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Ich führe den Leser auf das Redaktionsbureau einer deutschen Zeitung in jener vormärzlichen Zeit, wo man bereits die kommende Märzluft witterte, in den Jahren 1845 bis 1847.
In Frankfurt a. M. erschienen damals zwei größere politische Blätter, das Frankfurter Journal und die Oberpostamts-Zeitung. Sie sahen sich beide nach Art und Anlage sehr ähnlich, nur daß das »Journal« für etwas liberaler galt – soweit man damals in Frankfurt liberal sein durfte –, und die Oberpostamts-Zeitung für etwas konservativer – soweit es damals in Frankfurt erlaubt war, konservativ zu sein.
Als drittes, neutrales politisches Blatt erschien auch noch ein französisches »Journal de Francfort« in der deutschen Mainstadt. Sein Anblick versetzte lebhaft in die napoleonische Zeit zurück, wo man in den Rheinbundstaaten zwischendurch eine französische Presse zu gründen versucht hatte und auch doppelsprachige Unterhaltungsblätter erscheinen ließ, welche auf der linken Spalte den deutschen Text, auf der rechten die französische Übersetzung brachten. Das Journal de Francfort hatte übrigens keine ausgesprochene französische Tendenz, es gravitierte vielmehr nach dem Norden und wurde vorzugsweise von Leuten gehalten, die durch das regelmäßige Lesen einer französischen Zeitung ihre Sprachkenntnisse täglich wieder auffrischen wollten, und denen die Pariser Blätter zu teuer waren. In diesem Sinne wurde es sogar auf Gymnasien zur Privatlektüre empfohlen.
Doch ich kehre zurück zu den zwei deutschen Frankfurter Blättern.
Sie rühmten sich beide eines hohen Alters; denn sie führten ihre Anfänge bis in die ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts hinauf. Ob diese alten Stammbäume lückenlos erwiesen werden konnten, bleibe dahingestellt; allein man glaubte wenigstens daran, und bei Zeitungs-Stammbäumen wie bei adeligen, ja sogar bei fürstlichen, ist der Glaube nur allzu oft entscheidender als das Wissen. Zum Zeichen ihrer Herkunft vom »Deutschen Reichspost-Reuter« des 18. Jahrhunderts führte die Oberpostamts-Zeitung den blasend einhersprengenden Postillon noch immer als tägliche Vignette, und der Reichspost-Reiter war, so behauptete man, aus den »Post-Avisen« des 17. Jahrhunderts hervorgegangen. Das Dasein dieser Postavisen aber ist zuerst durch die Akten eines Prozesses von 1617 urkundlich beglaubigt, in welchen der Besitzer jener Avisen, der Frankfurter Postmeister, mit dem Eigentümer des Frankfurter Journals verwickelt ward, der sich durch ihr Erscheinen in seinen Privilegien beeinträchtigt glaubte. So begann also das Nebeneinanderwirken beider Blätter mit einer Konkurrenzfehde. Allein die Nachkommen waren gescheiter als die Vorfahren, und in jenen vormärzlichen Jahren, von welchen ich hier rede, bestand ein Pakt zwischen beiden Redaktionen, daß kein Blatt das andre angreife, ja nicht einmal mit verblümten Stichen und Hieben ärgere. Das Journal that demgemäß, als ob die Postzeitung gar nicht auf der Welt sei, und die Postzeitung that desgleichen angesichts des Journals: – ein sehr weises Verfahren, welches wir in unsrer streitsüchtigen Zeit allen Preßorganen derselben Stadt zur Nachahmung empfehlen möchten. Es ist nichts ungemütlicher, als wenn sich Nachbarn von Haus zu Haus die Fenster einwerfen.
Die Oberpostamts-Zeitung gehörte in der Periode, von welcher ich hier rede, nicht mehr dem »Frankfurter Postmeister«, sondern sie war Eigentum des Fürsten von Thurn und Taxis, und ihre Verwaltung war der fürstlichen General-Postdirektion eingegliedert.
