Wilhelm Heinrich Riehl
Kulturgeschichtliche Charakterköpfe
Wilhelm Heinrich Riehl

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Eine Fußreise mit König Max.

I.

Es war am 4. März 1864, als König Max von Bayern die gelehrte Tafelrunde des sogenannten »Symposions« nach längerer Pause wieder einmal bei sich versammelt sah. In altgewohnter Weise hatten wir zuerst in dem traulichen, bildergeschmückten Rokokosaale der »grünen Galerie« beim einfachsten Abendbrot und dampfender Zigarre den Vortrag eines poetischen Fragmentes angehört und von litterarischen Dingen gesprochen, bis ein Wink des Königs das Zeichen zum Aufstehen gab, und wir uns in das anstoßende Zimmer zum Billard verfügten.

Wir spielten meist sehr lässig; denn das Spiel sollte mehr nur den Anlaß bieten, uns freier zu bewegen und in Gruppen zu unterhalten, und der König liebte es, während der oft äußerst langen Pausen mit dem einen oder andern auf und ab zu gehen und unter vier Augen seine wissenschaftlichen und künstlerischen Pläne zu besprechen. So ist bei diesem Billard im Laufe der Jahre viel Schönes und Bedeutsames angeregt und beschlossen worden.

Die Partie war ausgespielt, als der König am Abende jenes 4. März noch einmal in unsern größeren Kreis trat und mit lebhaften Worten einer Reise gedachte, welche er im Sommer 1858 gemacht hatte vom Bodensee quer durch den Bregenzer Wald, die Algäuer und bayrischen Alpen sowie die angrenzenden Tiroler Thäler nach Berchtesgaden, – einer langen Reise bei kurzem Wege; denn es wurden Seitenausflüge nach rechts und links eingeschoben. Berge bestiegen und ausgiebige Rasttage an besonders fesselnden Orten gehalten, so daß die kleine Karawane gegen sechs Wochen unterwegs war.

Mit fast wehmütiger Freude redete der König von jenen Tagen und erklärte, das sei seine vergnügteste Reise gewesen, nie habe er sich unterwegs so frei, frisch und heiter gefühlt wie damals. Ich hatte die Reise mitgemacht und nach meiner Gewohnheit ein Tagebuch geführt, wovon der König wohl wußte. Jetzt entsann er sich dessen und fragte, ob ich ihm nicht eine Abschrift oder einen Auszug geben möchte, da er auf der Gemsjagd im kommenden Herbst unsern damaligen Weg auf gar manchen Punkten kreuzen werde und dann in frischester Erinnerung Momente jener schönen Zeit noch einmal nachleben wolle.

Ich versprach eine treue Federzeichnung unsrer bunten Wandererlebnisse.

Dieses Versprechen war das letzte Wort, welches ich mit dem edeln Fürsten geredet habe. Unmittelbar nachher verabschiedete er sich rascher und plötzlicher, als er sonst pflegte, – – nach sechs Tagen war er gestorben.

So blieb denn auch jene Skizze ungeschrieben, und mein Tagebuch lag seit fast sieben Jahren unberührt. Immer aber war es mir, als habe ich dem unvergeßlichen Könige noch ein Versprechen zu lösen. Und das thue ich hiermit, nicht zwar, indem ich unsre Reise schildere, sondern indem ich das Bild des Königs zeichne, wie es auf jener Reise so offen und anmutig in hundert kleinen Erlebnissen uns vor Augen trat; denn was damals ein Andenken für den König hätte werden müssen, das soll nun ein Andenken an den König sein. Maximilian II. ist bereits eine historische Gestalt geworden, deren vortreffliche und liebenswürdige Züge man warm und dankbar darstellen darf ohne den Schein der Schmeichelei. Wenn ich aber dabei bloß von selbsterlebten Dingen rede, so geschieht das nicht, um meine Persönlichkeit vorzudrängen, sondern weil der einzige Wert solcher Aufzeichnungen doch am Ende darin ruht, daß der Verfasser als Augenzeuge berichtet. Die Pietät gab mir die Feder in die Hand, die echte Pietät aber ringt vor allem nach ungefärbter Wahrheit.Ich schrieb die vorliegende Skizze im Jahre 1871 und ließ sie damals im »Daheim« abdrucken. Mehr als zehn Jahre später behandelte mein Freund Friedrich Bodenstedt denselben Gegenstand, gleichfalls als Augenzeuge in einem Buche unter dem Titel »Eines Königs Reise«. Unsre beiden Darstellungen sind völlig unabhängig von einander, und wer sie vergleichen wollte, der würde vielleicht öfters große Unterschiede in der Schilderung derselben Vorgänge finden. Das ist natürlich. Denn hier wie überall in der Welt entscheidet doch zuletzt – die Persönlichkeit.

II.

Unsre Reise war projektiert als »Fußreise Sr. Majestät«, und da bei Hofe alles einen Titel haben muß, so wurde sie denn auch unter diesem Titel in den Hofmarschallamts-Akten behandelt, wohl als die erste und einzige ihrer Art.

Zu Fuße gegangen sind wir freilich nicht viel; denn bei der Ankunft in Berchtesgaden ergab sich's, daß wir in etwas mehr als fünf Wochen einen Weg von 225 Stunden zurückgelegt hatten, wovon wir etwa 150 geritten, 60 gefahren und 15 gegangen waren. Könige gehen eben anders zu Fuß als gewöhnliche Leute.

Und trotzdem wurde unser romantischer Ritt doch nicht unverdient eine Fußreise genannt, insofern nämlich der Hauptzweck des Königs dahin zielte, einmal ganz frei und unabhängig wie ein Wanderer durch sein Land zu ziehen, die entlegensten Thäler aufzusuchen, zwanglos mit den Leuten zu verkehren und dem Lande und Volke recht geradeaus ins Gesicht zu schauen, wie das nur der Fußgänger vermag, welchem selbständiges Entdecken und Beobachten die höchsten geistigen Reize und Genüsse des Reiselebens sind. Nimmt man hinzu, daß eine weidmännische Rundschau in den Gemsrevieren noch nebenbei beabsichtigt war und ausgeführt wurde, so sind wir recht eigentlich zu Fuß geritten und nur da gefahren, wo es gleichgültige Chausseestrecken rasch zu überwinden galt.

Die Reisegesellschaft des Königs bestand aus drei Kavalieren seines Dienstes: dem General von der Tann als Reisemarschall, dem Obersten Graf Pappenheim und dem Hauptmann Baron Leonrod, dann aus vier Gästen: dem Grafen Ricciardelli, Franz von Kobell, Friedrich Bodenstedt und dem Schreiber dieser Zeilen. Unsern inneren Beruf zum Fußreisen möchte ich in folgenden Worten aussprechen: von der Tann disponierte und orientierte als Meister der militärischen Landeskunde, Pappenheim, Ricciardelli, Leonrod und Kobell waren ausgezeichnete Jäger und geboten über eine Fülle feiner Naturbeobachtung, wobei ich nicht zu erwähnen brauche, daß Kobell Sitte und Art des Volkes dieser Berge kannte, seine Sprache redete und seine Lieder sang wie kein andrer; Bodenstedt hatte von uns allen die weitesten Reisen gemacht und konnte den begrenzten Umblick des Wanderers zum großen Horizont des Reisenden erweitern; ich selber endlich beschaute und bedachte, was immerhin am Wege lag, nach meiner Art, so gut es eben gehen wollte. Das ging aber häufig schlecht genug, und ich bin in meinem Leben nicht so unachtsam an Land und Leuten vorbeigezogen wie auf dieser Reise und gab mir oft komische Blößen durch diese Unachtsamkeit. Es reizte mich nämlich viel mehr, unsern hohen Herrn mit seinem ganzen originellen Reisezuge ins Auge zu fassen als das Land, durch welches wir reisten. So kam ich in den Verdacht, auf gar nichts acht zu geben; allein ich gab auf uns selber acht.

III.

Bevor wir abreisten, gingen uns zwei Befehle zu, unsre Koffer betreffend: ein Gebot und ein Verbot.

Das Gebot lautete, daß jeder von uns eine Auswahl guter Bücher einpacken solle, vor allem aber Litteratur, welche sich auf die Oertlichkeiten unsrer Wanderung beziehe. Des Königs oberster Reisezweck war, gründlich zu lernen. Hatte er am Tage eine Gegend immer wachen Auges durchstreift, so liebte er's, am Abend nach Tische zu hören, was andre dort gesehen, was sie darüber geschrieben hatten. Oder er studierte auch förmlich am Vorabend auf die zu erwartenden Eindrücke des kommenden Tages. Wie oft standen die Pferde bereits in der kühlen Morgenfrische gesattelt, und wir stiegen erst im glühenden Sonnenbrande auf, weil der König noch allerlei geographische und statistische Vorstudien nachholte.

Uebrigens blieb unsre Abendlektüre keineswegs auf solche Lokallitteratur beschränkt: ein gutes Gedicht, ein Bruchstück aus einem geistvoll geschriebenen wissenschaftlichen Buche war nicht minder willkommen. Mochte aber der Tag noch so anstrengend gewesen, mochten wir noch so spät ins Nachtquartier gerückt sein, so wollte der König zu guter Letzt doch immer noch etwas geistig Erhebendes anhören und besprechen. Das wöchentliche Münchener Symposion ward auf der Erholungsreise zum täglichen; denn künstlerischer und wissenschaftlicher Genuß war diesem Fürsten die liebste Erholung.

Soweit von dem Gebote, welches unsern Koffer betraf; nun auch noch ein Wort vom Verbote. Es galt dem Frack und dem Cylinderhut. Wir durften diese beiden verpönten Stücke nicht einmal für Notfälle in den Gepäckwagen einschmuggeln und hatten alle, gleich unserm fürstlichen Herrn, im grauen Paletot und in runden Sommerhüten zu erscheinen. Dabei reiste der König keineswegs inkognito. Die Reise gestaltete sich vielmehr allmählich zu einem wahren Huldigungszuge. Denn da wir absichtlich durch die entlegensten Thäler kreuzten, welche bis dahin noch niemals ein König von Bayern betreten hatte, so wurde alsbald überall der festlichste Empfang improvisiert, und der Ehrenpforten, feierlichen Begrüßungen, Bergfeuer, Fackelzüge, vor allem aber des Böller- und Büchsenschießens war kein Ende; denn der oberbayerische Gebirgsbauer kann sich keinen rechten Festjubel denken, ohne daß das Pulver aus allen Ecken blitzt und knallt.

Die Gleichheit der anspruchslosesten Tracht sollte uns trotz Hofequipagen und Reitpferden als Fußwanderer charakterisieren: sie entsprach aber auch in anderm Sinne der Auffassung unsres königlichen Herrn. Er wollte als Freund mit Freunden reisen, und seine stete, oft ausgesprochene Sorge war, daß sich jeder von uns in diesem Reiseleben so froh und behaglich fühlen möchte wie er selber; er betrachtete sich als den Wirt, uns als seine Gäste, und in diesem Charakter des Gastes löste sich all der Rangunterschied auf, welcher sonst unter uns sieben bestehen mochte. Demgemäß wechselten wir bei Tische täglich reihum mit den Ehrenplätzen zur Rechten und Linken Sr. Majestät, wie auch zur Seite des Königs, wenn wir ritten, oder mit dem Platze im königlichen Wagen, wenn wir fuhren. Machte sich ja ein Unterschied zwischen den Kavalieren des Dienstes und uns übrigen geltend, so bestand er darin, daß jene aus Courtoisie gegen uns zurücktraten.

