald tiefer steif hielt.

So hatte er denn wirklich seine alte Kunst verlernt und lieferte nur noch jene Pfuscher- und Liebhaberarbeit, vor welcher ihn weiland der krumme Hans so sehr gewarnt hatte. Er bettelte wie ein Schulbube; denn es fehlte ihm der begeisternde Glaube an sich selbst. Allein war er dafür nicht ein Meister in anderen Dingen geworden? Hausmeister hieß er freilich; ob er's aber auch war im vollen Sinne des Wortes? Deuchte es ihm doch jetzt, als hielten ihn die Leute bloß für einen ungelernten Liebhaber der Hausmeisterei, ja ihm selber war es heute, als schwindle er bloß ein bißchen in ehrlicher Arbeit, indes Faulenzen und Betteln doch sein innerster, leider gleichfalls verlorener Beruf sei. Als er durchs Wertachbrucker Tor in die Stadt einlenkte, fürchtete er sich, denselben Menschen ins Gesicht zu blicken, die er beim Ausmarsche noch so fest begrüßt hatte; er glaubte, sie sähen's ihm an der Nase an, daß er eigentlich kein rechter Hausmeister sei.

»Ach, könnte ich doch wieder einmal ordentlich betteln!« Mit diesem Seufzer legte er sich endlich ins Bett. Und jeden Abend wiederholte er bei sich immer inniger denselben Ausruf, zuletzt so innig, daß er wieder aus dem Bette sprang und in der Dämmerung durch die Straßen lief, und als ihm am Perlach ein fremder Herr begegnete, drückte er sich ein wenig in den Schatten des Turmes und bettelte ihn kurzweg an. Der Fremde aber griff nicht in die Tasche, sondern erhob drohend den Stock und rief: »Ist das auch so ein verlaufener lutherischer Ketzer, der nur ohne Umstände Geld begehrt und mir nicht einmal ein Gebet für meine arme Seele bietet?« Veit schob sich ganz sachte im Schatten weiter. »Die gute alte Zeit ist dahin!« klagte er für sich. »Bettle ich den nächsten katholisch an, so gehört er vermutlich zur Augsburgischen Konfession und schwenkt den Stock, weil ich nicht lutherisch bettelte. Überall wankt der Boden unter mir.«

Den andern Tag aber ward Veit vor den Spitalpfarrer beschieden, welcher ihn scharf ins Gebet nahm. Denn es war ruchbar geworden, daß sich der Hausmeister zuzeiten wieder auf den Bettel lege. Veit gestand ohne Umschweif. Ordentlich gebettelt habe er freilich noch nicht, sondern nur hie und da probiert, ob das Ding noch gehe. Es stecke ein Heimweh in ihm nach der Bettelei, er könne es gar nicht begreifen, so eine Art Schwangerschaftsgelüsten, er müsse behext sein, auch sei es ihm seit vierzehn Tagen im Leibe nicht recht, vielleicht auch im Kopfe, und er wolle es gewiß nicht wieder tun, aber der Pfarrer möge ihm mit einem geistlichen Mittel zu Hilfe kommen gegen den Zauber; denn daß es ihm jemand angetan, das unterliege keinem Zweifel.

Der Pfarrer verschrieb sofort das gewünschte geistliche Mittel, indem er dem armen Veit mit einer furchtbaren Strafpredigt den Kopf wusch, auch mit Fortjagen aus Amt und Brot recht deutlich winkte. Zuletzt aber ward er immer milder und endete mit einem Gleichnis. »Du hast deine Krankheit nicht unrichtig ein Heimweh genannt. Ich will dir dies in einem Bilde noch klarer verdeutschen. Wenn wir aus unserer Jugendheimat in ein viel schöneres Land gezogen sind, dann freuen wir uns anfangs der Veränderung, finden alles gut und besser und denken kaum zurück an die verlassene Gegend. Doch nach kurzer Zeit steigt die alte Heimat schön und immer schöner, wie verklärt wiederum vor unserem Geiste auf, es friert uns in dem neuen Lande, und drüben auf der verlorenen Ferne ruht warmer Sonnenschein; wir möchten davonlaufen, so zieht es uns hinüber, wir möchten vergehen vor Heimweh. Das aber währt nur eine gemessene Frist, die wir mannhaft überwinden müssen. Allmählich verblaßt das ferne, geträumte Bild wieder von selbst, wir freuen uns doppelt des Guten, welches uns umgibt, und zuletzt ist doch der Mann nur da ganz zu Hause, wo ihm Gott eine gesegnete Arbeit zugewiesen hat und gute Menschen ihn ehren in seinem Tagewerk.«