Als verantwortlicher Redakteur zeichnete in den Jahren 1845-47 – wie schon lange vorher – der Hofrat C. P. Berly. Allein Berly war damals eigentlich gar nicht mehr Redakteur und noch weniger verantwortlich. Thatsächlich führte die Redaktion ein ungenannter und nur in den nächsten Kreisen bekannter junger Rechtsgelehrter, der im höheren Taxisschen Postdienste stand, Dr. Ernst Freiherr von Röder-Diersburg; Berly schrieb nur noch den französischen und englischen Artikel. Verantwortlich für das Blatt konnte er aber schon darum nicht sein, weil er den größten Teil desselben erst gedruckt zu lesen bekam. Da trotzdem die juristische Verantwortung auf seinem Namen ruhte, so hätte ihm dieselbe unter Umständen gefährlich werden können. Allein der Zensor war damals in Frankfurt so gefällig, dem Scheinredakteur wie dem wirklichen jede juristische Verantwortung abzunehmen. Dieser wohlthätige Mann, zugleich Auditeur des Frankfurter Bundeskontingents, hatte seinen Amtssitz auf der Hauptwache, wo er mit dem Streichen von Zeitungsartikeln und dem Aburteilen davongelaufener Soldaten den Tag in angenehmer Abwechslung verbrachte. Der Redakteur brauchte den Zensor nur ruhig streichen zu lassen, mußte dann aber den Satz der Zeitung so zusammenrücken und den leeren Raum durch im Vorrat zensierte kleine Füllartikel ergänzen, die in der Druckerei auf Lager standen, daß der Leser die Zensurlücke nicht merkte. Denn sichtbare Zensurlücken waren nur im Großherzogtum Baden erlaubt, wo die »Mannheimer Abendzeitung« manchmal wie eine einzige große Zensurlücke erschien; anderswo durfte eine Zeitung nicht mit ihren Wunden prahlen. Hatte der Zensor alles Streichbare gestrichen, so war die Verantwortung auf seine Schultern überwälzt. Natürlich strich derselbe dann immer so viel wie möglich, um so wenig wie möglich Verantwortung zu haben. Der »verantwortliche Redakteur« aber konnte friedlich schlafen unter dem Oelbaume der Zensur.
Hofrat Berly war durchaus ein Mann des Friedens.
Ich schildere Berly nicht wegen seiner persönlichen Bedeutung, die er überhaupt nicht besaß, sondern als den echten Typus einer damals aussterbenden Generation, als das Urbild eines richtigen politischen Redakteurs der Metternichischen Zeit. Ich bin kein Historienmaler, ich male historisches Genre, und für den Sitten- und Gattungsmaler sind die kleinen Leute ein dankbarerer Stoff als die großen, weil sie eben die Gattung am treuesten spiegeln.
Schon die äußere Erscheinung Berlys kennzeichnete ihn als einen Journalisten alten Stils. Er trug das ergrauende Haar in zierlichen kleinen Löckchen, während die litterarische Jugend die Haare lang und wildwüchsig herabwallen ließ. Sein Gesicht war tadellos glatt rasiert. Von den jüngeren Journalisten dagegen trug der eine einen Hambacher Bart zum Zeichen seines Freisinns, der andre einen germanischen Vollbart zum Zeichen seiner deutschen Gesinnung, ein dritter kokettierte mit einem Henriquatre aus Sympathie für das »junge Frankreich«. Erst das Jahr 1848 brachte Verwirrung wie in so vieles andre so auch in diese Symbolik der litterarischen Bärte. Als nach den Märztagen die reaktionärsten Bureaukraten sich aus Angst Heckerbärte wachsen ließen, erschien mancher revolutionäre Litterat zum Trotze plötzlich glatt rasiert.
Wie sich Hofrat Berly zum Ausgehen kleidete, war schwer zu bestimmen: ein Feind aller Bewegung, verließ er sein Zimmer nur bei ganz besonderen Anlässen. Er liebte seine stille Häuslichkeit, und seine Gäste fühlten sich wohl bei ihm; bei großen geselligen Zusammenkünften und öffentlichen Festlichkeiten erschien er nicht mehr. Auch konnte sich niemand rühmen, ihn auf einem Spaziergang betroffen zu haben. In seinen letzten Jahren kam er auch nicht mehr aufs Redaktionsbureau, sondern redigierte den französischen Artikel von seiner ziemlich entfernten Wohnung aus durch einen bedächtig hin und her pendelnden Boten, wodurch er sich schon äußerlich vor jeder Ueberstürzung sicherte.
Seinen Gang charakterisierte ein leichtes aristokratisch-diplomatisches Hinken. Manche behaupteten, er habe sich das Hinken in jüngeren Jahren durch einen Sprung aus dem Fenster zugezogen und knüpften eine ganze Novelle an diesen Sprung. Andre erklärten das Hinken für wohldurchdachte Kunst, für vornehme Mode. Jedenfalls liebte Berly aristokratischen und diplomatischen Umgang, sofern er nur auch hierbei nicht viel zu gehen brauchte.
