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Unser Herrgott macht's den Menschen selten recht: er schenkt ihnen bald zuwenig, bald zuviel.
Der Graf Norbert im Hattengau und seine Frau hatten schon lange einen Sohn erhofft und erbetet, da kam Frau Jutta am Pfingstsonntage 1265 mit Zwillingen nieder, und es waren zwei Knaben. Einer wäre vorderhand genug gewesen; doch nahm man nun auch den überreichen Segen mit Dank und Freude hin.
Die beiden Sonntagskinder waren stark und gesund und sahen sich so ähnlich wie ein Ei dem anderen. Die Amme schlang darum dem älteren sofort ein rotes Bändchen um den linken Arm, auf daß er mit dem jüngeren nicht verwechselt würde und nicht später ein Streit entstünde über das Altersvorrecht. Denn der Erstgeborene sollte die sämtlichen großen Lehensgüter des Hauses erben.
Nach dem frommen Brauche der Zeit wurden die Neugeborenen schon am ersten Tage ihres Lebens getauft, der ältere auf den Namen Walram, der jüngere auf den Namen Gunther.
Die besondere Liebe der Mutter wandte sich alsbald dem kleinen Walram zu, dem Glückskinde, welches so gescheit gewesen war, zuerst zur Welt zu kommen. Es ist etwas Eigenes um das Glück: wir schätzen es am höchsten, wenn wir oder andere es am wenigsten verdient haben.
Auch der Vater fand den Stammhalter, den er öfters zärtlich ansah, weit kräftiger und schöner als den Nachgeborenen, welchen er kaum eines Blickes würdigte. Übrigens wußte er mit beiden Kindern noch nichts Rechtes anzufangen und meinte im stillen, die winzigen Geschöpfe seien zur Zeit ja noch dümmer und täppischer wie zwei junge Hunde. Er hatte recht: in den ersten Wochen seines Daseins ist ein junger Hund klüger und manierlicher wie ein gleich junger Mensch; erst nach Monaten wächst der Mensch dem Hunde über den Kopf, und die meisten Väter gewinnen erst dann ein Verständnis für ihre Kinder, wenn dieselben über den Hund gekommen sind. Die Mutter dagegen versteht ihr Kind vom ersten Tage an. Die Zwillinge wurden von einer alten Magd gepflegt, einem Erbstück des Hauses, die vor dreißig Jahren bereits den Vater gepflegt hatte, als er geradeso hilflos dalag wie jetzt seine Kinder.
Sie hieß Leisa, und man nannte sie die Husbeckin nach ihrem Vater, der ein Höriger des Grafen gewesen war und auf dem kleinen Hofe Husbach gesessen hatte. Sie wartete der beiden Kinder mit gleicher zärtlicher Sorgfalt. Und doch hatte auch sie am dritten Tage schon größeren Respekt vor Walram. War er nicht recht eigentlich von Gottes Gnaden vor seinem Bruder zu ihrem künftigen Herrn erkoren?
Dieser dritte Tag sollte verhängnisvoll werden.
Während die Mutter schlief, war die Husbeckin in der Nebenstube beschäftigt, die Kleinen zu baden. Sie hatte Walram auf den Tisch gelegt, indes sie Gunther in das laue Wasser der Wanne tauchte und wusch und bespritzte, zu seinem sichtlichen Vergnügen. Da rutschte Walram vom Tisch und stürzte auf den harten Estrich des Fußbodens, wo er lautlos liegenblieb.
Die Alte, von lähmendem Schreck durchzuckt, wäre fast zusammengebrochen und gleichfalls zu Boden gestürzt, aber sie ermannte sich, hob das Kind mit zitternden Händen auf, schüttelte es und klopfte ihm auf den Rücken: da zuckte es noch einmal und blieb dann starr und steif in ihren Händen; der letzte Lebensfunke schien erloschen.
Sie wollte um Hilfe rufen, doch die Stimme versagte ihr; es ward ihr schwarz vor den Augen, sie wußte nicht mehr, wo sie war, was sie tat, was geschehen war.
Nach einer Weile kam sie wieder zu Sinnen, – sie starrte auf das tote Kind. Die Schuld deuchte ihr doppelt groß, das Unglück doppelt entsetzlich, weil es das kostbare Leben des Erstgeborenen getroffen hatte. Mußte doch einmal ein Kind vom Tische fallen, warum war es nicht Gunther gewesen? Aber wer war denn eigentlich Walram, wer war Gunther? Sie unterschieden sich zur Zeit durch nichts als durch das rote Bändchen.
Da fuhr es der armen Husbeckin wie ein Blitz durch den Kopf: – sie löste hastig das rote Band von Walrams Arm und schlang es um den Arm des jüngeren Bruders.
Dann atmete sie auf. Nicht ihre Schuld wollte sie mindern, aber das Unglück des Hauses glaubte sie in ihrer Einfalt gemindert zu haben: der Stammhalter war nun doch noch heil und gesund, und dem toten Kinde konnte durch den Verlust des roten Bändchens ja kein Erbrecht mehr verkürzt werden!
Und jetzt erwachte sie erst aus ihrer traumhaften Erstarrung, schrie laut auf, rief die Leute herbei, heulte und jammerte und zeigte und erzählte dem entsetzten Vater das Schreckliche.
Der Graf machte sich die bittersten Vorwürfe, daß er dem alten Weibe die Kinder allein habe anvertrauen können, und verwies die Alte für immer aus seinen Augen.
Kaum hatte jedoch die verzweifelnde Dienerin das Haus verlassen, so entdeckte man schwache Lebenszeichen an dem verunglückten Kleinen. Er zuckte und begann ganz leise zu stöhnen und zu wimmern, – er war nicht tot! Man rief eine heilkundige Frau, und sie erklärte, es sei noch einige Hoffnung, das Kind zu retten, obgleich es mehrere Knochen gebrochen habe.
Mit diesem Troste konnte der Vater das Unglück der Mutter berichten und fügte den weiteren Trost hinzu, daß ja nicht Walram, sondern nur Gunther, der Nachgeborene, den Schaden erlitten habe.
Der arme Kleine, welcher von nun an Gunther hieß, genas in der Tat. Da aber die Knochenbrüche schlecht genug geheilt wurden, so blieb er schief und verwachsen sein Leben lang. Mit dem Fall vom Tische aber hatte er nicht nur seine schöne Gestalt, sein rotes Bändchen und sein Erstgeburtsrecht verloren, sondern auch die besondere Vorliebe der Eltern, die nunmehr von ihm auf den früher vernachlässigten Bruder überging.
Die Husbeckin war spurlos verschwunden; man hielt es für eine sehr gnädige Strafe, daß sie bloß davongejagt worden war, und es fragte niemand, wohin sie geflohen sei.
Am vierzigsten Tage nach ihrer Niederkunft trug Frau Jutta die beiden Kinder zur Kirche des benachbarten Klosters Mergenthal, damit sie selber dort samt den Kleinen gesegnet würde. So wollte es der alte fromme Brauch.
Zum Zeichen des demütigen Dankes über die unverdiente Gnade ging die Mutter barfuß, ganz schmucklos in ein langes graues Bußgewand gekleidet, welches nach der Heimkehr einer armen Frau geschenkt werden sollte. Sie beabsichtigte, die beiden Kinder den ganzen weiten Weg auf ihren Armen zu tragen; allein der kleine Walram, welchen wir von nun an Gunther heißen müssen, litt noch so große Schmerzen und wimmerte so wehleidig bei jeder Bewegung, daß er einer Dienerin übergeben wurde, die mit ihm hinter der Gräfin einherging. Und so hatte denn der unverdient glücklichere Gunther, den die Husbeckin zum Walram umgetauft hatte, auch hier den Vortritt und ruhte allein in den Armen der Mutter.
Der Abt des Klosters sprach den Segen über Mutter und Kinder und pries die besondere Gnade des Himmels, der den Erstgeborenen vor Schaden behütet habe. Während dieser Rede schrie der verkrüppelte Kleine jammervoll, indes sein glücklicherer Bruder sich ganz still verhielt, wozu er auch alle Ursache hatte.
Hinter einem Pfeiler in der dunkelsten Ecke der Kirche lauschte ein armes Weib der feierlichen Handlung, – es war die Husbeckin. Sie hatte sich dahinten versteckt und spähte zitternd manchmal aus, ob man sie nicht entdeckte; doch keiner bemerkte sie. Atemlos lauschte sie bis zum Ende. Dann lief sie stracks davon und irrte stundenlang im Walde umher, bis sie zum Tode ermattet am Fuße einer Eiche niedersank. Sie starrte in die hindämmernde Nacht und zermarterte sich den Kopf mit tollen Gedanken in wunderlichem Selbstgespräch.
»Warum habe ich das rote Bändchen vertauscht? Wäre der ältere Knabe tot gewesen, so würde der jüngere ja doch der Erbherr geworden sein, auch ohne mein Bändchen. Allein er wurde wieder lebendig: ich muß ihm sein Bändchen wiedergeben.«
Sollte sie zum Grafen gehen? Sollte sie bekennen, was sie getan? Würde man ihr jetzt noch glauben? Würde man sie nicht für verrückt halten? Man war ja so froh, man pries Gott, daß der Erstgeborene heil und gesund geblieben! Bekannte sie die Wahrheit, dann war der Erstgeborene ein Krüppel, und der Abt hatte seine ganze schöne Rede von der besonderen Gnade Gottes irrtümlich gehalten.
Die Husbeckin hatte sich in die Kirche geschlichen, weil sie unter Furcht und Beben hoffte, dort werde ihr Gewissen entlastet werden, indem sich die Verwechslung der Kinder durch ein Wunder enthülle. Sie hatte den Mut, diesem unerwarteten Wunder beizuwohnen, auch wenn es zerschmetternd auf ihr Haupt falle; jenes Wunder selbst zu tun, dazu hatte sie den Mut nicht.
Allein es geschah kein Wunder.
»Also hat Gott es geduldet«, so fuhr sie in ihrem Selbstgespräche fort, »daß ich, die armseligste Kreatur, seinen ursprünglichen Willen geändert und den Jüngeren, welchen er doch anfangs zurückgesetzt, nun zum Älteren erhoben habe. – Ist es nicht Sünde und Narrheit, so zu denken? Wie könnte ich, die arme Husbeckin, unseres Herrgotts Willen wenden! Nein, sein Wille ist es vielmehr gewesen, daß der Zweitgeborene der Erstgeborene werden sollte, und ich war nur das Werkzeug, welches ausführte, was Gott von Ewigkeit her gewollt hat!«
Ihre Gedanken verwirrten sich; ein Abgrund tat sich vor ihr auf, in welchen sie schwindelnd immer tiefer und tiefer blickte, und was sie sah, war doch nur ein unendliches, immer schwärzeres Dunkel.
Dann sprach sie wieder zu sich selbst: »Der neue Walram führt jetzt einen Namen, auf den er gar nicht getauft ist, und der neue Gunther desgleichen. Ich habe beide umgetauft und bin doch kein Pfarrer. Jedes der beiden Kinder hat seinen heiligen Namenspatron durch die Taufe erhalten, der ihm fürs ganze Leben hilfreich zur Seite stehen wird. Der heilige Walram wird wohl ein guter Heiliger sein und der heilige Gunther nicht minder. Die zwei Heiligen können sich jetzt miteinander streiten um die zwei Kinder; sie können mich strafen, weil ich ihnen genommen und gegeben habe, was ich gar nicht geben und nehmen darf, und von den Kindern ruft in Zukunft jedes einen unrichtigen Namenspatron an und feiert einen falschen Namenstag.«
So sprach das arme Weib in seiner einfältigen Weise. Sie blieb die ganze Nacht, in sich gekauert, am Stamm der Eiche sitzen, halb wachend, halb schlafend. Ein schweres Gewitter brach herein. Das Geheul des Sturmes und das Rollen des Donners verschlangen sich gegenseitig. Sie träumte, es sei das Jüngste Gericht. Sie stand vor dem Stuhle des Weltenrichters; ein Engel hielt die Waage ihrer guten und bösen Taten. Die beiden Schalen schwebten fast gleich: da warf der Engel das rote Bändchen in die linke Schale, und die Schale sank tief zu Boden. Ein greller Blitz umflammte die Schläferin, und unter dem krachenden Donner stürzte sie zur Hölle hinab.
Sie erwachte. Allein es dauerte geraume Zeit, bis es ihr klar ward, daß sie noch lebendig und leibhaftig die alte Husbeckin sei und unter der Eiche im Markwald sitze.
Das Gewitter verzog sich, der Morgen dämmerte. Jetzt erst raffte sie sich auf und schlich zu ihrer bisherigen Zufluchtsstätte zurück, der am Waldessaum gelegenen Hütte eines Schäfers, wo sie seit ihrer Verjagung vom Schlosse verborgen gelebt hatte.
Der Schäfer stellte sie zur Rede über ihr nächtliches Umherschweifen und wollte wissen, wo sie die ganze Nacht gewesen sei.
Sie bekannte, daß sie unter der großen Eiche im Markwald gesessen habe trotz Sturm und Regen, kaum eine Viertelstunde von der Hütte entfernt.
Der Schäfer fragte, was sie denn dort getan habe und warum sie nicht heimgegangen sei bei dem Unwetter.
»Ich tat gar nichts. Ich machte mir meine Gedanken, und eben darum konnte ich nicht von der Stelle.«
Der Schäfer erschrak. Er war schon sehr oft bis auf die Haut naß geworden, aber niemals darum, weil ihn seine Gedanken verhindert hätten, ins Trockene zu gehen. Das alte Weib erschien ihm plötzlich ganz unheimlich. War sie verhext oder verrückt?
Er wollte wissen, was das für Gedanken gewesen seien, die sie sich gemacht habe. Doch ihre Antworten lauteten so verworren und verwirrend, daß er selber sich nun Gedanken zu machen begann, ob es denn recht sei, eine von Gott so sichtbar mit Wahnsinn geschlagene Person hilflos unter seinem Dache zu behalten.
Sie murmelte minutenlang ganz leise in sich hinein. Das kam dem Schäfer noch viel unheimlicher vor als zuerst ihr lautes Gerede. Denn er sprach den ganzen Tag so wenig, daß es ihm Arbeit genug war, anderen zu antworten; mit sich selbst zu sprechen erschien ihm ganz unnatürlich. Wer mit sich selbst spricht, ist ein Narr; das hatte ihm seine Großmutter schon gesagt.
Von ihrem Selbstgespräch aber verstand er nur das eine, daß sie sich einer großen Sünde anzuklagen schien, die ihr das Herz abdrücke und die sie doch nicht bekannte.
Als er darum gegen Mittag dem Abt von Mergenthal begegnete, bat er ihn flehentlich, mit ihm zu seiner Hütte zu gehen und den Zustand der Husbeckin gründlich zu untersuchen; die Alte sei verrückt, sie spreche mit sich selber.
Der Abt ging mit.
Die Husbeckin schwieg anfangs auf alle seine Fragen; plötzlich aber brach sie in einen wahren Redestrom aus und fragte den Abt, ob es denn möglich sei, daß ein einfältiges Weib wie sie den Willen Gottes umwerfen könne, oder ob sie vielleicht den wahren Willen Gottes zur Tat gemacht, indem sie ihn umgeworfen habe. Der Abt erwiderte, ihre erste Frage sei ein Frevel und ihre zweite Frage ein Unsinn, bei welchem ihm der Verstand stillestehe. Beide Fragen aber bewiesen, daß sie in sündhafte Gedanken verstrickt sei; darum fordere er sie auf, ihm ihre Sünden zu beichten, dann würde es schon wieder hell werden in ihrem Kopfe.
Die Alte schien diese Aufforderung gar nicht zu verstehen. Sie sah dem Abte mit gläsernen Augen ins Gesicht, und ihre Gedanken waren offenbar ganz woanders. Es war kein Wort mehr aus ihr herauszubringen.
Zuletzt nahm der Abt den Schäfer beiseite und sprach zu ihm: »Die Husbeckin hat ihren rechten Verstand verloren; sie ist besessen. Sie könnte sich und Euch Schaden bringen, wenn sie länger in der Hütte bliebe. Ich will den Grafen bitten, daß er sie ins Schloß zurücknimmt. Dort kann man sie beobachten, einsperren und den Teufel austreiben.«
Am nächsten Tage sprach der Abt in diesem Sinne mit dem Grafen, den bei der Schilderung vom Zustande der Husbeckin ein tiefes Erbarmen überkam. Er war nicht immer so hartherzig wie in jener Stunde des Zornes, wo er die alte treue Dienerin fortgejagt hatte. Ja, er hatte sich schon längst geängstigt, daß sie so ganz verschollen war, und fragte sich nun, ob nicht vielleicht seine eigene Härte die Ursache ihrer Verrücktheit sei. Ohne Zögern ging er darum auf den Wunsch des Mönches ein.
Als ein Dienstmann der Husbeckin die Nachricht brachte, daß der Graf sie wieder zu Gnaden in sein Haus aufnehmen wolle, weigerte sie sich lange hartnäckig mitzugehen. Plötzlich wurde sie anderen Sinnes. Es erschien ihr als eine Buße, der sie sich nicht entziehen dürfe, als eine Buße, daß sie täglich das arme verkrüppelte Kind sehen müsse, welches sie um seine geraden Glieder und um sein Erbrecht gebracht.
Sie kehrte ins Schloß zurück, stumm und stumpf, und lebte ganz stille in dem Kämmerlein des abgelegensten Außenturmes, das man ihr zur Wohnung anwies. Sie sprach tagelang kein Wort und tat nichts Närrisches, vom frühen Morgen bis zum späten Abend spinnend und webend. Wäre nicht ihr starrer Blick und das unverständliche Gemurmel, welches während der Arbeit oft stundenlang ganz leis ihre Lippen bewegte, so unheimlich gewesen, so würde sie kein Mensch für närrisch gehalten haben.
Und man ließ sie ganz in Ruhe.
Dies kam aber daher, weil der Abt behauptete, sie sei verhext, und der Graf, sie sei verrückt. Der eine wollte dem bösen Weibe den Teufel austreiben und der andere die arme Kranke heilen. Hierüber stritten sie sich wochenlang. Zuletzt glaubte der Abt, auch der Graf sei verhext, weil er die Husbeckin für verrückt halte, und der Graf, der Abt sei verrückt, weil er die Husbeckin verhext glaubte. Es kam darüber zu einer beiderseits sehr nachteiligen Spannung zwischen Schloß und Kloster. Die anfängliche Ursache des Streites aber wurde über dem Streite vergessen, und die alte Husbeckin spann, wob und murmelte in Frieden weiter.
Es kam eine ganze Reihe sonniger Jahre für das Grafenhaus im Hattengau.
Sie flogen so schnell dahin, daß man ihre Flucht erst merkte, als sie vergangen waren. Das Glück kann vielgestaltig sein wie das Unglück, Glück und Unglück können auch langsam schleichen; aber am glücklichsten sind wir doch, wenn hinterdrein nicht viel von unserem Glücke zu erzählen ist, das so rasch vorüberhuschte. Und so erzähle ich auch nur ganz wenig von diesen guten Jahren.
Die beiden Knaben wuchsen fröhlich heran; Gunther – denn so müssen wir ihn fortan nennen – blieb schief und verwachsen, allein ein schwächlicher Junge wurde er doch nicht. Im Kern gesund, entwickelte er eine Körperkraft, die alle äußeren Hemmnisse überwand, und gar manchmal warf er seinen schlank und gerade gewachsenen Bruder im Ringkampf zu Boden. Nur im Wettlauf war ihm Walram weit überlegen.
