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Drittes Buch.

Zur ästhetischen Culturpolitik.

Unsere musikalische Erziehung.

Briefe an einen Staatsmann.

1853 und 1858.

Erster Brief

Plan und Ziel.

Sie fordern mich auf, meinen Satz zu begründen: daß unser Musiktreiben trotz vereinzelter Fortschritte nahezu den Charakter eines öffentlichen Nothzustandes angenommen habe, daß unsere planlose musikalische Erziehung einen dicken Strich quer durch unsere ganze übrige Pädagogik mache; daß überhaupt, eigentlich von musikalischer Erziehung nirgends die Rede sei, sondern nur von Musikunterricht; daß allerlei krankhaftes Wesen im Geistes- und Gemüthsleben der gebildeten Volkskreise die reichste Nahrung finde in diesem verkehrten Musiktreiben, und daß es Pflicht unserer Staatsmänner sei, auf die bisher fast gar nicht von ihnen beachtete musikalische Erziehung und Verziehung des Geschlechts endlich auch einmal einen Blick zu werfen.

Sie wundern sich, daß ich, der ich selber ein so eifriger Musiker bin, dennoch des Glaubens lebe, die deutsche Nation sei auf dem besten Wege, sich mit ihrem ziellosen Eifer für die Tonkunst nachgerade ganz dumm zu musiciren.

Ich will Ihnen also meine Gründe nicht länger schuldig bleiben: gedenke meinen Beweis aber nicht im Style eines Sophisten zu führen, der einen paradoxen Satz durch einen vielverschlungenen Kunstbau spitzfindiger Schlüsse stützt, sondern indem ich einfach eine Reihe klarer Thatsachen in dieser meine Herzensangelegenheit reden lasse.

Es gibt künstlerische Erziehung in zwiefachem Sinne: Erziehung durch die Kunst und Erziehung für die Kunst. Die erstere setzt die letztere nicht nothwendig voraus, und die Erziehung für die Kunst wird an sich den Staatsmann wenig kümmern, wohl aber als Grundlage der Erziehung durch die Kunst. Denn diese ist zugleich ein Hauptelement der gesammten Volksbildung! sie birgt ein tiefes und allgemeines Culturinteresse.

Nun ist aber die Erziehung für die Kunst ohne Zweifel die Wurzel der Erziehung durch die Kunst, und wenn nur die schaffenden Künstler selbst von Anbeginn den rechten Weg gehen, dann wird auch der Einfluß ihrer Kunst auf alles Volk – und dies ist ja die Erziehung durch die Kunst – der rechte sein.

Dieser Satz ist so gewiß in seiner Allgemeinheit wahr, als für die Praxis nichtssagend. Denn weit weniger in dem Schaffen der lebenden Künstler, als in den unermeßlichen Kunstschätzen der Vergangenheit liegt das künstlerische Erziehungsmaterial für die Gegenwart. Und zudem ist gerade der schöpferische Genius immer mehr oder minder Autodidakt und geht trutzig seine eigenen Wege, und es ist überhaupt wohl noch keinem vernünftigen Menschen eingefallen, vom Staate zu fordern, daß und wie er die Erziehung produktiver Künstler für die Kunst regeln solle. Er kann höchstens die Gründung tüchtiger Kunstschulen unterstützen, die aber dann um so reicher blühen werden, je freier und selbständiger man sie gewähren läßt.

Dagegen soll der politische Mann den Einfluß der Kunst als einer gegebenen Thatsache fleißig bei allem Volke beobachten. Er findet dann sicher mancherlei Punkte, wo dieser Einfluß zu stärken, zu schwächen, nach besonderen Zielen zu lenken ist. Ferner soll er aber auch jene Erziehung für die Kunst ins Auge fassen, wie sie als ein allgemeines Bildungsmoment uns Alle erst recht befähigen soll zur Erziehung durch die Kunst.

Und lediglich in diesem zwiefachen Sinne möchte ich Ihnen einige Gedanken über unsere musikalische Erziehung mittheilen.

Das Volk wird entsittet durch die tägliche Gewöhnung an schlechte Musik, und der Einzelne wird verschroben und entnervt, wenn man ihn durch lüderliche Modemusik in jene Schule künstlerischer Bildung führen will, für welche nur das strengste leicht und nur das beste gut genug ist.

Zweiter Brief

Geistliche Gassenmusik

Zunächst bedaure ich, daß der Staat, die Gemeinde, der Hof, die Kirche im Laufe der Zeit fast alle Gelegenheit muthwillig haben fahren lassen, durch welche sie auf eine veredeltere Sangeslust im Volke einwirken konnten, während dem auf den rohesten Sinnenreiz der Massen spekulirenden musikalischen Handwerk das ganze Feld geräumt worden ist.

Ich beginne mit einigen ganz kleinen und unscheinbaren Thatsachen, um zu gewichtigeren aufzusteigen. Denn Sie wissen, ich halte es auch in litterarischen Arbeiten mit meinem großen Vorbild und Freunde Joseph Haydn, der gerne mit einem so kleinen Thema anhebt, daß wir darüber lächeln, und uns im Spiele durch dieses kleine Thema dennoch unvermerkt zu den höchsten und heiligsten Dingen führt.

In vielen protestantischen Städten und Flecken galt bis auf die neueste Zeit das Herkommen, daß Morgens und Abends oder auch zur Mittagszeit vom Thurme herab ein Choral geblasen wurde. Der Arbeiter im Felde hielt eine Weile seinen Pflug an, wenn die feierlichen Töne in die Stille der Morgenlandschaft hinein schallten, in der Werkstatt ward es auf Minuten ruhig, und manchem verzagenden Herzen sind bei dieser Musik urplötzlich die rechten Gedanken des Trostes aufgeleuchtet. Wie es den einsamen Wanderer erhebt und gleich als ein Gebet ihm durch die Seele zieht, wenn er am Abend in's Quartier rückt und ihn schon weither vom Thurme der Choral begrüßt, das habe ich selber manchmal tief empfunden und möchte diese musikalischen Eindrücke um manches prächtige Concert nicht hingeben. Es war durch solche Musik allem Volke eine religiöse und künstlerische Weihe wenigstens auf etliche Augenblicke eines jeden Tages gelegt.

Die Thurmbläser wurden manchmal aus Stiftungsfonds bezahlt, oft auch aus dem Gemeindesäckel. Obgleich wir nun täglich reicher werden, so hat man doch fast überall kein Geld mehr für solche Dinge. Nur noch als eine Ausnahme, als eine Kuriosität erschallen hier und da Choräle von den Thürmen. Und oft wie erbärmlich geblasen! Haben die Gemeinden aber auch bedacht, daß sie mit der Thurmmusik einen tüchtigen Hebel zur musikalischen Erziehung des Volkes muthwillig weggeworfen? Gelehrte Forscher haben unsern Choralgesang gereinigt und verjüngt. Spürt aber das Volk schon sonderlich viel davon? Wenn in der Dorfkirche elend gesungen wird, so läßt sich's durch die Orgel allein und den Schulmeister mit seinen Kindern nicht besser machen. Würden aber die gereinigten alten Weisen vom Thurme herab täglich den Bauern in's Ohr klingen, dann lernten sie dieselben auch wieder so fest wie ihre Vorfahren. Es war zudem des gemeinen Mannes einzige Probe einer ernsten und klassischen Musik außerhalb der Kirche, die ihm vom Thurme herab vorgeblasen wurde; jetzt findet er seine musikalischen Klassiker lediglich noch auf dem Tanzplatze; freilich Klassiker, über die sich Gott erbarmen möge. Schon allein um der Befruchtung willen, welche der geistliche Volksgesang, der Choral, dem weltlichen Volksgesange gab, durfte man die Thurmbläserei nicht abschaffen, ob man sie gleich vielfach hätte reformiren sollen.

Es schwärmen ja gegenwärtig wieder so viele reiche und vornehme Leute für den lutherischen Choral. Sollte nicht der Eine und Andere die paar Gulden finden, um die Stiftung einer feierlichen Thurmmusik in seinem Heimathsorte zu erneuen? Das wäre namentlich ein ächt adeliger Luxus. Und sollten Gemeinden, welche noch Sinn für einen würdigen Schmuck ihres Gemeinlebens bewahren, nicht hier und da die Mittel auftreiben können, die schöne alte Sitte wieder zu beleben?

Und noch Eines. In den lärmenden großen Städten verliert das Blasen vom Thurme freilich seinen Sinn. Solch eine künstlerische Weihe des Tages ist vielmehr eines der schönen natürlichen Privilegien von Dorf und Landstadt. Gegenwärtig, wo sich die Großstadt immer mehr vermißt, Land und Leute zu verschlingen und die Welt für sich allein zu repräsentiren, wo es deßhalb aber auch um so entschiedener gilt, den Werth der kleinen Orte zu erheben, daß Dörfer und Kleinstädte nicht gar erdrückt werden von den großmächtigen Schwestern und ihrer guten Eigenart beraubt durch deren Einfluß: – gegenwärtig thut es allen kleineren Gemeinden dringend Noth, eifersüchtig das zu bewahren, was sie vor den großen Städten von Natur voraus haben und dazu gehört auch – so seltsam es klingen mag – ein ächter und gerechter Thurmchoral.