Berly war 64 Jahre alt, als ich ihn im Sommer 1845 kennen lernte. Ich erfuhr sein Alter erst nach seinem Tode, denn er redete nicht davon; er erklärte es für ebenso unschicklich, ältere Herren nach ihrem Alter zu fragen, wie »junge« Damen. An die Vergänglichkeit alles Irdischen wollte er durchaus nicht erinnert sein. Er lebte ja so gern und verstand es, gut zu leben. Freunde verglichen ihn in diesem und in einigen andern Stücken wohl mit Friedrich Gentz; nur machte er keine Schulden wie sein großes Vorbild und war ein guter Ehemann. »Die Vergangenheit besitzen wir nicht mehr und die Zukunft kennen wir nicht: das Leben ist der Augenblick«, pflegte er zu sagen. Alt nach seinem Taufschein, war er jung in der unermüdlichen Spannkraft seines Arbeitens bis zuletzt – und doch schon frühe veraltet in seinen Arbeiten. Umlernen, ohne sich selber untreu zu werden: darin besteht das Geheimnis, jung zu bleiben, auch in alten Tagen, und dieses Geheimnis kannte Berly nicht.
Seine Vergangenheit war uns jungen Leuten dunkel, sie lag uns in sagenhafter Ferne, und wir fragten und forschten nicht danach. Es war damals noch nicht Mode, bei großen und kleinen öffentlichen Charakteren sofort allen Kleinkram ihres Curriculum vitae aufzuspüren und urkundlich festzustellen. Heute ist eine eigene Wissenschaft daraus geworden. Haben wir viel gewonnen durch dieselbe?
Wir wußten nur, daß Berly, als er vor – unbekannt wievielen – Jahren an die Spitze der Oberpostamts-Zeitung getreten sei, außerordentlichen Erfolg gehabt habe mit seiner geordneten Redaktion, mit seinen vorsichtigen, aber fleißigen und belehrenden Artikeln und daß er damals die Abonnentenzahl rasch zu ungeahnter Höhe gesteigert habe. Allein auch dies war bereits eine halb verklungene Sage. Die Zeit geht nicht bloß heute schnell, sie ist immer schnell gegangen; nur merkt man diesen Sturmschritt bloß, solange man selber mitgeht. Aus der Ferne betrachtet geht die Zeit langsam wie der Eisenbahnzug, den man von der Spitze eines hohen Berges durch die ferne weite Ebene schleichen sieht.
Hofrat Berly war durchdrungen von der Wichtigkeit seines journalistischen Berufs; er übte ihn mit Passion – nicht mit Leidenschaft. Als Vorstandsmitglied des Frankfurter Museums erschien er regelmäßig in den berühmten Symphoniekonzerten, welche das Museum jeden Winter im Saale des »Weidenbusches« zu geben pflegte. Es waren dies gleichsam die Frankfurter »Gewandhauskonzerte«. Berlys Stuhl stand in der vordersten Reihe. Kaum hatte die Symphonie begonnen, so drängte sich ein Auslaufbursche der Oberpostamts-Zeitung zwischen den andächtigen Zuhörern durch, um Berly die soeben eingetroffene englische und französische Post zu überreichen. Augenblicklich entfaltete Berly die großen Zeitungsblätter, deren Riesenformat damals in Deutschland noch nicht erreicht war, und las die neuesten Pariser und Londoner Parlamentsverhandlungen mit Beethovenscher Instrumentalbegleitung. Er las sehr lange, denn er schlürfte die kostbaren Neuigkeiten mit jener Feinschmeckerei, die ihm auch bei Tafel eigen war. (Der wahre Feinschmecker ißt in kleinen Stückchen, nicht gierig, sondern zögernd; er analysiert im Essen.) Hofrat Berly im Vordergrunde, den Kopf hinter die Times versteckt, gehörte zur stehenden Staffage der berühmten Frankfurter Museumskonzerte. »Wie wichtig muß doch der französische und englische Artikel sein, der auf den Schultern dieses Mannes lastet!« – so dachten damals die Umstehenden. Heute würden sie denken: »Warum bleibt der Mann nicht zu Hause, wenn er durchaus seine Zeitung lesen muß?«
Unser »alter Redakteur« schöpfte übrigens seine Weisheit keineswegs bloß aus den neuesten Zeitungen. Der Stolz und die Freude des rastlos Fleißigen war seine Bibliothek. Journalistisch einflußreiche Leute kommen im Lauf der Jahre ganz von selbst zu einer bunt zusammengewürfelten, oft sehr bändereichen Büchersammlung, einer Gratisbibliothek, die sich aus Geschenken und Rezensionsexemplaren zusammensetzt und neben manchem guten Buch mehr noch einen wahren Raritätenschatz des elendesten litterarischen Schofels in sich schließt; denn ein Redakteur kriegt leider viel mehr schlechte Bücher geschenkt als gute. Berlys Bibliothek war