Als wir bei dem mehrtägigen Aufenthalte in Lindau gelegentlich auch einen Ausflug nach dem fürstlich Fürstenbergischen Schlosse Heiligenberg (im Badischen) unternahmen, überreichte der Kastellan, welcher die Räume des Schlosses gezeigt, dem Könige ein prächtig gebundenes Buch mit Pergamentblättern und bat ihn, seinen Namen einzutragen. Der König that es und bedeutete uns dann, daß auch wir unsre Namen darunter setzen sollten; der Kastellan aber entgegnete unter vielen Entschuldigungen, dieses Buch sei nur für fürstliche Besucher bestimmt, und brachte ein andres Buch mit Papierblättern für unsre Namen. Der König schob uns jedoch statt aller weiteren Antwort das Pergamentbuch zu und sagte: »Setzen Sie Ihre Namen zu dem meinigen; wo ich mich einschreibe, da ist auch der Platz für meine Freunde.«

Ich erzähle solche äußerlichen Dinge, weil sich die eigensten Charakterzüge des Königs dahinter verstecken. Er hatte eine ganz besondere Art, jene Männer der Litteratur auszuzeichnen, welche er in seine Nähe zog. Ueberreichte ihm etwa einer von uns ein eben vollendetes Buch, so dankte der König kaum in irgend förmlicher Weise, wie durch ein ehrendes Handschreiben oder dergleichen: – er dankte, indem er das Buch las, gründlich durcharbeitete, den Rand des Exemplars mit Bleistrichen und Fragezeichen und Glossen bedeckte und dem Autor dann eine ganze Masse von Bedenken und Einwänden entgegenwarf, auch weitere Ausführungen und Resultate begehrte, die oft schwer zu geben waren. Er arbeitete mit dem Autor: das war sein Dank, und er kritisierte ihn: das war sein Lob. Denn er meinte, einen Mann der Geistesarbeit ehre der Fürst nicht sowohl durch persönliche Gnaden, als dadurch, daß er selber sich als mitstrebender Arbeiter zeige. Darum war auch im persönlichen Verkehre mit seinen Dichtern und Gelehrten nicht derjenige am besten beim Könige angeschrieben, welcher ihn am anmutigsten unterhielt, sondern wer ihm am meisten zu denken gab. Wie der König aber seine Freude an dem Buch bezeugte durch gründliches Durchdenken und Besprechen seines Inhaltes, so bezeugte er dem Schriftsteller seine persönliche Wertschätzung, indem er als Freund mit ihm verkehrte und ganz den König vergessen ließ. Aber gerade darum vergaßen wir ihn doch nicht. Denn wo er sich ganz als schlichter Privatmann gab, da war er am meisten König.

Es führte übrigens zu ergötzlichen Scenen, daß man in unserm Reiterzuge den fürstlichen Herrn nicht immer gleich am Rock erkennen konnte. Die Bauern der abgelegenen Thäler und des österreichischen Grenzlandes waren mitunter sehr im Zweifel, wer von uns der König sei, und begrüßten bald diesen bald jenen als Majestät. Zumeist ward diese unverdiente Ehre demjenigen unter uns zu teil, welcher zufällig einen Schimmel ritt, – das mythische Leibroß der Götter und Könige. Am drolligsten machte sich die Sache unfern eines Ortes im Chiemgau, wo wir übernachten sollten, und die Bewohner zu festlichem Empfang gerüstet uns erwarteten. Nach einer heißen Tagesreise ritten mir müde und bestaubt in lässigem Schritte unsre Straße, als ein Bauernjunge, welcher zum Spähen ausgeschickt war, dem voranreitenden Könige plötzlich den Weg vertrat und ihn fragte, wann der König komme. Der König erwiderte: das sei er selber. Der Bursche aber schüttelte den Kopf und rief: »Wir haben heute schon einmal den Unrechten begrüßt, und Ihr sollt uns nicht zum zweitenmale stimmen (anführen)!« und lief weiter, so geschwind er nur konnte, um den Rechten zu suchen. Die Leute hatten nämlich am Mittage den königlichen Mundkoch, welcher in dem schweren Küchenwagen vierspännig vorausgefahren war, mit donnerndem Jubel empfangen.

Obgleich nun der König solche Verwechslungen im Augenblicke stets mit gutem Humor hinnahm, so konnte er doch nachher mitunter eine kleine Empfindlichkeit nicht unterdrücken. Er wollte in seinem Lande überall auch von Angesicht gekannt sein, und er glaubte, um so mehr in diesem Punkte etwas fordern zu dürfen, da er es seinerseits für eine Regentenpflicht achtete, sich bei jedem passenden Anlaß öffentlich zu zeigen und mit den Leuten zu verkehren, was ihn bei seiner zu einsam beschaulichem Leben neigenden Natur nicht selten schwer ankam.

Wir sprachen einmal von der altüberlieferten und namentlich durch Ludwig I. befestigten Sitte des Münchener Hofes, derzufolge der König sich im bürgerlichen Oberrock, häufig ganz allein, in den Straßen der Hauptstadt unter seinen Bürgern bewegte und ebenso anspruchslos bei Volksfesten, Konzerten und dergleichen sich unter das Publikum mischte. Ich betonte im Laufe des Gesprächs namentlich ein Herkommen als löblich, welches bei den großen Odeonkonzerten gangbar war. Der König pflegte da während der Pause im Saale umherzugehen und hier und dort mit Fremden und Bekannten aufs zwangloseste sich zu unterhalten, wobei freilich die Pause manchmal fast ebenso lang wurde wie das Konzert. König Max entgegnete, diese Sitte sei von seinem Vater eingeführt, darum halte auch er sie aufrecht, und weil er ihre Bedeutung nicht unterschätze; denn das Volk solle seinen Fürsten sehen und überall mit ihm reden können. Im stillen aber beneide er doch die andern Zuhörer, welche das unschätzbare Privilegium genössen, daß sie ruhig auf ihren Stühlen sitzen bleiben und die eben gehörte Symphonie bedenken dürften.

Ich brauche kaum zu erwähnen, daß der König auch auf unsrer Reise jedermann zugänglich war, denn hier suchte er ja geradezu den Verkehr mit den Leuten. Nur eines Falles entsinne ich mich, wo er einen Mann durchaus nicht vorließ, nämlich – einen Einsiedler. Es gibt in Bayern und Tirol noch etliche echte Eremiten, d. h. Laien, die sich in der Wildnis eine Klause gegründet haben, wo sie, mönchisch gekleidet, ihr asketisch-beschauliches Dasein führen und, wie man sagt, »von Wurzeln und Kräutern leben«. Ein solcher kam, durch den Ruf unsres Reisezuges gelockt, aus seiner Einsamkeit und drängte sich mit großem Selbstgefühl und erstaunlicher Energie durch das festliche Volksgewühl, welches uns umgab, um sich Sr. Majestät vorstellen zu lassen. Der König aber lehnte ebenso energisch die Vorstellung ab, indem er sagte: »Wenn der Mann ein echter Eremit wäre, dann würde er in seinem Walde geblieben sein und gewartet haben, bis ich ihn aufgesucht hätte.«

IV.

Der originelle Charakter unsrer »Fußreise« spiegelt sich vielleicht am schärfsten in einer Skizze unsrer Reisestrapazen. Denn Mühsal und Genuß, Zwang und Freiheit, Entbehrung und Ueberfluß reichten sich fortwährend in abenteuerlichstem Wechsel die Hand. Es herrschte überhaupt der Reiz der Gegensätze.

Die größte körperliche Ausdauer von uns allen bewies der König. Ihm war kein Weg zu weit, kein Wetter zu schlecht, und nach seinem Sinne hätten wir unsre Reise noch wenigstens zwei Wochen lang durch die Tiroler und Salzburger Thäler fortsetzen sollen, als wir andern schon allesamt froh waren, demnächst Berchtesgaden zu erreichen und uns dort gründlich zu erholen und auszuruhen.

König Max konnte die Stubenluft nicht ertragen; in der schwülen Atmosphäre des höfischen Repräsentationslebens fühlte er sich leidend; auf der Jagd, auf der Reise hingegen kehrte ihm Frische und Kraft zurück. Wer ihn darum bloß in seiner Residenz sah, der ahnte jene schwache Konstitution, welche leider so frühen Tod herbeiführte; wer ihn hingegen bloß draußen in den Bergen beobachtete, der würde dem rüstigen Weidmann noch ein langes Leben prophezeit haben.

Der König besaß die Kunst, das Leichte schwer zu machen, und übte sie – wider Willen – oft in hohem Grade. Dies war ein Zug seiner Natur, welcher ihm nicht bloß auf der Reise eigen war, sondern auch auf dem Throne. In seinen Hauptzielen war sich König Maximilian klar, und er verfolgte sie fest und ausdauernd. Aber mancherlei Wege führen zum Ziel, und vor lauter Prüfen und Erwägen, welcher Weg der bessere sei, wurde das Ziel mitunter auf Umwegen erreicht. König Max entschloß sich langsam, nicht weil er säumig gewesen wäre, sondern weil er in Sachen seiner Neigung zu gründlich, in seinem Fürstenberufe zu gewissenhaft war.

Auf der Reise berührte uns jene Gründlichkeit zur Genüge. Oft standen die Pferde schon eine Stunde gesattelt, und noch wußte niemand, welches Weges wir reiten würden, und ob das Interesse am Volksleben oder an der Landschaft oder weidmännische Rücksichten für heute den Ausschlag geben sollten. Manchmal wurde auch die eingeschlagene Richtung unterwegs wieder aufgegeben. Da wir nun aber eine stattliche Dienerzahl, Relaispferde, Equipagen, Gepäck- und Küchenwagen in langer Kolonne bei uns führten, deren größerer Teil meist vorausgeschickt wurde, so verfehlten wir uns wohl auch gegenseitig, ja bei unsrer Dienerschaft gab es sogar einmal »Versprengte«, die sich erst nach drei Tagen wieder zur Fahne fanden. Die Behörden empfingen Se. Majestät an der Grenze ihres Bezirkes oder beim Einzug in den Hauptort. Dies war aber keine ganz leichte Sache, da sie selten genau wußten, wann und woher der König komme, und oft durch falsche Nachrichten getäuscht wurden. So erzählte man denn von einem Landrichter, der mehrere Tage in seinem Landgericht umhergefahren war, den König zu suchen, und man ergriff wohl gar die militärische Auskunft, Späher auszuschicken, die unsre Bewegungen beobachteten, was aber, wie ich oben erzählte, doch nicht immer den rechten Erfolg hatte. Und da wir gern die großen Straßen mieden und über Bergpfade, die niemand für reitbar hielt, in die Thäler brachen, so sind wir, glaube ich, auch einmal einer Ehrenpforte in den Rücken gefallen und zu derselben hinaus- statt hineingeritten.

König Max schwankte und zögerte, wie gesagt, in seinen idealen Entschlüssen, weil er ideale Ziele zu gründlich verfolgte. Aeußere Hindernisse dagegen, die andre Leute stutzig machen, schreckten ihn selten ab. Auch dieser Zug des Fürsten fand seine getreue Aussprache in dem gemütlichen Kleinleben unsrer Reise. Obgleich wir doch eigentlich nebenbei auch zum Vergnügen reisten, ward weder auf strömenden Landregen noch auf glühenden Mittagssonnenbrand Rücksicht genommen, wenn der Schlachtplan des Tages einmal feststand. Und da der König bei der Hitze sehr leicht gekleidet war, bei Regen dagegen mit wasserdichtem Rock, wasserdichtem Hut, wasserdichten Handschuhen sich wie mit einem Harnisch zu überlasten pflegte, so ritten wir im langsamsten Schritt, wenn ein Platzregen wie mit Eimern niedergoß, und galoppierten nachher in der glühenden Mittagshitze, um das Versäumte wieder einzuholen. Wir verfügten über den mannigfachsten Reisekomfort und entbehrten dennoch häufig jener einfachsten Bequemlichkeit, welche jeder wandernde Handwerksbursche durch vorsichtiges Anbequemen an Tageszeit und Wetter sich zu verschaffen weiß.

Galt es, ein nahes Ziel zu erreichen, dann war meist der gerade Weg der beste. So geschah es, daß unser Reiterzug gleich am ersten Tage des Aufbruches aus Bregenz von einer österreichischen Gemeindebehörde gepfändet wurde, gepfändet natürlich in der Person unsers Reisemarschalls, denn einen König kann man nicht pfänden. Als wir nämlich von Alberschwende über die Lorena nach Schwarzenberg ritten, hatten unsre Führer in allzugroßem Eifer die Zäune der Alpenmatten niedergerissen, um uns einen reitbaren Weg zu bahnen, denn der steile Pfad stieg teilweise auf Treppen bergan. Wir erfuhren den Frevel erst hinterdrein, und es wurde selbstverständlich neben der Pfandgebühr überreicher Schadenersatz geleistet.