Die Eltern freuten sich der aufblühenden Knaben um so mehr, da auch noch ein Töchterchen hinzugekommen war, die Kinderstube voll und lebendig zu machen. Wenn nur Gunther schöner gewesen wäre!
Die Frau Gräfin konnte lesen und schreiben und unterrichtete ihre Kinder in beidem, während der Graf diese pfäffischen Künste um so gründlicher verachtete, weil er sie niemals gelernt hatte. Der buckelige Gunther konnte mit acht Jahren schon das ganze Abc, was seinem erlauchten Vater fast unheimlich vorkam. »Der Junge hat das Zeug zu einem Pfaffen«, pflegte er zu sagen, »schade, daß er buckelig ist, er könnte sonst einmal Bischof werden. Aber die Kirche will keine Krüppel, so wenig wie die Ritterschaft.« Der schöne Walram hingegen kam nie über das D hinaus, und wenn er dem Gemach der Mutter entlaufen war, schimpfte er über die langweiligen Buchstaben. Das hörte sein Vater mit stillem Vergnügen und sprach: »Der Junge hat ritterlichen Geist.«
Auch Gunther eilte gerne aus dem Frauengemach nach beendeter Lehrstunde. Er schlich dann hinüber zu dem kleinen Außenturm und besuchte die Husbeckin; er zeigte ihr, was er gelernt hatte, und sie sollte es nachmachen: er wollte sie schreiben lehren! Vergebens sträubte sich die Alte; sie mußte die Buchstaben nachmalen, welche ihr Gunther auf seiner Tafel vorschrieb. Allein ihre zitternde Hand brachte nur die tollsten Krähenfüße zustande. Darüber lachte dann wohl Gunther recht herzlich, aber manchmal war er auch tief betrübt, daß die Husbeckin gar nicht schreiben lernen konnte.
Warum zog es den Knaben immer wieder zu der verstörten alten Frau, vor welcher andere Kinder erschraken und davonliefen? Sie wagte nicht, ihn anzublicken, sie fürchtete sich vor ihm wie vor ihrem bösen Gewissen, sie tat ihm nicht freundlich, sie brachte in seiner Gegenwart oft kein Wort über die Lippen – und doch kam Gunther immer wieder zu ihr und war glücklich, ihr erzählen zu können und sie schreiben zu lehren, obgleich sie's niemals lernte. Ahnte der Knabe, daß dieses arme, elende Wesen ihn liebte wie ihren Augapfel, während sie erstarrte, wenn er kam, daß sie ihr Leben für ihn gegeben hätte, da sie doch vor ihm zitterte als vor dem Fluch ihres Lebens?
Als Gunther sich wieder einmal vergebens bemüht hatte, ihr seine neu erlernte Kunst beizubringen, rief die Alte, wie wenn sich ihr Inneres plötzlich löste: »Wie bist du doch so gut, und wie bin ich so schlecht!«
»Du bist nicht schlecht, Husbeckin!« entgegnete das Kind, »du bist nur dumm. Sei doch gescheit und mache den Buchstaben nach, wie ich ihn vormache. Man kann alles, was man will, sagt die Mutter, und wenn du willst, so kannst du auch!«
»Wenn ich will, so kann ich auch?« wiederholte die Alte in einem Tone, daß Gunther erschreckt zusammenfuhr.
Nach langem Schweigen murmelte sie dann ganz leise mit bebender Stimme: »Ich will, ich soll – und ich kann doch nicht!«
Gunther schlich sich betrübt hinweg, weil er die arme Frau gekränkt zu haben glaubte. Des anderen Tages kam er wieder, aber seine Schreibtafel brachte er nicht mehr mit.
Mit dem zehnten Jahre nahm der Vater die Söhne in seine Schule und übte sie in den Waffen und im Weidwerk.
Merkwürdigerweise blieb hierbei Gunther trotz seiner Gelehrsamkeit und seines Gebrechens hinter dem glücklicheren Bruder nicht zurück, der doch weder einen schiefen Buckel hatte, noch an der Last des Wissens schwer trug.
Kampf und ritterliches Treiben erfüllte die Einbildungskraft der beiden Knaben, sie sprachen miteinander nur von Hauen und Stechen und träumten von Schlägen, die sie gekriegt oder ausgeteilt hatten. Ihre Spiele waren Turniere und Fehden, Raubzüge und Belagerungen.
Die Kultur unseres Geschlechtes begann damit, daß wir lernten, uns nach den Regeln der Kunst totzuschlagen; – wird sie damit enden, daß wir uns gegenseitig lieben und ertragen? Kein Mensch dachte zu selbiger Zeit an diese Frage, da sich Gunther und Walram so ritterlich rauften und prügelten, und also dachten die beiden Jungen auch nicht daran.
Bald aber trennten sie sich in ihren Spielen, und ein jeder spielte Ritter in seiner besonderen Weise.
Gunther erklomm einen fast unzugänglichen Felsen in der Nähe des väterlichen Schlosses und erbaute sich droben eine Burg aus Steinen und Zweigen. Wenn er aufrecht dabei stand, reichte ihm der höchste Turm bis an die Nase. Allein er brauchte keine größere Burg, um ein ganz vollkommener Ritter zu sein. Halbe Tage lang saß er ganz allein in seinem Adlerneste und träumte, wie er Verfolgte beschütze, müde Wanderer bewirte, ungetaufte Türken erschlage, getaufte schlechte Kerle ins Verließ werfe und über die ganze weite Welt bis zur nächsten Waldecke als ein König herrsche. Er verteidigte seine Burg heute ganz allein und eroberte sie morgen ganz allein, wobei er öfters Gefahr lief, den Hals zu brechen.
Er war dabei so glücklich in seinen Gedanken! Auch große Kinder sind ja in Gedanken am glücklichsten; die Gedanken machen uns hellsehend, wenn wir die Augen schließen; wir tragen sie immer bei uns, wir schwelgen uns satt in ihnen, wenn wir nichts zu nagen und zu beißen haben; sie gehen uns erst verloren, wenn wir selbst uns verlorengehen.
Walram trieb ein ganz anderes Rittertum. Er versammelte alle kleine Buben des Schlosses und der Nachbarschaft um sich und bildete streitbare Haufen, die er ordnete und befehligte, und zwar als ein sehr gestrenger Feldherr; denn wer ihn nicht verstand, den zauste er an den Ohren, bis ihm das Verständnis kam, und wer ihm nicht gehorchte, den schlug er auf den Kopf, bis er gehorchte. Man balgte und raufte sich in wildem Jubel, und da keiner den Erbgrafen ernstlich anzupacken wagte, während er Hiebe und Püffe nach Herzenslust austeilte, so blieb er immer Sieger.
Einstmals lauerte Walram hinter einem Busche, bis ein paar sechsjährige Bauernbübchen des Wegs gezogen kamen, die ein Körbchen mit Äpfeln trugen und sehr vergnüglich davon schmausten. Da brach Walram mit lautem Hallo hervor und nahm den Kleinen die Äpfel ab. Nachdem sich diese jedoch vom ersten Schreck erholt hatten, suchten sie dem Räuber ihre Äpfel wieder zu entreißen, vergaßen dabei allen Respekt vor seiner hohen Geburt und schlugen ihm auf die Nase. Allein der zehnjährige Walram wurde der Kleinen bald wieder Herr und bearbeitete sie so jämmerlich, daß ihr Hilferuf weithin erschallte. Gunther hatte den ganzen Kampf von seinem Felsen aus beobachtet. Jetzt sprang er herab, befreite die Schwachen aus der Hand des Stärkeren und gab ihnen die Äpfel wieder.
Zu Hause verklagte Walram Gunthern beim Vater, und dieser zankte ihn, daß er so unritterlich gewesen sei, mit den Bauernbuben gemeine Sache zu machen gegen seinen Bruder. Zur Strafe solle er heute kein Abendbrot erhalten.
Gunther sah den Vater mit großen tränenden Augen an und schwieg. Nachher aber schlich er in den Turm zur Husbeckin, erzählte ihr die Geschichte und klagte ihr sein Leid.
Die Alte suchte ihn zu trösten, allein ihre Worte verfingen nicht. Da ging sie an einen Kasten, der in der Ecke des Kämmerchens stand, holte ihr eigenes Abendbrot herbei und setzte es Gunther vor zum Ersatze für das Essen, welches man ihm zu Hause entzogen hatte.
Allein Gunther berührte keinen Bissen. »Ich will keinen Trost haben«, rief er, »ich will auch kein Brot, Husbeckin! Du sollst sagen, daß ich recht habe: – dies will ich! Ich will mein Recht!«
»Dein Recht!« schrie die Alte, jäh auffahrend, »dein Recht? Ich wollte dir ja dein Recht geben, dein Recht für heute abend – auf ein Butterbrot. Und du hast es verschmäht. Aber du hast ein viel größeres Recht von deinem Bruder zu fordern; ich habe dir's genommen, und ich will dir's wiedergeben. Höre, was ich dir erzählen will – – – merke genau auf meine Worte – – ach! ich kann die rechten Worte nicht finden – – doch horch! komm herbei!« und sie zog ihn ans Fenster und deutete auf einen Baum, der draußen im Zwinger stand. »Siehst du den Buchfink dort in den Zweigen? Hörst du ihn singen? Der weiß die rechten Worte. Er erzählt dir alles, besser, als ich's vermag. Er singt mir jeden Tag dasselbe Lied vor, er singt von deinem Recht und meiner Sünde!«
Gunther sah keinen Fink und hörte keinen Gesang, aber das Gesicht der Alten war jetzt so entsetzlich anzuschauen, daß er sich losriß und davonlief. Er dachte den ganzen Abend an das Turmstübchen und konnte die Nacht nicht schlafen, weil er fort und fort das schauerliche Gesicht der Husbeckin vor Augen sah, die plötzlich so bös und närrisch geworden war, und kaum vorher war sie doch noch so gut und so gescheit gewesen.
Um Mitternacht stand er auf und blickte hinaus in das schweigende Dunkel. Es war ihm so weh ums Herz, als ob ihn die ganze Welt von sich stoße, er fühlte sich so einsam und verlassen. Da sah er zum gestirnten Himmel, und von dort glänzte ihm ein einzelner Stern, heller wie alle andern, mit wundersam funkelndem Lichte entgegen. Er konnte sein Auge nicht abwenden von dem Sterne, und es überschlich ihn leise ein süßer Trost und ein frohes Hoffen, er wußte nicht, woher und warum, und er sprach zu sich: Mein Abendbrot habe ich verloren, aber das ist mein Stern, der gehört mir, der bleibt mir, den wird mir niemand nehmen.
Während seines Lebens hat er noch unzähligemal nach diesem schönen Stern geblickt; er fand ihn immer wieder, auch wenn der Stern seinen Ort verändert hatte, er nannte ihn stets seinen Stern und glaubte, derselbe werde noch ebenso seinen Frieden und sein Glück bestrahlen wie dazumal und später seinen Kummer.
Er wartete oft auf dieses Glück, und es kam nicht, doch der schöne Stern kam immer wieder.
Zwei Dinge kann jeder Mensch, auch der dümmste: – auf die Welt kommen und sterben.
Das eine hat eigentlich keiner gewollt, obgleich wir später den Tag feiern, an welchem er's getan hat; das andere wollen nur wenige und müssen doch alle.
Vierundzwanzig Jahre hatte Graf Norbert in glücklicher Ehe gelebt, ohne den Tod in seinem Hause zu sehen. Da trat derselbe plötzlich herein, ohne anzuklopfen: die Gräfin starb am Johannistage 1285, als sie eben in heiterem Kreise den Liedern des Junker Kurt von Mörlen lauschte, der so schön vom Reigen unter der Linde sang. Das Tanzlied erstarb mit der Sterbenden.
Frau Jutta lebte so gern, sie hätte so gern noch recht lange gelebt! Eine Frau trennt sich so schwer von ihrem Manne, eine Mutter vielleicht noch schwerer von ihren Kindern: der Glücklichen war der Schmerz der einen wie der anderen Trennung erspart geblieben. Oder kann man vielleicht gar nicht sterben, ohne sich dessen bewußt zu werden? Darüber hat uns noch keiner Kunde gegeben.
Der Graf war niedergeschmettert, dann klagte er laut, dann war er lange still und tief betrübt. Im ersten Monat hätte er selber gern sterben mögen, um sofort auf ewig mit der Dahingeschiedenen vereint zu sein.
Nach Ablauf des ersten Vierteljahres ermannte er sich jedoch und gedachte, im unlösbaren geistigen Zusammensein mit Jutta mutig weiterzuleben.
Nach Ablauf von drei Vierteljahren kam ihm das ganze Schloß so verwaist und einsam vor, die verlassenen Kinder dauerten ihn, obgleich sie schon recht groß waren. Sollte er sich wieder verheiraten?
Doch erst, nachdem das volle Trauerjahr verflossen war, warf er diese Frage immer öfter und ernster auf, und erst zu Michaeli 1286, also nach vollen fünf Vierteljahren, warb er um die Hand der Luitgard, einer schwäbischen Jungfrau aus edlem Stamme, die nur fünfundzwanzig Jahre jünger war als er selbst. Allein Graf Norbert fühlte sich noch jung trotz seiner fünfundvierzig Jahre, und er wollte noch viel jünger, er wollte wieder ganz jung werden an Luitgards Seite.
Das ist ja so oft der Traum des Alters, und der Traum ist auch ein Leben.
Es dünkte Norbert, als habe er mit seiner ersten Frau die Lehrjahre der Ehe durchgemacht, nun wollte er mit der zweiten in die Meisterjahre treten.
Auf den 15. November war die Hochzeit anberaumt. Da erkältete sich der Bräutigam am 31. Oktober auf der Jagd, bekam eine Lungenentzündung und starb drei Tage vor der Hochzeit.
Der liebe Gott hatte dem Grafen also gewährt, was dieser im ersten Monat nach Juttas Tode so sehnlich sich gewünscht hatte: – seiner geliebten Frau nachzusterben. Allein die Gewährung kam viel zu spät, da der Graf jetzt eigentlich gar nicht mehr sterben, sondern eine andere heiraten wollte. Der liebe Gott kann es eben den Menschen niemals recht machen.
Walram, kaum dem Knabenalter entwachsen, war nun mit einemmal Graf, ein großer Vasall des Kaisers, Bannerherr, Richter in des Königs Gericht und vieles andere. Er hatte vor zwanzig Jahren das Anrecht auf alle diese Herrlichkeiten gewonnen, weil er nicht vom Tisch gefallen war und eine alte Magd ihm deshalb ein rotes Bändchen um den linken Arm gebunden hatte, und trat nunmehr in den Vollbesitz jener Herrlichkeiten, weil sein Vater sich auf der Jagd erkältet hatte.
Es geht nirgends wunderlicher zu wie in der Welt.
Man hätte meinen sollen, der arme junge Graf sei ratlos gewesen, wie er sich in all die neuen Bürden und Würden finde, die ihm so über Nacht zuteil geworden waren.
Allein so stand es ganz und gar nicht.
Walrams lebhafter Geist hatte sich schon seit Jahren in kühnen Bildern ausgemalt, was er alles tun wolle, wenn er einmal Graf würde, und so tief ihn des Vaters jäher Tod erschütterte, hatte er doch im stillen nicht zwar diesen Augenblick, wohl aber dessen Folgen schon längst herbeigewünscht. Denn nur durch des Vaters Tod konnte er ja zu seinem Lebensberufe kommen.
Ist es Sünde, sich nach seinem Lebensberufe zu sehnen und die Stunde herbeizuwünschen, wo man ihn antreten kann?
So hat wohl schon mancher Erbprinz gefragt und den Sohn eines Schusters beneidet, der ein Schneider werden will und zur Erfüllung dieses löblichen Wunsches nicht auf den Tod seines Vaters zu hoffen und zu warten braucht.
Walram wollte zunächst verbessern, was sein Vater nicht gut gemacht hatte, denn er war schon seit seinem achten Lebensjahre mit seinem Vater recht unzufrieden gewesen. Vor allem ging er daran, die Stammburg – man nannte sie die Hattenburg – zu erweitern und zu verschönern. Er meinte, der Alte habe gar nicht wie ein Graf gewohnt in den engen, finsteren Mauern und man müsse doch vor allen Dingen gräflich wohnen, um ein richtiger Graf zu sein.
Diese Gedanken fanden keinen Beifall bei seinem Bruder Gunther, der mit treuer Liebe am Gedächtnis der Eltern und an all der trauten Heimeligkeit des elterlichen Hauses hing. Allein Walram hatte schon längst im Sinne gehabt, sich, wenn er einmal Graf wäre, der lästigen Gemeinschaft mit dem so ganz anders gearteten Bruder zu entledigen, dessen schiefer Buckel ohnedies nicht in den prächtigen neuen Palast gepaßt hätte.
Er wies ihm ein mäßiges Lehengut an der fernsten Grenze der Grafschaft zum Unterhalte an. Dort stand ein kleines, altes, burgliches Haus auf steilem Fels, das »Windhaus« genannt, weil es von allen Winden umheult war, in tiefster Waldeinsamkeit, wo sich die Wölfe und Füchse gute Nacht sagten. Die Erträgnisse des Gutes genügten für das Auskommen eines einfachen Bauern, also konnte auch wohl ein buckeliger Grafensohn davon leben.
Walram sagte zu Gunther, das Windhaus entspreche so ganz seinem Geschmack für das Wilde, Schlichte, Weltverlassene, darum habe er es aus brüderlicher Liebe eigens für ihn ausgewählt.
Gunther war anfangs etwas überrascht, daß Walram seinen Geschmack so fein erfaßt und berücksichtigt habe. Allein er fügte sich ohne Groll dem Willen des Familienhauptes und dachte, es sei am Ende doch besser, er lebe in Frieden in dem kalten, armen Neste als in Hader auf dem reichen, stolzen Schlosse.
Bei dem Neubau der Hattenburg mußte auch das Türmchen fallen, welches die alte Husbeckin noch immer bewohnte, ein verlassenes und vergessenes Wesen. Die jüngeren Insassen des Schlosses wußten gar nicht mehr, daß sie überhaupt noch am Leben war.
Graf Walram meinte es gut mit der Alten und bestimmte ihr ein freundlich gelegenes Häuschen im Garten des Zwingers seines Schlosses zum Aufenthalt, damit sie dort ihre Tage in Frieden beschließen könne.
Allein die Husbeckin weigerte sich aufs festeste, ihren Turm zu verlassen.
Der Graf hatte seinen guten Tag, als man ihm dies berichtete; sein Herz wurde weich, indem er der so traurig geistesverwirrten Dienerin des väterlichen Hauses gedachte, und so ging er selber in den Turm, um die nun Fünfundachtzigjährige mit guten Worten zur Übersiedelung in die behaglichere neue Wohnstätte zu bewegen.
Die Husbeckin saß im dunkelsten Winkel ihres Stübchens, regungslos. Das schneeweiße Haar umrahmte das hagere, totenblasse Gesicht, dessen Züge wie versteinert waren; die Augen blickten starr und ziellos ins Weite. Sie erhob sich nicht, als der Graf eintrat, sie erwiderte seinen Gruß nicht, sie schien seine Anwesenheit gar nicht zu bemerken.
Graf Walram trat ganz nahe an die Alte heran, sah ihr fest ins Auge und rief dann so laut, als ob er zu einer Tauben redete, daß er ihr eine schöne Wohnung im Garten ausgesucht habe und daß sie dies schlechte Stübchen verlassen möge.
Nach langem Besinnen entgegnete sie, unbeweglich sitzenbleibend: »Ich erkenne und verstehe Euch wohl, Junker Gunther« – –
»Ich bin nicht Gunther, ich bin Walram«, unterbrach sie der Graf.