ganz andrer Art; sie war stattlich im Umfang, erlesen im Inhalt, planvoll angelegt und fortgeführt, in gleichmäßigen gediegenen Einbänden aufgestellt, sogar katalogisiert, und enthielt die besten historischen und staatswissenschafllichen Werke der Neuzeit und manches seltene alte Buch dazu. Der Besitzer freute sich mit Recht dieses Schatzes und benützte ihn fleißig für seinen französischen und englischen Artikel, wo Citate und historische Parallelen die Belesenheit des Verfassers bekundeten. Das war freilich bare Verschwendung, denn von tausend Lesern achtete kaum einer darauf, und die litterarische Jugend fand dergleichen sehr altmodisch. Sie wollte keine Geschichte, sondern Gegenwart; keine Rechtsnachweisungen, sondern Epigramme; die Politik war ihr Philosophie, und philosophisch-politische Gedanken sammelte man nicht aus Büchern, man nahm sie aus dem eigenen Kopfe oder schüttelte sie aus dem Aermel. Da man aber im Staatsleben jener Zeit sehr wenig Ideen fand, so war Politik die Kunst, sich Ideen darüber zu machen, daß der Staat der Gegenwart keine Ideen habe. Hierzu brauchte man nicht die schön gebundenen 7000 Bände des Hofrats Berly. Man erzählt von einem sehr fruchtbaren Schriftsteller der Sturm- und Drangperiode des vorigen Jahrhunderts, er habe sich gerühmt, niemals eine Bibliothek zu besuchen, er habe gesagt: ich lese kein Buch, denn ich selbst schreibe ja Bücher. Mancher Litterat der jungdeutschen Sturm- und Drangperiode konnte sich des Gleichen rühmen, nur daß er es nicht zu einem eigenen Buche brachte, sondern bloß zu Zeitungsartikeln und Feuilletons. Uebrigens ist meines Wissens auch Hofrat Berly trotz seiner vielen Bücher völlig frei von dem Verdachte, jemals ein Buch geschrieben zu haben.
Ueber seine formelle Redaktionsweise hat Berly selber Aufschluß gegeben in einem Aufsatze, den ich sein journalistisches Testament nennen möchte. Er schrieb ihn zum 1. Januar 1847, zum Neujahrstage seines Todesjahres.
In diesem Aufsatze, der heute eine kulturgeschichtliche Urkunde geworden ist, gliedert Berly den damaligen deutschen Journalismus in zwei Gruppen – den »organisierten« und den »chaotischen« und fährt dann fort:
»Der eine mag nur ruhen auf einer historischen Grundlage, forscht nach Wahrheit und Einsicht und wird ausgehen auf vollständige Durchdringung der Zeichen der Zeit; – der andre rafft zusammen, was ihm vorkommt, fragt nur nach Wirkungen, unbekümmert um die Ursachen, begnügt sich mit dem vorübergehenden Eindruck, huldigt den Schwächen des Tages und den Leidenschaften der Parteien. Das Ideal des organisierten Journalismus ist nicht zu erreichen; das Trugbild des chaotischen gewinnt den Beifall der Menge.«
(Es regte sich damals in einem großen Teil der deutschen Presse ein neues Leben. Man begann die drängenden Fragen der Nation und Gesellschaft zu besprechen, häufig sehr unklar und unreif, sehr parteiisch, man suchte den Reiz und oft auch den verhüllenden Schleier feuilletonistischer Form für nüchterne Tagesfragen, nicht eben zum Vorteil des offenen Verständnisses. Ein jugendliches Aufbrausen kennzeichnete jenen Journalismus, den Berly den »chaotischen« nannte, und der in der That mitunter recht chaotisch war. Allein seit die Welt aus dem Chaos entstanden ist, haben alle große Entwickelungen der Menschheit chaotisch begonnen.)
Doch hören wir den alten Herrn weiter!
»Die Waffe des Wortes muß mit Vorsicht gebraucht werden. Täglich zum Publikum zu sprechen, ist ein kühnes Beginnen, vielleicht ein vermessenes.«
(Und doch sprach Berly täglich zum Publikum, ohne daß ihn jemals ein Mensch kühn oder gar vermessen genannt hätte: so vorsichtig gebrauchte er die Waffe des Worts.)
»Die Presse soll sich nicht das Amt der altrömischen Zensoren anmaßen. Der Angriff wird zur Erwerbsquelle, die Abwehr zur Nachteilsquelle.«
(Freisinn war damals: Angriff gegen alles, was irgend eine Regierung that. Das Chaos dieser Angriffe aber las sich unterhaltend und mehrte die Abonnenten von Quartal zu Quartal. Die berechtigteste Abwehr auch der ungerechtesten Angriffe galt für servil. Da jedoch der Verteidiger noch mehr mit gebundenen Händen schrieb als die Angreifer, so schrieb er langweilig, und die Abonnenten flohen.)