In Thüringen und einem großen Theile Norddeutschlands, dazu auch in einigen württembergischen Städten, war es bis zur neuesten Zeit Sitte, daß die Sänger des Kirchenchores, ärmere Schüler der Oberklassen, an bestimmen Tagen frühmorgens oder in den Abendstunden mehrstimmige geistliche Lieder und Motetten auf den Straßen sangen. Dafür ward eine kleine Geldspende gesammelt und vierteljährlich unter die Sänger vertheilt. Diese Straßenconcerte haben mich manchmal musikalisch erbaut; tausend Anderen wird es ähnlich ergangen sein. Einzelne Familien bestellten sich wohl auch an besonderen Tagen der Freude oder Trauer den kleinen Sängerchor des Abends vor das Haus und wählten sich die Weisen aus, welche der Stimmung des Tages entsprachen. Gewiß ein köstlicher Brauch! Der schlechten Straßenmusik der Jahrmärkte und Kirchweihen war hier eine Musik ernsterer und würdigerer Art auf denselben Straßen gegenübergestellt. Der protestantische Kleinstädter, welcher eine figurirte Kirchenmusik oft im ganzen Leben nicht hört und Oratorien, Symphonien und Quartette vielleicht ebensowenig, konnte hier wenigstens ein Ohr gewinnen für den strengeren figurirten Satz. Und gar manchem Knaben ist an solchen Motetten der Sinn für die höhere musikalische Form geweckt worden. Leider ist nun aber das schöne Herkommen fast aller Orten eingeschlafen, und die Gemeinden haben sich damit abermals freiwillig eines Mittels begeben, direkt auf die musikalische Erziehung des Volkes zu wirken. Sangen diese Chöre schlecht, dann hätte man sie verbessern, nicht aber abschaffen sollen, und war man zu sentimental geworden, um die armen Schüler fürder noch allein vor den Häusern singen zu lassen, dann mußte man die reichen noch dazu stellen, nicht aber flugs den ganzen Brauch zerstören.

Die Kluft zwischen unserer Kunst und dem Volksleben ist nicht so groß, wie die gemeine Rede behauptet; wenn man aber freilich jede Brücke gedankenlos abbricht, dann muß auch eine kleine Kluft zuletzt unüberschreitbar werden.

Dritter Brief

Die Kirche als Kunstschule

Noch immer ist die Kirche die einzige höhere Kunstschule des gemeinen Mannes. Wenn das Volk des katholischen Oberdeutschlands noch so viel schöpferischer ist im Volksgesange, als die protestantischen norddeutschen Bauern, so darf der Einfluß der katholischen Dorf-Kirchenmusik hierbei gewiß nicht übersehen werden. Der Bauer hört da einen freieren, reicheren Vokal- und Instrumentalsatz, der dem modernen weltlichen Volkslied oft sehr nahe steht und – sei es auch eine rechte Rumpelmesse im Zopfstyle des vorigen Jahrhunderts – doch immerhin nach der Schablone der idealeren contrapunktischen Form zugeschnitten ist. Wo könnte er außerdem dergleichen Kunsteindrücke von jugendauf und allfesttäglich finden? Aber auch der bessere Dilettantismus der Kleinstädte kräftigt sich in der Mitwirkung zu diesen Kirchen-Chören und Orchestern, und wenn nicht so viele Lateinschüler und Handwerkslehrlinge geigen gelernt und Freude am Ensemblespiel gewonnen hätten in jenen Landmessen, dann wäre gewiß die private Pflege des Streichquartetts nicht so weit verbreitet im deutschen Süden. Das Quartettgeigen aber bildet eine solide Grundlage sonder Gleichen für alle musikalische Erziehung und wird so leicht zum köstlichsten Schmucke häuslicher Geselligkeit.

Kirchlicher Puritanismus möchte jetzt gern alle freiere, reichere Kunstübung verbannen aus dem Hause Gottes. Wo wir es aber ganz versäumen, in der Kirche das Volk auch zum Hohen und Heiligen in der Kunst zu erziehen, da wird sich dasselbe außerhalb der Kirche zuletzt in eine so lediglich profane und frivole Kunst hineinmusiciren, daß kein Pfarrer, und hätte er feurige Zungen, zuletzt auch die übeln moralischen Folgen wieder wird hinpredigen können.

Beim Anblick der Kirchencantaten Joh. Seb. Bach's kommt mir gar oft der Gedanke, was doch wohl unsere heutigen Geistlichen und mit ihnen die große Mehrzahl unserer protestantischen Gemeinden dazu sagen würden, wenn man ihnen solche geistliche Musik in der Kirche vorführte? Sie würden den Künstler steinigen, der solches wagte und die Kirchenbehörde dazu, die es zugelassen. Man würde über die Herabwürdigung der Kirche zu einem Concertsaal klagen, wie man umgekehrt über die Heraufwürdigung des Concertsaales zur Kirche geklagt hat, als man irgendwo Beethoven's große Messe in einem solchen Saale aufführen wollte. Als ob die höchsten Ziele der Kunst nicht ebenbürtig seien den höchsten Zielen der Kirche! Obgleich uns nun die Bachischen Cantaten wie Concertstücke anmuthen, so sind sie doch ihrer Zeit wirklich für das praktische Bedürfnis, des Gottesdienstes geschrieben und zur Erbauung unserer Urgroßväter in den Kirchen aufgeführt worden. Eine solche Cantate ist aber nichts geringeres, als ein kleines Oratorium und solch ein unsterbliches Kunstwerk durften die Leipziger allsonntäglich ebensogut hören, wie wir eine bloße Predigt!

Ein einziges Exempel möge Ihnen die Fülle der musikalischen Elemente zeigen, davon jede einzelne dieser Kirchencantaten strotzt. Ich nehme die auf den 16. Sonntag nach Trinitatis über den Choral; »Liebster Gott, wann werd' ich sterben?« Zuerst tritt der Chor auf und singt eine Art Hymne, in welcher die Choralweise zu freieren, ich möchte sagen minder kirchlichen Formen herrlich ausgearbeitet ist. Dazu gesellt sich aber ein breit entfalteter, selbständiger Orchestersatz. Das Streichquartett begleitet in Pizzicatotönen gleich einem Harfenchore den Gesang, zwei Oboen (und obendrein ist es gar » Oboe d'amore!«) blasen dazu ein wunderliebliches concertirendes Duett, und über diesem ganzen volltönigen Harmonienbau, dessen tiefes Fundament die Orgel, geht noch die Flöte ihren eigenen Weg, indem sie in gemessenen Zwischenräumen im höchsten Staccato das helle Klingen des Todtenglöckchens nachahmt. Dann kommt der Tenor und schildert in einer großen, von der Orgel und einer obligaten Oboe begleiteten Arie das Entsetzen der Kreatur vor dem Tode. Die Rhythmik des Basso continuo malt diese Stimmung des Entsetzens in so bewegt dramatischer Weise, wie sie Gluck in seinen Opern nicht farbenvoller und ergreifender aussinnen konnte. Der Alt nimmt alsdann den Gedankengang des Tenors auf und erhebt in einem vom Streichquartett begleiteten Recitative die bange Frage der Seele über die dunkle Zukunft nach dem Tode. Aber sogleich nach dem letzten fragenden Tone dieses Recitativs fällt das Orchester ein und deutet in dem heiter bewegten Ritornell auf die tröstende Antwort des Basses, welcher in einer Arie die rettende und schirmende Gemeinschaft mit Christo dem Erlöser schildert. Diese Arie ist aber nach Melodie und Rhythmus eine Art Tanzmusik in der Urgroßväter Geschmack und zwar eine recht lustige, nämlich eine Giga. Das Gepräge der Heiterkeit wird noch erhöht durch die Instrumente, da die Flöte mit den Geigen in allerlei hüpfenden und springenden Figuren beständig wettsingt. Es bedurfte eines Meisters, der in derselben gläubigen Naivetät setzte, in welcher van Eyk gemalt hat, daß ein solches Musikstück selbst uns puritanischen Modernen trotzdem nicht weltlich, nicht frivol, sondern recht wie das geistliche Lied einer jubelnden gläubigen Seele erscheint. Endlich führt ein Recitativ des Soprans zu dem reich orchestrirten Schlußchoral, der die Zuversicht des ewigen Lebens in majestätischen Accorden predigt. Solche dramatische Musik ist vor hundert Jahren in protestantischen Kirchen aufgeführt worden. Die Kirche verschmähte es nicht, mit der Kunst zu gehen, darum ging aber auch die Kunst noch mit der Kirche. Sie wissen, daß man heutzutage viele gebildete Leute vexiren könnte, wenn man ihnen eine Bachische Gavotte oder Allemande vorspielte und sagte, das sei Kirchenmusik; sie würden es glauben. Wo aber die Tanzweise so hoch, ideal und gedankentief gehalten ist, da kann man auch ohne Profanation eine Kirchenarie nach dem Gang einer Tanzweise bauen. Die Kirche verliert nichts bei solcher Verbrüderung weltlicher und geistlicher Kunst; das weltliche Leben aber gewinnt. Was ist denn eigentlich kirchlicher Styl in der Musik? Wenn wir heute einen Chor für die Kirche schreiben, wie ihn Händel vor hundert Jahren für's Concert geschrieben hat, so klingt er uns sehr kirchlich. Also in alten, abgestorbenen Formen schreiben, heißt kirchlich schreiben? Und ist denn der Gedanke nicht gerade Profanation, daß eigentlich nur das Abgestorbene für die Kirche gut sei? So denkt unsre künstlerische – und kirchliche? – Epigonenzeit; die Reformatoren des sechzehnten Jahrhunderts haben nicht also gedacht, und die großen schöpferischen Künstler schöpferischer Perioden noch viel weniger. Palestrina, Händel, Bach, selbst Haydn, Mozart und Beethoven dichteten in ihren eigensten und neuesten Formen geistliche Musik; es fiel ihnen gar selten ein, veraltete Weisen für die Kirche künstlich nachzunahmen. Mendelssohn dagegen mußte sich schon bequemen, altmodisch zu stylisieren, wo er recht geistlich sein wollte. Dies beweist aber nicht, daß der geistliche Styl schlechtweg altmodisch sein müsse, sondern lediglich, daß uns in der Kirche wie in der Kunst der naive Glaube abhanden gekommen ist. Als man noch mauerfest in diesem Glauben stand, da dachte man noch an keine Scheidung weltlicher und kirchlicher Kunstformen; erst als man wankend ward, trennte sich ein weltlicher Styl von dem kirchlichen; und als man jenen naiven Glauben gar verlor, da gliederte man vollends kirchliche, geistliche und weltliche Form.