»– Ihr wißt selbst nicht, wer Ihr seid!« erwiderte fest die Alte, »ich aber weiß es, ich allein: Ihr seid Gunther.«
Der Graf schüttelte den Kopf: die Alte war verrückt, man konnte nicht mit ihr reden.
Doch sie fuhr immer nachdrücklicher fort: »Ihr habt Euern Bruder aus seinem Stammschlosse vertrieben und in das öde Windhaus verbannt. Wenn Ihr Euern Bruder Walram wieder in das Schloß zurückruft, dann will auch ich in das neue Häuschen ziehen.«
Der Graf, entrüstet, daß das alte Weib ihm gar noch eine solche Bedingung zur Annahme seiner Wohltat stelle, kehrte ihr den Rücken und wollte gehen.
Da rief die Husbeckin, sich plötzlich erhebend, mit lauter Stimme, gebieterisch: »Bleibt! Ihr wißt nicht, wer Ihr seid; ich will es Euch sagen! Ich kann nicht sterben, bevor ich's Euch nicht gesagt habe.«
Und nun begann sie ganz ruhig und mit der größten Klarheit zu erzählen, was sich an jenem verhängnisvollen dritten Tage nach der Geburt der beiden Knaben ereignet hatte und wie sie ihm das rote Bändchen des Erstgeborenen umgebunden habe, da doch sein Bruder der wahrhaftige Erstgeborene sei, und wie sie die beiden Kinder umgetauft habe. – – Sie erzählte das alles so klar, so überzeugt und überzeugend – – hatte sie es doch schon tausendmal sich selbst erzählt!
»Jetzt wißt Ihr alles«, rief sie zuletzt und richtete sich hoch auf und blickte den Grafen mit den Augen einer Seherin an, – »jetzt wißt Ihr, was Ihr zu tun habt. Gehet zu Euerm Bruder, gebt ihm seinen Namen, gebt ihm das Recht der Erstgeburt wieder, das ihm gebührt! Führet ihn, den wahren Grafen, aufs Schloß. Er wird in Herrlichkeit einziehen und Ihr in Gerechtigkeit neben ihm; Ihr werdet gepriesen werden als der Gerechte, weil Ihr mutig dem entsagt, was Ihr so fest zu besitzen glaubtet und was Euch doch nicht gebührt. Die Gerechtigkeit Gottes wird offenbar werden, und die arme Husbeckin wird vielleicht noch vor Gott Verzeihung ihrer unermeßlichen Sünden finden.«
Bei diesen Worten sank sie auf den Stuhl zurück.
Der Graf stand eine lange Weile wie versteinert. Eine Verrückte hatte gesprochen, aber dieser Ton, diese Worte kamen nicht aus einem verstörten Geiste, sie klangen so klar, so wahr, sie klangen wie die Stimme aus einer Welt, in welcher alles offenbar werden wird, wo es keinen Lug, keine Täuschung mehr gibt.
Er trat heran an ihren Sitz: »Hast du die Wahrheit gesprochen?« fragte er leise.
Sie gab keine Antwort.
Das Haupt der Alten war auf die Brust gesunken, die Augen geschlossen. Sie schien zu schlafen. Die vordem so herben Züge sahen jetzt so mild, so friedlich aus!
Der Graf ergriff ihre Hand und ließ sie dann entsetzt wieder fahren: sie war starr und kalt.
Die arme Husbeckin war tot.
Das Hinscheiden der alten Frau wurde kaum bemerkt auf dem Schlosse und in der Nachbarschaft. Die meisten Leute glaubten, die Husbeckin sei schon längst gestorben, und erfuhren erst durch ihren Tod, daß sie noch gelebt habe.
Nur einer war von diesem Todesfalle jählings erschreckt worden und mußte Tag und Nacht an die Sterbende denken: Graf Walram.
Er wurde schweigsam, mied die Gesellschaft, welche er sonst gesucht hatte, und suchte die Einsamkeit. War er dann für sich allein, so quälte er sich mit der Beantwortung einer ganzen Kette von Fragen, die er sich immer wieder vorlegte und von denen er nicht eine einzige entscheidend mit Ja oder Nein beantworten konnte.
Hatte die Husbeckin die Wahrheit gesagt? – War sie in ihrer letzten Stunde von Sinnen gewesen? – oder war ihr nicht vielmehr, bevor sich ihr Mund auf ewig schloß, das volle Licht des Geistes, die volle Kraft des Gedächtnisses zurückgekehrt, wie es so manchmal bei Sterbenden geschieht? – Warum hatte sie das Geheimnis so lange verborgen? – Hatte sie es seinem Bruder gleichfalls offenbart?
Es schwindelte Walram bei dem Gedanken, daß er durch das Bekenntnis des alten Weibes plötzlich von einer stolzen Höhe herabgestürzt worden sei. Was sollte er beginnen? – Sollte er das Geheimnis dem Bruder mitteilen? Und dann? – Sollte er zurücktreten gegen den Glücklicheren, der so lange der minder Beglückte gewesen war? – Aber vielleicht war ja alles nur das Traumgesicht einer geistig umnachteten Person gewesen! Nur Gott allein kannte die Wahrheit. Doch das war gerade genug.
Wie – wenn er dem Bruder antrug, bei dem Zweifel an ihrem beiderseitigen Rechte brüderlich das Erbe zu teilen? Dann war er ja mit Gott versöhnt und mit dem Bruder und mit sich selbst, und er konnte ruhig erwarten, daß die Wahrheit offenbar werde – am jüngsten Tag.
Dieser weise und gute Gedanke hielt nicht lange stand. Klüger schien es Walram doch, zuerst zu erforschen, ob sein Bruder, ob überhaupt irgendein Mensch etwas von der Sache wisse. Wußte niemand davon, dann war es ja töricht, sein kostbarstes Recht aufzugeben, welches ihm kein Mensch streitig machte.
Rasch faßte er daraufhin seinen Entschluß und vollführte ihn rasch. Er ritt nach dem Windhaus.
Der Weg ward ihm sauer genug. Er wollte öfters wieder umkehren. Allein er mußte Gewißheit haben.
Er traf Gunther vor dem Hause, sein Pferd tummelnd. Die Brüder begrüßten sich im Sattel und ritten eine Weile nebeneinander im Ring herum, von gleichgültigen Dingen redend. Walram fand die rechten Worte nicht und bat zuletzt seinen Bruder, abzusteigen und mit ihm ins Haus zu gehen. Es dünkte ihm unmöglich, unter Gottes freiem Himmel zu sagen, was er sich so fein ausgedacht hatte.
Im engen, kahlen Stübchen begann er dann von dem Tode der Husbeckin zu erzählen. Seine Stimme zitterte dabei, aber Gunther nahm dies als ein Zeichen der Teilnahme an den letzten Augenblicken der armen Dienerin.
»Sie starb«, so schloß Walram, »indem sie mir, wie sie sagte, ein großes Geheimnis offenbaren wollte, welches ihre Seele tief zu bewegen schien. Da schloß ihr der Tod die Lippen. Was für ein Geheimnis mochte es gewesen sein?«
Er wagte nicht, die Augen aufzuschlagen und den Bruder anzublicken, als er diese Frage stellte. Er glaubte, die Alte drohend neben sich zu sehen.
Gunther erwiderte, daß auch ihm die Husbeckin in ihrer verworrenen Weise öfters von einem Geheimnis geredet und ihm auch dieses Geheimnis mitzuteilen versprochen habe. Schließlich habe sie's aber doch nicht getan.
»Sie offenbarte es dir niemals?«
»Niemals!«
»Sie deutete nicht einmal an, worauf ihr Geheimnis ziele?«
»Niemals!«
»Dann hat sie es mit sich ins Grab genommen. – Gott sei ihrer Seele gnädig!«
»Amen!« fügte Gunther leise hinzu.
Walram schrak zusammen bei diesem Wort. Hatte es die Husbeckin gesprochen?
Er blickte empor. Es war niemand weiter in der Stube als sein Bruder. Da atmete er auf: Gunther wußte ganz und gar nichts von der Sache!
Und nun zog er den Bruder vertraulich auf die Bank an der Wand und setzte sich neben ihn und redete ihm recht brüderlich zu. Er bedauerte, welch einsames, müßiges Leben Gunther hier auf dem Windhaus führe, da es doch für ihn an der Zeit sei, durch ritterliche Taten den Ruhm seines Stammes zu mehren und sich selber einen großen Namen zu gewinnen. Dazu biete sich jetzt die schönste Gelegenheit.
»Schon seit sechs Jahren«, so fuhr er fort, »streitet Graf Reinald von Geldern mit dem Grafen Adolf von Berg über das Erbe des Herzogtums Limburg. Es ist ein prächtiger Krieg! Du findest die edelsten Genossen und die edelsten Gegner. Der Erzbischof von Köln, der Herzog von Luxemburg, der Graf von Nassau halten zum Grafen von Geldern, und Johann von Brabant hilft andererseits dem Grafen von Berg. Die Bürger von Köln stehen nebenbei gegen ihren eigenen Erzbischof; es muß höchst gemütlich sein, diese elenden Bürger niederzurennen. Der Kampf drängt zur Entscheidung, eine große Schlacht steht nahe bevor. Ein Bote des Erzbischofs hat auch uns zur Teilnahme aufgefordert. Welch würdige Gelegenheit für dich zum ersten Waffengange! Die Sache eilt, und der Weg zum Niederrheine ist weit. Morgen schon mußt du aufbrechen.«
»So soll ich also für den Erzbischof streiten und gegen die Bürger von Köln, die mir doch gar nichts zuleide getan haben?« fragte Gunther.
»Natürlich! für den frommen Erzbischof, der erst jüngst in Deutz einen naseweisen Philosophen verbrennen ließ, welcher sich anmaßte, die Kirche reinigen zu wollen.«
»Doch auf welcher Seite ist das Recht?«
»Seltsame Frage! Wenn man wüßte, wo das Recht wäre, dann brauchte man ja nicht sechs Jahre lang zu streiten. Der Kampf ist ein Gottesgericht, und in dem stärksten Arme, der zuletzt alles niederschlägt, verkündet sich die Gerechtigkeit Gottes.«
»Allein mir deucht«, fiel Gunther ein, »Verwandte sollten überhaupt nicht streiten um ein Erbe, sondern sich vergleichen und brüderlich in das Erbe teilen: das würde dem gerechten Gott vielleicht besser gefallen, als wenn sie einander totschlagen.«
Walram errötete. Dann sprach er, rasch gefaßt: »Der wahre Ritter kämpft, um zu kämpfen. Er fragt nicht nach Grund und Ziel des Kampfes. Der Kampf ist sein Leben, weil er nur atmen kann, wenn er Ruhm und Ehre gewinnt.«
Gunther war ein Kind seiner Zeit. Diese Worte zündeten. Ja! es schien ihm groß, zu kämpfen um des Kampfes willen, wie heute der Mann der Wissenschaft forscht um der Wissenschaft willen, der Künstler bildet und dichtet um der Kunst willen.
Er versprach, schon morgen aufzubrechen, und Walram bot ihm die besten Waffen, die schönsten Pferde und die tüchtigsten Knechte zur Reise. Nur die Rüstung war seine eigene; sie war ihm auf den Leib gearbeitet, schief von hinten und vorn, ganz seinem schiefen Buckel entsprechend.
Walram dachte während des zärtlichen Abschieds: Wenn mein lieber Bruder um das Limburgische Erbe für den Erzbischof von Köln streitet, dann kann er zunächst doch nicht um sein eigenes Erbe mit mir streiten, und wenn er etwa einen ruhmvollen Reitertod finden sollte, dann wäre die Frage des roten Bändchens abgemacht für alle Zeit.
Gunther war kaum vier Wochen von Hause entfernt, da kam ein fahrender Sänger auf die Hattenburg und brachte traurige Kunde. Am 5. Juni 1288 war bei Worringen unterhalb Köln eine große Schlacht geschlagen worden. Reinald von Geldern samt dem Erzbischof und seinem ganzen Anhang war besiegt, Heinrich von Luxemburg mit seinen drei Brüdern erschlagen, Reinald gefangen, der Graf von Nassau gefangen, der Erzbischof gefangen und im Harnisch in einen Käfig gesperrt. Nur wenige Edle von Reinalds Partei vermochten zu entrinnen.
In späten Jahren sang und sagte man noch von dieser blutigen Schlacht, daß dort der Vater eines künftigen Kaisers – der Luxemburger – den Tod und ein künftiger Kaiser – Adolf von Nassau – den Kerker gefunden habe und daß der fromme Erzbischof sieben Jahre geharnischt im Käfig habe sitzen müssen. Endlich aber wurde er dennoch frei und bekam nun den Herzog von Berg in seine Hand und sperrte ihn dann seinerseits in einen Käfig, aber ganz nackt und mit Honig bestrichen, in der glühenden Sommersonne den Wespen und Mücken zur Beute. Das war so ein kleiner Austausch ritterlicher »Courtoisie«.
Gleichviel. Der eine Tag von Worringen hatte dem sechsjährigen Kriege ein Ende gemacht, und der Brabanter behauptete das Herzogtum Limburg.
Walram fragte den fahrenden Sänger mit bebender Stimme, ob er nichts von dem Schicksal seines Bruders wisse, der an der Seite des Erzbischofs gestritten habe.
Allein der Sänger wußte nichts. Wo so große Herren zugrunde gegangen waren, da schwieg die Kunde von den kleinen.
Nach vierzehn Tagen aber kam einer von den Knechten, die Gunther begleitet hatten, zerlumpt und ganz verelendet zurück und erzählte, sein Herr sei in dem mörderischen Ringen erschlagen worden und die anderen Leute seines Gefolges dazu und er allein sei entronnen.
Man konnte zwar aus dem verworrenen Berichte nicht klar erkennen, ob der Erzähler schon beim Beginn der Schlacht davongelaufen war oder erst am Ende. Allein da weitere Wochen verstrichen und weder von Gunther noch von seinen übrigen Leuten irgendeine Nachricht kam, so mußte man dem Unglücksboten wohl glauben.
Trotz aller anderweiter Nachforschungen war und blieb Gunther verschollen.
Walram trauerte um den Bruder, wie sich's gebührt. Und doch mußte er sich bei aller Betrübnis immer wieder mit einem stillen Vergnügen sagen, daß er sich jetzt die einfältige Geschichte von dem roten Bändchen für immer aus dem Kopfe schlagen dürfe.
Gunther war nicht tot.
Er hatte mannhaft bis zuletzt gekämpft und nur eine leichte Wunde davongetragen. Als aber alles verloren war, sprengte er mit einem kleinen Trupp unter die Mauern der Burg Worringen, um die befreundeten Verteidiger derselben gegen die siegreich andringenden Kölner Bürger zu unterstützen.
Da warfen die Verteidiger den Feinden von den Zinnen herab einen großen Balken auf die Köpfe, der jedoch irrtümlich ihren Freund, unseren Gunther, traf und ihn vom Pferde schlug. Das Pferd stürzte, er geriet mit den Beinen unter das Tier und blieb, am ganzen Körper gequetscht und geschunden, für tot liegen.
Als er unter großen Schmerzen wieder zum Bewußtsein kam, fand er sich in einem ganz engen, dunklen Raume auf Stroh gebettet. Er konnte kaum atmen, er konnte sich nicht erheben, an allen Gliedern wie gelähmt; und als er mit der Hand umhertastete, entdeckte er, daß er in einem ganz schmalen und niederen Kasten eingeschlossen lag.
Entsetzen erfaßte ihn: – war das ein Sarg? hatte man ihn lebendig begraben?
Er raffte alle Kraft zusammen und schlug gegen die Wand des Kastens. Das laute Bellen eines Hundes antwortete seinen Schlägen, und nach einigen bangen Minuten öffnete sich die Vorderseite des Kastens. Das grelle Licht der sinkenden Abendsonne fiel blendend in den dunklen Raum, und der Kopf eines alten Mannes erschien vor der Öffnung.
Das Gesicht dünkte Gunther nicht fremd, und als der Alte ihn freundlich begrüßte, erkannte er ihn: es war Kurt der Schäfer, welcher viele Jahre lang in der Nähe der Hattenburg die Herden gehütet hatte, aber vor längerer Zeit hinweggezogen war, derselbe Schäfer, bei dem die Husbeckin vor Zeiten Unterschlupf gefunden.
Gunther stieß eine Menge hastiger Fragen aus; er wollte wissen, wie er hierher gekommen, wo er sich befinde, ob er gefangen sei, und der Schäfer gab sehr langsam und bedächtig seine Antworten.
Er erzählte: »Ich wurde mit anderen Bauern heute am frühesten Morgen aufs Schlachtfeld getrieben, um die Toten des gestrigen Tages zu begraben. Da fand ich Euch als einen Toten und erkannte Euch an Eurer buckeligen Rüstung. Der Buckel war Euer Glück. Hätte ich Euern stolzen, kerzengerad gewachsenen Bruder gefunden, ich hätte ihn liegenlassen. Als ich Euch den Harnisch abzunehmen begann, entdeckte ich, daß Ihr noch lebendig wäret. Da sprach ich zu den Bauern: ›Wir wollen die Beute teilen. Der Mann hat Geld und Kleinodien in der Tasche, die nehmet für euch; Schwert und Harnisch müßt ihr den Rittern bringen, den Toten aber lasset mir.‹ Die guten Leute waren sehr einverstanden mit dieser christlichen Teilung. Weil Ihr als Kind so freundlich gegen mich gewesen seid wie gegen alle geringen Leute, wollte ich nicht, daß Ihr in Gefangenschaft fielet oder gar lebendig begraben würdet, und schaffte Euch heimlich beiseite und habe Euch hier in meinem Schäferkarren versteckt. Wir sind weit genug vom Schlachtfelde entfernt in der verwachsenen Au zwischen den Altwassern des Rheins, wohin ich mich schon vor der Schlacht geflüchtet, nachdem mir die Mannen des Erzbischofs die Schafe genommen und nur den Karren und den Hund übriggelassen hatten. Seit zwei Jahren, wo ich vor Ärger und Verdruß aus dem Hattengau davongelaufen bin, diene ich einem reichen Bauern in der Nachbarschaft. Da derselbe aber jetzt keine Schafe mehr besitzt, so braucht er auch keinen Schäfer mehr, und für den Lohn, den er mir schuldet, behalte ich den Karren und stelle mich mit Karren und Hund zu Euern Diensten. Und ich glaube, Ihr werdet meiner Dienste bedürfen, daß Ihr frei aus dieser heillosen Gegend entrinnt, was nicht ganz leicht sein wird, denn in den nächsten vier Wochen werdet Ihr weder gehen noch reiten können, da eine Sehne Eures linken Fußes verdehnt oder zerrissen und Euer rechtes Bein durch eine Quetschung am Knie dick aufgeschwollen ist.«
Der Schäfer Kurt war als Heilkünstler im ganzen Hattengau berühmt gewesen, wie damals so viele seinesgleichen. Also ergab sich Günther seiner ärztlichen Behandlung, die gerade nicht sehr sanft, aber um so gründlicher war, und unter entsetzlichen Schmerzen stöhnend, dachte er, wie glücklich er doch sei, daß er für kleines Wohlwollen, welches er dem Schäfer früher entgegengebracht, unverdient so aufopfernde Treue empfange, und wie gut doch eigentlich die Menschen seien, obgleich sie sich wegen der Erbschaft eines lumpigen Herzogtums zu Tausenden totschlügen.
Lange konnte der Schäfer mit seinem Patienten in der Rheinau nicht bleiben, sie würden sonst Hungers gestorben sein. Darum fragte Kurt schon am ersten Abend den jungen Herrn, ob er kein befreundetes Haus in der Nähe wisse, wo er sich, vor den Feinden geborgen, auskurieren könne.