Berly haßte das Wort »Leitartikel«. Er meinte, eine Zeitung habe überhaupt nichts zu leiten, und ein Redakteur müsse mehr danach trachten, die Kunst des Leidens zu erlernen als die Kunst des Leitens. Er nannte seine abhandelnden französischen und englischen Artikel darum auch nicht Leitartikel, sondern »Eingangsartikel«, weil nach dem Brauch der »organisierten« Blätter Frankreich und England groß und breit am Eingang standen, und Deutschland ganz klein zuletzt kam. Berly rühmte sich, in seinem Leben an 4000 Eingangsartikel geschrieben zu haben. Der letzte, den er kurz vor seinem Tode schrieb, führte den Titel »Historische Hofdamen« und lief durch vier Nummern. Er gab eine Parallele zwischen Maria Ursini und Sarah Marlborough. Es war sein letzter Artikel, doch kein Schlußartikel; der Verfasser beabsichtigte ohne Zweifel, noch mehr historische Hofdamen paarweise zu behandeln, allein er hat die übrigen mit ins Grab genommen.
Als durch Herrn von Röder ein neuer Geist in die alte Oberpostamts-Zeitung kam, begann das Blatt, auch regelmäßige »Leitartikel« zu bringen über deutsche Angelegenheiten, über nationale und sociale Fragen. Da nun aber Berlys Artikel keine Eingangsartikel mehr gewesen wären, wenn man sie vorn weggenommen hätte, so setzte man die Leitartikel an den Schluß. Die Zeitung bot dadurch dem feineren Leser ein ganz eigenartiges Schauspiel. Man konnte den scheinbar noch immer verantwortlichen Redakteur einem Festungskommandanten vergleichen, der die Stadt mit allen Außenwerken bereits verloren hat, aber sich noch um so unbeugsamer in seiner kleinen Citadelle behauptet. Der Eingangsartikel vorn und der Leitartikel hinten ließen das ganze Blatt im Bilde eines Januskopfes erscheinen, der vorn nach rückwärts schielt und hinten nach vorwärts.
»Zeitungsaufsätze,« so schrieb Berly weiterhin in seinem journalistischen Testament, »sollen nicht das Publikum oder gar Regierungen und Staatsmänner belehren wollen. Unerbetener Rat nützt nichts und wird in der Regel abgelehnt.«
(Berly war Hofrat. Man sagte, er habe den Titel erhalten, weil er niemals versucht habe, den Höfen einen Rat zu geben. Die »chaotische« Presse schlug im Jahre 1843 großen Lärm, weil Dingelstedt württembergischer Hofrat geworden war, und hielt ihm den Hofrat wie einen Abfall vor. Kein Mensch nahm dagegen Anstoß daran, daß Berly diesen Titel führte. Der Hofrat saß ihm wie angeboren.)
Wenn nun die Zeitungen nicht einmal belehren sollten, so würde ihre Aufgabe bloß darin bestanden haben, die nackten Thatsachen trocken zu berichten. Hiermit wollte sich Berly aber doch nicht begnügen. Er sagte: die Zeitungen sollen dem Leser nicht »vordenken«, allein sie sollen ihm die Ursachen und Verknüpfungen der Ereignisse so klar und objektiv bloßlegen, daß er sich dann seine eigenen Gedanken darüber machen kann. Namentlich sollen sie die oft verflochtenen Fäden des englischen und französischen Parlaments mit geduldiger Hand entwirren. (Auch deutsche Landtage hatten damals ihre verflochtenen Fäden, doch die ließ man lieber verflochten bleiben.)
Wir halten heute die Zeitungen in ihrer Gesamtheit – die »Presse« – für ein Hauptorgan der öffentlichen Meinung. Dem entgegen sagte Berly: »Die öffentliche Aussprache einer Meinung ist immer ein Wagestück,« und wo er ja seine persönliche Meinung andeuten wollte, that er dies verblümt durch »Citate anerkannter Autoritäten«. Waren diese Citate etwas dunkel und recht weither genommen, d. h. aus der Litteratur einer fernen Zeit oder eines fremden Landes, so taugten sie um so besser. Um seine Meinung über die Aufgabe der Journalistik im Jahre 1847 recht klar auszusprechen, citierte er geheimnisvolle Sätze, die Hamann, der Magus aus Norden, im Jahre 1764 in die »Königsberger Zeitung« geschrieben hatte. Im französischen Artikel erfuhren wir täglich, »was das Journal des Debats sagte – der Courrier français bemerkte – der National äußerte – der Constitutionnel in Anregung brachte«, aber niemals, was der Redakteur selber meinte und wollte. Ein unhöflicher Kritiker nannte solche aus lauter Citaten zusammengesetzten Zeitungen »die wiederkäuende Presse«.