Aber sollen wir denn in der Kirche musiciren wie im Theater oder auf dem Jahrmarkt? Gewiß nicht. Die Kunstformen der Zeit dürfen in der Kirche nur ihre strengste, reinste und würdevollste Anwendung finden, und obgleich eine kirchliche Musik durchaus nicht undramatisch zu sein braucht (Orlando Lasso so gut wie Bach waren gewaltige Dramatiker in der Kirche), so gehört doch das Bühnenpathos der rein subjectiven Leidenschaft gewiß nicht vor den Altar. Vor allem aber sei die Kirchenmusik des blos sinnlichen Reizes der spielenden Form entkleidet: im Gedanken reich, einfältig im Schmucke der Figuren. Dies letztere fand man nicht mehr in einer sinnenreizenden, veräußerlichten Kunst des Tages und glaubte darum, für die Kirche dürfe nur das Todte lebendig, nur das Vertrocknete frisch, nur das Veraltete neu sein, weil wir diesem freilich den Sinnenreiz nicht mehr anmerken, welchen es für längst begrabene Geschlechter hatte.

Es fällt mir im Traume nicht bei, solche kleine geistliche Opern, wie die Cantaten Bach's, zur Aufführung bei unserm Gottesdienste zu empfehlen. Nicht weil sie unkirchlich, sondern weil sie in zu vielen Stücken veraltet und überhaupt nur dem musikgeschichtlich Gebildeten nicht aber einer ganzen Gemeinde rein verständlich sind. Allein angesichts dieser Zeugnisse aus alten Tagen fühle ich um so tiefer den Rückschritt, daß der ausgeführtere, der Gegenwart eigene, Kunstgesang fast ganz von unsern protestantischen Kirchenchören verschwunden ist, und damit zugleich ein mächtiges Element für unsere musikalische Volkserziehung.

Wir rühmen uns mit Recht des wiederauflebenden Eifers für das Studium der ältern Kirchenmusik, die mit guter Auswahl noch gar vielfach brauchbar wäre zur Erhöhung unsers protestantischen Gottesdienstes. In's Concert paßt sie nicht; in die Kirche darf sie nicht passen. So ist dieses neue Studium lediglich den Gelehrten gewonnen, ob es wohl auch den Gemeinden fruchtbar sein könnte. In einigen Kirchen, wo man dergleichen kleinere und allgemein verständliche Werke wieder mit dem protestantischen Cultus zu verflechten wagt, geht man dabei so spitz wie auf Eiern einher. Es darf z.B. wohl eine Nummer von Schütz, Eccard, Gallus, Bach, wohl gar von Mendelssohn gesungen werden, aber der Name des Tonsetzers und das Datum des Werkes darf nicht auf den Kirchenzettel. Man nennt doch den Namen des Predigers auf demselben Zettel, man druckt neuerdings auch wieder Dichter und Datum unter die Gesangbuchslieder. Sind die alten Musiker allein so gottlos gewesen, daß man ihre Namen verschweigen muß vor einer modernen Gemeinde? Dies ist es nicht. Allein der Kirchenzettel soll nicht wie ein Concertzettel aussehen, Niemand soll in die Kirche gelockt werden um der Musik willen, die Musik soll überhaupt nur religiös erbauen, nicht künstlerisch. Eine Scheidung der letzteren Art ist aber nur bei dem ganz rohen Haufen und selbst hier nur annähernd möglich. Ein geistliches Musikstück, mit historischer Erkenntniß seiner Gedanken und Formen angehört, wird den Musikgebildeten auch religiös unendlich tiefer und ruhiger erbauen, als ein räthselhaftes Werk, dessen kritische Entzifferung, wenn man ihn absichtlich über den Autor im Dunkeln läßt, nun erst recht seinen technischen Scharfsinn reizt und ihn so in ganz profaner Weise von dem eigentlichen Erbauungszwecke vollständig abzieht. Oder meint man, es sei überhaupt erbaulicher, über ein unverstandenes Kunstwerk so obenhinaus träumen, als in klarem Verständniß die Gedanken und Gefühle des religiösen Sängers nachdenken und nachempfinden? Dann wäre freilich den dümmsten Menschen vom lieben Gott die Erbauung am leichtesten gemacht. Wer nichts von Musik versteht, dem ist es ohnehin gleichgültig, ob er den Namen Schütz oder Gallus auf dem Zettel liest, wer aber etwas davon versteht, dem ist es ein Aergerniß, wenn man ihm in der Kirche kunstgeschichtliche Räthsel vorlegt, und dadurch sein Denken und Sinnen geradezu aus der Kirche hinaus und in's Studirzimmer lockt. Ich denke doch, eben in der Erkenntniß der poetisch volksbildenden Kraft unserer Gesangsbuchslieder hat man Dichternamen und Jahrzahlen wieder in die Gesangbücher eingedruckt, damit die strebsameren Gemeindeglieder diesen Dichtern weiter nachgehen und zugleich ein Bewußtsein von der Geschichte des protestantischen Kirchenliedes selbst aus dem bloßen Gesangbuch gewinnen können. So wird man auch die Namen unserer Kirchenmusiker nicht mehr verschweigen, wenn die Erkenntniß von der volksbildenden Kraft der ächten Musik dereinst unseren Theologen voll und ganz aufgegangen sein wird.

Selbst bei vielen Katholiken regt sich jetzt der Gedanke, ob es nicht würdiger sei, statt ihrer reichen, oft freilich mit übermäßigem Prunk beladenen neueren Kirchenmusik lediglich die einfachen reinen Vocalsätze im Palestrinastyle beim Cultus beizubehalten. Wie können aber die Geistlichen über die wuchernden sittenverderbenden Einflüsse einer lüderlichen Tanz- und Opernmusik klagen, wenn sie selber dahinwirken, daß eine den Formen der Zeit und dem Ohre des Volkes naheliegende Musik fast gar nicht mehr gehört werden kann? Denn Palestrina und unsere Bauern sind doch wahrhaft wie durch ein Weltmeer von einander geschieden, und zwischen der historischen Bildung der Gelehrten und dem Volksleben wird durch solchen Purismus erst recht eine Kluft gerissen, die fürder keine Brücke mehr trägt.

Protestantische Geistliche erklären es jetzt häufig für Mißbrauch, daß in Stunden, wo die Kirche leer steht, etwa ein Orgelconcert darin abgehalten oder ein Oratorium aufgeführt werde, während selbst die kirchlich so strengen Engländer ihre Kirchen gern zu solchen Zwecken öffnen. In der That hat auch in dem musikarmen England die geistliche Musik einen weit breiteren Boden in allem Volke als bei uns. Einem Concert mit schlechtem oder profanem Programm soll man freilich die Kirchenthüren verschließen; außerdem aber scheint es mir viel mehr dem Zweck der Kirche, als eines Hauses des Herrn, zu entsprechen, wenn unter der Zuhörerschaft eines geistlichen Concerts in ihren Mauern auch nur Drei sich durch die göttliche Kraft der Musik zu Gott erhoben fühlen, als wenn sie leer steht. Bekanntlich erstirbt die Kunst des ächten Orgelsatzes immer mehr, und kaum denkt noch ein Componist bedeutenden Ranges daran, Orgelwerke zu schreiben. Auch die ausgezeichneten Organisten sind selten geworden. Natürlich. Wozu sollen sich große Tonsetzer und Spieler für dieses Instrument bilden, wenn ihnen ein ausgeführter Vortrag weder beim Cultus noch im Kirchenconcert gestattet ist und sie höchstens bei verschlossenen Thüren und für sich allein ihre Kunst entfalten können? Die Orgel ist schier gestrichen aus dem Kreise der lebenden Instrumente, und den Triumph davon hat wahrlich nicht die gediegene Musikbildung, sondern die Afterkunst jener extremen Manieristen des subjectiven Pathos, die schon lange mit Hector Berlioz vermeinen, die im leidenschaftlosen Gleichmaße des Tones erhabene Orgel sei eben darum das langweiligste und unbrauchbarste aller Tonwerkzeuge.