Gunther war ganz fremd in diesem Lande. Allein er entsann sich eines Ortes, wo er bei seinem Ritt nach Worringen acht Tage lang die gastlichste Aufnahme gefunden hatte. Es war dies ein kleines burgliches Haus – Rodineck – in der Nähe von Andernach, dem Ritter Gerlach von Molsberg verpfändet, dessen stattliche Stammburg Molsberg überm Rhein auf dem Westerwalde lag. Zur Sommerszeit pflegte der Ritter in den engen und doch so behaglichen Räumen von Rodineck zu wohnen. Seine Familie war so klein, daß das kleine Haus genügte; denn er besaß nur eine Tochter, die er wie seinen Augapfel liebte und behütete. Seine Frau war längst gestorben. Zur Winterszeit zog er dann wieder nach dem großen Schlosse Molsberg, um mit seinem Bruder Giso gemeinsam die Herrschaft über Land und Leute zu führen. Glückliche Zeit, wo die großen Herren nur im Winter zu regieren brauchten und durch den ganzen Frühling, Sommer und Herbst sich ausruhten! Und Gerlach von Molsberg war ein sehr vornehmer Herr: das Geschlecht führte seinen Stammbaum auf den deutschen König Konrad II. zurück.
In dem gastfreien Hause Rodineck hatte Gunther, wie gesagt, acht köstliche Rasttage verlebt, als er jüngst gen Worringen zog. Auf diesem Haus ruhte der Frieden. Der Molsberger kümmerte sich nicht um die Limburgische Fehde und lebte still für sich, den Welthändeln abgewandt. Gunther glaubte, im Paradiese zu sein während jener acht Tage, aber der eigentliche Engel dieses Paradieses war doch die bildschöne neunzehnjährige Tochter des Molsbergers gewesen, ein Mädchen von seltener Milde und Güte, die den ebenso seltenen als schönen Namen Wahla führte. Gunther hatte bis dahin noch niemals erlebt, daß ihm ein Mädchen hold und liebreich entgegengekommen war und seine tiefe Herzensgüte erkannte und schätzte – wie Wahla. Ihr Bild hatte ihn darum im Kampfe begleitet, er sah es auch jetzt auf seinem Schmerzenslager, und so sagte er dem Schäfer, er wisse nur einen Ort in diesem rheinischen Land, wo er ein sicheres Unterkommen zu finden hoffe, und der sei das Haus Rodineck bei Andernach.
Nach kurzer Beratung beschloß Kurt, den Kranken in seinem Schäferkarren dorthin zu fahren.
Der Weg war freilich weit. Ein guter Fußgänger braucht zwei Tage von Worringen nach Andernach. Allein der gerade Weg über Köln mußte vermieden werden, und so schlug der Schäfer die Fahrt auf fünf Tage an.
Er spannte sich selbst vor den zweiräderigen Karren, auf dem die sargartige, mit Stroh gedeckte Hütte stand, und wechselnd nahm er auch noch den Hund zum Vorspann.
Die Fahrt ging langsam genug, und der Schäfer mußte oft geraume Zeit rasten. Speise und Trank erbettelte er sich bei guten Leuten, denen er vorgab, daß er seinen kranken Vetter nach Koblenz führe. Gunther, der in heftigem Fieber lag, bedurfte der Speise nicht viel und seufzte nur nach Wasser. Die Sonne brannte erschrecklich.
Erst am Morgen des sechsten Tages hielt der Karren vor dem Tore von Rodineck.
Der Schäfer ging in das Haus, um dem Burgherrn Gunthers Gruß zu überbringen mit der Bitte, daß er dem Hilflosen den Schutz seines Daches gewähren möge.
Gunther gedachte indessen mit Schrecken des Abstandes zwischen seinem heutigen Aufzuge vor Rodineck und seinem Erscheinen vor vier Wochen. Damals hatte er einen stattlichen Reisigen vorausgeschickt, der ihn meldete und um ritterliche Gastfreundschaft bat; – heute schickte er einen armen Schäfer, der um Gottes willen einen geheimen Unterschlupf erflehte. Damals war er hoch zu Roß gekommen, in schimmernder Rüstung; – heut kam er auf einem Schäferkarren, mit dem zerlumpten Mantel des Schäfers bedeckt. Damals träumte er von ritterlichen Taten, die er demnächst vollbringen werde; er hatte solche inzwischen auch wirklich vollführt, aber zum Beschluß seines ersten Waffenganges war ihm von Leuten der eigenen Partei ein Stück Holz auf den Kopf geworfen worden, und er brachte ein Loch im Kopf, ein verrenktes Bein und blaue Male am ganzen Körper zurück, welches man keine ritterlichen Wunden zu nennen pflegt.
Der Herr von Molsberg war ein barmherziger Mann. Er bot noch wärmere Gastfreundschaft dem unglücklichen Krieger, der so kläglich dahergefahren kam, als vorher dem siegesgewissen, der so stolz hereingeritten war.
Der Schäfer durfte als Arzt bei dem Junker bleiben, und da er den braun und blau geschlagenen Grafen so vortrefflich behandelte, erlaubte ihm der Molsberger auch sein Leibpferd zu kurieren, welches an der Kolik litt. Ein Schäfer stellte dazumal noch eine ganze medizinische Fakultät dar.
Nur selten huschte Wahla wie eine Traumgestalt an Gunthers Schmerzenslager vorüber. Aber unbemerkt bereitete sie ihm doch jede Labe und Linderung.
Niemand sagte dies dem Kranken, und dennoch wußte er's ganz bestimmt.
Als der Genesende in die warme Sommerluft hinausgeführt wurde und halbe Tage lang auf der Bank des kleinen Burggärtchens ruhte, da kam auch Wahla oft herbei, setzte sich zu ihm und plauderte so treuherzig und merkte gar nicht, daß Gunther sofort die Augen wieder niederschlug, wenn er ihr ins Gesicht zu sehen wagte, und mitunter keine Antwort gab, mitunter auch eine verkehrte.
War Gunther dann wieder allein, so hielt er die längsten Reden an Wahla, sagte ihr die wunderschönsten Dinge, nahm sich vor, daß er ihr das nächste Mal all diese Reden laut wiederholen wolle, nur noch viel wärmer und bewegender. Allein wenn Wahla am anderen Tage wieder vor ihm saß, dann wußte er nie, wo er mit seiner schönen Rede anfangen solle.
Seltsamerweise sann sich auch Wahla, wenn sie allein war, viel treue und trauliche Worte aus, die sie Gunther sagen wollte; sie verstummte dann freilich nicht, wenn sie in den Garten kam, sie sprach sogar recht viel, allein sie sagte doch niemals, was sie eigentlich hatte sagen wollen.
Auf ihre Kammer zurückgekehrt, war sie dann sehr unglücklich und schalt über sich selbst und ihr unbeholfenes Wesen.
Dasselbe tat auch Gunther, nur nahm er die Sache weit schwerer. Sie liebten sich beide, ohne es aussprechen zu können, aber Gunther war viel unglücklicher. Wenn er es wagte, um Wahlas Liebe zu werben, was konnte er ihr bieten außer seiner Liebe? Zum erstenmal war er namenlos unglücklich darüber, daß er einen schiefen Buckel habe, daß er der nachgeborene Sohn sei, auf das ärmliche Gut bei dem rauhen Windhaus angewiesen, und daß er seine ritterliche Laufbahn so ruhmlos begonnen habe!
Seit er das verschwiegene Glück der Liebe zum erstenmal ahnte, begann er das offenbare Unglück seines Lebens zu erkennen, welches er bis dahin nicht einmal geahnt hatte. Und je mehr sich sein verletzter Körper erholte, um so schwerer fühlte er sich in tiefster Seele krank.
Gegen Ende Juli hätte er abreisen können. Der Gastfreund, welcher großes Gefallen an seinem Umgang gewonnen hatte, nötigte ihn dazubleiben, und er blieb. Jede Woche wollte er gehen, und jede Woche dachte er mit Schrecken an die Abreise und ging nicht.
Da kam eines Tags der Schäfer, um sich zu verabschieden. Seine ärztliche Aufgabe bei Gunther war beendet, und das Pferd des Molsbergers hatte schon längst keine Kolik mehr.
Gunther sagte zu dem treuen Mann: »Gehe zur Hattenburg und melde meinem Bruder meine baldige Rückkunft. Dann aber begib dich aufs Windhaus und mache dort Quartier für dich und mich; denn du mußt bei mir bleiben dein Leben lang, und ich will dir eine Schafherde kaufen; für die genügsamen Tiere haben wir Weide genug auf dem vielen Ödland.«
Kurt versprach zu tun, was ihm geheißen wurde. Nur wollte er vorher noch einmal zurückgehen zu seinem letzten Dienstherrn, dem Bauern bei Worringen; denn dort lag noch ein alter Kittel, der ihm gehörte, und ein lederner Zwerchsack, und er meinte, diese beiden Dinge seien wohl vier Tagemärsche wert.
Bevor er ging, bat er noch für eine kurze Weile um Gehör.
»Die selige Husbeckin«, so begann er, »war gequält von einer Sünde, die sie mir öfters bekennen wollte und doch nicht bekannte. Endlich brachte sie's aber doch heraus – es war zu der Zeit, wo sie noch heimlich in meiner Hütte wohnte, – und beichtete mir am heiligen Weihnachtsabend, was ihr Gewissen bedrückte. Sie war ein wunderliches Weib: dem Pfarrer wollte sie nicht beichten, aber dem Schäfer beichtete sie. Übrigens war sie damals ganz bei Sinnen und sprach so gescheit wie in ihren besten Tagen. Ich mußte ihr schwören, das Geheimnis nicht zu verraten, bevor sie gestorben sei.«
Und nun erzählte der Schäfer die ganze Geschichte von der Verwechslung der beiden Kinder, genau wie sie die Husbeckin in ihrer Todesstunde Walram erzählt hatte. Doch das letztere wußte der Schäfer so wenig, wie Gunther es wußte.
Gunther war tief ergriffen von der überraschenden Kunde. Er brütete den ganzen Tag darüber. An sich dachte er dabei anfangs weniger, die arme Husbeckin dauerte ihn so sehr; er versenkte sich in das Rätsel ihres verirrten Gewissens und zerbrach sich den Kopf, warum die treue Dienerin nicht sofort an dem Unglückstage ein offenes Bekenntnis abgelegt habe. Dann wäre ja alles anders gekommen. Sein ganzes Lebensgeschick war durch ein schwachsinniges altes Weib bestimmt worden. Aber nein! Es wäre Gotteslästerung, dies zu glauben. Gott hatte sein Lebensgeschick bestimmt! Und Gott bedurfte der Husbeckin, um seinen Lebensgang zu verwirren? Ohne dieses seltsame Werkzeug wäre doch wohl alles besser gegangen! – Das schien ihm wieder Gotteslästerung.
Er raffte sich empor aus dieser trostlosen Grübelei, indem er sich vornahm, fortan sein Schicksal selber in die Hand zu nehmen und selber seines Glückes Schmied zu werden.
Da begegnete ihm Wahla. Mit wie ganz anderen Augen sah er sie plötzlich an! Er blickte ihr zum erstenmal fest ins Gesicht und sprach mit festerer Stimme als je zuvor: – er bekannte ihr, daß er sie liebe.
Und sie errötete, wurde verwirrt und schwieg, während er sonst verwirrt geschwiegen hatte, wann sie redete. Aber ihre Blicke sagten, daß sie ihn wiederliebe.
Es war nur eine flüchtige Begegnung. Als Wahla eben das Wort zu finden begann, kam der Schäfer und sagte Lebewohl, und als der Schäfer ging, kam Wahlas Vater und zeigte Gunther einen verbesserten Steigbügel.
Die beiden Liebenden sahen sich den ganzen Tag nicht mehr ohne Zeugen.
Am späten Abend ging Gunther einsam im Garten auf und ab. Er schwelgte im Vollgenuß seines Glückes. Hatte er doch heute zum erstenmal sein Herz ganz zu erschließen vermocht, hatte sich doch ihm zum erstenmal ein geliebtes Herz erschlossen!
Allein er vermochte sich nicht lange in dem Vollgenuß seliger Liebesgewißheit zu wiegen; er hielt ein und sann, was nun zu tun sei.
Sollte er sofort vor Wahlas Vater treten und um die Hand seiner Tochter werben?
Doch nein! das war nicht der rechte erste Schritt. Sollte er nicht vielmehr vorher dem Vater sagen, was ihm Kurt enthüllt hatte? Sollte er ihm nicht zunächst darlegen, daß er nicht ganz der Enterbte sei, daß er Ansprüche auf eine weit glänzendere Lebensstellung erheben könne, als man bisher geahnt hatte? Doch nein! dies war ja vorerst nur ein Traum, wie er andererseits seither geträumt hatte, daß er ausgestoßen und verlassen sei. Welcher von beiden Träumen sprach denn die Wahrheit? War die Erzählung des Schäfers eine Urkunde, mit welcher er, sein Recht fordernd, vor den Bruder treten konnte? Und wenn sie es wäre, wollte er denn Walram verdrängen, der ohne Zweifel im besten Glauben seines Rechtes aufgewachsen war? Das wollte er in der vollen Gutmütigkeit seines Herzens gewiß nicht. Allein er konnte sich ja mit seinem Bruder vergleichen, sie konnten gemeinsam der Herrschaft walten, wie es auch die beiden Brüder von Molsberg taten.
Nach langem Sinnen beschloß Gunther zuletzt, vor Wahlas Vater noch zu schweigen, ja sein Geheimnis auch vor Wahla noch zu verschließen, dagegen sofort nach Hause zurückzukehren, um zu ergründen, wer er selber sei. Wußte er das, dann wollte er wiederkommen und um die Hand der Geliebten werben.
Jetzt mit einemmal leuchtete es ihm auch wie ein Blitz durch die Seele, daß Walram ihn unter allen Umständen übervorteilt habe, daß er auch als Zweitgeborener ganz andere Ansprüche erheben dürfe, als sie das magere Gütchen von Windhaus gewähre. Sein ganzes Leben hatte ihm Entsagung gelehrt, ja er hatte oft geradezu geschwelgt im Entsagen, wie dies vergeistigten Naturen eigen ist. Doch nun er liebte und geliebt wurde, wollte er nicht mehr entsagen.
Man braucht nur eine Braut oder gar eine Frau zu haben, so wird man weltklug und lernt zugreifen, wo man vorher geträumt und abgewartet hat.
Schon am nächsten Morgen rüstete sich Gunther zur Abreise.
An dem heimeligsten Plätzchen des Gartens sagte er Wahla Lebewohl. Heute beteuerte auch sie ihm ihre Liebe, aber sie begriff nicht, warum er gerade jetzt so plötzlich abreisen wolle. Gunther sagte, das geschehe gerade um ihres Liebesbundes willen; er gehe nach Hause, um als ein neuer Mann wiederzukommen und dann bei dem Vater um ihre Hand werben zu können.
Dann schwuren sie sich auf Gunthers Andringen gegenseitig, daß sie vor seiner Rückkehr keiner Seele etwas offenbaren wollten von ihrem Bunde.
Am 5. September, genau drei Monate nach der unglücklichen Schlacht von Worringen, erblickte Gunther die Türme des väterlichen Schlosses wieder.
Es war ein milder, weicher Spätsommerabend; die Sonne verglühte in ihren letzten Strahlen. Gunther verlangsamte den Gang seines Pferdes. Es trieb ihn nach Hause und zog ihn doch viel mächtiger wieder zurück. Er hätte weinen können vor Wehmut. Allein ein Ritter, der von seinem ersten Feldzuge heimkehrt, soll doch nicht weinen, auch wenn er so arm zurückkommt wie Gunther. Das Pferd, worauf er ritt, hatte ihm der Molsberger geliehen und den Knecht dazu, der hinterdrein ritt und die Pferde zurückführen sollte. Harnisch, Schild und Schwert hatte er auf dem Schlachtfeld gelassen, und den Rock, den er trug, hatte ihm der Herr von Molsberg geschenkt. Er hatte alles verloren und nur ein liebes, treues Herz gewonnen. Doch von diesem Gewinn sollte die Welt noch nichts wissen.
An der Waldecke, wo sich der volle Anblick des Schlosses auftat, stieg er ab und befahl dem Diener, mit den Pferden zum Dorfe hinüberzureiten und dort zu warten, bis er ihn rufen lasse. Er wollte ganz allein aufs Schloß gehen und seinen Bruder überraschen.
Als er sich dem befestigten Tore der äußeren Ringmauer näherte, sah er das kleine Seitenpförtchen geöffnet; der Torwart saß daneben auf der Bank und blickte nach den Wolken, offenbar in Abendbetrachtungen versunken, die sich auch ein Torwart mitunter zu machen pflegt, wenn er nichts Besseres zu tun weiß.
Günther trat ihm ganz unerwartet zur Seite, klopfte ihm auf die Schulter und bot ihm einen guten Abend. Da sprang der Mann auf, sah dem Junker starr ins Gesicht, stieß einen lauten Schrei aus und lief davon.
Seltsamer Empfang!
Gunther trat in die Torhalle. Der Knecht des Torwarts kam von innen herbeigelaufen, um zu sehen, warum sein Herr so schreie. Als er aber Gunther erblickte, starrte er ihn gleichfalls entsetzt an, schrie noch lauter wie der andere, sprang zurück in den Zwinger und warf das innere Tor hinter sich in den Riegel.
Gunther, der nun nicht vorwärts konnte, wollte wieder hinausgehen, als ihm die beiden großen Schloßhunde knurrend und zähnefletschend entgegensprangen. Doch da er sie anrief, hielten sie plötzlich ein, erhoben ein Freudengeheul, wedelten und sprangen an ihm empor, daß sie ihn vor lauter Jubel beinahe umgeworfen hätten.
Das war doch wenigstens ein herzlicher Willkomm! Und Gunther faßte die Hunde bald am Hals, bald an den Ohren und streichelte sie, und die Hunde legten sich ihm wedelnd zu Füßen, und alle drei waren sehr glücklich miteinander.
Als aber der Pförtner von außen und der Knecht durch das innere Torfensterchen die drei glücklichen Wesen sahen, faßten sie ein Herz und kamen von beiden Seiten vorsichtig herzugeschlichen.
»Seid Ihr es, Herr Gunther?« riefen beide. »Seid Ihr wirklich lebendig?«
Und als nun Gunther sie versichert hatte, daß er ganz gewiß nicht tot, sondern lebendig sei, und ihnen die Hand gereicht hatte, die sich ganz warm anfühlte, da küßte ihm der Torwart die Hand, und der Knecht fiel gar auf die Knie, und sie baten ihn um Verzeihung, und die Hunde sprangen herüber und hinüber und waren unbändig lustig bei diesem rührenden Schauspiel.
Gunther erfuhr nun, daß der aus der Schlacht entflohene Knappe seinen Tod gemeldet habe und daß diese Nachricht durch Anfrage bei Freund und Feind bestätigt worden sei. Der Graf von Berg hatte dann in vergangener Woche sogar Gunthers Rüstung und Waffen übersandt, welche die Bauern vom Schlachtfeld eingebracht hatten. Auf dieses sicherste Zeichen hin – so fuhren die beiden fort – sei gestern eine feierliche Seelmesse für den Herrn Junker gelesen worden, und so hätten sie ihn doch ganz gewiß für tot und begraben und seine Erscheinung für ein Gespenst halten müssen.