Die Offiziere in unsrer Gesellschaft klagten und spotteten manchmal darüber, daß wir Gelehrte so wenig soldatische Haltung und Disciplin besäßen, während wir selber doch in diesem Stücke das Menschenmöglichste zu leisten glaubten; ja unsre ganze Reise erschien uns wohl wie das idyllische Abbild eines Feldzuges, und unsre Pferde sahen nach fünf Wochen auch wirklich aus, als ob sie eine Campagne mitgemacht hätten. Der Vergleich mit einer Truppe im Felde lag ja auf der Hand. Wir mußten jeden Augenblick zu den verschiedensten Dingen gerüstet sein, denn selten wußten wir voraus, was in der nächsten Stunde gefordert wurde. Kam einmal die oft lange erwartete Ordre, dann ging alles im raschesten Tempo und es galt aufzupassen. Der stete Wechsel ließ einen nicht zu Atem kommen, die widersprechendsten Lagen und Scenen jagten sich im grellsten Gegensatz. Wir trieben uns heute unter rein militärischer Führung in den Gängen, Kasematten, Basteien und Gefängnissen einer Festung umher (Kufstein), und durchschritten morgen, von der Aebtissin und ihren Ordensschwestern geleitet, die Zellen eines Nonnenklosters strenger Observanz (Frauen-Chiemsee), welche sonst kein profaner Männerfuß betreten durfte; wir sahen uns am einen Tage im Schlosse eines Edelmannes (wie beim Grafen Pallavicini auf Schloß Brannenburg) mit fürstlicher Pracht beherbergt und bewirtet, und schliefen ein andermal zwischen den rohen Balken der einsamsten Jagdhütte, der Reihe nach nebeneinander auf die Pritsche gestreckt; wir konnten uns eben noch im stillsten Waldthale gehen lassen, wie wir wollten, und mußten eine Stunde später beim festlichen Begrüßungsaufzug in höfisch gemessener Haltung Cortege bilden; bei Tage sollten wir Reiter und Bergsteiger sein und abends im trauten Zirkel nach dem Souper Gelehrte und Dichter. Solch wirbelnder Wechsel gefiel dem Könige. Er wollte alles sehen, alles erleben, ja keine Merkwürdigkeit versäumen, er wollte das Volk überall bei seiner Arbeit beobachten und nicht bloß in Wald und Feld; er widmete einen ganzen Vormittag den Werkstätten der Geigenmacher zu Mittenwald und ließ sich stundenlang in einem größeren Schiffe auf dem Inn bei Nußdorf auf und ab fahren, bloß damit die Steuerleute und Schiffzieher samt dem Stangelreiter all ihre schwierigen Kunstgriffe vor seinen Augen ausführen konnten. Und wie er selber im Studium von Natur und Menschenleben immer frisch und angeregt blieb, so verlangte er das Gleiche auch von uns.

V.

»Rasch und reich« heißt die Losung im rechten Hofleben, pflegte General von der Tann zu sagen. Und als Reisemarschall konnte er wenigstens einige seiner militärischen Talente im kleinen geltend machen. Es galt, Zeit und Weg für uns, für die zahlreiche Begleitung, die Relaispferde und Gepäckwagen scharf zu berechnen, da uns die Wagenkolonne auf den Bergpfaden ja häufig nicht folgen konnte und doch am bestimmten Punkt wieder zu uns stoßen mußte. Kam gelegentlich unser ganzer Zug zusammen und bewegte sich etwa den geschlängelten Weg einer Steige hinab, so daß man ihn gut übersehen konnte, dann bot er mit den vielen Pferden von allerlei Schlag und Farbe, den eleganten Equipagen und schweren Packwagen, den Piqueurs, Reitknechten und Bedienten in ihren hellblauen Livreen wirklich das Bild eines aufbrechenden Lagers. Obdach und Proviant für alle die Menschen im dünn bevölkerten Gebirge zu finden, kostete mitunter Kopfbrechen; auch mangelte es wohl an Stallungen, weniger an Fourage für die Pferde. Wir führten deren über 30 mit, und trotzdem wurden aushilfsweise noch Postrelais genommen. So viele Pferde machten dann wiederum einen Stallmeister nötig; ja sogar ein Hufschmied und ein Tierarzt befanden sich im Zuge der »Fußwanderer«. Auch des Königs Leibchirurg fehlte nicht; er hatte aber seltsamerweise niemand zu behandeln als sich selber; denn er allein erkrankte unterwegs. Und endlich sei auch noch eines Postbeamten gedacht, der uns begleitete. Demungeachtet hielt es oft sehr schwer, die Briefpakete zu empfangen und zu befördern. Es ging fast wie bei der Feldpost. Briefe von München brauchten mehrmals 4–5 Tage, um uns bei einer geraden Entfernung von höchstens zehn Meilen zu erreichen. Denn sie liefen wohl schnell, aber sie liefen um uns herum und wußten nicht, wo sie uns finden sollten. Der König arbeitete regelmäßig, und nicht bloß seine Korrespondenz, sondern auch seine Beratungen mit Kabinettsrat Pfistermeister, der an vorbestimmten Orten von München herüberkam, um Bericht zu erstatten, boten wegen des kaum berechenbaren Ortswechsels mancherlei Schwierigkeit. Man sieht also: die Aufgabe des Reisemarschalls war verwickelt genug.

Bei einem Ritt bei Kössen in Tirol sagte ich General von der Tann meine aufrichtigen Lobsprüche über seine feste strategische Leitung unsres unsteten Reisezuges, und so kamen wir überhaupt auf den frischen Reiz militärischen Lebens zu sprechen. Tann meinte, es gebe keinen schöneren Beruf auf der Welt, als General zu sein; ich aber entgegnete, der Beruf eines Schriftstellers und deutschen Universitätslehrers sei doch noch viel schöner. Denn wenn ein General allerdings den Vorzug habe, recht vielen gebieten zu dürfen, so sei er dafür durch die Befehle eines noch Höheren oder mindestens durch die Kriegsdisciplin um so strenger gebunden, der Schriftsteller und Akademiker dagegen, welcher keinem Menschen etwas zu befehlen habe, genieße als Ersatz den Vorzug, zu allermeist sein eigener Herr zu bleiben. Und wir einigten uns zuletzt dahin, daß unsre beiden polar so entgegengesetzten und doch allerschönsten Berufe nahezu dem ebenso schroffen Gegensatze des französischen und deutschen Freiheitsideales entsprächen. Denn der Franzose fühlt sich nur ganz frei, wenn er herrschen darf, wofür er ein Stück Zwang seinerseits gern mit in den Kauf nimmt; der Deutsche dagegen, wenn er nicht zu herrschen braucht, aber auch nicht im mindesten beherrscht wird. Beide Kategorien sind jedoch mehr als bloß nationale, sie sind zugleich allgemein menschliche und geben in ihrer ergänzenden Durchdringung erst den vollen Idealbegriff der Freiheit und also können sie sich so gut miteinander vertragen, wie ein General und ein Professor.

Uebrigens besaß unser Reisezug nicht bloß eine gewisse militärische Organisation: der König suchte auch mit besondrem Interesse die kriegsgeschichtlich bedeutenden Punkte auf, welche am Wege lagen, wie den Scharnitz-Paß, die Feste Kufstein, Loser und andre Oertlichkeiten des bayrisch-tirolischen Krieges von 1809. Wir betrachteten diese Kampfplätze mit sehr verschiedenen Augen. Die Offiziere hoben das Strategische hervor und erläuterten die alten Stellungen, wobei denn auch der Wert des schmalen südbayerischen Hochgebirgswalles für den heutigen Verteidigungskrieg besprochen wurde. Ich selber dachte weniger an alte und neue Kriegskunst, als an die kulturgeschichtliche Tragödie des Volkskampfes, der hier gespielt hatte, und inmitten der erhabenen Landschaft und neben den Trümmerresten alter Schanzen und Mauern verschmolz sich das Geschichtsbild mit einem stimmungsvoll verwandten Naturbilde.

Den König bewegten andre Gedanken. Als ich allein mit ihm von Loser nach Unken fuhr, entlang die Straße, wo Speckbacher die Bayern geschlagen hat, sprach er sich heftig, ja leidenschaftlich aus über die gangbare Darstellung jenes unheilvollen Krieges. Man thue da Bayern schweres Unrecht, aber der letzte Wahrspruch der urkundlichen Forschung sei noch nicht gesprochen. Ueberhaupt werde die bayerische Politik der napoleonischen Periode in fast allen modernen Geschichtsbüchern höchst unhistorisch beurteilt, indem man Thatsachen, Grundsätze und Stimmungen, welche erst durch die Befreiungskriege herrschend geworden, zum Maßstabe jener früheren Epoche mache. Das sei verkehrt: jede vergangene Zeit müsse aus ihrem eigenen Geiste beurteilt werden, nicht aus dem Geiste der Gegenwart, welche die gleiche Gerechtigkeit von der Zukunft erwarte. Sybel werde demnächst seine bayerische Geschichte zu schreiben beginnen, und da hoffe er, daß auch die Wandlungen der Politik Max Josephs endlich einmal quellenhaft rücksichtslos und parteilos ans Licht gestellt würden, mit dem Gerechtigkeitssinne, welchen jener Historiker in seiner Geschichte der Revolutionszeit bewährt habe.

Der König fühlte sich immer als deutscher Fürst, nicht trotzdem, sondern weil er sich ebenso energisch als König von Bayern fühlte, und der Gedanke, daß deutsch und bayerisch als Gegensätze gefaßt werden könnten, berührte ihn tief und schmerzlich. Die Pflege der deutschen Geschichtsforschung schien ihm ein besonderes Mittel zur Vertilgung dieses schiefen Gegensatzes. Darum erwartete er Wunder von den Historikern, selbst wenn sie Reichstagsakten edierten, die ihn sonst wohl wenig kümmerten. Er wollte zuletzt immer politische Resultate. Ja, er hielt es für eine Verkennung seines fürstlichen Berufs, wenn er die Wissenschaft lediglich um ihrer selbst willen gefördert hätte; er rechtfertigte sein Patronat vor sich selber dadurch, daß er bei jeglichem Wissenszweige praktischen Nutzen für die unmittelbare Kultur seines Volkes und für die Ehre und Anerkennung Bayerns in Deutschland sofort mit Händen greifen wollte. Das ging ihm aber oft nicht geschwind und handgreiflich genug, und so befiel ihn zuzeiten eine wahre Angst, daß er sich zersplittere, ins Unpraktische verliere und erfolglos arbeite und arbeiten lasse. Darum ließ er in den späteren Jahren mehr bauen und malen als vorher; denn wenn ein Haus oder ein Bild fertig ist, dann weiß man doch, was man hat, man sieht die Wirkung und kann das Lob der Leute frisch und voll einernten, während die Wissenschaft still und unmerklich und oft erst sehr spät ihre läuternde Kraft entfaltet.

Ob er wirklich genau so dachte? – Wenigstens warf er späterhin öfters die verfängliche Frage auf, ob es nicht geratener sei, wenn er den größeren Teil seiner für die Wissenschaft bestimmten Privatmittel der monumentalen Kunst zuwende. Aber das waren nur vorübergehende Zweifel. Im großen blieb er der glanzloseren Wissenschaft treu. Und wenige Fürsten haben's ihm in diesem entsagungsvollen Protektorat vor- oder nachgethan.

VI.

Der König wußte guten Bescheid in seinem Lande (was man nicht von allen Fürsten behaupten kann), und ganz besonders war er mit den Oertlichkeiten und Volkszuständen des Hochgebirgs vertraut. Da »kannte er sich aus«, wie die Bayern sagen. Unterwegs wollte er aber nicht bloß aus den Büchern und Akten, die wir mitführten, sich noch immer genauer über die Gegend unterrichten: er wollte auch aus dem Munde des Volkes lernen. Und manche Kenntnis, die er so gewann, führte rasch zur fördernden That. »Ich muß studieren, um zu regieren«, war sein oft wiederholter Wahlspruch. Allein seiner ganzen Natur gemäß fiel es ihm leichter, ein Buch richtig zu befragen, als einen Bauern.