Doch genug meiner Ketzereien; denn selbst meine theologischen Freunde werden diese Gedanken für nichts besseres ansehen. Ich schreibe sie aber dennoch nieder, überzeugt, daß es eine Pflicht der Kirche, als unserer ältesten Kunstschule, sei, auch heute noch mitzuwirken zur künstlerischen Erziehung des Volkes.

Vierter Brief

Volksgesang.

Mein letzter Brief schloß mit ernsten Betrachtungen: ich habe seitdem fröhliche Reisetage verlebt und lenke unter dem frischen Eindruck derselben mein Thema in eine neue Tonart. Ich durchwanderte das bayerische Hochgebirg, eine Landschaft, die eben so reich ist an Naturschönheit als arm an Kunstwerken. Dennoch hat das Volk eine wunderbare künstlerische Ader. Und so ward ich denn auch hier in meinen Kunststudien angeregt, obgleich ich während der ganzen Reise nichts gehört noch gesehen habe von eigentlicher Kunst. Ich hörte nur das Gejauchze und die Lieder und Tanzweisen der Bauern; allein ich lernte dabei, wie vortrefflich das Volk sich selber musikalisch erziehen kann, wenn ihm nirgends fremde Hände in's Zeug pfuschen. Solches ist freilich fast überall schon reichlich geschehen, daß man eben in die einsamsten Alpenthäler blicken muß, um hier überhaupt noch von Selbsterziehung zu reden.

All diese Musik der Gebirgsbauern knüpft sich enge an den Boden. Jedes Thal hat seine eigenen Lieder, jede Landschaft ihr eigenes Gejauchze. Viele Lieder ziehen sich wohl auch durch's ganze Gebirg, aber die bedeutendsten Orte wollen dazu auch wieder ihren besonderen Sang haben. Am Tegernsee jauchzt man anders als am Inn oder an der Salzach, und wenn uns die Sennerin von ferne her mit diesem musikalischen Jubelrufe grüßt, dann weiß das kundige Ohr sogleich, ob sie eine einheimische oder fremde ist und aus welchen Bergen. Dieses Jauchzen ist eine oft sehr originelle melodische Phrase, ein langgehaltener hoher Ton, von dem man in örtlich verschiedener Intervallenfolge meist zur Octave herabsteigt. Gleich dem Volkslied, dessen fragmentarische Basis das Gejauchze, wird es jeder Stimmung angepaßt, zu jeglichem Signal gebraucht. Der letzte Nachruf des Abschiedes und der Freudenschrei des Wiedersehens, das stille Wonnegefühl eines sonnigen Tages, wie der lauteste Festjubel, der Gruß an den Wanderer: alles dies wird mit den gleichen Tönen des Jauchzens ebenso deutlich und unterschieden ausgesprochen wie der Kegelbube dieselben anschlägt, wenn alle Neun geworfen sind, oder der Scheibenwärter, wenn in's Schwarze getroffen ist. Das Volk hat so großes Entzücken an diesen ewig wiederholten Tönen, weil es weiß, daß sie ganz sein eigen sind. Und in diesem Gedanken ist zugleich der höchste pädagogische Werth ächter Volksmusik ausgesprochen.

Wenn die Liebe am eigensten Besitz schon die bloße Phrase des Jauchzens als ein Symbol der Heimath und als unerschöpflich schön erscheinen läßt, wie viel mehr muß dies noch von dem ausgeführten Lied und der Tanzweise einer Gegend gelten? Musikalisch sind diese Dinge ja oft von sehr geringem Werthe, dennoch aber freuen wir uns solcher Musik, weil sie uns gesund dünkt. Was heißt hier gesund? Man sagt wohl: was wahr und ächt ist. Aber was ist hier wahr und ächt? Ein Lied dessen Form und Gedanke, im Volke selbst erwachsen, nichts anderes ausspricht als was diese Volksgruppe selber fühlt, begreift und auszusprechen sich berufen und gedrungen fühlt, solch ein eigenes Lied ist allemal auch ein gesundes und wahres Volkslied. Es kann darum ästhetisch arm, geringhaltig, incorrect sein, aber es ist doch gesund und wahr. Denn es gibt allerdings schlechte gesunde Musik, aber freilich nicht umgekehrt auch gute ungesunde. Man spricht von unverdauter Musik, die vielerlei Volk gedankenlos weitersinge. Der Ausdruck trifft; denn solche musikalische Formen und Gedanken, die dem Organismus einer Volksgruppe fremdartig, von außen ihm eingetränkt worden, unverdaute und unverdauliche Stoffe, sind allerdings, wie jeder Doctor weiß, höchst ungesund. Denn die Tanzmusik auf einer Bauernkirmeß mit verminderten Septimenaccorden und sentimentalen Terzen-Vorhalten kokettirt, so ist dieß ganz ebenso widerlich, wie wenn die Bauern in Frack und Ballschuhen tanzten statt in Joppen und Wadenstiefeln. Nicht minder verkehrt ist es aber auch, wenn unsre Modecomponisten in künstlicher Einfalt nachgeäffte »Volkslieder« für den Salon schreiben. Wir sollen uns an den Weisen des Volkes erfrischen, wir sollen sie auch mit unsern eigenen Ideen verarbeiten, aber wir sollen sie nicht nachäffen.

Als der König das Hochgebirg bereiste, kam vor einem der sangreichsten Dörfer zwischen Isar und Inn die ganze Gemeinde ihrem Fürsten entgegen und sang ihm ihre schönsten eigenen Lieder. Und als sich darauf der König lange mit dem Ortsvorsteher unterhalten hatte und ihn zuletzt huldvoll mit dem Worte entließ: »Ich bin recht zufrieden mit Euch!« erwiderte der Vorsteher in treuherziger Zuversicht dem Könige: »und wir sind es auch mit Euch!«

So kann nur noch ein Bauer sprechen, der eigenes Kleid hat, eigenes Haus, eigenen Brauch und eigenen Sang und Tanz. Sollte er aber je eines oder das andere aufgeben, so will ich viel lieber noch, er schafft sich einen städtischen Rock an als städtische Lieder. Man kann in Deutschland zwar nicht sagen, wo ächtes Bauernleben blüht, da blühet auch noch ächter Bauerngesang. Denn leider singen viele unserer besten Bauerschaften gar nicht mehr, und in einigen tief gesunkenen Gauen tönt noch ein ächtes und eigenes Lied als der letzte wehmüthige Nachhall verlorener besserer Tage. Aber umgekehrt darf man behaupten: wo eine unverdaute städtische Modemusik auf dem Lande das Feld gewonnen hat, da ist auch der Bauer verdorben.

Aber – werden Sie sagen – das Alles sind Dinge, die sich von selber machen müssen, und es ist nicht abzusehen, wie hier eine äußere Macht erziehend einwirken soll. Ganz gewiß. Ich selber schrieb ja auch, wie vortrefflich das Volk sich musikalisch zu erziehen wisse, wenn ihm nirgends fremde Hände in's Zeug pfuschten, und will Ihnen nur auch ein Beispiel solcher Pfuscherei mittheilen.

Bald nach dem Vorfall der vorgedachten Anekdote fuhr ich durch dasselbe Dorf mit einem Postillon aus der Gegend. Der Bursche war zur Musik aufgelegt wie alle seine Landsleute und blies sein Horn vortrefflich. Aber was blies er in diesen durch ihren eigenen, unberührten Sang berühmten Thälern? Heine's »Schönste Augen« in der lüderlich sentimentalen Melodie von Stighelli! Ein altbayerischer Postillon, so stockig und maulfaul, daß man nicht einmal über Weg und Steg drei Worte aus ihm hervorlocken kann, bläst den Bauern am Fuße des Wendelstein alltäglich die Weise vor: »Auf deine schönen Augen Hab' ich ein ganzes Heer Unsterblicher Lieder gedichtet« –

Ich fuhr zwar nicht aus der Haut über diesen Postillon mit seinen »unsterblichen Liedern,« aber ich glaube fest, daß die Bauern über kurz oder lang aus ihrer Haut fahren, mit ihren guten Liedern auch manche andere gute Sitte um städtischen Flitter eintauschen und einen ganz andern Menschen anziehen werden, wenn man ihnen standhaft solches Zeug vorsingt.

Nun fördert man aber officiell das musikalische Talent der Postillone. In verschiedenen deutschen Staaten sind Preise ausgesetzt für die Postillone, welche am besten blasen. Ich würde vielmehr Preise aussetzen für die Postillone, welche das Beste blasen, nämlich die ächtesten, schönsten Volksweisen. Mit Jenem lockt man den Reiz des Virtuosenthums gar unter den Bauern hervor; mit diesem übt man musikalische Volkserziehung. Der Virtuosen auf der Estrade des Concertsaales haben wir ja leider schon zu viele; muß denn die Postverwaltung auch noch Virtuosen für den Bock des Eilwagens ausbilden? Und zum Preise schenkt man dem gekrönten Postillon wohl gar ein recht kunstreiches Posthorn mit Ventilen, ein Ventilhorn, auf welchem man die ganze Chromatik der modernen Ball- und Opernmusik blasen kann, während das alte rohe Posthorn den Postillon zwang, sich hübsch in den einfachen Naturtönen des Volksliedes zu halten.