Ein wandernder Krämer, den Gunther beauftragt hatte, seinen Aufenthalt in Rodineck dem Bruder zu melden, war nicht angekommen; wenigstens wußte der Torwart nicht, daß eine solche Nachricht eingelaufen wäre.
»Ist mein Bruder auf der Hattenburg?« fragte Gunther.
Der Pförtner antwortete: »Er ritt heute morgen hinweg mit dem jungen Herrn von Scheuernberg und dem tollen Junker Matz und großem Gefolge. Die Herren lagen vier Wochen hier zu Gaste: das war eine lustige Zeit! Turnieren und Jagen, Singen und Schmausen! Und dann war Eure Seelmesse gestern wieder so traurig, und Euer Bruder war so fromm in der Kirche! Aber heute morgen zogen sie alle miteinander aus unter Hörnerschall; sie reiten zum Rhein, von Burg zu Burg: da wird es Gastereien geben! Man sagt, Herr Walram reite aus, um sich eine Braut zu suchen.«
Nachdem Gunther diese Neuigkeiten gehört hatte, verlor er die Lust, über Nacht auf der väterlichen Burg zu bleiben. Er ging hinunter ins Dorf, bestieg dort sein Pferd und sprengte stracks nach dem Windhaus, wo er in dunkler Nacht ankam und nur mit Mühe Einlaß fand.
Hier waren während seiner Abwesenheit keine zechenden Junker eingezogen, sondern nur eine Schar von Fledermäusen, ungemütliche Tiere für Damen mit langen Locken, aber sehr gemütliche Tierchen für Männer mit kurzen Haaren. Und seit Gunther der Balken auf den Kopf gefallen war, trug er die Haare kurz.
Er schwelgte in dem süßen Kummer der Einsamkeit und klagte über das herbe Glück der Einsamkeit. Er wollte einsam sein und war mit einemmal sich selbst allein etwas zu wenig und dachte, Einsamkeit zu zweien wäre doch die allerschönste Einsamkeit.
Gunther fand auf dem Windhaus keine Ruhe. Er begann alles mögliche zu treiben und wußte dennoch niemals, was er eigentlich treiben solle. Die Stunden schritten ihm im Schneckenschritt dahin.
»Ich habe warten gelernt«, sprach er zu sich am zweiten Tage und nahm sich vor, dieses Wort künftighin als seinen Sinnspruch zu führen. Wir wählen uns gerne Sinnsprüche, die das besagen, was wir wollen und sollten, aber niemals fertigbringen.
Er wartete – zunächst auf den Schäfer Kurt, der nicht kam. Sollte ihm Schlimmes unterwegs zugestoßen sein?
Er wartete – auf seinen Bruder, der ja günstigenfalls erst nach Wochen zurückkehren konnte; er wartete, ihm das entscheidende Geheimnis zu eröffnen, seine Ansprüche geltend zu machen und dann wieder zum Rheine zu eilen, um als ein neuer Mann vor Wahlas Vater zu treten und um ihre Hand zu werben.
Einstweilen blieb ihm eben gar nichts anderes übrig, als zu warten, und er entdeckte mit Verdruß, daß er durchaus nicht warten gelernt habe.
Er ging auf die Jagd und konnte sich nicht entschließen, den Bolzen von der angelegten Armbrust abzuschnellen, wenn ihm ein Rehbock zum schönsten Schusse stand. Nach Hause zurückgekehrt, ärgerte er sich, daß er nicht draußen geblieben war, und schoß den Bolzen in die blaue Luft zum Fenster hinaus.
Man nennt diesen Zustand des Gemüts – »Liebe«.
Die Bauersleute aus der Gegend kamen neugierig herbei, um einen lebendigen Menschen zu sehen, für welchen man schon eine Seelmesse gelesen hatte. In der früheren Zeit pflegte Gunther auch mit dem Geringsten ein freundlich Wort zu reden; jetzt ging er den Bauern aus dem Weg. Sie meinten zuletzt, wenn der Junker wirklich noch lebe, dann lebe er wie ein Gespenst und schleiche wie ein Gespenst umher: das wirke gewiß die Seelmesse.
Herr Hans Haller von Bolgenstein, ein Jugendfreund Gunthers, kam eigens nach Windhaus, um den Wiedererstandenen zu beglückwünschen. Er wollte erzählt haben von des Freundes Abenteuern, vorab von der Schlacht von Worringen. Allein die Schlacht lag Gunther jetzt weit zurück in grauester Ferne, und von dem einzigen süßen Abenteuer, welches ihn Tag und Nacht beschäftigte, wollte und durfte er nicht erzählen.
In der Tat, wenn zwei Liebende beieinander sind und ein dritter kommt hinzu, dann pflegen sie sehr langweilig zu sein; wenn aber ein Liebender von der Geliebten getrennt ist und ein dritter besucht ihn, dann ist er noch hundertmal langweiliger.
Nach vierzehn Tagen begann Gunther einen Brief an Wahla zu schreiben. Er hörte jedoch bald wieder auf und zerriß das Blatt; denn es fiel ihm jetzt erst ein, daß Wahla ja nicht lesen konnte. Sie war sehr gebildet für ihr Alter, sie konnte singen, tanzen und wunderschöne Kränze winden, sie konnte spinnen, weben, sticken, nähen, sie konnte kochen, sieden und braten, Wunden heilen und das Fieber beschwören, aber lesen und schreiben konnte sie nicht. Gunther ward ganz zornig darüber, daß er diese einfältige Kunst gelernt habe, welche ihm jetzt nichts nütze, wo er sie zum erstenmal brauchte, statt daß er vielmehr zornig darüber hätte sein sollen, daß Wahla diese Kunst nicht gelernt hatte. Man nennt diesen Zustand des Verstandes – »Liebe«.
Obgleich die Zeit stillezustehen schien, verging sie doch, und nach sechs Wochen, als man den 17. Oktober schrieb, öffnete sich eines Abends die Tür von Gunthers Gemach; der längst Erwartete war gekommen: – Walram stand vor ihm.
Gestern auf dem Schlosse eingetroffen, war er gleich heute nach dem Windhaus herübergeritten. Ob ihn wohl die brüderliche Liebe so schnell hierher getrieben hatte?
Wenigstens sagte er es in herzlichen Worten und begrüßte aufs zärtlichste den verloren geglaubten Bruder.
Welch ein schöner, seiner Mann war Walram! Wie frei und gewandt wußte er zu sprechen, wie überlegen stand er vor dem armen, unbehilflichen Gunther, der kaum die Sprache fand! Und wie oft hatte sich dieser doch vorgesagt, was er in diesem längst erwarteten Augenblicke sprechen wolle!
Walram brach das Schweigen: »Ich komme, um dir meine Verlobung anzukündigen. Ich gedenke, bald eine Frau auf unser Schloß heimzuführen« – – Günther hörte zerstreut, mit halbem Ohre, – – »die Tochter des Herrn von Molsberg«, fuhr Walram fort.
Gunther schreckte auf wie aus einem Traume. »Welches Herrn von Molsberg?« rief er. »Gisos?«
»Nein, Gerlachs!«
»Welche Tochter Gerlachs?«
»Welche? Er hat nur eine: Wahla. Ich komme geradenwegs von Rodineck.«
»Du warst in Rodineck?«
»Freilich! ganze drei Wochen lang. Dort erfuhr ich ja so viel von deiner Rettung, deiner Genesung, daß ich dich vorhin gar nicht zu fragen brauchte. Du stehst zu Rodineck im besten Andenken.«
»Es ist nicht möglich!« unterbrach ihn Gunther. »Wie wärest du nach Rodineck gekommen?«
»Wie ich dorthin kam? Auf einem großen Umwege, gleich dir. Freunde hatten mich diesen Sommer besucht, um mich über deinen Verlust zu trösten, und als ihr Trost gar nicht verfangen wollte, da sagten sie zuletzt, ich müsse mich verheiraten, um auf andere Gedanken zu kommen. Und so zogen wir gemeinsam aus von Burg zu Burg, zum Rheine hinüber. Wir fanden überall gastliche Aufnahme und schöne Mädchen, alle zum Küssen schön, aber zum Heiraten war keine schön genug. Da trennte ich mich von meinen Freunden. Denn ich hatte gehört, die Schönste der Schönen blühe in tiefster Verborgenheit, in jenem verzauberten kleinen Hause bei Andernach. Sie wollte ich ohne Begleitung sehen; denn wo es ernst wird mit der Liebe, da sind alle Freunde überflüssig.«
»Und du gewannst Wahlas Liebe?« fragte Gunther mit erstickter Stimme.
»Sie war mir gut, sie war mir so unbefangen freundlich schon am ersten Tage. Dann wurde sie unruhiger, verwirrter, als ich mich ihr mit Zeichen wachsender Liebe nahte. Sie floh oder saß mir stumm gegenüber, wenn sie bleiben mußte, sie zitterte, wenn sie mit mir redete. O wie entfachte diese jungfräuliche Verschämtheit meine Leidenschaft! Wußte ich doch, daß dieser sichtbare Seelenkampf, der sie bald erblassen, bald wie im Fieber erglühen ließ, die stumme und doch so beredte Sprache der sich durchringenden Liebe war.«
»Und sie gestand dir ihre Liebe?« stotterte Günther.
»Ich tat, was ein Mann von guten Sitten tun soll. Ich ging zu ihrem Vater und warb um ihre Hand. Der Alte sagte sie mir zu. Er rief Wahla, er verkündete ihr meine Werbung, er forderte, daß sie als ein gehorsames Kind ihre Hand in die meine lege. Sie weigerte sich, sie brach in Tränen aus und konnte vor Schluchzen kein Wort über die Lippen bringen. Aber der Vater hob sie freundlich empor und fügte selber unsere Hände zusammen – und sie ließ es geschehen. Sie war von Sinnen: – dieses vernichtete Niedersinken im Übermaß des Glücks – es war erschütternd – und es war entzückend!«
Da brach Günther hervor mit einer Wut des Zornes, mit einer Glut der Leidenschaft, wie sie Walram nie an ihm gesehen, und rief:
»Du hast mir mein Erbgut geraubt, mir, dem Erstgeborenen, du willst mir auch mein einziges Glück, meine Liebe rauben! Wahla gehört mir! Wahla liebt mich! Sie ward verwirrt in deiner Nähe, sie floh dich, sie verstummte, nicht weil sie dich liebte, sondern aus Schreck vor deiner Liebe! Sie brach zusammen, nicht im Übermaße des Glücks, sondern im Übermaße des Elends, womit du sie beladen hast, indem du sie in den unlösbaren Zwiespalt zwischen ihrer beschworenen Liebe und ihrer kindlichen Pflicht stürztest! Walram! Ich wollte bei deiner Rückkehr mein Recht der Erstgeburt von dir zurückfordern; – nein! – ich wollte es brüderlich mit dir teilen. Nicht Gottes Wille, sondern ein schwaches altes Weib hat dich zum Erben dieser Grafschaft gemacht, die mir gebührt. Ich schenke dir mein Recht. Sei und bleibe, was du bisher gewesen bist. Aber verzichte auf Wahla, die dich nicht liebt, und lasse mir das einzige Glück, was mir in diesem elenden Leben zuteil ward, das Glück, die Liebe eines treuen Herzens zu besitzen!«
Walram erglühte. Dann sprach er kalt und fest: »Also hat auch dir die verrückte Husbeckin ihre tolle Geschichte erzählt! Ich dachte es längst. Aber du mußt bessere Beweise bringen, um mich von dem Platze zu stoßen, den mir meine Eltern stets und zweifellos zuerkannten, den mir alle Welt zuerkennt. Ich besitze Wahlas Hand aus ihres Vaters Händen, und es wäre ein seltsamer Handel, wenn ich die Geliebte hingeben sollte, um ein Recht zu erkaufen, welches ich seit meiner Geburt besitze und welches mir kein Mensch bestreiten kann.«
Bei diesen Worten ging er ohne Abschied.
Dem Abend folgte für Gunther eine schlaflose Nacht.
Bitter klagte er seinen Bruder an, der um das Bekenntnis der Husbeckin gewußt, der gegen ihn darüber geschwiegen und der sich doch jetzt verraten hatte.
Aber er klagte auch sich selbst an. Hatte er nicht Wahla Schweigen gelobt? Und nun hatte er das Geheimnis ihres Liebesbundes dem Bruder doch entdeckt: er hatte seinen Schwur gebrochen.
Wahla dagegen hatte geduldet und geschwiegen. Sie erschien ihm wie eine Heilige, wie eine Märtyrerin, die von ihrem Vater zur Opferung geführt wird.
Am nächsten Morgen in aller Frühe ritt Gunther ganz allein vom Windhaus hinweg. Er sagte dem einzigen Diener, der das Haus behütete, nur, er werde vielleicht in wenigen Tagen wiederkommen, vielleicht auch lange nicht. Wohin er gehe, sagte er niemand.
Man erfuhr später, daß er geraden Weges nach Rodineck geritten war und dort während eines Tages sich aufgehalten habe.
Was an diesem Tage in den Gemächern der kleinen, friedlichen Burg vorgefallen, das blieb verborgen. Die dortige Dienerschaft erzählte sich nur, daß Gunther lang und heftig mit dem Herrn von Molsberg gesprochen habe und daß die beiden Männer so dröhnenden Schrittes in des Ritters Stube auf und ab gegangen seien, daß der Boden erzitterte. Schon am Nachmittag sei Gunther wieder hinweggeritten, langsamsten Schrittes, in sich versunken, weder des Weges noch der Begegnenden noch seines Pferdes achtend, dem die Zügel schlaff über den Hals gehangen hätten. Aber das Merkwürdigste sei am späten dunklen Abend geschehen. Gunther müsse da zu Fuße wiedergekommen sein, eine unsichtbare Hand müsse ihm das Hinterpförtchen zum Garten geöffnet haben; denn im Garten seien darauf leise flüsternde Stimmen wie Gunthers und Wahlas zu erhorchen gewesen. Dann sei alles still geworden.
Über den weiteren Verlauf gingen die Erzählungen auseinander. Doch waren alle, die irgend etwas erlauscht hatten, darüber einig, daß Gunther mit Wahla zu entfliehen versucht, daß er sie entführt habe, aber vom Vater verfolgt und eingeholt worden sei. Nach Mitternacht hatte der Alte seine Tochter in das Haus zurückgebracht, was aber aus Gunther geworden, das wußte niemand.
Gewiß war nur, daß Wahla des anderen Tages todkrank zu Bette lag. Ein Bote wurde nach Koblenz geschickt, um einen alten Juden herbeizuholen, der für den größten Heilkünstler der ganzen Gegend galt. Er blieb über eine Woche auf Rodineck und schien schwer besorgt über den Ausgang der Kur. Der Vater verzichtete auf sein gewohntes Vergnügen der Jagd, bestieg kein Pferd und brütete einsam auf seiner Stube oder schlich betrübt um das Haus. Gäste kamen nicht. Friede und Frohsinn schienen für immer von Rodineck gewichen.
Im ganzen Rheinlande verbreitete sich bald die Nachricht von Wahlas Entführung, und je weiter die Kunde umlief, desto reicher wurde sie von den buntesten Goldfäden der Sage durchwoben. Auf Gunther schmähten die Leute als auf den gottlosesten, undankbarsten Menschen, der monatelang treue Pflege unter dem gastlichen Dache des Molsbergers genossen und ihm zum Dank dafür sein Kind entführt habe. Da fast niemand Gunther von Angesicht kannte, so wurde er als der häßlichste, mißgestaltetste Kobold geschildert, der nur durch Zauberei die Jungfrau habe betören können. Walram dagegen, der ehrsam um die Hand der Tochter beim Vater angehalten, erschien als ein bildschöner, ritterlich edler Held, eine wahre Lichtgestalt, der nun durch die Schuld des neidischen Bruders seine Braut am Rande des Grabes sah.
Mehrere junge und hübsche Töchter des Rheinlandes verliebten sich geradezu in das dichterische Bild des edlen Walram, den sie nie gesehen hatten, und wären sehr geneigt gewesen, ihm zum Trost ihre Hand zu reichen, sowie Wahla gestorben sein würde. Letzteres aber mußte nach der allgemeinen Ansicht demnächst der betrübende Schluß der Geschichte sein.
Gunther hatte in Wahrheit getan, was sich die Leute erzählten. Er hatte Wahla beredet, mit ihm zu entfliehen, nachdem er von dem Vater streng und demütigend zurückgewiesen worden war. Das arme Mädchen, im wildesten Seelenkampfe hin- und hergeschleudert und außer sich bei dem Gedanken, daß sie nun willenlos Walram für immer gehören solle, wie sie willenlos ihre Hand in die seinige gelegt, – das arme Mädchen hatte zuletzt Gunthers leidenschaftlichem Drängen nachgegeben und wußte selbst nicht, was sie tat, als sie des Nachts mit ihm das väterliche Haus verließ.
Aber der Vater war wach gewesen und den Fliehenden nachgegangen, die er gar nicht weit vor dem Tore einholte. Der Schluß des peinlichen Zusammentreffens war, daß Wahla, niedergeschmettert von der Wucht der väterlichen Gewalt, die ihr jetzt wieder ganz wie ein göttliches Recht erschien, gegen welches sie sich empört habe, dem zürnenden Vater nach Hause folgte.
Gefoltert von Schmerz und Beschämung, stand Gunther allein in der dunklen Nacht. Der Herr von Rodineck hatte ihn zwar nicht aus dem Hause geworfen, aber er hatte ihm verboten, jemals wieder hineinzukommen, und das war nicht viel besser. Er konnte sich lange nicht von dem Orte trennen, er umkreiste von fernher die Mauern, bis das letzte Licht hinter den Fenstern erloschen war. Er gedachte der Qualen, die Wahla jetzt um seinetwillen erduldete, und konnte ihr doch nicht helfen. Sollte er in der Morgenfrühe noch einmal ans Tor klopfen und den Vater umzustimmen versuchen?
Sein gekränkter Stolz verbot ihm dies. Er wollte hinausziehen in die Welt und dem Molsberger erst recht zeigen, wer er sei, er wollte die kühnsten Taten verrichten und dann wiederkehren nach Rodineck.
Allein er war ja schon einmal ausgezogen zu kühnen Taten und elend zerschlagen zurückgekehrt und hatte denselben Molsberger um Schutz und Pflege angefleht. Und was sollte inzwischen aus der armen Wahla werden? – Er fühlte sich ganz hilf- und ratlos.
Ein kräftig niederströmender Regen trieb ihn endlich in den Wald hinein, wo er in wachem Traume bis zum Morgen umherirrte. Todmüde kam er vor einem großen Bauernhause an, welches am Waldessaume lag. Er öffnete die Türe. Der Bauer trat ihm entgegen und betrachtete ihn argwöhnisch von Kopf zu Fuß. Gunther grüßte freundlich und bat, daß er ihm einen Platz am Herdfeuer gönnen möge, denn es regnete immer stärker, und ein Stück Brot gebe. Der Bauer schlug ihm die Türe vor der Nase zu, schob den Riegel vor und rief durchs Fenster, er möge machen, daß er weiterkomme.
Gunther wandte dem Hause den Rücken, ohne ein Wort zu erwidern. Er hatte arme Wanderer immer so freundlich beschenkt, daß er glaubte, es sei nicht schwer zu betteln. Jetzt merkte er, wie schwer dies ist, und vergaß für den Augenblick all sein anderes Leid über der betrübenden neuen Erfahrung, daß es doch mitunter auch recht schlechte Menschen in der Welt gebe.
Er lenkte seine Schritte wieder zum Walde hinüber; da hörte er hinter sich laut rufen: »Halt, Freund! Nicht so geschwind!« Er glaubte schon, der grobe Bauer rufe ihn zurück, und tat im stillen Abbitte, daß er den Mann für so hartherzig gehalten habe.