Begegneten ihm Leute aus dem Volke, dann redete er sie freundlich an und erkundigte sich nach persönlichen Dingen und nach allgemeinen Zuständen ihres Ortes und der ganzen Gegend. Im letzteren Punkte aber brachte er meist nicht viel aus ihnen heraus. Denn er griff die Sache verkehrt an. Erfüllt von genauen, oft eben aufgefrischten Kenntnissen und in der Freude über dieses sein Wissen, erzählte er den Bauern haarklein, wie es in ihrer Gegend, in ihrer Gemeinde stehe, und was alles Merkwürdige an und bei ihnen zu finden sei, und fragte dann, ob sich's auch so verhalte. Das freute wohl die Leute, aber statt der erwarteten Ergänzungen, Berichtigungen und Einwürfe sagten sie bloß »Ja!« und es kam zu keinem besonders lehrreichen Gespräche. Der König klagte dann hinterher, daß es so schwer sei, einen Bauern zum freien Austausch über seine eigenen Angelegenheiten zu bringen. Darauf erwiderte ich: »Wenn Euere Majestät Ihr gewohntes Verfahren umkehrten und nicht den Leuten erzählten, was Sie wissen, sondern dieselben fragten, als ob Sie nichts wüßten, dann würde es wohl besser gehen.«

Der König befolgte meinen Rat. Und es war fortan manchmal schwerer, den Faden des Gesprächs wieder abzubrechen, als vorher, ihn anzuspinnen. Nun besaß aber König Max ein ausgezeichnetes Gedächtnis und hielt einem oft Aeußerungen vor, die man vor Jahren gemacht und selber inzwischen längst wieder vergessen hatte. So sagte er denn auch jetzt, mein Rat bewähre sich, aber ich habe dadurch mich selbst geschlagen und meine eigene Wanderregel widerrufen. Denn ich hatte ihm vor geraumer Zeit einmal gesagt, daß ich auf der Fußreise die wortkargen Bauern zu Red' und Antwort bringe, nicht indem ich sie ausfrage, sondern indem ich ihnen erzähle. Meine Rechtfertigung lag nahe. Ich entgegnete: »Es waltet da ein kleiner Unterschied: ich bin noch niemals als König gereist. Als unbekannter Fußgänger erzähle ich den Leuten von Dingen, die sie aufs nächste berühren, da will dann der Einheimische alles besser und vollständiger wissen, als der Fremde, er ergänzt, widerspricht, und sowie man die Leute nur einmal recht zum Widerspruche treibt, schütten sie ihr Herz aus. Frage ich aber den Bauern kurzweg, so ist er oft zu faul, mir eine Antwort zu geben. Einen erzählenden König ergänzt und berichtigt man nicht, einem fragenden König hingegen gibt jedermann gerne Antwort. Und seine versteckte Sachkenntnis wird sich darin bewähren, daß er gut zu fragen weiß.«

Es war anmutig zu beobachten, wie der liebenswürdige Fürst sich in dem Gedanken gefiel, daß er nun einmal ganz wie ein Privatmann im eigenen Lande wandere und mit seinem Volk verkehre, während doch täglich Dinge vorkamen, die ihn aus dieser Täuschung reißen mußten. Und legten wir's selber gelegentlich darauf an, ihn etwas zu enttäuschen, so nahm er das neckische Spiel des unvertilgbaren Unterschiedes mit heiterer Laune hin.

Ich will noch eine kleine Episode erzählen, welche mit dem Vorerwähnten im inneren Zusammenhange steht.

Der König unterhielt sich höchst zutraulich und offen mit Personen, die ihm bekannt waren; bei völlig unbekannten dagegen fand er oft schwer das rechte Wort, es bedurfte da einiger Zeit, bis er auftaute. Traten ihm aber vollends bei einem Akte der Repräsentation neue Persönlichkeiten gegenüber, dann erschien er leicht förmlich, kühl, zurückhaltend, obgleich er's im Grunde doch gar nicht so meinte. Denn er besaß weder die Gabe des volkstümlichen Humors, durch welche sein Großvater die Herzen gewann, noch des epigrammatischen Witzes, womit sein Vater fesselte und blendete; es fehlte ihm überhaupt das Talent jener Improvisation, die sofort einen anregenden Satz vom Zaune bricht und über selbstverständliche Dinge ein überraschendes geistreiches Wort zu sagen weiß. Nur wo ihn ein bedeutender Stoff bewegte, und wo er sich vertrauten Leuten gegenüber sah, konnte er wirklich beredt und geistreich sein. Er war eben ein durchaus innerlicher Mensch und ganz und gar kein geborener Hofmann, und wohl im Bewußtsein dieses Mangels steigerte sich seine natürliche Bescheidenheit und Schüchternheit manchmal derart, daß er sich trotz all seinem Wohlwollen steif und teilnahmlos bewegte.

Nun geschah es auf unsrer Reise häufig, daß der König in Dorf und Stadt festlich begrüßt wurde, daß man ihm mit Fackelzügen und Serenaden huldigte, wobei dann selbstverständlich auch eine Deputation kam, welche für die draußen versammelte Menge das Wort ergriff. Und da wir bei solchem Anlaß jedesmal Zirkel bilden mußten, konnte ich beide Teile bequem beobachten. Es that mir dann oft in der Seele weh, wenn ich wahrnahm, wie karg und kühl der König seinen Dank aussprach, während er doch nachher, wenn wir wieder unter uns waren, sich meist höchst erfreut und angeregt äußerte und vielleicht auch besonders betonte, wie wohlthuend ihn jene oft recht treuherzig unbefangenen Begrüßungsworte berührt hätten, die er doch nur ganz zeremoniös erwidert hatte. Und doch konnte man ihn schicklicherweise nicht aufmerksam machen auf diesen seltsamen Kontrast seiner äußeren Haltung und seiner Empfindung.

Einmal gelang mir das aber dennoch und zwar durch einen sehr naheliegenden Kunstgriff. Wir verweilten mehrere Tage auf dem Jagdschlößchen des Prinzen Luitpold bei Oberstdorf im Allgäu. Als wir eines Abends von einem Ritt nach der Spielmannsau bei tiefer Dunkelheit heimtrabten, wurden wir durch ein prächtiges Schauspiel überrascht. Von den Höhen loderten plötzlich Bergfeuer, Böller- und Büchsenschüsse krachten im Echo aus den Schluchten, und da wir uns dem Schlößchen näherten, öffnete sich die Straße vor uns wie eine feurige Allee, denn rechts und links standen Hunderte von Männern mit rotflammenden Kienfackeln, Spalier bildend, umschwärmt von einer gewaltigen Menschenmenge und begrüßten den König mit weithallendem Ruf und verdoppelten Böllersalven, indes wir auf den bäumenden Pferden durch die lange Reihe sprengten. Beim Schlößchen abgestiegen, trat der König, von uns gefolgt, auf den Balkon, und die Fackelträger und alles Volk sammelte sich vor dem Schlosse mit Musik und Gesang. Das Feuermeer da drunten, umrahmt von den feuergekrönten dunkeln Bergen, dazu die milde, sternenklare Sommernacht und der frische Klang des vieltönigen Volksgesanges – das alles wirkte wundersam, aufregend zugleich und feierlich stimmend. Es war aber die ganze improvisierte Huldigung durchaus von jener echten Art, wie das Volk dieser Hochgebirge dergleichen bei festlichem Anlaß von selber anzuordnen pflegt, man wurde durch kein offizielles Gepränge, durch keine fremde Zuthat gestört.

Als wir nun so schauend und hörend da oben standen, fragte mich der König, wie mir's gefalle. Ich sprach meine lebhafte Freude an dem schönen Schauspiele aus, fügte dann aber hinzu, es sei jammerschade, daß Seine Majestät nicht zu gleicher Zeit sichtbar hier oben stehen und sich unsichtbar da drunten herumtreiben könne. »Bisher«, so sagte ich etwa, »war mein Platz bei solchen Volksfesten immer unten im Gedränge, nun sehe ich die Sache ausnahmsweise auch einmal von oben herab. Hier oben liegt ein prächtiges Bild vor uns, aber da unten ist's ein Drama, da ist Leben und Handlung. Wie die kleinen Buben und Mädchen einen Keil bilden, um zu den Fackelträgern hereinzubrechen trotz aller Abwehr! Und wie sie schreien und jubeln! Und wie sie vorher hinter der Musik drein zogen! So ein kleiner Junge wird da bei jedem Takt und Schritt gleichsam um einen Zoll höher – er geht auf. Er sieht solch leuchtendes Gewimmel heute zum erstenmal und wird es seiner Lebtage nicht wieder vergessen. Auch die Alten haben in diesen Thälern ihrem Könige noch niemals einen Festzug dargebracht. Sie werden nach Jahren noch davon erzählen. Eure Majestät sehen dergleichen Dinge oft, da mischt und verwischt sich zuletzt eines in dem andern. Aber die Leute geben nicht bloß ihrem Könige ein Fest, sie geben ein zweites Fest sich selber, wovon dieser Moment nur die rasch verrauschende Schlußscene bildet. Bis das alles geplant, eingefädelt, hergerichtet war, da ist es gewiß noch viel lustiger zugegangen, als eben vor unsern Augen. Wir haben hier oben den malerischesten Standpunkt, die da drunten aber den poetischeren. Und wenn der Einzelne im Getümmel gestoßen oder getreten wird und doch vielleicht wenig genug sieht, so ist's ihm schon recht, sich einmal aus lauter Vergnügen und seinem König zu Ehren stoßen und treten zu lassen, und wenn ihm sein Nachbar im Feuereifer mit der Fackel ein Loch in den Rock brennt oder die Hosen mit heißem Pech bespritzt, so trägt er doch ein vollgültiges Zeichen heim, daß er auch mit dabei gewesen ist. Aber das ist nur die Masse, der Chor des Dramas. Die handelnden Hauptpersonen sind noch ganz anders erregt und gespannt, die Festordner, die Sänger und vorab die Auserwählten, welche als Sprecher vor Eurer Majestät erscheinen werden! Das ist keine kleine Sache, die passenden Worte auszusinnen, festzuhalten, gut zu sprechen und nicht stecken zu bleiben! Nur wenige Worte – und doch welch eine Summe von Stolz, Freude, Zagen und Bangen ging denselben vorher und begleitet sie! – –«

So war ich denn recht ins Schildern hineingeraten und die andern fielen ab und zu ins Wort, jeder wußte neue Farben aufzutragen, und auch der König entsann sich manches erlebten drastischen Zuges – denn er war ein feiner Beobachter – und wob ihn in unser Genrebild, welches wir da oben in Worten entwarfen, im selben Augenblick, wo die geschilderte Scene unten leibhaftig spielte.

Da plötzlich – mitten im besten Reden und Schauen – wurde die Deputation gemeldet. Die Wirkung war schlaghaft: – der König war ein ganz andrer als sonst bei gleichem Anlaß. Er stand jetzt völlig in der Situation, die Begrüßenden waren ihm nicht fremd: hatte er sich doch geraume Zeit schon unsichtbar aufs lebhafteste mit ihnen unterhalten. So spann er auch das Gespräch nur gleichsam fort, frei, heiter und liebenswürdig, und sein Dank trug nicht das Gepräge konventioneller, kurz angebundener Freundlichkeit, es waren warme, herzgewinnende Worte.

Ist es ihm doch allezeit so redlich ernst gewesen, sich aus dem Standpunkte von oben auf den Standpunkt von unten zu versetzen! Innerlich gelang ihm dies auch leicht, – aber äußerlich oft so schwer.

VII.