Ich hätte wahrlich diese Postillonsgeschichten nicht berührt; allein Sie meinen, der Staat könne direct nichts thun zur musikalischen Volkserziehung? Sie sehen aber, er greift hier ja bereits direct ein, nur mehr pfuschend als fördernd. Denn ein solcher preisgekrönter Postillon mit dem Ventilhorn, der den Bauern mit völlig fremden, unverdauten Phrasen die eigene Sangesweise verdirbt, ist eine Kunstautorität im Dorfe, oft eine größere musikalische Autorität als Pfarrer und Schulmeister. Krönte man ihn für das Blasen ächter Volkslieder, so würde man Gutes stiften. Sollen denn unsere Politiker absolut blos gute Menschen, aber schlechte Musikanten sein?

Und da ich nun doch einmal von Preisen und Krönen rede, so meine ich, bei unsern landwirthschaftlichen Volksfesten, wo man bis jetzt in der Regel nur die Ochsen und Pferde krönt, sollte man auch dazu eine höhere Saite anschlagen und neben das Wettrennen, Wettpflügen und Wettspielen auch ein Wettsingen der Bauern setzen. Der Preis aber dürfte nicht schlechtweg denen zufallen, die am besten, sondern die auch zugleich das Beste singen, nämlich die ächtesten, auf dem eigenen Boden gewachsenen Volkslieder.

Ich weiß, Sie achten diese Dinge nicht für klein; denn nicht von oben herab, sondern von unten herauf reformirt man das öffentliche Leben, und fange ich ja eigentlich nur darum bei den preisgekrönten Postillonen an, damit ich mit Beethoven schließen kann.

Fünfter Brief

Heermusik.

Aus den Budgets unserer Kriegsministerien werden stattliche Regimentsmusiken und Hornistencorps besoldet. Der Heerdienst ist ja in so manchem Stück eine Schule für das Volk, warum nicht auch in der Musik? Eine ächte Militärmusik soll Volksmusik sein, sie soll sich enge den wirklichen Volksliedern anschließen; das gibt recht lustig und hell tönende, recht kriegerische Weisen. Es entspricht zugleich dem nationalen Charakter des Heeres, welches sich auch musikalisch nicht mit geborgten Lappen schmücken soll. (Nur muß ich mich gleich von vornherein verwahren, als ob jedes deutsche Volkslied, jedes tändelnde oder sentimentale Schnaderhüpferl auch zum Soldatenliede tauge. Habe ich doch unlängst von einer Regimentsmusik gar das »Mädele ruck, ruck, ruck« als Marsch aufspielen hören, wobei es einem ordentlich leid that, daß Männer mit Degen und Schnurrbart ganz ernsthaft hinter einem solchen Liede einherziehen mußten.)

Den bildenden Einfluß der eigenen Volkslieder und ächter Soldatenweisen auf das Heer hat man thatsächlich anerkannt; denn wohl in den meisten deutschen Armeen bestehen besondere Sängerchöre, die Soldaten werden zum Singen guter frischer Lieder angehalten, und manches dieser Lieder nimmt der ausgediente Mann in die Heimath mit, wo es mit den originalen Gesängen des Volkes untrennbar verwächst. Aber was man so im Gesange gut macht, das verdirbt man in der Instrumentalmusik: im Chore singen die Soldaten nationale Weisen und auf der Parade wird ihnen Donizetti und Verdi vorgeblasen und ein ganzer Hofball parfümirter Polka's und Mazurka's. Es ist als ob für die Gemeinen gesungen und für die Officiere gespielt würde. Die Wirkung der Militärmusik auf den Geschmack der Massen ist aber tief und weitverzweigt. Wie die Landmesse dem Volksgesang Fingerzeige des höheren Kunststyles gibt, wie der Thurmchoral den Ernst des geistlichen Liedes auch am Werktag dem Bauern einprägt, so schmettert ihm die Militärmusik Melodien des Prunkes und Festjubels in's Ohr, welche für die Entwickelung selbst der einfältigsten Sing- und Tanzweisen durchaus nicht verloren gehen. Die Parade ist das Odeon, das Gewandhaus nicht blos des Soldaten, sondern des geringeren und bildungsloseren Mannes überhaupt. Aber welch wunderliche, verwirrende Klänge nimmt er aus diesem Odeon mit nach Hause! Ist doch diese Parademusik längst sprüchwörtlich geworden für eine hohle renommistische Spektakelmusik. Der Abhub lüderlicher pariser und italienischer Opernmelodien dringt nicht unmittelbar aus den Theatern so tief in das Ohr unserer Nation als es leider der Fall ist. Er muß vorher noch einmal in's Kleine verarbeitet, noch einmal verwässert werden, und dies geschieht zumeist durch jene fabrikmäßigen Klavierstücke, welche die grobe Münze des Theaters in zahllose Kupferpfennige umwechseln, und dann durch unsre Militärmusiken. Durch den Kanal der letzteren geht die fremde Weise, verballhornt, unverdaut und unverstanden alle Stadien des Musikantengewerbes hinab bis zur Dorfkirmeß. In vielen Gauen hat der eigene Gesang des Volkes langst nicht mehr Stand halten können gegen die wälsche Opernmelodie, welche dem Bauern auf der Parade wie auf allen Tanzböden eingetrichtert wird. In der Kriegsmusik sollten sich alle ächt nationalen Weisen sammeln, alles Volk erhebend und begeisternd; statt dessen schlägt uns diese Musik das deutsche Volkslied vollends todt, damit sich die Lieutenants an Arien und Tanzstücken unter der Fahne erheben und begeistern können, musikalisch träumend von einer Primadonna oder von ihren Tänzerinnen vom letzten Ball. Wenn mancher alte Haudegen von einem General, der zum Glücke unmusikalisch ist, die ganze verkünstelte Militärmusik zum Teufel wünscht, so liegt diesem frommen Wunsche ein sehr richtiger Instinkt, ja ein ganz feiner künstlerischer und soldatischer Takt zu Grunde. Muß denn auch unser nationales Selbstgefühl nicht tief beschämt werden, wenn wir heute oder morgen den Italienern oder Franzosen entgegenrückten, während unsere Musikchöre denselben Kriegsmärsche entgegenbliesen, die aus italienischen oder französischen Opern zusammengestohlen sind?

Aber was sollen wir denn blasen? Das reine Volkslied freilich auch nicht; allein so gut man jegliche Arie marschgerecht verarbeitet, kann man's auch mit den Motiven unzähliger Volkslieder. Man gewinnt dadurch nicht blos nationale Kriegsweisen, sondern man bildet auch den Volksgesang weiter. Denn dieser soll ja nicht stehen bleiben; er soll seine Formen fort und fort reinigen und erneuern, er soll neue Ideen und Figuren von Außen aufnehmen, nur müssen es verwandte und verstandene Ideen und Figuren sein. Darum ist es so heilsam, die ächten Lieder größerer Landstriche zu sammeln und unter dem Volk zu verbreiten: die Leute assimiliren sich dadurch das Fremde und doch Verwandte und erweitern unvermerkt ihren Liederkreis. Vor etlichen Jahren gab Herzog Max von Bayern eine solche Sammlung für das bayerische Hochgebirg heraus; aber einzelne Pfarrer nahmen den Bauern das frische Liederbüchlein weg, wegen etlicher verliebter Verse, als ob die jungen Bursche allesammt gleich ihnen zum Cölibat geschworen hätten. Große musikalische Pädagogen scheinen diese Pfarrer freilich nicht gewesen zu sein.

Als eine leibhaftige Propaganda für die Erweiterung des Liederkreises auf nationalem Boden sollte eben auch unsere Kriegsmusik auftreten. Sie hat dabei weit leichteres Spiel als jene Liederbüchlein, und braucht sich auch keineswegs zu beschränken auf Motive der Volksweise im engeren Sinn. Gerade unsre größten Tonmeister stehen in der sicheren Plastik ihrer gewaltigsten Melodien dem Volkslied so nahe, daß sie hier dem ganzen Volke verständlich sind und auf dessen Gesang befruchtend zurückwirken können. Oder ist so mancher Marsch von Händel und Gluck nicht eine erhabenere, deutschere und volksthümlichere Kriegsmusik, als eine Arie von Donizetti? Und wenn es gar ein Marsch aus einem Händel'schen Oratorium wäre? Hält man den zermalmenden Ernst, der hier wie mit dem Tritt eines Riesen einherschreitet, etwa für unkriegerisch? Ich glaube fast. Denn wir sind ja nur noch gewöhnt, mit Balltänzen und leichtem Opernsang unsre Mannen zur Schlacht zu führen! Aber diese Sitte, welche das Theater und den Tanzsaal überall dem Heere so nahe rückte, stammt eben aus faulen Friedenstagen, wo die Parade wesentlich eine große Volkskomödie im Freien gewesen ist, und der Statistendienst in Oper und Ballet viel wichtiger für die Grenadiere, als der Dienst in der Fronte und auf der Wacht. Alle unsere großen Klassiker bergen zahllose ächt volksthümliche Motive zur Militärmusik. Aber man hält es vielleicht für eine Profanation, aus so hohen Meistern zu schöpfen, und manchem strenggläubigen Musiker schauert wohl gar die Haut, wenn er sich etwa die Themen des Finale's von Beethovens C-moll-Symphonie als Parademarsch und den Götterfunken der Freude aus der neunten als Feldschritt zurechtgeschnitten dächte. Freilich muß unsere Militärmusik arg heruntergekommen sein, wenn es wie eine Profanation aussieht, eine hohe Weise in ihren Formen allem Volke zu verkünden; Andere fürchten, solch hohe Weisen möchten im Munde unsrer Regimentstrompeter und Hautboisten zu Gemeinplätzen abgeblasen werden und ihren aristokratischen Odeur im Concerte verlieren, wie ja auch manche Kapellmeister keine Haydn'schen Symphonien mehr im Concerte aufführen mögen, weil deren Menuette und Adagio's in den Zwischenakten des Drama's trivialisirt werden. Das ist jene Beschränktheit der Musiker, die immer nur ein neues und appartes Stück für vornehm hält, nach der Weise der Schneider und Kattunfabrikanten. Kein Architekt glaubt, der Straßburger Münster verliere an Wirkung, weil tausend mangelhafte Abbildungen seiner Thurmseite umlaufen, kein Maler, Rafael's Bilder würden entwerthet, weil die Schule von Athen in Holzschnitt im Pfennigmagazin steht. Warum leben denn so viele Musiker allein dieses Glaubens? Gerade dann bestehen ja die größten Meister ihre Feuerprobe, daß sie in aller handwerklichen Verarbeitung niemals ganz zu verderben sind, daß ihr Geist niemals ganz auszutreiben ist, sofern nur etliche ächte Grundlinien stehen bleiben.