Veit nahm sich die Worte zu Herzen und hielt still und fleißiger als je zu seinem Berufe und bog in die Seitengassen, wenn er den Dom nur von weitem sah, daß er ja dem gefürchteten Süd- und Nordportal aus dem Wege gehe. So schien denn alles wieder gut.

Zur selbigen Zeit lag ein heimatloses Mädchen im Spital, welches man fieberkrank aus einer Herberge gebracht hatte. Obgleich sie etwas verwildert aussah, auch anfangs etwas ungewaschen, so war sie doch eine ganz hübsche Dirne mit feurigem Aug' und stolzen, trutzigen Lippen, dazu kaum zwanzig Jahre alt. Veit hatte kein besonderes Acht auf sie, und nach den Frauenzimmern zu sehen, war überhaupt nicht seine schwache Seite. Das Mädchen genas und sollte am nächsten Tage das Spital verlassen. Da bemerkte Veit, daß sie weinend vor ihrem Bette saß. Er fragte, was ihr fehle, und sie erwiderte: »Mir fehlt meine Mutter. Als ich im Fieber die Besinnung verlor, stand sie noch bei mir, doch als ich im Spitale wieder zu mir kam, war sie verschwunden; sie hat mich hier nicht aufgesucht, und ich weiß auch nicht, wo ich sie finden soll.«

Nun fragte Veit nach der Herberge, in welcher die Kranke zuletzt mit ihrer Mutter gewesen, und als sie den »fliegenden Fisch« nannte, da ging ihm plötzlich ein Licht auf. Der »fliegende Fisch« war eine Bettlerherberge, das Mädchen eine Betteldirne, und da vor etlichen Wochen ein starker Schub fremder Bettler aus der Stadt geschafft und die Mutter vermutlich mit ausgewiesen worden war, so konnte sie freilich ihr krankes Kind im Spitale nicht aufsuchen.

Bei dieser Entdeckung schaute Veit dem Mädchen zum erstenmal genau ins Gesicht und fand, daß sie ganz schön sei. Teilnehmend forschte er weiter nach ihren Schicksalen, und ihm war, als habe ihm bloß deshalb bisher kein Mädchen gefallen, weil er noch kein schönes Bettelmädchen gesehen. Diese nun war schön und eine Bettlerin, und also gefiel sie ihm über die Maßen. Dazu faßte sie den Bettlerberuf gar anmutig und gemütvoll. »Wir sind keine gemeinen Bettler«, sprach sie, »meine Mutter und ich; wir strecken nicht jedermann die Hand entgegen. Nur wo ich recht glückliche oder recht betrübte Menschen sehe, Menschen, die schon vorher warm und mürbe gemacht wurden, murmle ich leise meine Bitte. Denn der Frohe schenkt auch froh und aus dem vollen; er will Genossen seines Glückes haben, und wäre das auch nur ein Hund oder ein Bettler; der Betrübte aber möchte unserem Herrgott gerne ein gutes Wort geben durch das reiche Almosen, oder er denkt: bin ich nun so freudlos, so sollst du, arme Bettlerin, doch wenigstens eine gute Stunde haben. Dem Glücklichen aber sage ich dann recht wehmütig: ›Vergelt's Gott!‹ und dem Betrübten recht erfreut, und also rühre ich den einen und tröste den anderen und gebe in zwei Worten einem jeden, was ihm fehlt.«

Veit überdachte bei dieser Rede, wie groß und erbaulich der krumme Hans seinen Bettlerberuf fasse und wie sinnig und sein dieses Mädchen und daß doch ein Handwerk so gar schlecht nicht sein könne, welches ein Patriarch so fromm und ein Mädchen so liebenswürdig anzugreifen vermöge.