Da ich nun gerade von einer Serenade berichtet habe, will ich auch noch ein weiteres Wort von der Musik reden, die uns auf der ganzen Reise fast alltäglich umtönte. Wir reisten ja in einem Gebirg, welches so reich an Volksgesang ist, wie kaum eine andre Gegend Deutschlands, und wenn die Leute mit Büchsen und Böllern genug geknallt und gedonnert hatten, dann wollten sie nachher auch »juchzen« und singen. Das Programm dieser durch Wochen von Thal zu Thal fortschallenden Volksmusik war zwar einförmig in der Gattung, trotzdem aber höchst abwechselnd in der Art. Als wir von Bayerisch-Zell auf den Wendelstein stiegen, begleiteten uns hunderte von Männern, Frauen und Kindern den ganzen Tag, lagerten oben auf dem Gipfel in den buntesten Gruppen, ihren König in der Mitte, und zogen bei sinkender Nacht mit uns zurück zu Thal und sangen fort und fort im vollsten Chore immer ein neues Lied. Ich habe in meinem Leben nicht so viel Gesang an einem Tage gehört, darunter das »Lied vom Wendelstein« wohl zwanzigmal, und als wir nach Mitternacht endlich ins Bett gekommen waren, träumte ich noch bis in den Morgen das Lied vom Wendelstein. Zu Reut im Winkel und zu Prien hörten wir die originellsten Lieder der Gegend von wohlgeübten Chören, anderswo sang eine frische Dirne solche Lieder zur Zither oder auch die vier erlesenen schönsten Mädchen des Thales im Quartett. Als wir im Abenddunkel von einem Berge bei Brannenburg zum Innthal herabstiegen, überraschte uns ein aus dem Waldesdunkel aufschallendes Wett-Juchzen, wobei jede folgende Stimme um einen halben Ton höher einsetzte und so die vorhergehende an Höhe und Tonkraft zu überbieten suchte, bis zuletzt – – zum komischen Verdruß der Sänger – ein altes Weib mit furchtbar schrillem und falschem Fistel-Sopran die andern alle in der höchsten Lage überschrie, so daß der Wettkampf in erschütterndem Gelächter des Publikums endete. Auch an Instrumentalmusik fehlte es nicht. Hier gebührte den »Schwegelpfeifen« der Gebirgsschützen der Preis der Originalität, einem uralten, volkstümlichen Instrument, dessen Klangwirkung man erlebt haben muß und nicht beschreiben kann. Daneben fehlte aber auch die um so sanftere Zither nicht. Ich erinnere mich eines Burschen, der die Zither meisterhaft spielte, während ein andrer mit einem Bauernmädchen ebenso vollendet pantomimische Solotänze tanzte, und zwar auf einem ganz engen Hausflur von nur wenigen Quadratfuß Fläche; denn draußen strömte der Regen, und ein besserer Platz war augenblicklich nicht zu finden. Der König aber saß mit seinem Gefolge auf den Stufen der Treppe, die zum Oberstock führte, und schaute dem echt nationalen Ballett vergnüglich zu. Und endlich sei noch eines andern Konzertes gedacht, welches uns im Burghofe zu H. begrüßte. Es war Blechmusik; die Harmonien klangen überraschend, sie bildeten eine ganz neue, ich möchte sagen, bodenlose Kontrapunktik. Nähere Nachfrage bei den Künstlern gab uns den Schlüssel zu derselben. Die Bläser waren bei unsrer unerwarteten Ankunft rasch von den Wiesen zusammengerufen worden, wo sie sich mit Mähen beschäftigt hatten, aber der Posaunist, welcher die Baßstimme blies, war nirgends zu finden gewesen. So blies nun das Corps seine Musikstücke, eins ums andre, tapfer und standhaft ohne Baß. Hätte man etwa den König ohne Musik empfangen sollen, bloß weil sich der Baß in den Wiesen zu weit verlaufen hatte?

All der Sang und Klang aber durchleuchtete wie milder Sonnenschein unser Wanderleben; oft war er wunderschön, und wo man dies nicht ganz sagen konnte, da war er wenigstens echt, ungesucht, nach Landes Sitte und Weise und aus frohem Herzen dargeboten. Und was die Hauptsache: diese Art volkstümlicher Musik gefiel dem Könige ganz besonders; er hatte Organ für dieselbe.

Sonst war er von Haus aus unmusikalisch, er verstand wenig von dieser Kunst und gab das auch ehrlich zu. Mozarts Opern erschienen ihm, so sagte er oftmals, wie verblaßte alte Bilder, und er wußte nicht, was er aus einer großen Symphonie machen sollte. Zeigte er je Teilnahme für ein Musikwerk höheren Stiles, so bestimmten ihn gewiß andre als rein musikalische Motive.

Wenn nun auf der Reise angefragt wurde, ob man ihm abends ein Ständchen bringen dürfe, dann gab er es gerne zu, ließ aber wohl den Anfragenden unter der Hand bedeuten, sie möchten recht lustige und recht kurze Musik machen. Er war also in diesem Stück ein Widersacher der modernen Komponisten jeglicher Farbe und Schule; denn die können allesamt ihre Musik nicht lang und nicht traurig genug machen. Dagegen liebte er's, einen kräftigen Marsch zu hören, ein heiter gemütliches Tanzstück oder ein frisches Volkslied. Das Volkstümliche fesselte ihn überall so sehr, daß er sich hier sogar – wie auch in der Dialektpoesie – den genrehaften Humor, ja das niedrig Komische gefallen ließ. Sonst war seine Neigung bei Dichtung und bildender Kunst vielmehr dem Pathetischen, Erhabenen und klassisch Strengen zugewandt, für das Komische dagegen hatte er wenig Verständnis, und während er sich mit begeisterter Vorliebe in seinen Schiller und Sophokles und in die großen und ernsten Scenen Shakespeares vertiefte, konnte er dem Shakespeareschen Humor nur wenig Geschmack abgewinnen. Er meinte einmal, wenn er zum Dichter geboren wäre, so würde er seine ganze Kraft daran gesetzt haben, ein Epos im hohen Stile zu schreiben: »Das jüngste Gericht;« das sei der gewaltigste neue Stoff, welcher einem Poeten noch offen stehe; zwischen Dante und Milton liege das höchste Problem der Zukunftspoesie.

Hierbei darf wohl daran erinnert werden, daß auch die Neigung König Ludwigs I. in der bildenden Kunst besonders den pathetisch erhabenen Stoffen, dem strengen Stile und der vornehmen Technik zugewandt war. Konnte er sich doch nicht entschließen, einen bloß in Aquarell gemalten Schwindschen Märchencyklus für die neue Pinakothek zu erwerben, wo so manches große langweilige Oelbild breiten Platz gefunden hat. Da es einem Könige anerzogen wird, immer nur mit dem Vornehmsten sich zu umgeben, so wird es ihm wohl schwerer als andern Menschenkindern, nachgehends die adelnde Kraft der Kunst und die läuternde Feuertaufe des Humors und Witzes selbst in einem niederen, ja gemeinen Gegenstände zu erkennen oder die geistsprühende Phantasie in einer schlichten, scheinbar leichten Technik voll zu würdigen. Andrerseits empfinden große Herren das Langweilige im fortdauernden hohen Pathos weniger, weil es die Repräsentationspflicht eines Monarchen heischt, daß er von Kind auf gewöhnt werde, selbst die tötlichste Langeweile, wofern sie nur feierlich ist, mit Würde zu bestehen. Beiläufig gesagt, besaß König Max in hohem Grade die Kunst zu gähnen, ohne daß man es merkte. Er gähnte gleichsam nach innen.

VIII.

Wir waren zum Höllenthal an der Zugspitze hinaufgestiegen. Dort spannte sich ein Steg, aus alten mächtigen Stämmen gefügt, wie sie jetzt nicht mehr auf diesen Höhen wachsen, über die wohl 50 Fuß breite und mehrere 100 Fuß tiefe Felsenschlucht. Allein die alten Balken waren vermorscht, und eine Warnungstafel verbot das Beschreiten des baufälligen Steges bei Strafe, »Königliches Landgericht Werdenfels« stand mit großen Buchstaben unter dem Verbot. Der König hatte das gelesen; trotzdem gelüstete es ihn in hohem Grade, über oder wenigstens auf den Steg zu gehen; denn der Blick von dort in die Tiefe mußte grauenhaft schön sein, und überdies lagen unten die Trümmer einer Lawine, welche wir vom diesseitigen Rande des Abgrundes nicht erblicken konnten.

Nun hatte einer der Führer das Wort fallen lassen, man könne sich wohl bis zur Mitte des Steges wagen, wenn einer hinter dem andern gehe und jeder sich genau auf dem linken Balken halte. Da waren denn alle unsre Gegenreden vergebens, daß der König sich nicht nutzlos so großer Gefahr aussetzen möge: er wollte durchaus die Lawine sehen und bestand um so mehr darauf, als er ärgerlich war über eine andre Lawine, die, nach Aussage der Jäger, tags vorher weiter oben niedergegangen sein sollte und unsern Plan vereitelt hatte, den Gipfel der Zugspitze zu besteigen.

Als aber alles Zureden und Bitten nichts half, deutete einer von uns auf die landgerichtliche Tafel und sprach: »In Ew. Majestät Namen ist dieses Verbot erlassen, die Strafe in Ihrem Namen angedroht: Sie dürfen Ihr eigenes Gesetz nicht mißachten! Betreten wir den Steg, so bricht höchstens der Balken; betreten Sie ihn, so bricht Ihr eigener Rechtsboden unter Ew. Majestät Füßen, auch wenn der Balken hält.«

Der König, schon mit einem Fuße auf dem Steg, stutzte, sah den Sprecher lächelnd an und sagte: »Sie haben recht!« und kehrte augenblicklich um.

Wir lagerten uns ein paar Schritte seitab unter einer Buche, durch deren grünes Gezweig Graf Pappenheim unsre zusammengesteckten Plaids ganz malerisch zu einer Art schattenden Baldachins schlang, und frühstückten aus der Faust, was wir eben mitgebracht hatten, bei heiterem Plaudern, Ich konnte aber in nachklingendem Eindruck der Scene am Steg den freundlichen Herrn, der seine Erdbeeren verzehrte, nicht ansehen, ohne zu denken: das ist ein wirklicher König! Und die mit Stecknadeln zusammengehefteten Plaids waren so gut ein Thronhimmel wie irgend ein andrer von Samt und Goldstoff.

IX.

Nach den Lebensjahren war der König keineswegs der Jüngste unter uns, aber in einem Stücke fühlte er jugendlicher als wir alle: er hatte sich eine Begeisterung für die reine Naturschönheit, für die landschaftliche Poesie bewahrt, wie sie nur dem Jünglingsalter eigen zu sein pflegt. Sonst ein durchaus moderner Mensch, erschien er in dem feinen Auskosten der Lyrik eines anmutigen Naturbildes fast wie ein Zeitgenosse Höltys oder besser Hölderlins. Denn er liebte es, gleich letzterem, den sinnlich reizenden Eindruck durch Gedankenbilder zu beseelen. Wie häufig sahen wir ihn mit dem Buche in der Hand unter einem Baume rasten, indes er wechselnd in der Landschaft schwelgte und stimmungsverwandte Verse las!

Bei einem Abendspaziergang im Nymphenburger Park führte er mich einmal – es war lange vor unsrer Gebirgsreise – zu einer mit dichtem Gehölz bedeckten Insel, welche in einem Kanal zwischen den verwachsenen Ufern gar lauschig versteckt liegt, und erzählte mir, die stille Schönheit dieses Eilandes habe ihn als Knaben zu seinem ersten Gedicht verlockt. Damals sei ihm nämlich der unwiderstehliche Wunsch erwacht, die Insel souverän zu besitzen, und er habe sich dann Besitz und Herrschaft in Versen von seinem Vater erbeten. Der König wie der Poet war zugleich in ihm geweckt worden durch die schöne Natur. Ob ihm der Vater die Bitte gewährte? Ich entsinne mich dessen nicht mehr.

Aber was der Prinz als Knabe gewünscht, das schuf er sich in späteren Jahren doch, geraume Zeit bevor er den Thron bestieg: Hohenschwangau ward dem jungen Manne die Verwirklichung jenes kindlichen Wunsches, der freie, fürstliche Herrschersitz in der einsamen Hochgebirgsnatur.

Wir rasteten auf unsrer Reise einige Tage auf dieser reizenden Burg. Als ich mit dem Könige eine Rundfahrt durch die nächste Umgebung Hohenschwangaus machte, gestand er freilich, daß er dem einsamen Asyle neuerdings etwas untreu geworden sei. »Die Waldesstille,« so etwa sagte er, »zog mich hierher, ich suchte die schweigende, von Menschen unberührte Natur. Denn in unsrer Jugend lockt und befriedigt uns das traumhafte Naturleben voll und ganz. In reiferen Jahren aber wollen wir Menschen sehen, wir suchen das Walten des gegenwärtigen Volkes oder die Denkmale der Geschichte, verklärt und gehoben durch die Landschaft. Und während uns früher die Menschen bloß Staffage waren, die Landschaft Hauptbild, wird uns späterhin die Landschaft Hintergrund, und das menschliche Treiben fesselt uns als Hauptgruppe. Darum zieht es mich jetzt aus Hohenschwangau, der einsamen Ritterburg, fast allzu häufig zu der modernen Villa bei Berchtesgaden, wo das bunteste Menschentreiben so anmutig Thal und Matten belebt.«

Ueber solche Dinge pflegte König Max sinnig nachzudenken und fein sich auszusprechen. Und so darf ich den Gedankengang, welchen er selber anknüpfte, in seinem Sinne wohl auch auf seine letzten Lebensjahre fortspinnen. Damals begann er, bei Feldafing am Starnbergersee ein Schloß zu bauen, welches Landsitz und doch zugleich Residenz sein sollte, im weitgedehnten Park über dem friedlichen Seespiegel gelegen, und andrerseits in der »schönsten Vorstadt Münchens«, wie König Max das Seeufer gerne zu nennen pflegte. Das neue Schloß sollte Raum für den Hof und für Gäste bieten, auch Repräsentationsräume, Arbeitszimmer für die Minister, und selbst ein Gemach für die Münchener Symposien mit den literarischen Freunden war vorgesehen. So wollte der König, der anfangs sich in die Einsamkeit geflüchtet, dann die Menschen in der Einsamkeit gesucht hatte, zuletzt die Welt zu sich hinaus aufs Land ziehen. Eine charakteristische Stufenfolge für die immer thatkräftigere Entwickelung seines Wesens. Der wundervoll gelegene neue Bau war fundamentiert, die Mauern wuchsen eben über den Boden: da starb der König. Sofort nach seinem Tode wurden die Arbeiten eingestellt, eine Zeit lang blieb der Unterbau als Ruine stehen, dann brach man ab und deckte den Rest mit Erde; so erscheint das im Beginn zerfallene Schloß jetzt als ein langgestreckter Rasenhügel; die Umwohner nennen ihn nach seiner Gestalt »den Sarg«.