Allein der Ruf kam von einem gewaffneten Reiter, der, gefolgt von drei berittenen Knechten, auf ihn zusprengte und ihn mit den Worten begrüßte: »Also seid Ihr's wirklich? Junker Gunther! Kriegskamerad! Habe ich Euch doch schon von weitem an Euerm Buckel erkannt! Glückauf! Wohin geht die Reise?«
Nun erkannte auch Gunther den Reiter, der zwar keinen schiefen Buckel hatte, aber ein solches Galgengesicht, daß man's ebensowenig vergaß und unter Hunderten wieder herausfand. Es war Fritz Merkenauer, ein Edelmann von etwas zweifelhaftem Stammbaum, dessen Lehensgüter vermutlich im Monde lagen, der aber eine verteufelte Klinge schlug. Während des unglücklichen Feldzugs war er zum öfteren Gunthers Zeitgenosse gewesen und hatte bei Worringen an seiner Seite gefochten.
Er fragte: »Wohin geht Ihr?«
»Das weiß ich nicht.«
»Woher kommt Ihr?«
»Das sage ich nicht.«
»Wo wohnt Ihr?«
»Nirgends.«
»Was treibt Ihr? Was habt Ihr vor?«
»Gar nichts.«
Fritz Merkenauer lachte laut auf, sprang vom Pferde, schüttelte Gunther die Hand und rief: »Gehet mit mir, dann werdet Ihr bald wissen, woher Ihr kommt, wohin Ihr geht, wo Ihr seid und was Ihr treibt! Aber zuerst wollen wir zusammen frühstücken, und zwar im Trockenen, dort in dem großen Bauernhause, denn der Regen dringt bis auf die Haut, und aus dem Schornstein drüben steigt ein verheißungsvoller Rauch empor.«
Gunther meinte, sie würden hier schlechte Aufnahme finden, und erzählte, wie ihm der Bauer vor wenigen Minuten die Türe gewiesen habe.
»Der Bauer soll bestraft werden!« rief der Merkenauer. »Ich will Gerechtigkeit üben, und Ihr sollt Genugtuung haben.«
Bei diesen Worten klopfte er mit dem Schwertknauf wider die verschlossene Haustür, und da niemand öffnete, sprang einer seiner Knechte herbei und schlug mit dem Streitkolben die Tür in Stücke, daß sie dröhnend auf den Hausflur fiel.
Jetzt kam der Bauer mit einem dicken Prügel herangesprungen. Als er jedoch die feinen Gäste erblickte, ließ er den Prügel hinter sich zu Boden sinken und fragte sehr höflich, was die Herren wünschten.
»Wir wünschen gut zu essen und zu trinken, und zwar augenblicklich!« rief der Merkenauer.
Der Bauer entgegnete, daß er kaum ein Stück Brot im Hause habe; der edle Ritter aber würdigte diese Lüge gar keiner Erwiderung, sondern winkte seinen drei Knechten, die den Bauern von rechts und links packten und in den Schweinestall sperrten und dann das Haus durchsuchten. Sie taten dies so rasch und sicher, daß man sofort erkannte, welch vieljährige Übung sie in derlei Geschäften besaßen, brachten auch bald einen prächtigen Schinken, dazu Käse, Eier und Brot nebst sechs Krügen Wein und deckten den Tisch höchst einladend neben dem prasselnden Herdfeuer, so daß man sich nur niederzusetzen und zuzugreifen brauchte.
Dies tat denn auch Fritz Merkenauer und ließ sich das Frühstück schmecken, und Gunther folgte ihm, wenn auch mit bedeutend weniger Appetit, und die Knechte setzten sich seitwärts in die Ecke und griffen gleichfalls zu. Das Bild war sehr gemütlich anzusehen, nur nicht für den Bauern; allein den hatte man ja mit zarter Rücksicht in den Schweinestall gesperrt, damit er's nicht zu sehen brauchte.
Während des Essens erzählte der Merkenauer Gunther von der »Reise«, welche er vorhabe.
Er sprach: »Die großen Herren haben zwar Friede gemacht, allein kleine Herren wie wir setzen den Krieg noch fort. Sollen wir uns überwunden geben durch eine einzige Schlacht? Sollen wir uns nicht rächen an unseren Siegern? Wir wollen uns zunächst an den Kölner Krämern rächen, die gegen ihren eigenen von Gott gesetzten Bischof gefochten und seine Burg niedergerissen haben. In dieser Gegend ist freilich nichts zu machen, hier brennt mir der Boden unter den Füßen. Ich reite rheinaufwärts gegen Frankfurt. Unterwegs werden gute Freunde zu uns stoßen; sie kennen den ›wilden Fritz‹, wie sie mich nennen. Und stehen wir erst vereint in der Wetterau, dann lauern wir dort einer ganzen Karawane von Kölner Kaufleuten auf, die in der nächsten Woche mit vollen Beuteln nach Frankfurt ziehen. Sie sollen Buße zahlen für die Empörung gegen ihren Bischof, und diese Buße streichen wir ein, denn der Bischof sitzt im Käfig und kann jetzt kein Geld brauchen.«
Fritz Merkenauer drang dann sehr beredt in Gunther, daß er sich diesem Ruhm verheißenden Feldzug anschließen solle. Allein Gunther war mißtrauisch gegen den wilden Fritz. Der Einbruch in das Bauernhaus hatte ihm nicht ganz gefallen, und doch konnte er sich auch einer stillen Befriedigung nicht erwehren über die Bestrafung des ungastfreien Mannes. Hatte der wilde Fritz nicht dennoch Gerechtigkeit geübt? Die Reise nach Frankfurt dünkte ihm eher ein Raubzug wie eine ritterliche Fehde. Trotzdem machten ihm die beschönigenden Gründe des Merkenauers erheblichen Eindruck. Er war ein Kind seiner Zeit und seines Standes. Nichts hatte ihn schwerer geärgert, als daß bei Worringen bloße Bürgersleute mit Rittern zu kämpfen sich unterfingen und vollends Ritter zu besiegen sich erfrechten. Ja! er wollte Rache nehmen an diesen Krämern, und es dünkte ihm zuletzt eine recht löbliche Tat, so ein halbes Dutzend derselben totzuschlagen. Ihr Geld mochte dann der wilde Fritz behalten.
Kaum ließ Gunther etwas merken von diesen zeitgemäßen Gedanken, so griff Fritz dieselben weiter auf und wußte ihn zuletzt zu überzeugen, daß die geplante Reise nach Frankfurt sehr löblich und nützlich sei.
Gunther würde aber doch nicht zugestimmt haben, wenn ihm nicht das ganze Leben seit heute nacht so öde und ziellos geworden wäre, wenn er nicht seinem Schmerz, seinem Zorn, seiner Beschämung mit Gewalt hätte Luft machen müssen.
So schlug er endlich ein unter der einzigen Bedingung, daß er im Gefechte der erste sein dürfe. Denn er hoffte, dabei durch den Tod erlöst zu werden.
Der wilde Fritz gab ihm diesen ersten Platz weit lieber zu, als wenn er bei der Beuteteilung den ersten Platz gefordert hätte.
Nun aber galt es, rasch davonzureiten. Ein Knecht nahm ein Pferd aus dem Stalle des Bauern und setzte sich darauf, während er das seinige Gunther überließ.
Gunther stutzte. Das war offenbarer Raub. Er hätte dem Bauern das Pferd gerne bezahlt, allein er hatte kein Geld. Der Merkenauer beruhigte ihn, indem er sehr lebhaft sagte: »Was den Bauern gehört, das darf sich der Edelmann nehmen. Wozu wären, denn die Bauern überhaupt auf der Welt, wenn sie uns Edelleute nicht ernähren, wenn sie uns nicht dienen sollten? Der liebe Gott schuf den Weinstock, damit wir diesen Wein trinken konnten, der übrigens nicht ganz gut geschaffen, weil sehr sauer war; er schuf das Schwein, damit wir jenen tadellosen Schinken essen konnten: so schuf er auch die dummen Bauern, damit wir uns von ihnen nehmen, was wir brauchen.«
Trotz dieser schlagenden Beweisführung nahm sich Günther doch vor, dem Bauern den Wert seines Pferdes zu ersetzen, falls er lebendig vom Main zurückkomme. Er schwang sich in den Sattel, und sie sprengten davon.
Der Raubzug gegen die Kölner gelang vollständig.
Die Kaufleute waren über den Westerwald nach Wetzlar gereist, weil die Straße längs des Rheins zu unsicher schien. Sie glaubten sich schon ganz geborgen, als sie durch die offene, stark bevölkerte Wetterau gen Frankfurt zogen. Gerade diese täuschende Sicherheit ward ihr Verderben.
Zwischen Friedberg und Frankfurt ritten und gingen sie lässig ihrer Straße; die Sonne neigte sich, Pferde und Leute waren müde; ein Teil des bewaffneten Gefolges war in Friedberg zurückgeblieben, da man dessen nicht mehr zu bedürfen glaubte.
Doch plötzlich sprengten Bewaffnete von rechts und links gegen den zerstreuten Zug heran; es waren ihrer wohl dreißig Mann, denn noch drei andere »Herren« mit zahlreichen Knechten hatten sich unterwegs zu dem wilden Fritz gesellt. Die Kaufleute wurden umzingelt und aufgefordert, sich zu ergeben. Sie versuchten zwar durchzubrechen, allein der Sieg der Ritter war rasch entschieden. Gunther hatte so wütend dreingeschlagen, daß der Schrecken vor ihm allein schon den Mut der Kaufleute brach.
Die Besiegten wurden gefesselt, ihrer Habe beraubt und dann von der jubelnden Bande eiligst gegen die Berge geführt. Man wollte vor der Nacht noch die schützenden Schluchten und Wälder des Taunus gewinnen und dort die Beute teilen.
Allein kaum war der ganze Haufe eine Stunde weit geritten, als sich das vorhergegangene Spiel wiederholte, nur in umgekehrter Weise: Gewappnete in dreifach überlegener Zahl sprengten von rechts und links heran, umzingelten die Räuber und forderten sie im Namen des Kaisers auf, sich zu ergeben.
Der wilde Fritz warf stracks sein Pferd nach der Seite herum, wo die Kette der Angreifer noch nicht fest geschlossen war, und entfloh, unbekümmert um die übrigen. Die drei anderen Strauchritter suchten dem Beispiel ihres Führers zu folgen, was auch zweien gelang; der dritte wurde erschlagen. Gunther dagegen wandte sich wider die Hauptmacht der Feinde und ward nach tapferem Widerstand vom Pferde gerissen und gefangen.
So erschien er, der sich so verzweifelt gewehrt und die Knechte in den Kampf getrieben hatte, jetzt als der Führer der ganzen Bande.
Er ward vor den Hauptmann der Kaiserlichen gebracht und um seinen Namen befragt. Allein er verweigerte standhaft jede Auskunft, da er nicht wollte, daß der ehrliche Name seines Vaters in ihm mit Schimpf und Schande bedeckt werde. Die gefangenen Knechte wußten nur auszusagen, daß der Ritter Merkenauer den jungen Mann bei Andernach von der Straße aufgelesen habe und daß man ihn den Junker Gunther nenne. Da nichts weiter herauszubringen war, behandelte ihn der Hauptmann wie einen gemeinen Wegelagerer, ließ ihn in Ketten schließen und nach Frankfurt führen.
Dort wurde Gunther in ein Gewölbe geworfen, welches bei Tag so dunkel war wie bei Nacht und so niedrig, daß man nicht aufrecht darin stehen konnte.
In diesem Loche lag er drei Wochen auf feuchtem Stroh, mit Wasser und Brot verköstigt. Er wurde nicht verhört, der Schließer gab keine Antwort auf seine Fragen. Er wußte nicht, wie die Zeit verstrich, wie lange er schon im Kerker sei; er wußte nicht, wann es Tag und Nacht war, und die drei Wochen dünkten ihm eine Ewigkeit.
Als man ihn dann aus dem Kerker zog, war er so elend, daß er nicht mehr gehen konnte. Man legte ihn darum gefesselt auf einen kleinen Rollwagen, vor den eine alte Mähre gespannt war, und fuhr ihn unter starker Bedeckung tagelang durch das Land, der Mittagssonne entgegen.
Da kamen sie zuletzt nach einer Stadt, die vor hohen Waldbergen lag, und auf der anderen Seite breitete sich weithin eine fruchtbare Ebene aus. Gunther kannte die Stadt nicht; er fragte seine Wächter, wie sie heiße, aber keiner gab ihm Bescheid. Als er durch die Gassen gefahren wurde, schimpfte ihn das gaffende Volk und bedrohte ihn, so daß er fast froh war, wieder hinter Schloß und Riegel zu kommen. Dort sagte ihm der Eisenmeister, daß er am nächsten Tage vor seinen Richter geführt werden solle. Gunther wußte, was ihm bevorstand. Allein er beschloß, auch vor dem Richter zu schweigen, selbst wenn das Geständnis seines Namens und die wahrhaftige Erzählung seines Schicksals ihm das Leben hätte retten können.
Kaiser Rudolf von Habsburg ging den räuberischen Rittern streng zu Leib: er wollte Sicherheit schaffen im Reiche. Er hatte in Thüringen sechzig Burgen als Raubnester zerstören, er hatte die schlimmsten Räuber aufknüpfen lassen trotz ihrer Ritterschaft.
So war er jetzt auch in den Breisgau gekommen, um Recht und Ordnung wiederherzustellen. Man nannte den Kaiser das wandernde Gesetz, die lebendige Gerechtigkeit.
Auf hohem, freiem Bergesgipfel hatte er nach der Urväter Weise die Schöffen um sich versammelt; er saß im Ring auf der Malstatt. Der hagere Alte mit dem kahlen Kopf, der Habichtsnase und den strengen Zügen, schlicht, ja fast gering gekleidet, sah nicht aus wie ein Kaiser, von welchem Glanz und Macht und Gnade ausstrahlt, sondern nur wie der unerbittliche Richter.
Scharen Volks umstanden den Ring, um das seltene Schauspiel zu sehen, wie der gestrenge alte Herr, dem eisigen Novemberwinde trotzend, unter Gottes freiem Himmel Recht sprach und das Volk von seinen Bedrückern erlöste.
Eine ganze Bande adeliger Raubgesellen war bereits vorgeführt worden. Man machte kurzen Prozeß; von zehn gewann nur einer die Freiheit, sechs verfielen dem Kerker, drei dem Henker.
Zuletzt brachte man Gunther in den Ring. Die Menge glaubte das Zeugnis seiner Missetaten schon in seiner verwachsenen Gestalt und dem von Leiden entstellten Gesicht zu lesen und empfing ihn mit Verwünschungen.
Um Namen und Heimat befragt, verweigerte er jede Auskunft.
Die Umstehenden begannen zu argwöhnen, daß der halsstarrige Mensch gar kein Ritter sei, sondern ein gewöhnlicher Strauchdieb, mit dem man viel zu viel Umstände mache und der es gar nicht verdiene, von einem so hohen Gericht zum Galgen verurteilt zu werden.
Auf die Anklage, daß er gemeinsam mit dem wilden Fritz einen Raubzug unternommen und bei Friedberg die Kölner Kaufleute überfallen habe, bekannte sich Gunther dessen vollkommen schuldig.
Die als Zeugen geladenen Kaufleute berichteten dann noch, daß der Angeklagte der Unbändigste im Angriff gewesen sei, ja der eigentliche Führer der ganzen Rotte. Der Kläger forderte ihn auf zu bekennen, wohin die anderen Führer, namentlich der wilde Fritz, sich geflüchtet hätten. Man stellte, ihm sogar eine Milderung der Strafe in Aussicht, wenn er zur Gefangennahme dieses Hauptspitzbuben behilflich sei.
Er erklärte, daß er von des Merkenauers Wegen und Verstecken gar nichts wisse, wie es auch wirklich der Fall war. Allein das Gericht wie die versammelte Menge sah dies nur als ein weiteres Zeichen seiner Verstocktheit an.
Das Urteil lautete auf Tod durch den Strang.
Gunther hörte es ruhig an. Die Frage, ob er nichts Weiteres zu erwidern oder zu bekennen habe, beantwortete er mit: »Nein!«
Man wollte ihn wegführen, und der Galgen war nicht weit.
Da drängte sich ein gemeiner Mann, von einem Schäferhunde gefolgt, durch die Menge, drang trotz aller Abwehr in die Nähe des Kaisers und rief: »Sehet zu, Herr Kaiser, wen Ihr richtet! Das ist der Graf Walram vom Hattengau und kein gemeiner Dieb!«
Der Kaiser horchte auf und ließ sich von dem Manne, der kein anderer als der Schäfer Kurt war, wiederholen, was er gesagt hatte.
Kurt tat es mit verdoppeltem Nachdruck. Der Kaiser aber erwiderte ihm ruhig: »Du bist entweder ein Narr oder ein Schelm. Ich kenne den Grafen Walram recht gut; denn er war erst vor vierzehn Tagen an unserem Hofe, uns zu huldigen, und sieht diesem Räuber so ähnlich wie der Schwan der Krähe.«
Allein Kurt begann nun eine Erzählung, die ebenso lang als verworren war, mit fieberndem Eifer hervorzusprudeln. Er behauptete, jener Mann, den man soeben verurteilt habe, nenne sich freilich keinen Grafen, allein er sei der richtige Graf; er heiße freilich Gunther, aber von Rechts wegen solle er Walram heißen. Das komme alles von dem roten Bändchen, welches ihm die Husbeckin abgebunden und dem falschen Walram umgebunden habe; er sei auch kein Räuber, obgleich er sich dazu bekenne, sondern der wahre Räuber sei sein Bruder, der ihm sein Erbe geraubt und es behalten habe, obgleich ihm doch die Husbeckin gesagt, daß es ihm nicht gehöre.
Der Kaiser unterbrach die völlig unverständliche Rede, über welche viele zu lachen, andere zu murren begannen, mit der Frage, wer er selbst denn eigentlich sei und woher er komme.
Kurt gab ruhig und wahrhaftig Bescheid.
»Wohlan!« sprach der Kaiser, »du treibst ein dummes, falsches Spiel. Bist du wirklich ein Schäfer aus dem fernen Hattengau, wie und warum kamst du denn hierher? Wie konntest du wissen, daß jener Räuber heute hier vor Gericht gestellt werde? Vermutlich warst du auch unter den Wegelagerern bei Friedberg; aber jetzt sollst du deiner Strafe nicht entgehen!«
Hierauf begann der ehrliche Kurt wiederum eine lange Erzählung, die jedoch bedeutend klarer herauskam als seine erste.