In wundersamen Träumen schwebend, begleitete er des anderen Tages das Kind in den »fliegenden Fisch«, damit er ihm den Aufenthalt der Mutter erkunden helfe. Hier aber war er ganz überflüssig. Obgleich viel Volk in der Herberge lagerte, erfuhren sie doch nichts; denn die zerlumpten Leute mißtrauten dem Eindringling im guten Rock, und Veit fühlte wohl, daß seine Gegenwart dem Mädchen mehr schade, als nütze. Wäre er nur auch ein Bettler gewesen! Doch sorgte er für ihre vorläufige Unterkunft.

Allein als er kurz nachher wieder in den »fliegenden Fisch« ging, war seine Schöne mit anderem Bettelvolk auf und davon geflogen. Er folgte ihrer Spur bis Friedberg und lief ihr noch fünf Stunden weiter nach ins Bayerland; aber er fand sie nicht. Wäre er noch ein Bettler gewesen, sie würde ihm schwerlich entkommen sein; die Zunftgenossen, welchen er da und dort begegnete, würden ihm sicher ihren Weg verraten haben, während sie jetzt scheu seinen Fragen auswichen; ja, das Mädchen wäre dann wohl überhaupt nicht davongelaufen, sondern hätte ihn stracks geheiratet. Er wollte verzweifeln, daß er kein Bettler mehr sei, und kehrte müde und elend zur Stadt zurück.

Da gab er auf die Straße nicht acht, und ehe er sich's versah, stand er vor dem Nordportale des Domes gerade an der Ecke, wo vordem der ewig hustende Bettler gesessen. Die Leute gingen zur Abendandacht ein und aus, und Veit blieb stehen wie eine Schildwache und starrte die Menschen und die steinernen Heiligenbilder gedankenlos an und merkte gar nicht, daß er ganz mechanisch den lahmen Arm probierte und vor sich hin sprach bald freudigen, bald traurigen Tones: »Vergelt's Gott!«, und merkte auch nicht, daß ihn viele lächelnd, andere strafend maßen; denn er dachte weder an den Arm noch an die Kirchengänger, sondern an die Betteldirne, die so gar schön »Vergelt's Gott!« gesagt hatte, und daß sie ihm gewiß nicht davongelaufen, wenn er nur auch noch ein Bettler gewesen wäre. Doch urplötzlich weckte ihn der gewaltige Baß des Küsters, welcher ihn zornig weggehen hieß und höhnend fragte, ob er etwa als lutherischer Spittelmeister seine alte Bettelei am katholischen Dome wieder beginnen wolle.

Jetzt erst erkannte Veit, wie zweideutig er auf dem verführerischen Platze gestanden, und schritt eilends auf dem nächsten Wege – auf der Reichsstraße – quer durch den Chor zum Südportale hinaus. Hier aber sah er ein blaues Wunder: der Stein stand leer, der krumme Hans war verschwunden! Diese unglaubliche Tatsache ließ ihn im Augenblicke all sein eigenes Leid vergessen: Hans mußte tot sein oder todkrank; denn aus keiner anderen Ursache würde er je zu dieser Stunde seinen Stein verlassen haben. Veit eilte sogleich in den »fliegenden Fisch«, um vom Herbergsvater, der alle Bettler kannte, zu erfahren, was geschehen sei. Er hatte das Rechte geahnt. Der krumme Hans besaß seinen Unterschlupf in einem Hinterhäuschen an den Lechkanälen, dort lag er schon seit acht Tagen elend und verlassen, von der Gicht gelähmt. »Es steht schlimm«, sagte der Herbergsvater. »Der alte Knabe wird Monate brauchen, bis er wieder betteln kann; stirbt er aber vor der Zeit Hungers, dann braucht er freilich auch nachher den Bettel weiter nicht mehr.«

Viertes Kapitel.