Die verwachsene Insel im Kanale des Nymphenburger Parks und der grüne Hügel am See – sie waren die Marksteine für das naturfreudige Gemütsleben des Fürsten.

Kobell, der vieljährige Jagdgenoß, hat König Max als Jäger geschildert. Ich ergänze dieses Bild durch einen kleinen Zug. Wir waren von Hohenschwangau zum Linderhof und zum Jagdhäuschen auf dem Brunnenkopf geritten. An diesen Punkt knüpften sich zahllose weidmännische Erinnerungen, und so bildeten denn auch allerlei Jagderlebnisse das Thema unsres lebhaften Gesprächs. Der König bemerkte: wenn er sich genau prüfe, so sei es eigentlich nicht die Jagd, die ihn zum Jäger und besonders zu einem so leidenschaftlichen Gemsjäger gemacht habe. Er jage nicht, um zu jagen, sondern vielmehr, weil ihm die Jagd Vorwand und Mittel biete zur feinsten Naturbeobachtung, zum freiesten Naturgenuß.

Schon vor längerer Zeit hatten die Jagdgefährten des Königs ein lustiges Lied gemacht, in welchem es hieß:

»Nur der Naturgenuß
Macht uns gar oft Verdruß!«

und so fand denn jene Ansicht des Königs auch diesmal wenig Beifall bei unsern Jägern; sie charakterisierte aber seine humane Sinnesart.

X.

König Max liebte es, den Cicerone zu machen, den Weg zu führen, versteckte Schönheiten, die er früher entdeckt, andern zu zeigen und sich an ihrer Ueberraschung zu erfreuen. Jeder echte Wanderer hat ein Stück von dieser Leidenschaft des Cicerone, mag er nun Landschaften, Kunstwerken, Altertümern nachgehen oder dem gegenwärtigen Volksleben, und wir wandern darum jeden fesselnden Weg am liebsten zweimal: zuerst allein, um selbständig zu suchen und zu finden, und dann mit Freunden, um ihnen das Gefundene wie unser Eigentum zu zeigen. Mehrmals sagte mir der König unterwegs, da ich in meinen Büchern den Wald so kräftig verteidigt habe, so wolle er mich nun auch selbst durch seine Wälder führen und mir ihre heimliche Pracht entdecken.

Bei einem Nachtlager auf dem Brunnenkopf hatten wir uns abends in den nahen Wald zerstreut; der König war arbeitend in dem Jägerhäuschen zurückgeblieben, wo ihn Depeschen aus München festhielten, als plötzlich ein prächtiges Alpenglühen von den Tiroler Bergen in sein Fenster herüberleuchtete. Sofort eilte er in den Wald und suchte uns, laut rufend, im Dickicht, und ruhete nicht, bis er uns alle beisammen hatte, um uns »sein Alpenglühen«, wie er's nannte, zu zeigen. Er hätte einen Bedienten nach uns schicken können, aber die Entdeckerfreude will sich selber mitteilen und mag keinen Bedienten.

Im Beginn unsrer Reise besuchten wir am Bodensee ringsum die schönsten Villen und Gärten bis ins Thurgau hinüber, weil der König, als eifriger Landschaftsgärtner, für seine Parkanlagen hier Neues und Anregendes kennen zu lernen hoffte. Der Anblick so vieler schöner Landsitze lockte zu Vergleichen, und so kam auch die Rede auf Hohenschwangau. Ich enthielt mich des Urteils. Deshalb vom Könige befragt, erzählte ich, daß ich das Schloß Hohenschwangau vor einem Jahre zwar gesehen habe, aber nur auf Schußweite von der Landstraße her; denn ich habe nicht gewagt, näher oder gar hinein zu dringen, obgleich oder vielmehr weil Seine Majestät damals nicht dort gewesen sei. Ich befand mich nämlich, wie ich offen bekannte, in den letzten Tagen einer großen Fußwanderung, und das Reisegeld war mir, wie schon öfters, so klein zusammengegangen, daß ich keinen halben Gulden für den Kastellan mehr aufzuwenden hatte. Der König lächelte und schwieg. Als wir aber vierzehn Tage nach diesem Gespräche in den Burghof von Hohenschwangau einfuhren, war sein erstes Wort beim Aussteigen: »Es ist einer unter uns, der hat vor einem Jahre keinen halben Gulden für den Kastellan aufbringen können, um sich das Schloß zeigen zu lassen; da muß ich jetzt vor allen Dingen selber den Kastellan machen und ihm das Schloß gründlich zeigen und gratis obendrein.« Und ohne daß wir auch nur die staubigen Reisekleider wechseln durften, führte er uns sofort, müde und hungrig, wie wir waren, wohl anderthalb Stunden lang durch alle Zimmer des Schlosses von unten bis oben und durch Hof und Garten dazu, erklärte und zeigte uns alles in fröhlichster Laune und gab uns in hundert Erinnerungen und Anekdoten, die sich an die Räume knüpften, die frischeste Chronik seiner Erlebnisse in Hohenschwangau. Das machte ihm ein königliches Vergnügen. Und er that sich viel zu gut darauf, daß er mir sein Schloß nicht bloß billiger, sondern auch besser gezeigt habe, als es sein Kastellan vermocht hätte.

Niemand litt übrigens mehr unter dem Sinne des Königs für Naturschönheit als sein Mundkoch und sein Haushofmeister. Denn der König wollte wo möglich – und aber auch wo es fast unmöglich war – Tafel und Nachtlager immer auf den malerischesten Plätzen haben. Ich erinnere mich des Nachtquartiers auf einem hohen Waldberge, dessen lichte Kuppe als der trefflichste Beobachtungspunkt des Sonnenauf- und Untergangs und des Sternenhimmels gewählt worden war, obgleich wir unten im Thale weit bequemeres Unterkommen hätten finden können. Um unsre Betten in einer Holzhauerhütte leidlich herzurichten und Abendbrot und Frühstück zu beschaffen, waren über 30 Träger aufgeboten worden. Da nun aber die Träger samt unsrer Dienerschaft, also im ganzen wohl 50 Mann, über Nacht oben auf dem Berge blieben, so entwickelte sich dort ein fröhliches Lagerleben, ein improvisiertes Volksfest. Denn die Leute hatten nicht vergessen, etliche Fäßchen Bier für sich selber mitzunehmen und lagerten sich nun bei lodernden Biwakfeuern in weitem Kreise unter den Tannen, und dem Könige machte es nachgerade größere Freude, sich unter den vergnügten Bauernburschen zu bewegen, als die Lichteffekte von Sonne und Sternen zu betrachten. Und so geschah es gar oft, daß die Staffage, welche wir selber bildeten, weit fesselnder war als die schöne Landschaft, welche wir staffierten.

Am liebsten speiste der König im Freien, an einem weittragenden Aussichtspunkte, oder am Gestade eines Sees, unter der Linde, in tiefer Waldeinsamkeit, aber auch am Rande einer belebten Landstraße, gleichviel, wenn der Ort nur ein malerisches Bild bot. So haben wir am vorletzten Reisetage im lauschigsten Waldesdunkel hinter der Unkener Klamm Tafel gehalten und am letzten unmittelbar neben der Reichenhall-Berchtesgadener Chaussee bei der Schwarzbachwacht. Bei unsrer unberechenbaren Art zu reisen hing es aber von hundert Zufällen ab, ob wir mittags oder abends zu dem ausgewählten schönen Punkte gelangten. Daher ein steter Wechsel von Hunger und Entbehrung und von Ueberfluß, der bei so vielerlei Strapazen eben doch nicht überflüssig war. Der König allein empfand jene Entbehrungen nicht; er aß äußerst wenig, trank noch weniger und hatte von dem richtigen Wanderhunger eines gesunden Fußgängers eigentlich gar keinen Begriff. Geschah es doch einmal, daß wir von morgens sieben bis abends sieben fuhren, ritten und stiegen, ohne einen Bissen oder Tropfen über die Lippen zu bringen. Dafür tafelten wir dann auch abends hoch oben unter der obersten Felskuppe des Wendelsteins bei der Bayerisch-Zeller Alm. Und während wir in einer Reihe am langen Tische saßen, um der Aussicht willen, – wie die Jünger des Herrn auf Lionardos Coena Domini um der Ansicht willen – breiteten sich vor uns die Tiroler Berge im Abendsonnenschein zum wundervollsten Panorama. Seitab rechts und links lagerten die Leute von Zell, welche uns den ganzen Tag begleitet hatten, in bunten Gruppen, und hinter uns standen vier schöne Bauernmädchen, die der König mit Champagner bewirtete. Anfangs erschraken sie vor dem knallenden und schäumenden Wein, fürchteten eine Attrappe und wollten nicht trinken, aber nachdem die Mutigste auf Kobells volksfaßliches Zureden nur einmal den ersten Versuch gewagt hatte, folgten die andern willig und fleißig nach. Frühmorgens beim Ansteigen waren wir aber im Walde einem wandernden Photographen begegnet, der seinen Kasten wohl zum ersten Beutezug durch diese einsamen Thäler schleppte. Der König hatte ihn sofort auf die Sennhütte beordert, wo der Künstler inzwischen seine camera im Kuhstall eingerichtet hatte, so daß er nun unsre ganze Gruppe samt den Mädchen mit den erhobenen Champagnergläsern und der Felskuppe im Hintergrunde aufnehmen konnte. Gehörte das Kunstwerk auch nicht zu den vollkommensten Leistungen seiner Art – denn die zwei Unglückseligen, welche vorn an den beiden Ecken der Tafel saßen, waren unglaublich dick geraten – so machte es uns doch große Freude, und der König schickte das Bild des andern Tages sofort der Königin nach Berchtesgaden.

XI.

Da wir nun gerade bei Tische sind, so muß ich auch der staunenswerten Gewandtheit gedenken, mit welcher der königliche Mundkoch, Herr Rottenhöfer, den idealistischen Neigungen seines Herrn und zugleich den viel realistischeren Anforderungen des Gefolges zu genügen wußte. Selbst Schriftsteller, Verfasser eines berühmten Kochbuchs, bewährte er seinen gedruckten Satz: daß ein rechter Koch eine große Tafel eben so gut auf einer Felsplatte oder einem Bauernherd mit offenem Feuer müsse kochen können, als in einer mit allen Fortschrittsapparaten ausgestatteten Hofküche. Hiervon ein Beispiel, welches zugleich die heitere Romantik unsrer Reise spiegelt.