Wenn man aber mit so leichter Mühe von Außen her verderbend auf die musikalische Erziehung des Volkes wirken kann, sollte es dann so unmöglich sein, mit denselben Kräften fordernd zu wirken? Unnahbar ist ein Ort doch wenigstens nicht, an welchem man Zerstörung übt: aber freilich ist Zerstören leichter als Aufbauen.

Sechster Brief

Geige und Klavier

Wir führen die Jugend zum Studium der Poeten alter und neuer Zeit, nicht, damit sie Verse machen und Gedichte deklamiren lerne, sondern auf daß sie den Geist der Völker und Zeiten erkenne und unterscheide, wie er sich in der Dichtkunst spiegelt. Darum studirt man griechisch um der griechischen Dichter willen, die griechischen Dichter um der gesammten griechischen Cultur willen, griechische, römische und deutsche Cultur aber um der Humanität, um der freien menschlichen Bildung willen, und nennt also das Ganze Humanitätsstudien.

So hoch greift man's beim Musikunterricht noch lange nicht. Wir lassen unsern Kindern das Klavierspielen, Geigen, Singen lehren, an guten und schlechten Mustern; sie können dann mit diesen Fertigkeiten treiben, was ihnen beliebt. Die meisten Musiker wissen sich selber nicht einmal Rechenschaft zu geben über Geschichte und Aesthetik ihrer Kunst: wie sollten sie das Andern beibringen? Wer aber blos spielen kann, der kann eben nichts weiter als – spielen. Spielen ist ein Zeitvertreib und jeder bloße Zeitvertreib macht zuletzt dumm. Ich spreche hier nicht von der Heranbildung junger Künstler, sondern von der allgemeinen Erziehung durch die Kunst. Da hat es dann doch wahrhaftig einen gar kleinen pädagogischen Werth, wenn Einer fingerfertig wird auf dem Klavier oder der Geige; hingegen einen sehr hohen, wenn er es dahin bringt, gute Musik zu verstehen, tüchtig Partitur zu lesen, die Gesetze der Composition zu begreifen und in ihrer Anwendung zu beurtheilen, die Style der verschiedenen Zeiten und Schulen sich einzuprägen und die großen Meister in ihrem historischen Charakterbilde stets leibhaftig vor Augen zu haben. Jenes ist bloßer Musikunterricht; dieses musikalische Erziehung.

Es sind in neuester Zeit eine Menge billiger Partiturausgaben erschienen, und ein unschätzbarer Gewinn ward uns namentlich durch die handlichen Partiturstiche der größten Kammer- und Concertwerke, der Quartette und Symphonien unserer drei großen Instrumentalmeister: Haydn, Mozart und Beethoven. Wie wenig können aber diese nationalen Schätze vorerst benutzt werden, da die große Mehrzahl unserer Musikfreunde und sehr viele Musiker dazu solche Partituren gar nicht zu lesen vermögen oder doch die damit verbundene Geistesarbeit scheuen! Was hilft uns denn all unser endloses Musiciren, wenn es uns nicht einmal befähigt, die edelsten Werke unserer Klassiker im Original und ohne die Eselsbrücke eines Klavierauszugs für uns zu genießen und zu studiren?

Wie das einseitige Haften in der Technik der Fluch unserer gegenwärtigen Musikzustände ist, so auch insbesondere des Musikunterrichts. Die Musik wird ruinirt durch die Musiker. Mit demselben Aufwand an Zeit und Kraft, den wir daran setzen, daß die Schüler die technischen Schwierigkeiten werthloser Tagesmusik überwinden, brächte man sie auch zum Spiel und Verständniß der einfachen Partituren klassischer Meister. Mit solcher Kunst könnten unsere jungen Herren und Damen dann freilich nicht im Salon glänzen, allein es wäre ihnen dafür eine Fülle des reichsten Bildungsstoffes für's ganze Leben erschlossen. Die Faulen und Unbegabten aber, die immer noch erträglich klimpern lernen, schreckten vorweg vor der ernsteren Arbeit zurück und hingen die Musik gleich ganz an den Nagel.

Damit Sie jedoch nicht meinen, ich fordere das Unmögliche, so will ich an einige Züge aus meinen eigenen musikalischen Lehrjahren anknüpfen, wo mich Glück und Zufall auf Umwegen zu denselben Zielen führte, die man geraden Weges und mit Absicht dann doch wohl noch weit sicherer und bequemer wird erreichen können.

Ich lernte frühzeitig die Geige; von dem Klavier dagegen hielt mich mein Vater möglichst lange fern; denn er haßte dieses Instrument als buhlerisch, charakterlos und widerborstig gegen eine strenge Stimmführung, und wenigstens ein Theil seiner Abneigung hat sich auch auf den Sohn vererbt, der das Klavier am liebsten als ein höchst nothwendiges Uebel gelten lassen möchte.

Dagegen war mein Vater ein leidenschaftlicher Quartettspieler, und ein regelmäßiges Streichquartett im Hause sein Stolz und seine Freude. Ich achte es als einen großen Segen für mein ganzes Leben, daß ich so manches Jahr lang, da ich noch gar nicht oder nur ganz dürftig musiciren konnte, dennoch viele hundertmal mit den keuschesten, reinsten und reichsten Weisen Haydn's, Mozart's und Beethoven's in den Schlaf gegeigt worden bin! Denn wenn auch ein Kind so hohe Werke nicht versteht, so ist es doch nicht gleichgültig, ob zuerst Traumbilder himmlischer Schönheit oder verzerrter und seichter Manier vor unserer Seele dämmern.

Genug, ich lernte zu jenen großen Meistern wie zu den treuesten väterlichsten Freunden aufblicken, noch ehe ich sie verstand, und sie wurden mir schon sehr frühe eine Autorität, ein Heiligthum, woran mir Keiner tasten durfte.

Es ist hier nicht meine Sache, nachzuweisen, wie man geigen lernt. Technische Schule macht man an Schulstücken und nicht an Tondichtungen. Aber wer die Scalen geigt etwa mit jener geistvoll contrapunktirten Begleitung, welche Cherubini für die Violinschule des Pariser Conservatoriums geschrieben hat, wer also schon beim bloßen Handwerksstudium klassische Luft athmet, dem ist damit von Anbeginn die Lehre gegeben, über dem Handwerk niemals die Kunst zu vergessen.

Deutsche und italienische Meister der klassischen Periode bieten unendlichen Stoff zu guten Schulstücken; man muß sich nur die Mühe nehmen, die einfachsten, edelsten und charaktervollsten Weisen für diesen Zweck auszuziehen und zu bearbeiten. Viele Tondichter zweiten und dritten Ranges, aber aus guter Zeit, bergen, obgleich im Ganzen veraltet, im Einzelnen oft gerade die köstlichsten Perlen für diesen Zweck. Welcher Violinlehrer und welcher Klavierlehrer gewinnt den Ruhm, handgerechte kurze Schulstücke herzurichten aus den Werken Händel's, Bach's und seiner Söhne, Scarlatti's, Leo's, Durante's, Pergolese's, Vesozzi's, Hasse's, Benda's, Gluck's, der großen Wiener Meister und ihres reichen Schülerkreises? Uebungsstücke, bloß für den Schulzweck erfunden, sind immer todt und entzünden lein Leben, und ein Mann, der, wie Bach, Klavierübungen schreibt, die trotzdem unvergängliche Kunstwerke, ist vielleicht in der ganzen Kunstgeschichte nicht zum zweitenmale dagewesen.

Wie man für die Schulen Anthologien aus den klassischen Dichtern macht, so mache ich sie auch aus den klassischen Musikern: dies wäre ein Grundstein zum historischen Studium der Musik. Auch bei der bloßen Fingerübung wird sich dann der Schüler unvermerkt schon einleben in einen edeln und reinen Styl; er wird nicht blos Musik spielen, sondern auch Musik verstehen lernen.