Er war nach seiner Trennung von Gunther zurückgegangen zu dem Bauern bei Worringen, dessen Schafe er vor der Schlacht gehütet, und hatte demselben den Schäferkarren wieder zugestellt und dagegen seinen Kittel und den ledernen Zwerchsack geholt. Doch hielt er sich länger auf und kam weit langsamer vom Wege, als er gedacht; denn ein Schäfer hat immer Zeit. Wochen verstrichen, so daß Gunther das Windhaus inzwischen bereits wieder verlassen hatte. Die Straße rheinaufwärts führte Kurt über Andernach, und er beschloß, in dem nahen Rodineck noch einmal vorzusprechen. Er kam dort am zweiten Tage nach Gunthers unseligem Besuche an und hörte die ganze Entführungsgeschichte. Es war aber auch schon bekannt geworden, daß Gunther sich der Bande des wilden Fritz angeschlossen und den Waldbauer ausgeplündert und in den Schweinestall gesperrt habe und dann mit den Strauchdieben nach Süden gezogen sei. Wahla erfuhr Kurts Anwesenheit. Sie ließ ihn in ihre Kammer rufen und bat ihn unter Tränen, daß er seinem Herrn nacheilen und ihn in ihrem Namen beschwören solle, von der Gemeinschaft mit dem verrufenen Ritter sich loszumachen. Das Elend und der Kummer des kranken, gebrochenen Mädchens rührte Kurt so tief, daß er ihren Auftrag auszuführen versprach. Es gelang ihm, die Spuren der Bande aufzufinden, denn sie waren durchs ganze Land hin deutlich genug. Allein er kam doch viel zu spät und erfuhr erst in Frankfurt, daß die Rotte des wilden Fritz zersprengt und ein buckeliger Ritter, den niemand kannte, gefangen worden sei. Obgleich nun Kurt alle weitere Spur verlor, glückte es ihm doch, später zu erfahren, daß man eine ganze Anzahl gefangener Wegelagerer von nah und fern nach Freiburg bringe, um sie dort vor des Kaisers Gericht zu stellen. Er schloß, daß sein Herr auch dabei sei, und wanderte aufwärts in den Breisgau. Als er eben zum Tore von Freiburg hineingehen wollte, sah er, wie alle Leute hinausströmten zur Malstatt, und so war auch er im letzten Augenblicke dort erschienen.
Kurt schloß seine Erzählung mit den Worten: »Mein Herr mag unrecht getan haben, indem er zur Bande des wilden Fritz gegangen ist. Aber bedenket, Herr Kaiser, wenn Euch Euer Bruder Euern Namen gestohlen hätte und Euer Erbe und zuletzt noch Eure Braut dazu, dann würdet auch Ihr teufelswild werden und von Sinnen kommen, Eure Wut müßte heraus, und wenn Ihr Euren Bruder nicht in die Hände bekämet, so müßtet Ihr jemand anderes anpacken, um Euch Luft zu machen. Dies tat auch mein Herr, und wenn er zufällig die Kölner Krämer angepackt und geschüttelt hat, so ist das noch nicht das größte Unglück gewesen.«
Der Kaiser hatte schon während der Rede des Schäfers einen Diener herbeigewinkt und ihn fortgeschickt, daß er den verurteilten Junker wieder zurückbrächte. Es war die höchste Zeit gewesen, denn Gunther stand schon unter dem Galgen.
Nachdem aber Kurt geendet, sprach der Kaiser zu den Richtern: »Wir verschieben den Vollzug des Urteils, bis wir ergründet haben, wer dieser Mann eigentlich ist und was an ihm gefrevelt wurde, bevor er selber frevelte.«
Dann befahl er, Gunther wieder ins Gefängnis zu führen und den Schäfer gleichfalls, doch in getrennte Haft zu nehmen. Man solle den armen, einfältigen Mann jedoch gut halten gleich seinem Hunde; denn er scheine treu zu sein wie ein Hund.
Nach etlichen Tagen ließ der Kaiser Gunther ganz allein vor sich kommen. Er sagte ihm, er kenne das Geheimnis seiner Person und seines Lebens, und berichtete ihm alles, was er von dem Schäfer auf der Malstatt und nachher noch durch wiederholtes Befragen erfahren hatte.
Dann faßte er den Junker fest ins Auge und fragte: »Ist das wahr, was ich erzählte?«
Gunther schwieg.
»Du schweigst? Also gibst du zu, daß ich die Wahrheit berichtet habe. Denn wäre das nicht, so würdest du widersprechen!«
Da fand Gunther plötzlich die Sprache wieder: »Ich kann nicht lügen, auch nicht indem ich schweige. Was Ihr von meinem Erbrecht gesagt habt, ist unerwiesen. Was Ihr von meiner Liebe erzähltet und von meiner verzweifelten Flucht, das klingt wie eine Sage, wie ein Lied, in welchem die Fabel zur Wahrheit und die Wahrheit zur Fabel wird. Was ist überhaupt die Wahrheit einer Geschichte? Wir erleben jedes Ereignis zwiefältig: einmal in der Tat, dann in der Erinnerung, und die Erinnerung ist immer eine Dichterin.«
»So erzählt mir, was Eure Dichterin geschaffen hat, aber dichtet mir nichts Neues mehr hinzu«, sprach der Kaiser, und ein so huldvolles Lächeln glitt über die sonst so strengen Züge, daß Gunther nicht widerstehen konnte und schlicht und klar die Erlebnisse der letzten Monate zu berichten begann.
»Ihr sehet, Herr Kaiser«, sprach er am Schluß, »ich habe ein unnützes Leben geführt: ich habe bei Worringen für eine Sache gefochten, die mich nichts anging, ich habe in Rodineck hinter dem Rücken des Vaters um die Liebe der Tochter geworben, ich habe das arme Mädchen in unseligen Zwiespalt gestürzt, ich habe ihr den Schwur des Schweigens gebrochen, ich habe sie entführt, ich bin unter die Wegelagerer gegangen, ich habe gegen meinen Kaiser gefochten –«
»Ihr braucht nicht weiter zu berichten«, unterbrach ihn Rudolf. »Eine einzige von allen den Sünden genügte schon, daß man Euch einsperrte, und Ihr werdet in Haft bleiben. Aber verliert den Mut nicht! Die Wahrheit schläft oft lange und erwacht doch endlich, auch die Liebe gibt sich gar manchmal verloren und kommt ganz unversehens doch ans Ziel.«
Der Kaiser entfernte sich sinnend und zweifelnd. Es war ja klar, was Gunther gesündigt hatte; viel dunkler dagegen die Frage, was eigentlich an ihm gesündigt worden sei.
Nach seiner bedächtigen Weise wollte dies Rudolf mit aller Klugheit erforschen. Dazu brauchte er Zeit, und ihn drängten jetzt andere Geschäfte.
Also blieb Gunther sitzen, wenn auch fortan in sehr milder Haft, noch tieferem Sinnen und Zweifeln anheimgegeben als der Kaiser.
Nach einiger Zeit wurde er an einen anderen sicheren Ort gebracht. Seine bisherigen Wächter erfuhren nicht, wohin; man hörte nichts mehr von ihm. Er war verschollen.
Wer hätte sich auch viel um ihn kümmern sollen, um den unbekannten, von Natur und Glück vernachlässigten jungen Mann, der eben erst hervorgetreten war und dann wieder versank!
Auf der Hattenburg durfte man seinen Namen gar nicht nennen. Walram hörte ihn nicht gern. Er unterließ auch jede Nachforschung nach dem Verlorenen, der seinem Hause Schande gemacht hatte.
Nur eine Seele dachte täglich seiner, freilich auch als eines Verlorenen. Verschiedene widersprechende Gerüchte waren zu Wahlas Ohren gedrungen. Zuerst hieß es, Gunther sei in dem Kampfe mit des Kaisers Mannen bei Friedberg gefallen, dann, er sei gefangen vor des Kaisers Gericht gestellt und verurteilt, aber insgeheim hingerichtet worden, damit dem Grafenhause die öffentliche Schande erspart werde. Doch ging auch die dunkle Sage, Gunther lebe noch in ewiger Haft.
Der alte Molsberger suchte das unglückliche Mädchen im Glauben an Gunthers Tod zu bestärken.
Gerlach von Molsberg war kein harter Mann; allein er war ein Kind seiner Zeit. Der Vater verfügte über die Hand seiner Tochter, und die Tochter hatte sich seiner Gewalt zu beugen. Er hatte Wahla mit Walram verlobt, und dabei blieb er, zumal Walram, nachdem er von dem mißglückten Entführungsversuche seines Bruders gehört, um so leidenschaftlicher auf baldige Hochzeit drang.
Nur der andauernd leidende Zustand der armen Wahla bewirkte, daß die Vermählung vom Herbste zum Frühjahr aufgeschoben wurde.
Äußerlich war Wahla geduldig und ergeben. Auch sie war ein Kind ihrer Zeit; es schien ihr die größte Sünde, dem Willen des Vaters zu widerstreben. Sie bereute tief, daß sie es in jener verhängnisvollen Nacht getan, und faßte ihr ganzes Elend als die gerechte Strafe Gottes. Sie suchte das Bild Gunthers aus ihrer Seele zu reißen, doch es gelang ihr nicht. Fort und fort sah sie ihn in doppelter Gestalt, und beide Erscheinungen kämpften miteinander, und sie zerkämpfte sich über beide. Das eine Mal war es der sanfte, fromme, mildfreundliche Jüngling, wie er krank und genesend während der sonnigen Sommermonate in Rodineck geweilt und ihr Herz gewonnen hatte; das andere Mal der wilderregte, gewaltsame, vergeisterte, unheimliche Mann, wie er im Herbste wiedergekommen war, sie in ihrem tiefsten Gewissen erschreckend, unglücklich durch ihre Schuld, die ihr doch keine Schuld deuchte, und sie und sich mit größerer Schuld belastend. Tat sie unrecht, da sie ihrem Vater folgte? Tat sie unrecht, da sie ihm entfliehen wollte? Sündigte sie, da sie selbst jetzt noch in zielloser Leidenschaft für Gunther, den Verlorenen, sich verzehrte? Sündigte sie, da sie Walram nicht lieben konnte und doch ihre Hand willenlos in die seinige legen ließ? Sie wußte es nicht.
Sie bat Gott, daß er sie erleuchten möge, aber sie fand keine Erleuchtung. Sie fragte sich, ob der liebe Gott, der doch alles so dunkel gefügt habe und ihr kein Licht und keinen Trost sende, wirklich der Gott der Liebe sei. Sie begriff dieses Rätsel nicht und zieh sich der Sünde, daß sie es nicht begreifen konnte, ja daß es ihr überhaupt ein Rätsel war.
Wahla hatte den Winter in tiefster Zurückgezogenheit auf dem väterlichen Stammschlosse Molsberg verlebt. Der rauhe Westerwälder Winter und das einsame Bergschloß bildeten einen so schroffen Gegensatz gegen den lieblichen Landsitz Rodineck mit seiner sommerlichen Anmut.
Im Dezember war die Einsamkeit auf eine Weile durch einen Besuch Walrams unterbrochen worden. Wahla ging dem Bräutigam aus dem Weg, wo sie nur konnte, und schwieg, wenn er sprach. Das verdroß denselben wohl, allein er ließ sich seinen Arger nicht merken, und der Vater merkte nicht, daß er dem geliebten Kinde das Herz brach. Da er selber ganz verliebt in Walram war, glaubte er, bei Wahla werde sich die Liebe allmählich auch schon finden.
Im Februar war er zum Gegenbesuch in den Hattengau gereist, wo ihm das schöne Schloß und die schönen Güter so außerordentlich gefielen, daß er mit einer gewissen Freude, die bisher doch auch bei ihm nicht ganz hatte aufkommen können, den Ehevertrag beredete und abschloß.
Am 6. April sollte die Hochzeit sein. Walram war eine Woche vorher auf Molsberg eingetroffen mit überreichen Geschenken für die Braut, die ganze Molsbergische Familie und Dienerschaft und die zu erwartenden Gäste.
Am Morgen nach seiner Ankunft saß er vertraulich mit seinem künftigen Schwiegervater zusammen, der in letzter Zeit erschrocken war über Wahlas Zustand. In ihrer steigenden Schwermut und herben Verschlossenheit erschien sie ihm nachgerade als ein ganz fremdartiges Wesen; er merkte nun erst deutlich, daß sie gar nicht mehr das frohe, gute, offenherzige Kind sei wie früher und wollte eben seine Besorgnis dem Bräutigam ans Herz legen.
Da wurde das Gespräch durch einen fremden Mann unterbrochen, der ungemeldet zur Tür hereintrat.
Er war in Begleitung eines anderen gekommen, beide tief in ihre Mäntel gehüllt, und der Torwart hatte sie anfangs gar nicht einlassen wollen, da sie ihre Namen nicht nannten und so gering gekleidet waren. Allein der größere und ältere von den beiden sagte kurzweg und ganz herrisch, er sei ein alter Freund des Burgherrn, schob den Torwart beiseite und tat so stolz, daß ihm die Diener verwundert nachsahen, und indem er seinen Begleiter in der Vorhalle ließ, trat er ohne Umstände in das Zimmer.
Er schlug den Mantel zurück und begrüßte den Molsberger freundlich: – es war der Kaiser.
Herr Gerlach war ganz erschrocken und sprachlos über die hohe Ehre des unerwarteten Besuchs. Walram dagegen fand sofort das Wort, den Gruß aufs schicklichste zu erwidern.
»Es ist mir lieb, Euch hier zu finden, Graf Walram«, sagte Rudolf, »ja, ich habe Euch eigentlich gesucht. Euer toller Bruder hat Euch schweren Kummer gemacht und uns kaum minder schweren Kampf und Sorge.«
Walram fiel beteuernd ein, daß er keine Mitschuld habe an den Freveltaten Gunthers, die er tief beklage.
»Um so glücklicher werdet Ihr sein zu erfahren, daß ich Euch Euern Bruder wiedergebe. Ich habe ihn mitgebracht. Er war bisher mein Gefangener, aber er soll es nicht länger bleiben. Seine Taten waren schlecht, doch im Herzen meinte er's gut, und wo dies zusammentrifft, da soll der König das göttliche Recht der Gnade üben.«
Walram erbleichte und stammelte seinen Dank, nun gar nicht mehr so redegewandt wie vorher.
»Ich will noch weiter schlichten und versöhnen«, fuhr der Kaiser fort. »Es bestünde eine schwere Streitfrage zwischen Euch und Eurem Bruder, wenn dieser sein Recht wollte geltend machen, die Streitfrage nämlich, ob Ihr wirklich Walram heißt und nicht Gunther, woran sich dann einige nicht unbedeutende Folgen knüpfen würden. Euer Bruder erklärt aber, der Name Gunther sei ihm gut genug, er sei ihm seit dreiundzwanzig Jahren so lieb geworden, daß er ihn gar nicht wieder hergeben wolle; er begehre auch die Grafschaft nicht, welche Euch so sehr gefalle. Allein auch ungebeten bin ich der Anwalt Eures Bruders, weil ich will, daß Recht Recht werde, und müßten wir's vom Himmel holen.«
»Das wird in diesem Falle wohl nötig sein«, entgegnete Walram, »denn auf Erden hat sich kein Erweis meines Unrechts gefunden.«
Walram berichtete nun, wie seine Eltern niemals den leisesten Zweifel kundgegeben hätten, daß er Walram, daß er der Erstgeborene sei. Die Aussage eines verrückten alten Weibes habe das Märchen aufgebracht von der Verwechslung der Zwillinge, das sie aber bis zu der Stunde, wo die Schatten des Todes bereits ihren schwachen Geist vollends verdunkelten, keinem Menschen offenbart habe.
»Doch hatte sie das Geheimnis in besseren Jahren bereits einem Schäfer anvertraut«, unterbrach ihn der Kaiser.
»– der ein ebenso würdiger und glaubwürdiger Zeuge ist wie die Alte selber«, ergänzte Walram spöttisch.
»Ich habe Kurt den Schäfer als einen klugen und treuen Mann erfunden«, fuhr der Kaiser fort, »und ihn in meinen Stall aufgenommen, denn er kuriert Hunde, Pferde und Esel meisterhaft. Aber warum sagtet Ihr Euerm Bruder nichts von dem Bekenntnis der Husbeckin? Glaubtet Ihr gar nicht, daß sie dennoch die Wahrheit könne gesagt haben?«
»Wir glauben, was wir wünschen, und wir bezweifeln, was uns Schaden brächte, solange nicht Beweise jenen Glauben oder diesen Zweifel vernichten.«
»Ihr redet klug«, sprach der Kaiser, »und es scheint in der Tat, daß solche Beweise nicht zu finden sind. Dennoch wäre es brüderlich, wenn Ihr Euren Namen behieltet und mit dem Bruder zusammenlebtet bei geteiltem Erbe.«
»Ich kann nicht mit meinem Bruder zusammenleben«, entgegnete Walram, »denn er bestreitet mir nicht nur die Grafschaft, er bestreitet mir auch meine Braut.«
»Wohlan!« rief Rudolf, »kein Mensch kann entscheiden, ob Euch oder ihm die Grafschaft gebühre. Das weiß nur Gott. Aber es gibt einen Menschen, der kann entscheiden, ob Euch oder Gunther Wahlas Liebe zukomme, und der Entscheid soll jetzt getroffen werden, so wahr ich Kaiser bin!«
In diesem Augenblick trat Wahla in das Zimmer. Sie glaubte, nur ihren Vater hier zu finden; sie erschrak, als sie den Fremden sah, und wollte sich wieder zurückziehen.
Allein der Kaiser trat ihr entgegen: »Ich hoffe«, sprach er, »die Tochter des Hauses flieht nicht vor dem Gaste des Hauses, auch wenn er ein ungebetener Gast wäre. Ich bin Euch fremd und doch nicht ganz fremd, denn ich bringe Euch Nachricht von einem unglücklichen Manne, dem Ihr einst gewogen waret. Darf ich Euch von Gunther erzählen?«
Wahla schwieg; ihre Knie zitterten, ihre Lippen bebten. Rudolf wartete eine lange Weile.
»Ihr habt mich erschreckt«, sagte sie endlich. »Ich fürchte mich vor Euerm Bericht und bin jetzt zu schwach, ihn zu hören. Gunther ist tot; – ich kannte einen anderen Gunther, als den Ihr meint, und von meinem Gunther könnt Ihr mir doch nichts erzählen.«
»Vielleicht kann ich's nicht. Aber ich stelle Euch einen anderen Mann, der wird's können.«
Bei diesen Worten winkte der Kaiser einen Diener herbei und flüsterte ihm einen Auftrag ins Ohr. Der Diener ging, ihn auszurichten.
Da trat Walram zwischen Rudolf und Wahla und rief: »Ihr tut unrecht, Herr Kaiser, daß Ihr dieses arme Mädchen, meine Braut, so grausam martert. Wahla, folge mir!« und er wollte sie hinausführen.
Als aber Wahla hörte, daß der Fremde der Kaiser sei, fiel sie vor ihm auf die Knie und flehte um seinen Schutz.
Rudolf hob sie auf und sprach: »Ich bin für dich nur der Fremde, der dir Botschaft bringen wollte. Dein rechter Beschützer ist hier dein verlobter Bräutigam. Folge ihm!«
Wahla zögerte.
»Oder ist Graf Walram nicht dein Verlobter? Willst du ihm nicht die Hand geben?«
»Ich gab sie ihm, und ich werde sie ihm geben«, antwortete Wahla, sich wieder aufrichtend. Leichenblässe deckte ihr abgemagertes Gesicht.
»Der Entscheid fällt für Euch, das Recht ist auf Eurer Seite!« sprach Rudolf zu Walram. »Seht, es war doch leichter zu erweisen, wem Wahlas Liebe zukomme, als wem das Geburtsrecht auf die Grafschaft gebühre!«
In diesem Augenblick führte ein Diener den Begleiter des Kaisers herein, dessen Gestalt von einem langen, groben Mantel verhüllt war. Wahla schrak zusammen, als sie ihn erblickte, dann faßte sie die gramentstellten Züge des Gesichtes fest ins Auge und rief mit herzzerreißendem Schrei: »Gunther!« und sank bewußtlos in die Arme des Kaisers.
Als sie langsam wieder zur Besinnung kam, sprach Rudolf milde: »Gunther lebt. Aber es ist nicht mehr der böse Gunther, er ist wieder der gute Gunther geworden, der er im Sommer auf Rodineck war.«
Da riß sich Wahla vom Kaiser los und warf sich wortlos Gunther in die Arme, und mit ihrem Kuß verschmolzen sich die Tränen beider.