Wir hatten zwei Tage, völlig eingeregnet, in dem Jagdschloß der Vorderriß verweilt, als endlich der 10. Juli den sehnlich erwarteten blauen Himmel brachte. Ein sonnenheller, kühler Frühmorgen weckte uns, die Berge waren mit frischgefallenem Schnee bedeckt (»angeschneibt«), was als gutes Wetterzeichen gilt, und wir rüsteten uns zu einem Zuge über das Blumser Joch (in Tirol), um von dort zum Achensee niederzusteigen. Durch das großartige Alpenthal zur hintern Riß wurde gefahren; dort bestiegen wir die Reitpferde, während unsre Wagen auf großen Umwegen über Bad Kreuth zum Achensee gingen, wo sie uns am nächstfolgenden Tage erwarten sollten. Wir ritten zwei Stunden einen rauhen Fußpfad hinan bis zur Hagelhütte; hier mußten wir absitzen, die Pferde wurden zurückgeschickt, und das Steigen begann. Der König führte bei solchen Gelegenheiten einen Spruch, den er Saussure beilegte, im Munde: »Man muß auf die Berge steigen, als ob man niemals hinaufkommen wollte«, – und richtete sich nach dieser Regel. Er stieg äußerst langsam aber sicher und ausdauernd und kam zuletzt doch immer ans Ziel, obgleich es den Begleitern manchmal schien, als sei der Gipfel gar nicht zu erleben. So erreichten wir denn auch den wohl gegen 6000 Fuß hohen Rücken des Joches erst um zwei Uhr nachmittags. Da droben sah es prächtig aus: die Julisonne leuchtete blendend auf den frisch gefallenen Schnee, aus welchem an den steileren Seitenhängen ganze Fluren rotblühender Alpenrosen hervorschauten, hier und da auch ein vereinzelt blühendes Edelweiß. Nun hätten wir oben unsern Mittagstisch halten sollen angesichts des großartigen Umblickes, der sich links in die tiefe Schlucht des Achensees, rechts in die Wildnisse der Hochalpenkette öffnete. Allein mitten im Schnee, der obendrein bereits wieder zu schmelzen begann, ließ sich das denn doch nicht durchsetzen. Rottenhöfer war schon früh morgens mit vielen Trägern und seiner ganzen Küchenausrüstung heraufgegangen. Er hatte unfern des ungastlichen Joches eine Sennhütte, die Blumseralm, gefunden, welche wenigstens Obdach bot. Aber an ein Aufschlagen der Tafel in der Hütte, wo nur eben das Bett der Sennerin neben dem Herde und dem Käskessel Platz hatte, war freilich nicht zu denken. Rasch entschlossen, ließ er darum den einzigen größeren bedeckten Raum, den Kuhstall, ausräumen. Der Boden wurde zur Vertilgung ländlicher Gerüche dick mit frischem Heu belegt, die Wände mit Gewinden von Knieföhrenzweigen und Alpenrosen malerisch maskiert; vor der schlimmsten Partie aber waren zwei blendend weiße Betttücher in groß stilisiertem Faltenwurfe aufgehangen und reich mit Alpenrosen bekränzt. Die Thüröffnung war so niedrig, daß man nur gebückt hereinkommen konnte, Fenster waren nicht vorhanden. Zum Ersatz fiel durch die zahlreichen Löcher des Daches eine Art Rembrandtisches Oberlicht in das geheimnisvolle Helldunkel. In Ermangelung eines Tisches diente die Stallthüre als Tafel, zwei Bänke von alten Brettern, auf Klötze gelegt, statt der Stühle. Da jedoch diese Bänke etwas höher geraten waren als der Tisch, so ragten unsre Kniee einen halben Fuß über die Tafel, die Füße schwebten in der Luft, und wir mußten die Teller beim Essen in den Händen halten. Im Gegensatze zu alledem war nun aber die Stallthüre mit dem feinsten Tafelzeug gedeckt, wir speisten auf kostbaren Tellern, tranken aus silbernen Reisebechern und, wie jeden Tag, lag das kalligraphisch zierlich geschriebene »Menu« neben dem Gedecke des Königs. Der Kontrast gegen die Umgebung war so abenteuerlich, daß uns der König zur feierlichen Eröffnung der Tafel dieses nach allen Regeln französisch verfaßte Menu vorlas – von der Reissuppe mit Huhn, zu den Forellen mit neuen Kartoffeln, dem Rindsbraten mit Sauce à la Montpensier, den Koteletten mit neuen Erbsen und Bohnen, dem Rehziemer in Lorbeerblättern gebraten, bis zum »Schmarren à la Blumseralp,« der Erdbeertorte, den Kirschen und Melonen und dem Konfekt, woran sich zuletzt die Tasse Mokka reihte mit einer Havanna, welche Se. Majestät vom bayrischen Konsul in Havanna als das erlesenste Produkt der berühmten Insel zum Geschenk erhalten hatte. Es war alles echt mit einziger Ausnahme des Gerichtes, welches eigentlich das echteste hätte sein sollen, des »Schmarrens à la Blumseralp,« und der König, welcher auf seinen Jagdzügen auch die Originalküche seines Volkes gar wohl kennen gelernt hatte, meinte, dieser civilisierte Schmarren erinnere ihn an eine gewisse Sorte von Dorfgeschichten. So fanden wir auch das mitgebrachte Hofbräuhausbier nebst Rheinwein und Champagner echter als das Trinkwasser, welches uns der Berg bot; denn das war in Ermangelung einer Quelle aus einem Schneebache geschöpft und gewann keinen Beifall. Bei der schneidenden Kälte, die in dem Stalle herrschte, zogen wir unsre Mäntel und Ueberzieher an, bedeckten die Kniee mit den Plaids und zitterten trotzdem vor Frost, bis Essen und Trinken uns die gehörige innere Wärme gab. Die wunderliche Situation entfesselte unsern Humor; niemals in meinem Leben habe ich einer fröhlicheren Tafel beigewohnt, Geist, Witz und Laune sprudelten in dem Tischgespräche, und die heitere Stimmung erreichte ihren Gipfel, als wir uns beim Braten plötzlich von außen belagert sahen. Den Kühen war es nämlich draußen zu kalt geworden, sie kamen zu ihrem Stall zurück und suchten brüllend durch die offene Thüre einzudringen, wurden aber von den servierenden Bedienten mit ihren Servietten tapfer bekämpft und endlich zurückgeschlagen. > Schade, daß sich kein Maler zur Stelle fand; die Hoftafel im Kuhstalle würde ihm Stoff zum originellsten und stimmungsvollsten Genrebild geboten haben.

Nach Tische besuchten wir alle Rottenhöfers improvisierte Küche, die er sich in der Sennhütte auf einem Herde, der bis dahin nur einen großen Käskessel geheizt, höchst sinnreich aufgebaut hatte. Es war ihm in der That gelungen, alle jene Gerichte so vollendet zu bereiten wie nur immerhin in der Münchener Schloßküche. Also ehrte der König auch hier den Künstler nach seiner gewohnten Weise, nicht indem er ihn lobte, sondern indem er ihn in der Werkstatt belauschte.

Um vier Uhr begann das Absteigen zum Achensee. Da wechselte mit einemmale der Wind, er blies warm aus Südwesten und wälzte ungeheure Nebelmassen heran, der Schnee zerrann unter unsern Füßen, ein feiner Staubregen begann dichter und immer dichter niederzurieseln, und bald fanden wir uns in dicke Wolken eingehüllt, daß man keine zehn Schritte weit sehen konnte. Ich ging mit Baron Leonrod in lebhaftem Gespräch neben dem Könige. Als sich nun aber die Wolken hoben und der verschwindende Nebel einen etwas freieren Umblick gestattete, war unsre ganze übrige Gesellschaft gleichfalls verschwunden, und wir drei standen allein in der Wildnis. Wir riefen, erhielten aber keine Antwort. Wie sich's nachher zeigte, hatten uns die andern eifrig, leider jedoch in ganz entgegengesetzter Richtung gesucht und waren dadurch immer weiter von uns abgekommen. Unsre Lage war nicht ganz angenehm; die Dämmerung nahte, keiner von uns dreien kannte den Weg, im Vertrauen auf die Führer hatten wir keine Karte mitgenommen, die Wolken entleerten sich in einem furchtbaren Platzregen, Gießbäche begannen rechts und links herabzubrausen, und das blindsuchende Steigen ist in diesen Bergen selbst beim hellsten Sonnenlichte gefahrvoll. Doch glaubten wir, wenigstens der allgemeinen Richtung sicher zu sein und gingen stetig weiter, wobei der König seinen langsamen Schritt nicht im mindesten beschleunigte. Ebenso stetig goß auch der Regen fort und fort, wir gingen zwei Stunden lang und der Regen goß auch zwei Stunden ohne Pause. In wahrhaft stoischem Gleichmut philosophierte und stritt der König dabei mit uns über die Frage des »absoluten Schönen«. Ich hatte am Abend vorher einen Aufsatz vorgelesen, den ich später in meine »Kulturstudien« einreihte; er führt den Titel: »Das landschaftliche Auge.« Die dort entwickelten Ideen bewegten den König und reizten ihn zu scharfem Widerspruch. Ich hatte ausgeführt, daß die Natur nicht an sich schön sei im Sinne eines Kunstwerkes, sondern erst schön werde, indem sich das Auge des Beschauers, sie durchgeistigend, dieselbe zum Bilde gestalte; daß darum eine schöne Landschaft das subjektivste Ding von der Welt genannt werden müsse, und die Landschaftsmalerei ihr Urbild nur in gewissen herkömmlichen Formen und Typen – wie etwa des Baumschlages, des Wellenspieles – spiegele, die mit dem Geschmack, ja der Laune der Kunstepochen wechseln. Diese Sätze leuchteten dem Könige ganz und gar nicht ein. Er wollte überall feste Ausgangspunkte und Ziele; die schöne Natur war ihm vielmehr ein Urkanon der Schönheit, welcher dem subjektiven Schönheitssinne des Menschen geradezu die unverrückbare Richtung geben solle. Es verdroß ihn zu hören, daß der Baumschlag eines Malers, der den Menschen vor 100 Jahren naturwahr geschienen, uns heute konventionell dünke, ja, daß überhaupt an jeglichem, selbst dem höchsten Kunstwerke derartige konventionelle, veraltende Formen haften. Er hatte seine Lieblingswerke, die er schlechthin rein und über dem wechselnden Zeitgeschmack erhaben fand, und wollte nicht zugeben, daß sie in jenen äußeren, zeitlichen Formen, worein der Künstler das Ewige faßt, jemals altmodisch werden könnten. Bei so verschiedener Grundanschauung begreift sich's, daß wir uns weder über das relativ Schöne noch über das absolut Schöne einigen konnten. Inmitten der heißen philosophischen Debatte entschlüpfte aber dem König doch nachgerade die Klage, daß es ihm, der das absolut Schöne festhalte, niemals gelingen wolle, einen absolut wasserdichten Rock zu finden. Denn der Regen drang endlich auch durch alle Nähte seines Gummirockes. Und als wir um acht Uhr die Pertisau erreichten, triefend, von gelbem Lehm bespritzt und mit vollgesogenen Hüten, deren Krämpen verkehrt herabhingen und Wassertraufen bildeten, ließen wir den Streit als unentschieden schweben, einigten uns aber bei näherem gegenseitigen Beschauen dahin, daß uns jetzt wenigstens ein absolut Häßliches greifbar nahe liege, nämlich unser Kostüm, welches nicht absolut wasserdicht sei.

Einige österreichische Beamte und Geistliche hatten sich, Spalier bildend, vor dem Wirtshause aufgestellt, den König zu begrüßen. Der Kontrast unsrer Erscheinung, die wir nun plötzlich so gehalten und gemessen als möglich zu machen suchten, entlockte uns wohl ein Lächeln. Allein der König wußte sich gerade in derlei Fällen mit so anmutiger Würde zu geben, daß ich mehr als irgendwann damals erkannte, es sei nicht der Rock, welcher den Fürsten macht.

In der Pertisau hatten wir uns alle wieder zusammengefunden und trockneten uns nun am geheizten Ofen, so gut es gehen wollte. Denn noch stand die Fahrt über den Achensee bevor, wo wir dann am andern Ufer bei der »Scholastika« Nachtquartier und unsre Koffer finden sollten. Es war inzwischen pechdunkle Nacht geworden; Wind und Regen setzten ihre Arbeit emsig fort, der See ging hoch. Zwei leichte, aus Tannenholz gebaute Kähne ohne Kiel standen uns zu Gebote, wir waren aber mit den Dienern und Schiffern 16 Mann, und eine Nachtfahrt über den Achensee ist unter solchen Umständen nicht ganz gefahrlos. Wir berieten, ob wir nicht die zwei Kähne mit Ketten sollten zusammenbinden lassen, wie es die Schiffer des Hochgebirgs thun, wenn sie schwere Ladung bei starkem Wellenschlag überzuführen haben. Die Stimmen waren geteilt, der König unschlüssig. Da sprach einer von uns: »Als Krimhild zu den Heunen fuhr und bei der Misenburg zu Schiffe ging, da heißt es:

›Zusammen thät man binden je zwei Schifflein gut,
Daß ihnen wenig schadete die Welle noch die Flut!‹

Die Nibelungenverse entschieden augenblicklich, unsre Schiffe wurden zusammengebunden.

Als ich später zu Hause die Stelle nachschlug, fand ich freilich, daß hier Simrocks Uebersetzung sehr ungenau aus dem Gedächtnis citiert worden war und keineswegs auf das Zusammenbinden von je zwei Schiffen gedeutet werden kann. Allein wir hatten eben weder Simrock noch den Urtext in unsern nassen Taschen, und ein Orakelspruch aus einem großen Dichtwerke wog allemal schwer bei unserm poesiebegeisterten Fürsten.