Den höchsten Reiz der Politik und also auch eines politischen Blattes fand Berly in den »Schwebenden Fragen«, die er gern aufspürte und hervorhob. Nur hütete er sich wohl, dieselben zu beantworten. Ein Fragezeichen vorn und ein Fragezeichen hinten – das gab dem Publikum Anlaß, sich seine eigenen Gedanken über die Sache zu machen, ohne daß der Redakteur in den Fehler verfiel, den Lesern vordenken zu wollen. Wäre es auf Berly angekommen, so würde er vermutlich eine Sphinx statt des blasenden Postreiters zur Vignette der Oberpostamts-Zeitung gewählt haben.
Sehr lebhaft tadelte er die damals stark eingerissene Sitte, in Zeitungen und Flugschriften fast jedes Schlagwort, jeden bedeutenderen Satz mit gesperrter Schrift oder wohl gar mit fetten Buchstaben zu drucken, überall Gedankenstriche und Ausrufzeichen anzubringen und möglichst jeden Satz mit einer neuen Zeile zu beginnen. Er meinte, dadurch bekomme die ganze Zeitung ein agitatorisches Gesicht; wenn man sie auch nur von weitem auf dem Tisch liegen sehe, erkenne man sie schon als Wühlblatt – ohne Brille, und er wolle sich gar nicht wundern, wenn einmal der Zensor alle fett gedruckten Sätze streiche, bloß weil sie fett gedruckt seien. Denn solche durchschossenen Worte, solch abgerissene, von Gedankenstrichen unterbrochene Perioden seien der Rede eines Mannes vergleichbar, der in atemloser Aufregung überlaute Rufe ausstoße, statt zu sprechen. Für eine gute Zeitung zieme sich der lange Atem eines wohldurchdachten Satzbaues und das mezza voce des Vortrags.
Berly war ein scharfer Beobachter; er hatte recht. Zur Zeit der ersten französischen Revolution druckte man auch so fett und durchschossen, mit so vielen Gedankenstrichen und Ausrufzeichen. Die gleiche Druckweise war jetzt aus den bewegten Tagen der Julirevolution herübergekommen, um sich am Vorabend der Februarrevolution zu steigern, bis sie im Frühling und Sommer 1848 auf ihrem Höhepunkte sich überschlug. Denn als man alles fett und gesperrt druckte, da war zuletzt gar nichts mehr fett und gesperrt.
Im Gegensatz zu dieser revolutionären Druckweise rühmte Berly die englischen Blätter, welche im kleinsten und engsten Satz der Gegenpartei, ja ganzen Staaten und Nationen die größten Grobheiten zu sagen verstünden.
Berly war überhaupt ein Bewunderer der englischen und französischen Zeitungspresse, nur meinte er, wir sollten sie in Deutschland nicht nachahmen. Richtiger war wohl zu sagen, daß wir sie damals nicht nachahmen konnten, weil uns der große Zug des öffentlichen Lebens fehlte.
War Berly ein konservativer Politiker?
Konservativ war er in dem, was er verschwieg und nicht that; eine schöpferische konservative Politik dagegen lag ihm ganz fern. Die Zeit war auch noch gar nicht reif für eine solche.
Konservative Männer des großen Stils hatte es schon lange gegeben, Männer wie Justus Möser, der uns lehrte, die Volksüberlieferung in ihrem versteckten Gehalte zu würdigen, zum Nutzen einer Volkserziehung aus dem Geiste des Volks heraus; – wie Edmund Burke, der da nachwies, daß jedes dauerhafte neue Staatswesen auf historischem Boden erwachsen muß; – wie Freiherr von Stein, welcher das nationale Bewußtsein neu entzündete, indem er das alte Gemeindebewußtsein verjüngte; – wie Savigny, welcher zeigte, daß das Bedürfnis eines Gesetzes bereits im Volksbewußtsein gegeben sein muß, bevor der Gesetzgeber daraus die neue Satzung gestaltet, welche neu und doch nichts Neues ist.