Für diesen ganzen Gang einer historischen Erziehung ist aber die Wahl des Instrumentes entscheidend, woran man das Handwerkliche des Spielens sich aneignet. Die Lieblingsinstrumente der Dilettanten bezeichneten zu jeder Zeit den Geist der Epoche. In den Tagen des schnörkelhaften Rococo plagten sich die Liebhaber mit der eigensinnigen, complicirten Laute, mit der überladenen Viole d'amour, überhaupt mit tonschwachen, ein ewiges Harpeggio begünstigenden Saiteninstrumenten. In der klassischen Periode kam dagegen bei den Musikfreunden die Geige obenauf, dieses wunderbare Instrument, welches darum das ausdrucksfähigste ist, weil es das einfachste, das Instrument, welches allezeit verdorben wurde, wenn man es durch äußere Zuthat verbessern wollte, das Instrument, welchem man vor allen Seele zuschreibt, während es geistlos angefaßt das trockenste Holz bleibt – lauter Züge, die von der klassischen Musik ebensogut, wie von der Geige gelten. Zur Zeit der sentimentalen romantischen Epigonen dagegen siegte die weiche Flöte, die Harfe, die Guitarre, schwächliche Instrumente einseitigen Charakters, die mit Maß und dienend bezaubern können, im Unmaß aber und herrschend langweilen. Gegenwärtig beugt sich der Dilettantismus dem encyklopädischen aber charakterlosen Klavier, dem rechten Tonwerkzeuge einer Kunst-Aera, die Alles versuchen und reproduciren will, wobei ihr dann die Originalität des Schaffens naturgemäß verloren geht. Sehr charakteristisch nennt man das Klavier jetzt häufig schlechtweg »das Instrument,« wie man in den alten Tagen der absoluten Kirchenmusik die Orgel schlechtweg das Instrument, Organon, nannte.

Eine ordentliche musikalische Erziehung heischt das Studium zweier Instrumente: zuerst der Geige und später des Klaviers. Sie meinen wohl, dies sei zu viel? Allerdings zu viel, wenn man zum bloßen Amüsement musiciren, oder Virtuosität auf einem Instrumente gewinnen will. Aber diese beiden Zwecke widersprechen an sich schon einer guten Musikbildung. Ich begehre nur eine mäßige Technik: denn sie genügt, um uns nicht zwar die vollendete Wiedergabe, wohl aber das volle Verständnis; aller wahren Meisterwerke zu erschließen. Bekanntlich gebieten selbst viele unserer berühmtesten Kapellmeister und Componisten nur über solch eine mäßige Spiel-Technik und sind darum doch in viel tieferem Sinne Musiker, als die glänzendsten Virtuosen. Ja man sagt wohl gar sprüchwörtlich: er spielt so schlecht wie ein Kapellmeister. Wem es aber zu sauer dünkt, die zwei Hauptinstrumente auch nur mäßig zu erlernen, der soll eben seinen Bildungsstoff anderswo, als in der Musik suchen. Denn wenn ich sage, es werde dermalen zu viel musicirt, so meine ich nicht, daß die Berufenen weniger, sondern daß weniger Unberufene musiciren sollen. Sie sehen übrigens, daß ich nur an junge Männer und nicht an die Frauen denke, für welche man ganz andere Briefe über musikalische Erziehung schreiben müßte.

Die Geige führt uns zunächst zu den älteren Klassikern! das Klavier wird – trotz Bach – immer mehr bei der modernen Zeit anknüpfen. Unsere klassischen Instrumentalmeister haben ihre originalsten Formen und Weisen im Geiste der Geige ersonnen, sie haben sogar häufig ihren Satz unbewußt für die Geige gedacht, wenn sie für das Klavier schrieben: sie componirten aus dem Streichquartett heraus, wie etwa Cornelius aus der Zeichnung heraus malt, die alten Venetianer dagegen aus der Farbe. Bei Beethoven beginnt der Uebergang zur modernen Art, die zunächst am Klavier und für das Klavier musikalisch denkt und nur allzuoft die ächte Klavierphrase auch auf Quartett, Orchester und Gesang überträgt. Die Schubert'schen Quartette z. B. sind doch eigentlich nur großartige Klavierphantasien für Streichinstrumente bearbeitet, während mancher Haydn'sche Klaviersatz umgekehrt das reine Streichduett ist. So würde Bach der menschlichen Stimme nicht so abenteuerliche Dinge zumuthen, wenn er nicht aus der Orgel heraus componirt hätte. Um Mozart vollauf zu würdigen, muß man Sänger und Geiger sein; um Haydn, ein Geiger; der bloße Klavierspieler wird diese Meister immer zu gering schätzen; denn wo sie für das Klavier mitunter nur in Formen spielten, die der Zeit verfallen, da enthüllen sie im Quartett und der Symphonie ihre eigensten unsterblichen Gedanken. Zum Verständnis der modernen Musik muß man dagegen Klavier spielen. Eine Mendelssohn'sche Symphonie läßt sich ganz wirkungsreich im Klavierauszuge geben: das einfachste Haydn'sche Quartett dagegen kann man so wenig in die Sprache des Klaviers übersetzen, wie den Homer in's Französische. Wer aber Beethoven, den großen Vermittler beider Extreme, vollauf würdigen will, der muß Klavier spielen und geigen können.

Die Geige weckt die Sehnsucht nach dem Partiturstudium; das Klavier erfüllt sie; die Geige lehrt uns die melodischen Formen in ihrer reinsten Plastik durchempfinden; das Klavier verbindet sie. Daher entsetzt sich der Geiger vor blos modulatorischen Effekten, die nicht in scharfer melodischer und contrapunktirter Gestaltung durchgearbeitet sind. Das Geigenspiel ist ein sicheres Gegengift wider die formlose, narkotische Modulationsmusik der Wagner'schen Schule. Dergleichen Dinge kann man nur am Klavier aussinnen. Dazu heischt die Geige von Anbeginn eine unendlich müheseligere Zucht der Schule als das Klavier, und ihre spröde Technik schreckt den talentlosen Schüler sofort zurück, indeß das Klavier für den Spieler die Töne selber bildet und Musik macht und so nicht selten die unberufensten Leute verlockt, ihr Leben lang zu ihrer eigenen Verdummung an den verzauberten Tasten fortzuklimpern. Das Klavierspiel konnte eine Modeseuche werden, das Geigen wird es niemals.

Siebenter Brief

Historische Studien

Ich kehre zu meinem eigenen musikalischen Entwickelungsgange zurück.

Die Geige wird erst im Zusammenspiel vollauf lebendig. Im Quartett oder Trio eine leichte zweite Stimme mitspielen zu dürfen, ward für mich allmählig der höchste Lohn meiner Studien. Nichts reizt aber mehr, in den innern Bau eines Tonwertes zu blicken, als wenn man fleißig Mittelstimmen spielt. Man lernt da Partitur hören, während der erste Geiger häufig nur sich selber hört. Partiturhören ist aber die erste Vorstufe zum Partiturlesen. So zeigt das Quartettspiel dem Schüler lockende Geheimnisse in der Ferne, während das Klavier diese Geheimnisse gleich sichtbar darlegt und darum unendlich weniger das Nachdenken reizt.

Genug, ich begann durch das Quartett meine Schule mitten aus dem Centrum der absoluten Musik heraus und dachte mir, wer alle Quartette Haydn's, Mozart's und Beethoven's spielen könne, der sei ein ganzer Geiger, und wer sie alle verstehe und in dem Wie und Warum jeglichen Tongefüges beurtheilen könne, der sei ein ganzer Musiker. Und man brauche da nicht weiter zu fragen, wer sein Lehrmeister in der Tonkunst gewesen, denn er sei eben selber ein Meister.

Dieses Grunddogma erweiterte sich mir später zwar, im Wesen aber blieb es dennoch stehen und fest ruhete auf ihm all' meine entwickeltere musikalische Erkenntniß.

In dem Musikzimmer des väterlichen Hauses war eine an historischen Seltenheiten reiche musikalische Bibliothek aufgestellt; doch durfte ich mich anfangs nur verstohlen in die alten Notenbücher einwühlen und meinen Heißhunger nach neuen Meistern und Werken stillen.