Veit zitterte vor Begier, dem verlassenen Alten stracks zu helfen. Aber wie? Er durfte ihm ja nicht über die Schwelle, Hans würde sonst zu der Gicht wohl gar noch einen Schlaganfall bekommen haben. Überdies mußte er vorerst ins Spital zurück, denn die Abendglocke läutete. Er hatte eine gar unruhige Nacht; bis zwölf Uhr konnte er nicht einschlafen, weil er Mittel suchte und nicht fand, wie dem Freunde zu helfen sei, und nach zwölf Uhr schlief er wieder nicht, weil er sich gar zu unbändig freute, daß er ein Mittel gefunden habe.

Am frühen Morgen war er schon auf den Beinen und eilte zu dem ziemlich entlegenen Hause des Spitalpfarrers; denn diesen brauchte er für seinen Plan. Der Pfarrer aber schritt in derselben Stunde zum Spital, und so trafen beide mittenweges in einem engen Gäßchen zusammen, beide vor Eifer glühend, der Pfarrer im Eifer des Zornes und der Strafe, Veit im Eifer der Vorfreude über ein gutes Werk.

»Dich suche ich, Veit!« rief der Pfarrer.

»Und ich suche Euch!« rief Veit fast gleichzeitig.

Der Pfarrer staunte: rückte doch der sonst so höfliche und bescheidene Veit nicht einmal an seiner Mütze und warf ihm jene Worte nur so zu, wie wenn er einem Zechbruder begegne. Darum begann denn der geistliche Herr auch ohne alle weiteren Zeremonien: »Schickt es sich, Veit, daß du, der Spittelmeister, mit Betteldirnen in den ›fliegenden Fisch‹ ziehst, ja einer Betteldirne ins Land hinein nachläufst und deinen Dienst versäumst? Schickt es sich, daß –«

»Nein, das schickt sich nicht, Herr Pfarrer! Ich weiß es, ich habe gefehlt«, unterbrach ihn Veit, »aber das ist schon lange her, das war gestern, heute ist eine andere Zeit, heute bin ich ein anderer Mensch, heute muß ich betteln, nur einmal noch recht tüchtig betteln, ehe ich sterbe–«

»Schickt es sich«, rief der Pfarrer noch donnernder dazwischen. »daß du, der Spittelmeister, dich wie ein Bettler ins Domportal stellst zum Skandal der halben Stadt, ja daß du dich vom Domküster mußt hinwegjagen lassen? Schickt es sich, daß–«

Immer zu gleicher Zeit, wie in einem Duett, rief Veit mit gleichfalls wachsender Stimme: »Nein! Nein! Aber das war gestern schon, das sind alte Geschichten! Straft mich nachher, jagt mich fort, nur laßt mich zuvor einmal noch betteln; ich komme ja zu Euch, Herr Pfarrer, daß Ihr selber mir den Bettelbrief schreibt!«

Der Pfarrer glaubte nunmehr, Veit sei übergeschnappt; darum ließ er ihm allein das Wort und blickte ihm scharf prüfend in die Augen.

Veit, da er solchergestalt etwas mehr Luft bekam, fuhr nun mit minderem Ungestüme fort: »Ich gestehe, daß ich falsch gebettelt, schlecht gebettelt habe, aber jetzt« – »du sollst gar nicht betteln!« zürnte der Pfarrer – »jetzt – laßt mich doch ausreden, Herr Pfarrer, – jetzt weiß ich, wie ich noch einmal in meinem Leben recht und gut betteln kann.« Dann erzählte er ihm von dem kranken, verlassenen Hans, seinem väterlichen Freunde und Lehrer, und wie derselbe nicht mehr betteln könne und Hungers sterben müsse. Für den Hans wolle er betteln in allen Häusern – gleichviel ob lutherisch oder katholisch –, nicht als Bettler, sondern als Krankenwärter und Spitalmeister, und daß es ihm die Leute auch ganz gewiß glaubten, begehre er von seinem Pfarrer den Bettelbrief.