So gab es wohl schon längst eine historische Schule voll tief befruchtender Ideen, aber noch keine schöpferische konservative Partei. Die Regierungen selbst waren zu Metternichs Zeiten wohl bureaukratisch despotisch oder bureaukratisch liberal, aber sie waren nicht konservativ. Erst das Revolutionsjahr 1848 brachte in Deutschland die Anfänge einer konservativen Partei, deren Wahlspruch heißen – sollte: »Erhalten, um auf historischer Grundlage fortzubauen, bis das Neue selbst wieder zur historischen Grundlage der Zukunft geworden ist.« Leider heißt der Wahlspruch auch heute nur selten so.
Die »erhaltende Staatskunst« unter der Aegide Metternichs war ganz andrer Art, und für diese glaubte wohl Berly lobenswert zu wirken. Ob es ihm aber ganz ernst damit war? Im Privatgespräch blitzte bei ihm mitunter Satire und Ironie über die Grundsätze durch, welche er gedruckt sehr feierlich verkündete. Und er hatte sein besonderes Behagen an dieser Ironie. Wenn Berly hundert Jahre früher auf die Welt gekommen wäre, dann würde er, glaube ich, ein Voltairianer oder Encyklopädist geworden sein.
Das Original des alten Hofrats wäre für die Nebenfigur einer kulturgeschichtlichen Novelle vortrefflich zu verwerten. Nur müßte man, um die Gestalt recht fein interessant zu machen, das Satirische, Ironische und Faunische seiner Natur noch schärfer herausarbeiten, als es in Wirklichkeit hervortrat.
War nun Berly nicht konservativ, so war er ebensowenig reaktionär. Es gab zu seiner Zeit zweierlei Reaktionäre: die kleinen und die großen. Die kleinen standen vielleicht in der Welt recht groß da, sie konnten Fürsten, Minister und Generale sein, oder sie waren auch ganz gewöhnliche Spießbürger. Groß in Gedanken erschienen sie jedenfalls nicht. Sie fühlten sich unangenehm berührt von einzelnen Einrichtungen der Gegenwart und wünschten den früheren Zustand zurück, der ihnen bequemer gewesen war. Sie hatten dabei kein Ideal und wollten keines haben. Berly war zu gescheit und hatte zu viel erlebt in den ungeheuern Wandlungen seiner Zeit, als daß er solche Reaktionsgelüste anders denn mit stiller Ironie betrachtet hätte.
Die großen Reaktionäre dagegen suchten eine ideale Zukunft im Traume der Vergangenheit. Sie waren Romantiker, nicht bloß, wenn sie die deutsche Herrlichkeit des Mittelalters wiederherstellen wollten und einen neuen Barbarossa begehrten, sondern auch, wenn sie umgekehrt die Freiheitsdespotie der neunziger Jahre herbeisehnten und Robespierre einen Mann nannten, dem es »ernst gewesen sei mit der Tugend«. Seit den Tagen der Burschenschaft hatte man selbst in der patriotisch-romantischen Begeisterung für das Mittelalter »Demagogie« gefunden. Und Berly würde vor keinem Worte ärger erschrocken sein, als wenn man ihn einen Demagogen genannt hätte.
Weder ein kleiner noch ein großer Reaktionär, lebte und webte er vielmehr in der allernächsten, greifbarsten Gegenwart. Als echter Realpolitiker erkannte er nur an, was augenblicklich herrschte.
Also wäre er wohl ein Parteigänger der Regierung gewesen, ein offizieller Journalist? Zum Parteigänger war Berly nicht der Mann, und welcher Regierung hätte er denn dienen sollen? In Frankfurt, am Sitze des Bundestags oder, wie Berly zu sagen pflegte – der »höchsten deutschen Behörde«, gab es 39 deutsche Regierungen und noch einige ausländische dazu, und je weniger ihre »Gesandten« in großen Dingen zu sagen hatten, um so mehr suchten sie ihren Einfluß in kleinen Dingen und namentlich auch bei der Frankfurter Presse zu üben. »Viele Herren!« rief die Kröte, als die Zähne der Egge über sie hin fuhren. Schrieb der Redakteur dem Gesandten der einen Regierung zu Gefallen, so ärgerte es den Gesandten einer andern. Berly suchte darum eine Art europäischer Neutralität im Schreiben zu behaupten wie der Frankfurter Zensor im Streichen. Im November 1846 traf höchst überraschend die Nachricht ein, daß sich Oesterreich die Republik Krakau einverleibt habe. Die Thatsache stand amtlich berichtet im »Oesterreichischen Beobachter«, dem Organe Metternichs. Als die Frankfurter Zeitungen diese amtliche Notiz einfach mitteilen wollten, strich sie die Zensur. Mehrere Tage vergingen, das Besitznahmepatent erschien, alle deutschen Blätter brachten die Nachricht, nur in Frankfurt durfte sie noch nicht gedruckt werden: man solle noch zuwarten. Auf Befragen nach dem Grunde dieser unglaublichen Maßregel erklärte endlich der Zensor: man wisse noch nicht, ob Frankreich Einsprache erhebe, ob England nicht zürne, vor allem aber müsse man erst von dem russischen Gesandten erfahren, wie sich Rußland zu dieser Einverleibung verhalte. Am Sitze des Bundestags habe die Zensur auch auf die auswärtige Diplomatie gebührend Rücksicht zu nehmen. »Viele Herren!« rief die Kröte unter der Egge.