Kaum waren wir in die Kähne gestiegen, so glättete sich die Flut, wir schützten uns durch wollene Pferdedecken gegen Regen und Nachtkühle, und der König war, auf dem Boden des Kahnes gelagert, bald so fest eingeschlafen, daß er erst erwachte, als wir um Mitternacht endlich ans Land stießen. Und gar freundlich glänzten uns die hellerleuchteten Fenster der Scholastika entgegen.

XII.

In jüngeren Jahren soll der König ein ausgezeichneter Reiter gewesen sein; später ward ihm die Reitkunst als solche gleichgültig, sie blieb ihm nur mehr Mittel zum Zweck, und so ritt er launenhaft und willkürlich, nicht wie es eben die Natur des Pferdes oder des Weges erheischte, sondern wie gerade seine Gedanken flogen. Dadurch nahmen seine bestgeschulten Leibpferde rasch allerlei Unarten an, und auch die Pferde des Gefolges gerieten in eine gewisse Unruhe, sowie der König an der Spitze ritt; führte dagegen in seiner Abwesenheit Tann oder Pappenheim unsern Zug, so kamen die Tiere bald in den stetigsten Gang und die Kolonne bewegte sich geschlossen und geordnet. Was ich hier vom Reiter sage, das galt wohl auch vom Fürsten: er brachte auch im Kabinett seine Mitarbeiter öfters in jene unruhige Bewegung der Kolonne, weil er selber über fern hinfliegenden Gedanken die Steine übersah, welche ihm unmittelbar vor den Füßen lagen.

An allerlei kleinen Fährlichkeiten fehlte es bei unsrer Reise nicht; würzen sie doch selbst den Gang des wirklichen Fußwanderers durch diese Berge, auch wenn er keine Felsen erklettert und keine Schneegipfel besteigt. Nicht selten ritten wir auf schmaler Steige zwischen steilen Hängen und jähen Abgründen, wo ein herabfallender Stein, ja das Vorbeistreichen eines Vogels großes Unglück hätte veranlassen können. Beim Ritt in die Unkener Klamm mußten wir unsre Pferde über mehrere in die Felsen gehauene Treppenstufen am Zügel hinabführen, um dann auf der nur wenige Fuß breiten Mauer eines Steindammes, einer hinterm andern, weiter fort zu reiten, dem eigenen Bedacht der klugen Tiere die Führung überlassend. Aehnliche Situationen kamen manchmal vor. Denn meist nur da, wo die Pferde durchaus nicht mehr weiter konnten, bequemten sich unsre »Fußgänger«, zu Fuße zu gehen. Der König war von seinen Gemsjagden gewöhnt, mit und ohne Weg in die Berge zu reiten, und er erzählte gern, wie er da und dort die Sennen durch sein Erscheinen hoch zu Roß an Orten überrascht habe, wo man nie zuvor einen Reiter gesehen. Eine Sennerin begrüßte ihn einmal vor ihrer Hütte mit dem Zuruf: »Seit die Welt steht, und die Menschen Brot essen, ist noch keine Seele da herauf geritten!« König Max, von Haus aus vorsichtig und besorgt, hatte sich seit vielen Jahren an diese Gebirgsritte so gewöhnt, daß er an keine Gefahr mehr dachte. Für die steilen Alpenpfade standen zwar norwegische Pferde zu Gebot, denen man den sicheren Gang des Maultieres nachrühmte, und die eine Art mythischer Berühmtheit bei den Gebirgsbauern erlangt hatten. Allein der König verschmähte es nicht selten, bei solchem Anlaß das Pferd zu wechseln und klomm mit seinem schwarzen Hengste tapfer voran.

Sonst besaß er im allgemeinen nicht jenen Husarenmut, welcher die Gefahr sucht und herausfordert, um mit ihr zu spielen; aber er besaß in hohem Grade den festen Mannesmut, der die Gefahr, wenn sie einmal da ist, kalt und ruhig besteht. Diesen Mut bewahrte er auch als König in den kritischen Lagen beim Beginn und am Schlusse seiner Regentenbahn.

Die Wechselfälle einer Reise spiegeln das Leben im kleinen, heiteren Bilde, und wer den Charakter eines Menschen in kürzester Frist will kennen lernen, der muß etliche Wochen mit ihm reisen. Darum möge ein ganz kleiner, aber bezeichnender Zug aus meinen Reiseerinnerungen hier noch eine Stelle finden.

Auf die oberste Felskuppe des Wendelsteins führen zwei Wege: der sogenannte »sichere Weg«, ein Damenpfad, der sich in weiten Bogen, ziemlich langweilig, an der Ostseite hinaufwindet, und der sogenannte »gefährliche Weg«, ein ächter Jägerpfad, der geradeaus die steil abfallende westliche Wand hinansteigt und in seinem damaligen – später verbesserten – Zustande ein schwindelfreies Auge und festen Fuß forderte. Den letzteren schlugen wir ein. Zwei unsrer Freunde konnten die schlimmste Stelle nur überwinden, indem sie sich an den seitwärts vorgestreckten Bergstöcken der Führer wie an einem Geländer hielten. Der König schritt als unser eigentlicher Führer ganz frei und sicher allen voran. Wir hatten aber den gefährlichen Weg eingeschlagen, ohne ihm dies zu sagen, und er glaubte, es sei der sichere Weg. Als wir nun glücklich oben waren und ihm entdeckten, daß wir den gefährlichen Weg heraufgestiegen seien, rief er ganz ehrlich: »Hätten Sie mir's vorausgesagt, dann wäre ich den sicheren Weg gegangen.« Nach so trefflich bestandener Probe würde gar mancher nicht eingestanden haben, daß er die Probe wider Willen gemacht, und hätte sich also schweigend seines Mutes berühmt. Allein König Max war eine im seltensten Grade ehrliche und aufrichtige Natur, und die wahre Ehrlichkeit spricht sich nicht bloß aus, wo es Ja oder Nein zu bekennen gilt, sondern viel mehr noch in Bekenntnissen, die man ebensogut verschweigen könnte. Von dieser ganz freiwilligen Offenheit unsres Fürsten ließen sich viele Beispiele erzählen. Und bei wichtigeren Anlässen mochte sie einem Diplomaten selbst »unpolitisch« erscheinen. Aber auch sie quoll aus der dem Könige eigenen Art des stillen passiven Mutes.

XIII.

Es war der letzte Reisetag. Wir hatten in Unken übernachtet; der König arbeitete einsam auf seinem Zimmer noch tief in den Vormittag hinein; unsre ganze übrige Gesellschaft war schon frühe vorausgeritten über Reichenhall zur Schwarzbach-Wacht, wo sie uns erwarten sollte. Da mich an diesem Tag die Reihe traf, im Wagen des Königs zu fahren, so war ich ganz allein bei ihm zurückgeblieben. Wir fuhren erst spät ab. Der König war heiter, gesprächig und doch sichtbar gemütlich tiefer bewegt; er empfand den Abschied von der kurzen aber reichen Zeitspanne dieses originellen Wanderlebens.

Als wir Reichenhall passiert hatten, und das Viergespann etwas gemäßigteren Ganges unsern Wagen den langen steilen Berg hinaufzog, begann er vergleichend und fragend auf unsre gesamten Erlebnisse zurückzublicken. In seiner Jugend, als Kronprinz, hatte er, nur von zwei Herren begleitet, eine Reise durch Niederdeutschland und Holland nach England gemacht unter dem Inkognito eines »Kaufmann Schmidt«. »Doch ist das eben,« – so etwa sagte er – »ein Stück der großen Tour durch große und kleine Städte gewesen, in fremdem Land; und so habe ich diesmal, wo ich als König im eigenen Lande gewesen bin, die Freiheit des Wanderers voller genossen, als auf jener Fahrt, wo man mir nicht einmal überall den »Herrn Schmidt« hat gelten lassen wollen und die Maske ahnte. Ob der Fürst dem Volke inkognito gegenübertritt, darauf kommt wenig an; wichtiger ist es, daß das Volk sein Inkognito angesichts des offenkundigen Fürsten ablege.« Wie er nicht mit Unrecht glaubte, war dies oftmals auf der gegenwärtigen Reise geschehen. Und darüber freute er sich von Herzen.

Nun wollte er aber gleich wissen, ob nicht auch ich bei unserm abenteuerlichen Zug durch die Berge dasselbe glückselige Gefühl der Wanderfreiheit empfunden habe. Das mußte ich entschieden verneinen. Im Gegenteil, ich war nie in meinem Leben so gebunden, so abhängig von fremdem Willen gereist. Der König stutzte über diese unerwartete Antwort. Wünschte er doch mit rührender Besorgtheit, daß seine Gäste und Reisegenossen alles gerade so gut genießen, gerade so schön miterleben sollten wie er selber! Ich fügte erläuternd zu meinen verneinenden Worten: »Uebrigens ist diese Reise eben deshalb für mich vielleicht noch interessanter und bedeutender gewesen als für Euere Majestät. Denn der Zwang unsrer Reisedisciplin hatte für mich den ähnlichen Zauber der Neuheit wie für Eure Majestät das Abwerfen der überflüssigen Etikette; wo Sie die Poesie der Waldeinsamkeit genossen, da ergötzte mich der romantische Kontrast des nomadischen Hoflebens im Walde; wo Sie das Volk erblickten, da heftete ich mein Auge auf den König mitten unter dem Volke; und obgleich wir also aus denselben Erscheinungen fast überall das Umgekehrte uns heraussuchten, that doch diese für mich unfreieste Art zu reisen meinem Herzen so wohl wie Eurer Majestät die freieste.« – Er beruhigte sich bei diesen Worten, obgleich er sie nicht ganz zu fassen schien.

Es war damals des Königs Vorsatz, nachdem dieser erste Versuch so schön gelungen, jedes kommende Jahr eine ähnliche Wanderfahrt durch einen andern Teil seines Landes zu unternehmen. Er fühlte tief die verjüngende Kraft der innigeren Berührung mit Land und Volk. So ward fürs nächste Jahr jetzt schon das Fichtelgebirg in Aussicht genommen. Aber im nächsten Jahre schrieb man 1859! Der italienische Krieg brach aus, die Friedensepoche war vorüber, die beginnenden politischen Erschütterungen ergriffen das Gemüt des Königs gewaltiger, als die meisten ahnen mochten. Er wurde ein andrer Mann in seinen letzten fünf Lebensjahren. Den feinen poetischen und humanen Sinn, welcher ihm den Plan zu unsrer Reise eingegeben, bewahrte er sich bis ans Ende; aber seine Gesundheit nahm ab, und die ganze Zeit bot nicht Muße und Stimmung, dergleichen zum zweitenmal auszuführen.

Ich komme zum Schluß. Auf der Schwarzbach-Wacht trafen wir mit den Gefährten wieder zusammen. Der König rastete nach seiner Gewohnheit eine halbe Stunde, indem er unter einem Baum gelagert las, bis wir uns unter freiem Himmel zu Tische setzten. Der Rückblick auf die ganze jüngste Vergangenheit gab dem Tischgespräche den ernsten und heiteren Grundton. Dann stiegen wir zu Pferde. Der tiefblaue Himmel umzog sich; zwei schwere Gewitter kämpften gegeneinander und verfingen sich in diesen engen Thälern, der Regen rauschte in Strömen auf uns herab, die Blitze zuckten, der Donner krachte unaufhörlich über unsern Häuptern, während wir durch die Ramsau trabten. Das Wasser troff von uns und unsern Pferden, daß wir förmlich am Sattel klebten, als wir endlich die königliche Villa von Berchtesgaden in Sicht bekamen. Da zogen die Wetter ab und mit den fernhin rollenden Donnerschlägen mischte sich jetzt der freundlichere Donner der Böller, die uns begrüßten. Auf der Treppe der Villa empfing die Königin ihren Gemahl.

Nur eine Viertelstunde, und wir waren alle verwandelt, der nasse, zuletzt ganz feldmäßig gewordene Reitanzug war mit dem jetzt nicht weiter verpönten, trockenen, hoffähigen Frack vertauscht, wir versammelten uns im Salon und freuten uns, wieder einmal unter Damen zu sein, deren Umgang wir lange entbehrt hatten, und denen wir nun von unsern Abenteuern erzählen konnten.

Dies war die erste und letzte Fußreise des Königs Max.

 


 


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