»Und tust du das bloß für den krummen Hans?«

»Ja und nein!« entgegnete der aufrichtige Veit. »Ich tue es fast ganz für den Hans und nur ein klein bißchen für mich. Der Hans muß alles Geld kriegen, und ich werde nur darum gut betteln, weil es für den Hans geschieht. Aber ich leugne nicht, daß ich auch für mich eine kindische Freude habe an dieser Bettelei. Ich weiß, daß ich nicht betteln soll. Aber es war doch gar zu schön, als ich in jungen Jahren noch so ganz ohne Arg und so recht von Herzen betteln konnte; nur einmal noch im Leben möchte ich betteln, und jetzt habe ich den schönsten Anlaß dazu; – es soll ja niemals wieder geschehen!«

Lange schwieg der Pfarrer und schaute zur Erde; Veit zitterte für eine abschlägige Antwort. Endlich erhob jener lächelnd das Gesicht: »Du bist der Hausmeister, und ich bin der Pfarrer des Spitals, und seltsamerweise liegen wir auch beide, wie man so sagt, in demselben Spitale krank. Ich habe in jungen Jahren fürs Leben gern deutsche Reime gemacht zu Hochzeiten und Kindtaufen, zum Schmaus und Zechgelage und wo man sonst fröhlich war; denn mein Vater war ein Weber und Meistersänger. Als ich aber geistlich wurde, da sagte man mir, die Reimerei schicke sich nicht für einen Pfarrer; dem zieme höchstens ein lateinischer Vers oder ein geistliches Lied. So ließ ich's also bleiben. Doch heimlich muß ich zuzeiten immer wieder einen lustigen deutschen Reim machen; aber ach, die werden alle schlecht, weil ich sie nicht laut hinausklingen lassen darf, und es ist mir manchmal, Hans Sachs, der Schuster in Nürnberg, – also auch so ein Hans – sei ein beneidenswerterer Mann als alle Augsburger Pfarrer. Armer Veit! Was wir einmal in der Jugend erstrebt, das winkt und lockt uns durchs ganze Leben, und hätten wir gleich zehnmal Besseres inzwischen gewonnen. Ich schreibe dir den Bettelbrief, Veit, und zwar in Reimen; denn hier ist ja doch auch ein geistlicher Zweck, und so gut der Spitalpfarrer dann reimen darf für den verlassenen Greis, so gut darf der Spittelmeister auch für denselben betteln.«

Wäre es nicht auf offener Gasse gewesen, so würde Veit dem Pfarrer vor Freude um den Hals gefallen sein. Aber die Zeit drängte. Also ging der Pfarrer rasch nach Hause und machte seine Reime, und schon am selben Nachmittage zog Veit mit dem poetischen Bettelbriefe durch die Stadt. Der Pfarrer hatte gereimt wie der beste Meistersänger, und Veit bettelte nun nicht mehr wie ein Hausmeister, sondern wie der beste Bettelmeister, und je weiter er von Haus zu Haus kam, reich beschenkt von hundert Händen, um so klarer ward es ihm, daß er jetzt erst die allerschönste Art des Bettelns gefunden habe, nämlich selbstlos für andere zu betteln, und er meinte, wenn er für den armen verlassenen Hans »Vergelt's Gott!« sage, so klinge das noch herzbewegender als der fröhliche Dank des Mädchens beim betrübten und der wehmütige beim glücklichen Geber, ja als seines alten Lehrers erbaulich erhabenes »Vergelt's Gott tausendmal für die armen Seelen im Fegfeuer!« obendrein.

Nachdem er aber vorderhand genug hatte, eilte er an die Lechkanäle zum Unterschlupf des krummen Hans. Ohne Bangen betrat er die Schwelle.

– Da lag der Alte tot auf seinem Stroh!