Ueber das Verhältnis »organisierter« Zeitungen zu den Regierungen sprach sich Berly gegen mich einmal in sehr lehrreicher Weise aus. »Eine starke Regierung«, so ungefähr sagte er, »will gar nicht, daß sich eine Regierungspartei oder eine freiwillige Regierungspresse bilde. Die amtlichen Blätter in Berlin und Wien schweigen sich meisterhaft aus über die Politik ihrer Ministerien und verteidigen sie nur, wenn eigentlich gar nichts zu verteidigen ist. Warum sollten sie anders verfahren? Verteidigung setzt einen Angriff voraus, ja ein Recht des Angriffs und reizt zu neuen Angriffen. Eine Regierung muß gar nicht merken lassen, daß sie angegriffen werden könne, am wenigsten von den eigenen Unterthanen angegriffen. Unerbetene Freunde sind oft lästiger als offene Feinde. Wirft sich ein Privatblatt zum Anwalt einer Regierung auf, so kann diese selbst das ihr gespendete Lob für eine so anmaßliche Hilfeleistung halten, wie wenn ich Rothschild hundert Gulden schenken wollte zur festeren Fundierung seiner Finanzen. Man lobt eine Regierung am besten, indem man sie niemals tadelt.«
Berly hatte den »Fürsten« des Macchiavell sehr eifrig studiert: er hätte ein Büchlein »Der Redakteur« schreiben können nach dem Vorbilde des Principe. Aber wir schaudern und bewundern, indem wir Macchiavell lesen; denn er verfolgt im Principe doch eine große Idee, und die verfolgte Berly niemals. Es gab vor fünfzig Jahren mancherlei Staatskunst nebeneinander wie zu allen Zeiten; aber die schlimmste war doch jene, welche keinen Inhalt hatte, weil sie kein Ideal besaß.
Am 9. Mai 1847 starb Hofrat C. P. Berly.
Als man ihn bestattete, befand auch ich mich in dem Leichenzuge, der sich vom Sterbehaus zum weit entlegenen Friedhof bewegte. Es hatte sich auffallenderweise kein Geistlicher zur Begleitung eingefunden. Da trat unterwegs der Drucker der Oberpostamts-Zeitung, August Osterrieth, zu mir und sagte, da kein Geistlicher am Grabe reden werde, so möge doch ich dem Dahingeschiedenen ein Wort des Nachrufs in die Gruft senden.
Ich versprach es und sann darüber nach. Die Aufgabe war nicht schwer: Berly hatte seine guten Seiten, und ich selber hatte, obgleich er mich als seinen politischen und litterarischen Gegner erkennen mußte, doch immer nur Wohlwollen und Freundlichkeit von ihm erfahren. Als wir zum Friedhofsthore einzogen, hatte ich meine kleine Rede im Kopfe fertig.
Doch an dem Thore stand im Chorrock der Pfarrer eines benachbarten Dorfes, ein entfernter Verwandter Berlys, der uns hier erwartet hatte, setzte sich an die Spitze des Zuges und sprach dann eine lange Grabrede. Ich behielt meine kurze Rede für mich; denn es war damals noch kaum üblich, daß ein Laie nach dem Pfarrer sprach. Allein wäre dies auch üblich gewesen, so würde ich meine Rede doch erst recht für mich behalten haben, nachdem ich die Rede des Pfarrers gehört hatte. Denn staunend vernahm ich, daß derselbe zum Lobe des Verstorbenen in allen Stücken das Gegenteil von dem sagte, was ich zu dessen Lob hatte sagen wollen.
Und die Begleiter meinten nachher, der Pfarrer habe Berlys Wesen und Wirken sehr treffend charakterisiert. Hätte ich aber allein gesprochen, wie der Pfarrer allein sprach, so würden sie vermutlich von meiner Rede dasselbe gesagt haben.
Wer von uns beiden hatte nun recht? Vielleicht hatten wir beide recht, vielleicht auch keiner. Der Pfarrer hatte Berly von rechts betrachtet und ich von links, und wenn man Berly von rechts oder links betrachtete, so war er jedesmal ein andrer – und doch immer derselbe Mann.