Der Kaiser wandte sich lächelnd gegen Walram und den Vater und sagte leise mit erhobener Hand: »Vorher hörten wir den ersten Entscheid in deutlichen Worten. Mir scheint, dieser zweite ganz andere Entscheid, den wir bloß sehen, ohne ein Wort zu hören, ist der höhere und letzte, der den ersten aufhebt.«
Da sprach Walram: »Herr Kaiser! Ihr könnt richten über unser Lehen und unsere Dienstpflicht, ja über unser Leib und Leben; doch über unsere Liebe seid Ihr nicht zum Richter gesetzt!«
»Habe ich denn gerichtet, junger Mann?« fragte der Kaiser scharf und streng. »Ich sagte nur, ich wolle jemand stellen, der uns Entscheid brächte über Wahlas Liebe, und wir sehen den Entscheid vor Augen. Das letzte Wort aber hat dennoch die väterliche Gewalt, welche gebunden hat und lösen kann, und ich greife nicht in ihre natürlichen Rechte.«
Da öffnete endlich der alte Molsberger den Mund und sprach tief bewegt: »Ich habe während dieser Stunde vieles gehört und gesehen, was mir neu war. Walram dünkt mir plötzlich ein anderer, als ich dachte, Wahla eine andere, Gunther ein anderer. Auch das Glück meiner Tochter dünkt mir jetzt fast woanders zu liegen als vor einer Stunde. Ich selbst bin wie verwandelt, wie geblendet, aber ich bin langsam und bedacht; ich bitte um einen Tag Frist, dann will auch ich mein letztes Wort sprechen.«
Walram schien diese Frist nicht abwarten zu wollen. Er verabschiedete sich kalt und feierlich von dem Kaiser, stumm und kalt von dem Molsberger und verließ die Burg im hellen Zorn.
Am folgenden Tag hatte der Kaiser, der auf der Burg geblieben war, einen sehr glücklichen Morgen. War ihm gestern nicht alles nach Wunsch gegangen? In der Tat, er war seit Jahren nicht so zufrieden mit sich selbst gewesen und fand, es sei doch viel leichter und angenehmer, die Herzen der Menschen zu lenken als die Geschicke der Staaten.
Er fühlte sich heute morgen ganz wie ein kleiner Herrgott, und den kleinen Herrgott spielen wir Menschen so gerne, namentlich wenn wir Kaiser sind.
Der alte Molsberger war gestern gegen Abend schon ganz gescheit geworden und wollte von Walram kein Wort mehr hören, Wahla hatte den vollen Glauben an Gunther wiedergefunden und Gunther den Glauben an sein Glück.
Doch konnte der Kaiser noch immer nicht ganz klug werden aus diesem Gunther, den er nun schon seit Monaten von nah und fern beobachtet hatte. Er meinte, ein Mann, der so unverhofft dem Henker und Kerker entrinnt und dafür seines Kaisers Gnade findet und obendrein eine verlorene Geliebte wiedergewinnt, müsse heller aufjubeln. Und Gunthers Jubel war offenbar noch etwas schwermütig.
Er ließ ihn rufen. »Was willst du nun beginnen, da du wieder frei bist?« fragte er ihn.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Günther.
»Die Welt liegt dir offen. Greife zu!«
»Wäre ich eines Bauern Sohn, so hätte ich einen Beruf und wüßte, was ich tun sollte; da ich aber zufällig eines Grafen Sohn bin, weiß ich's nicht. Ich habe das Waffenhandwerk versucht und bin schlimm dabei gefahren. Möglich, daß ich fortan auch in den Waffen mehr Glück hätte, allein es befriedigt mich nicht ganz, andere Leute totzuschlagen.«
»Du bist ein halber Gelehrter, wie man mir sagte: werde ein ganzer. Du machst dir deine Gedanken und liesest Bücher, am Ende schreibst du gar ein Buch. Nun gut. Lebe glücklich in deinen Büchern und Gedanken!«
»Wie könnte ich dies im öden Windhaus! Ich müßte in eine große Werkstatt des Geistes gehen, in ein Kloster oder Domstift. Wie könnte ich aber dies, da ich Wahla liebe?«
»Das wollte ich hören!« rief Rudolf lachend. »Und nun weißt du, was du tun sollst: heirate deine Wahla!«
»Und was weiter?«
»Was weiter?« wiederholte der Kaiser staunend. »Eine solche Frage hat mir noch kein Liebender gestellt. Freilich, wenn du das nicht weißt, dann weiß ich's auch nicht.«
Nach kurzem Besinnen sprach Gunther sehr ernst: »Die Ehe ist der Beruf des Weibes, aber der Mann muß auch noch einen anderen Beruf haben, bevor er zur Ehe schreitet. Wer bloß lebt, um zu lieben, der ist kein Mann. Ich sagte es Euch ja, Herr Kaiser, daß ich nicht weiß, was ich im Leben tun soll, und eben darum würde ich Wahla unglücklich machen, wenn ich sie heiratete.«
»So heirate Wahla nicht!«
»Dann würde ich sie gleichfalls unglücklich machen, denn sie liebt mich über alle Maßen, sie liebt mich so sehr, wie ich sie liebe.«
»Ich weiß dir einen Beruf«, fiel der Kaiser ein. »Ziehe dich zurück auf dein bescheidenes Erbgut und verwalte es als ein echter Edelmann.«
»Ein echter Edelmann?« fragte Günther. »Ja, wenn der echte Edelmann ein Bauer wäre, wenn er pflügte und säte und erntete, dann hätte er etwas Ordentliches zu tun. Aber das darf er ja nicht. Er läßt seine Bauern pflügen und nimmt ihre Gülten und Zehnten und Fronden entgegen; er verzehrt die Frucht ihres Fleißes.«
»Nun, das ist doch auch eine Arbeit!« rief der Kaiser, »und obendrein eine recht feine und vornehme!«
»Aber mein Gut ist so klein, und meine Bauern sind so arm, daß ich ihnen gar nichts abnehmen kann, ohne mich der Sünde zu schämen.«
»Ich merke, wohin du zielst: Wie schlau können doch auch die kindlichsten Gemüter sein! Doch du hast recht, Gunther. Du bist verkürzt in deinem Erbe, dein Gut ist zu klein. Ich will dir ein reicheres Lehen geben in meinen Stammlanden.«
»Edler Herr! mein Herz hängt an meiner Heimat, die ich nur ein einziges Mal und sehr zu meinem Schaden verlassen habe. Welches Heimweh hatte ich alle die Wochen nach dem öden Windhaus! Ich würde vor Heimweh vergehen in Euren schönen Landen.«
»Dann wollen wir sehen, ob dein kleines Gut beim Windhaus nicht erweitert werden kann.«
»Das könnte nur auf Kosten meines Bruders geschehen, und ich würde es niemals annehmen. Und wenn ich Wahla heimführte nach Windhaus, würde mich mein Bruder dort nicht in Frieden leben lassen; denn Wahla war seine Braut, die er ganz zu besitzen glaubte und die ihn doch nicht haben wollte.«
»Du hast recht«, sagte der Kaiser, »du bist gescheit bei all deinem Unverstand. Aber was wäre da zu machen?«
»Ich weiß einen Rat, gnädigster Herr. Nehmt Walram auf ein paar Jahre an Euern Hof, gebt ihm ein recht vornehmes Amt in Euerm Gefolge; er ist schön, fein, weltklug, Ihr werdet ihn brauchen können, und er wird mich in Frieden lassen und sich bessern.«
Der Kaiser lachte laut auf. »Ich habe schon oft gehört, daß der Hof junge Leute verderbe und zur Selbstsucht verlocke, aber noch niemals, daß man einen Selbstsüchtigen zum Hofe schicken solle, damit er dort ein gutes Herz gewinne.«
»Für andere Höfe mag das gelten«, fiel Gunther ein, »aber nicht für den Hof Kaiser Rudolfs.«
»Junge, wo hast du das Schmeicheln gelernt?« rief der Kaiser, mit dem Finger drohend. – Und doch gefiel ihm die kleine Schmeichelei.
»Walram ist eitel«, fuhr Gunther fort, »nehmt ihn an Euern Hof; laßt ihn die Eitelkeit auskosten bis zum Übermaße, dann wird er wieder gut.«
»Die Eitelkeit übersättigt sich nie«, belehrte Rudolf. »Je mehr man sie füttert, um so hungriger wird sie. Übrigens ist Walram im Zorne von uns gegangen: er würde meine Einladung ablehnen.«
»Das wird mein Bruder nicht. Hätte er Wahla geliebt, wie ich sie liebe, so würde er in der Tat dem Zerstörer seiner Liebe absagen, und wenn dies gleich sein Kaiser wäre. Allein er liebt, was glänzt, und der kaiserliche Hof glänzt weit mehr als die schlichte Wahla von Molsberg. Macht die Probe! Sie wird die Liebesprobe, welche Eure Weisheit gestern anordnete, wiederholt bestätigen. Ich wette, daß Walram zu Hofe geht.«
»Ich nehme die Wette an«, rief der Kaiser. »Verliere ich sie, dann will ich mich in meinem Leben nicht wieder in fremde Liebeshändel mischen; verlierst du sie aber, dann sollst du statt deines Bruders zwei Jahre an meinen Hof kommen, damit du dort deine Grillen ablegst und dich besinnst, was du eigentlich auf dieser Welt treiben sollst, und fähig wirst, Wahla nicht zu lieben, sondern auch zu heiraten. Übrigens bist du ein geborener Hofmann, du mußt nur noch dazu erzogen werden.«
Gunther meinte, der Einsatz bei dieser Wette sei etwas ungleich, doch gehe er darauf ein, denn er sei sicher, zu gewinnen.
Rudolf aber sprach: »Du bist ein Rechthaber, mit dem kein Mensch fertig wird. Statt von ungleichem Einsatz zu reden, solltest du dich vielmehr freuen, wenn du die Wette verlörest.«
Mit diesen Worten entließ er Gunther.
Der Kaiser war am Morgen so glücklich gewesen, so selbstzufrieden mit seiner eigenen Weisheit, weil er glaubte, er habe das verfahrene Schicksal wenigstens eines Menschen trefflich wieder auf den rechten Weg zu lenken gewußt, fast gerechter waltend wie unser Herrgott.
Allein am Abend mußte er erkennen, daß er mit dem Kopf und Herzen jenes Menschen doch nicht fertig werden könne. Und dieser Mensch war Gunther, den er gerettet hatte, der noch so blutjung und unerfahren war, in der Einsamkeit aufgewachsen wie ein Wilder, enterbt und verstoßen, ungeschickt und unglücklich in allem, was er unternahm, und schief und bucklig dazu! Gunther wußte sich selbst nicht zu raten, nahm aber auch keinen Rat von andern an, nicht einmal von seinem Kaiser. Das schlimmste aber war, daß dieser Kaiser sich sagen mußte, er selber habe ja auch dem Ratlosen nichts Gescheites zu raten gewußt.
Es begann zu dämmern.
Rudolf ging mit großen Schritten in der Stube auf und ab. Dann blieb er wieder am Fenster stehen und blickte in das weit sich absenkende Hügelland hinaus, das sich mehr und mehr in Dunkel hüllte. Und wie sein Auge aus der engen Stube ins Weite drang, so trugen ihn auch seine Gedanken von dem kleinen Erlebnis des Tages zur Rückschau auf sein langes vergangenes Leben. Er hatte so viel gerichtet und geschlichtet im Deutschen Reiche, er hatte oft geglaubt, das Geschick wie die Herzen der Fürsten und Völker zum besten gelenkt zu haben, und doch dünkte ihm jetzt, er habe auch da genau so wenig ausgerichtet wie heute bei Gunther.
Recht trübsinnig gelaunt setzte er sich zuletzt auf eine Bank in der dunkelsten Ecke. Da öffnete sich plötzlich die Türe, die rote Lichtglut einer Fackel drang herein, und dem Diener, welcher die Fackel vorangetragen hatte und in den eisernen Ring an der Wand steckte, folgte Gunther höchst ungestüm, eine verhüllte weibliche Gestalt nach sich ziehend, die offenbar lieber davonlaufen als mitgehen wollte.
»Fürchte dich nicht, Wahla!« rief er, »wir müssen dem Kaiser berichten, was wir soeben erlebt haben. Herr Kaiser, ich weiß jetzt, was ich will und was ich soll. Ihr konntet mir's nicht sagen, ich konnte mir's auch nicht sagen, aber Wahla hat mir's gesagt. Weil ich die Sache aber gar nicht klar auseinandersetzen kann, wenn Wahla nicht dabei ist, so habe ich sie gleich mitgebracht.«
Gunthers Augen leuchteten, sein Gesicht war wie verklärt, er war ein ganz anderer wie heute morgen.
Lächelnd betrachtete ihn der Kaiser; dann bat er ihn freundlich, vorzubringen, was er zu berichten habe.
»Es ist sehr wenig und sehr viel«, begann Günther. »Ich saß den ganzen Nachmittag mit Wahla zusammen, bloß um ihr genauer wiederzusagen, was Ihr und ich am Vormittag miteinander gesprochen hatten. Sie billigte jedes meiner Worte, die ich vor Euch geredet. Ich tauge nicht für den Beruf des Kriegers, ich tauge noch weniger für Euern Hof, es ist für mich zu spät, ein Gelehrter zu werden, ich kann und will auch nicht mein Leben lang auf dem einsamen Windhaus sitzen, um den Bauern die Zinsen abzunehmen –« Gunther hielt ein.
»Aber wozu taugst du denn endlich?« fragte der Kaiser ungeduldig. »Was hat dir Wahla gesagt, das dein Beruf sei?«
»Wahla hat mir gar nichts gesagt. Sie hat nur zugestimmt, daß ich zu allem dem im einzelnen nichts tauge, geradeso wie Ihr zustimmtet. Aber als ich ihr ins Auge blickte, als ich mich in ihrer Nähe so ganz durchströmt fühlte von ihrer und meiner Liebe, da wußte ich auf einmal, was ich tun solle; als ich dagegen heute früh, verzeiht mir, Herr Kaiser, Eure weisheitsvollen Worte hörte, da wußte ich's ganz und gar nicht. Und nun vernehmet meine neue Weisheit: für jeden der genannten Berufe im einzelnen tauge ich nicht, aber ich tauge für alle zusammengenommen; ich will sie alle miteinander ergreifen: in den Krieg ziehen, wenn's not tut, zu Hofe, wenn man einmal meiner bedürfte, ich will meines kleinen Gutes walten, soweit ich mir und meinen Bauern nützen kann, und mich in die Geheimnisse des Denkens und Dichtens versenken, wenn die rechte Sonntagsstimmung über mich kommt, – und das alles zusammen ist der Beruf eines echten Edelmanns, und der bin und bleibe ich doch als meines Vaters Sohn, wenn ich auch enterbt bin und schief und bucklig dazu, übrigens meinte Wahla, und das war das einzige, was sie sagte, wenn es uns auf dem Windhaus zu langweilig werde, dann könnten wir ja auch in der schönen Sommerszeit beim Vater in Rodineck wohnen.«
»Halt!« fiel der Kaiser ein. »Heute morgen wolltest du ja nicht heiraten. Willst du das nun auch noch zu alle dem übrigen tun, um ein ganzer Edelmann zu sein?«
»Bei Gott!« rief Gunther erschrocken, »vom Heiraten haben wir gar nicht geredet. Wahla! das haben wir ganz vergessen!«
Der Kaiser sprach: »So höre denn, Wahla, heute morgen sagte dieser junge Mann, wenn er dich heirate, so mache er dich unglücklich, und wenn er dich nicht heirate, so mache er dich gleichfalls unglücklich, folglich wisse er auch hier nicht, was er tun solle.«
»Wenn er mich unglücklich macht«, erwiderte Wahla, tief errötend, »so muß ich mein Unglück zu tragen suchen; es kommt nur darauf an, ob ich ihn glücklich machen kann.«
Sie blickten einander Aug' in Auge und sprachen kein Wort, und Rudolf legte ihre Hände ineinander, und so war auch diese Frage entschieden – die doch schon alle anderen Fragen vorher entschieden hatte –, gleich den übrigen durch Blick und Händedruck, wo das Wort versagte.
Nach langer Pause sagte der Kaiser: »Jetzt aber will ich auch noch wissen, wie es mit meiner Wette steht. Werde ich sie gewinnen oder verlieren?«
»Ihr werdet sie verlieren!« antwortete Günther, »und Walram wird sein Glück bei Hofe machen. Und doch würde Walram vermutlich nie an Euern Hof gekommen sein, wenn ich nicht vergangenen Herbst so töricht gehandelt und heute morgen so töricht gesprochen hätte und wenn mein Kaiser nicht so gnädig gegen mich gewesen wäre und wenn – – die Kette der kleinsten Ursachen ist endlos! Oh, mein Herr! diese Kette der kleinsten Ursachen, an denen unser ganzes Leben hängt, hat mich in der langen Haft manche lange schlaflose Nacht hindurch beschäftigt. Denn damals gewann ich zuerst Zeit und Ruhe, auf mein ganzes seltsames Leben zurückzublicken. Und dieses Leben, wenig nütze, wie es bisher war, wurde mir zum Gedicht; aber der Held des Gedichts war nicht ich, sondern ein Höherer! An einem roten Bündchen, dünn wie ein Faden, hing mein erstes, entscheidendes Lebensgeschick. Das Rätsel der unergründlichen Menschenseele war es, was der alten Husbeckin zur unrechten Zeit den Mund verschloß und zur unrechten Zeit öffnete. Ein Rätsel wird mir mein angeborenes Recht für immer bleiben. Ein Zufall war es, der mich auf dem Schlachtfelde von Worringen rettete, ein Zufall, der mich nach Rodineck führte. Das unergründliche Rätsel der Menschenseele war es, was mich Wahlas Liebe gewinnen ließ und mich in Verzweiflung stürzte. Eine Kette von Zufällen war es, die mich der Hand des Henkers entriß und in Eure Gunst brachte, ein Zufall, der Euch zur letzten Stunde, und doch nicht zu spät, auf Molsberg erscheinen ließ. Womit hatte ich so viele Schmach, womit so großes Glück verdient? – Aber eines war kein Zufall, eines stand mir über allen Rätseln: auch wenn ich ganz verzweifeln wollte und nirgends in der Welt die Gerechtigkeit sah, hatte ich doch die feste Zuversicht, daß sie sich bei Gott finden werde – diesseits oder jenseits! – ein Geheimnis für uns Sterbliche und doch eine tröstende, versöhnende Gewißheit. Und vor dieser Zuversicht der Gerechtigkeit Gottes, vor dieser Zuversicht, die da glaubet, was sie nicht sieht, verlieren die Rätsel dieser Welt ihr Grauen, die Rätsel unseres eigenen Lebens und Sterbens!«
»Du stehst auf der Höhe des Glücks«, sprach der Kaiser, »und der Glückliche findet leicht den Glauben an die waltende Gerechtigkeit.« Dann trat er Gunther näher und sagte ganz leise: »Doch wenn dir heute noch deine geliebte Braut durch den Tod entrissen würde – der Zufall könnte es ja fügen –, würdest du auch dann in dieser schwersten Stunde jene Zuversicht behaupten, daß auch hier nur die Gerechtigkeit Gottes walte?«
Gunther bebte zusammen.
Nach kurzem Besinnen aber faßte er die Hand seiner Braut und die Hand des Kaisers und sprach: »Ich würde es! Wo wir gehen und stehen auf dieser Erde, wohin wir fliehen und wohin wir auch versinken mögen, wir bleiben doch immer – – unter dem Himmel.«