Veit stand wie vom Donner gerührt. Nun hatte er noch einmal recht meisterhaft gebettelt und doch wiederum vergebens!

Erst nach langem Schweigen und Sinnen bemerkte er zwei alte Bettelleute, die neben der Leiche saßen. Der krumme Hans hatte sie als die zuverlässigsten Männer seines Zeichens ans Sterbelager rufen lassen, daß er ihnen – denn er traute den Stadtschreibern und Gerichtsleuten nicht – seinen letzten Willen mündlich kundgebe, auf Treu und Glauben, wie man ihn Sterbenden halten muß.

Der Älteste von beiden sprach zu Veit: »Wir bewahren unseres Freundes letzten Willen, den er uns klar und bei vollem Verstande zweimal gesagt, in gutem Gedächtnis. Er lautete etwa, wie folgt:

›Was ich in meinem Leben gewann, das habe ich als einen Sold der Armut und des Elendes empfangen; ich vermache es also wiederum dem ärmsten und elendesten Manne in Augsburg. Dieser Mann ist mein mißratenes Pflegekind Veit Roluf. Er wird ohne Zweifel noch ganz zugrunde gehen, und dann kann er nicht einmal ordentlich an den Bettelstab kommen; denn für einen Bettler ist er aus der Wurzel verdorben. Seinem Berufe ward er abtrünnig, seinen Freunden untreu, und dennoch liebe ich ihn wie ein Vater sein unglückliches, ungeratenes Kind. Das Vermögen kann ich ihm selber nicht in die Hand geben: ein Mensch, der so schlecht wie Veit seinen Vorteil versteht, kann kein Erbe verwalten. Damit er nun doch einen Notpfennig habe, wenn er über kurz oder lang von seiner Hausmeisterei fortgejagt wird und dann nicht einmal auf den Gassen fechten kann wie ein ganz gemeiner Landstreicher, so hinterlege ich mein Geld beim Herbergsvater zum ›fliegenden Fisch‹, der es einem guten Handelshause übergeben und dem armen Teufel jedes Jahr zu Pfingsten und Ostern die Zinsen richtig auszahlen wird. Erreicht Veit sein siebzigstes Jahr, so kommt ihm vielleicht der Schwabenverstand; also soll er von da an mit dem Kapitale machen dürfen, was er will.‹«

Veit, der so viel Geld dem ärmsten Manne zu bringen gedachte und nun von diesem mit so viel mehr, mit dem Vermögen eines reichen Bürgers, bedacht wurde, fand kein Wort, kaum einen Gedanken. Niemand wußte bis dahin, daß der krumme Hans solche Summen zusammengescharrt und aufgehoben hatte. Man konnte darum zweifeln, was erstaunlicher sei, der Reichtum des Erblassers oder die Ehrlichkeit der Zeugen seines letzten Willens. Aber an all dieses dachte Veit nicht, er überhörte auch ganz die Frage, ob er das Vermächtnis annehme.

Endlich sprach er, die kalte knöcherne Hand der Leiche umfassend: »Hans! Vater Hans! Hättest du nur ein paar Stunden länger gelebt, du hättest gesehen, daß ich doch noch betteln kann!« Aber dann deuchte es ihm, Hans sehe jetzt wohl vom Südportale des Himmels herunter und wisse das alles recht gut und lobe ihn wie in alter Zeit, daß er so gut gebettelt habe.

Als er aber später ruhig geworden, dachte er bei sich, er habe das ersehnte Ziel seiner Jugend doch errungen und sogar den krummen Hans erreicht, ja überglänzt, indem er bei Lebzeiten schon jene höchste Art des Bettelns geübt, die Hans erst im Sterben gefunden: – des Bettelns für andere. Und so ward er zufrieden, war und blieb ein vortrefflicher Hausmeister und versuchte nie mehr, für sich selbst zu betteln, und wann er die Zinsen seines Kapitals erhob, dann sagte er allemal mit aufwärtsgewandtem Blick, als sähe er den krummen Hans da oben am Portale sitzen: »Vergelt's Gott tausendmal!«


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