Zuerst war es eine Händel'sche Partitur, die mich fesselte, und zwar eine Händel'sche Oper. Es war die erste Opernpartitur, die ich in meinem Leben zu Gesicht bekam. Wie imponirte mir die magere Instrumentirung, die bei seltenen Effektstellen höchstens noch ein paar Oboen und Hörner zu dem Streichquartette fügt! Im Geiste klang mir eine Fülle und Kraft aus dem armen Händel'schen Orchester heraus, wie sie etwa unsere Urgroßväter herausgehört haben mögen, wie sie aber das moderne Ohr so leicht nicht mehr in diesen einfachen Tonreihen finden wird. Ich war bestrickt von der heimlich studirten Händel'schen Oper, wie andere junge Leute von einem heimlich gelesenen Roman. Freilich widerstrebte anfangs die spröde, fremde Form des alten Werkes. Allein, wenn uns das Alte noch neu ist, übt es dann nicht denselben Reiz der Neuheit wie das Neueste? Zudem lebte ich des Glaubens, daß nicht Händel, sondern daß nur ich ein Esel sei, wenn mir seine Musik schlecht klinge und bemühte mich darum redlich, Sinn und Ausdruck in die verschnörkelten Rococo-Arien zu bringen. Diese ästhetische Gewissensangst trug gute Frucht. Ich lernte unterscheiden zwischen dem äußern vergänglichen Schmuck und dem dauernden Kern eines Kunstwerkes; ich lernte meinen eigenen unreifen Geschmack beugen vor den herben Formen eines großen Meisters. Schon um dieser Selbstbezwingung frühreifer Naseweisheit willen kann man die Jugend nicht zeitig genug zu jenen Kunstwerken führen, die innerlich ewig lebendig, aber doch in ihrem äußeren Glänze längst verblichen sind. Händel's gewaltigen Geist habe ich doch herausgeahnt aus den Schnörkel-Arien seines Ulyß und Agamemnon, und als ich später die Oratorien kennen lernte, war meine Freude nicht gering, so ganz denselben Charakter hier gestalten und walten zu sehen, nur heldenhafter noch und deutscher und, wenn das nicht zu kühn klingt, sittlich erhabener in Ziel und Form seines Schaffens. Ich versöhnte mich mit dem Gedanken, daß auch der Genius seinen Zoll der wandelnden Mode zahlen muß, ohne daß er darum aufhört, für alle Zeiten zu dichten; aber mich faßte auch von da an ein Grimm gegen jene Musiker, welche überall am Handwerk kleben bleiben und meinen, Bach sei veraltet, weil er so starr contrapunktirt, Gluck's und Händel's Instrumentation müsse mit dicken neuen Farben aufgefrischt und übermalt werden, wenn sie dem modernen vergröberten Ohr wieder genießbar werden solle; Haydn's Symphonien seien Zopf, weil er die Hörner und Trompeten doch in gar zu schlichten Naturtönen blasen lasse.

Uebrigens liegt auf der Hand, daß ich mich als ein Geiger, der kaum ein wenig Klavier zu klimpern begann, mit dem Studium meiner Händel'schen Partitur weidlich plagen mußte. Da wurden die Quartettstimmen der Ouvertüre, Zwischenakte und Chöre ausgeschrieben und unter Freuden gegeigt, und je mehr man diese wunderliche Musik belächelte, um so eifriger suchte ich sie zu verstehen, zu erläutern, zu vertheidigen. Die einfachsten Arien, blos von einer unbezifferten Baßstimme begleitet, wurden wohl auch gesungen, indem ich dieses ganze Orchester auf dem Violoncell selber dazu spielte, und ich empfand dabei den Reiz eines sicher contrapunktirten, in großartiger Einfalt angelegten zweistimmigen Satzes tiefer, als wenn ich die Begleitung vollgriffig in einem ergänzten Klavierauszug gespielt hätte. Aber ich erkannte doch auch die Nothwendigkeit Klavier zu lernen, dessen fruchtbarster Beruf als Werkzeug bequemen Selbststudiums der gesammten Musik mir jetzt erst hell einleuchtete.

Die klassischen Meister des Streichquartetts waren mir entgegengeführt worden, meinen Händel dagegen hatte ich mir selber errungen und zwar in einer Zeit, wo ich nach dem hergebrachten Gange des damaligen Musikunterrichtes wahrscheinlich noch mit den Récréatiions musicales von Herz, Rondos von Hünten und andern nach neuestem Pariser Muster lackirten Unterhaltungsstücken »erzogen« worden wäre. Wie frisch und neu muthete mich später die Sprache der Händel'schen Oratorien an, weil ich vorher gelernt hatte, auch in den veralteten italienischen Opernarien den deutschen Geist des Meisters zu erkennen! Zugleich war mir aber auch der Sinn für die einfache Großheit der alten Italiener erschlossen. Wenn ich von da an Händel's Lob hörte, dann lauschte ich ihm begieriger, als hörte ich mein eigen Lob; denn er war ja ein Jugendfreund, den ich mir selber früh gewonnen hatte. Seine fest und stätig in kühnen Schritten vorschreitenden Bässe, die seiner Rhythmik vor allen andern Meistern den königlich gemessenen Schwung geben, sind mir tief in die Seele gegangen, und in mancher Lebenslage kam es mir schon vor, als müsse ich selber jetzt fest vorschreiten, wie ein in Octavengängen einherdröhnender Händel'scher Grundbaß. Der mannhafte Ernst dieser Musik wächst hinein in den Charakter dessen, der sie mit Hingabe studirt; darum soll, wer ein rechter Mann werden will, seine historischen Musikstudien mit Händel anheben.

Nun möchte ich die bisher beschriebenen Anfänge meiner musikalischen Erziehung wahrlich nicht im Einzelnen zum Muster aufstellen. Im Ganzen aber halte ich folgende Hauptzüge fest:

Man lerne zuerst geigen und nachher das Klavier.

Der Geiger suche sich durch das Quartett zunächst im Centrum der absoluten Musik festzusetzen. Leicht wird er von da den Weg finden zu jedem andern Zweige seiner Kunst.

Hat er solchergestalt in der klassischen Zeit festen Fuß gefaßt, dann gehe er zur vorklassischen, die er jedoch ohne das Klavier viel weniger als jene wird bewältigen können. Doch soll man sich hier mit dem Lesen der einfachsten Partituren plagen, bevor man sich's am Klavierauszuge bequem macht. Je mehr Einer mit sauerm Fleiß und gebührender Selbstverleugnung sich hineingearbeitet hat in die spröden, fremden, veralteten Formen der vormozartischen Periode, um so stärker ist er gewappnet gegen den Zauber jener glatten Formspielerei, die sich in unserer Zeit für Musik ausgibt.

Es ist eine alte tiefe Weisheit, daß wir die Jugend zunächst durch das mühselige Studium der nach Stoff und Form uns ferneliegenden altdeutschen, griechischen und römischen Dichter vorbereiten zum Verständnis des modernen Geistes. Kann man dort mit Homer und den Nibelungen beginnen, dann kann man es in der Musik noch viel leichter mit Händel und Haydn. Hier fährt man aber flugs mit den neuesten Opern- und Tanzstückchen darein, wenn der Schüler eben noch am A B C sitzt, ja man ahnt gar nichts Arges, wenn das Gemüth eines Kindes vergiftet wird mit üppiger, lüsterner, koketter Musik, die etwa für einen Pariser Salon ober die Hefe des großstädtischen Theaterpöbels ersonnen ist; man bearbeitet solche Musik zum Schulgebrauch und schneidet Lehrstücke für zwölfjährige Kinder aus Tänzen, nach welchen das Ballet der großen Oper tanzt! In einem Nonnenkloster von strenger Regel, welches eine Erziehungsanstalt für junge Mädchen besitzt, hörte ich unlängst Proben des Musikunterrichts. Ein fünfzehnjähriges Kind sang eine mit cadenzirten Seufzern, Trillern und ähnlichen Rührungsschüttlern durchwebte Arie, deren Styl so etwa die Mitte hielt zwischen Meyerbeer und Verdi, und die Nonne ließ die verminderten Septimenaccorde der Begleitung im Tremolando durch das Klavier brausen, daß der Contrast dieser weltlich lüsternen, dämonisch leidenschaftsvollen Musik und des weltentsagenden Gesichtes und Gewandes der Spielerin und der kindlichen Unschuld der Sängerin mir durch Mark und Bein ging. Statt des Operntextes war aber – eine Hymne an die Madonna unterlegt! Als ob hier die Musik nicht viel giftiger wäre, denn der Text! Die Madonna hatte man arglos als Primadonna costümirt. In vielen Klosterschulen soll derselbe schneidende Widerspruch zwischen der musikalischen und sonstigen Erziehung gangbar sein seit alten Tagen, und ich besitze selber die Partitur einer Oper von Jomelli aus der Bibliothek eines aufgehobenen Klosters, in welcher die alten Mönche die erhabensten Stellen des Meßtextes den süßesten schäferlichen Liebesarien unterlegt haben. Aber man muß nicht meinen, dieser Widersinn existire blos im Kloster: er existirt offen und verhüllt im Musiktreiben der ganzen gebildeten Welt. Es macht keine wälsche Oper Glück, so laufen auch flugs ihre Weisen in handgerechtem Auszug durch alle Lehrstunden, wahrend es Niemand an der Zeit hält, die strengen, ernsten, den Geist stählenden und zur wirklichen Arbeit zwingenden Werke der alten Meister nach einem umfassenden Plane für die Lehre zu bearbeiten. Hier kann ein musikalischer Pädagog noch als ein Reformator auftreten. Er würde nicht lange einsam stehen. Die Gebildeten würden ihm zufallen, die Leute, welche längst schon den sittenverderbenden Einfluß unsers dilettantischen Musiktreibens wahrgenommen haben, ohne sich über den Grund dieser Thatsache klar zu werden, die Leute, welche es darum jetzt schon vielfach vorziehen, ihre Kinder ohne Musik auszubilden, als sie mit der Musik in geisttödtender Spielerei tausend unersetzliche Stunden verträumen zu lassen.

Achter Brief

Das subjektive Pathos

Sie finden einen noch unausgesprochenen Hintergedanken darin, daß ich blos die guten alten und nicht auch die guten modernen Meister für die Schule empfehle und meinen, es sei nicht blos die einfachere Form, sondern auch die Kühle der Empfindung, die Leidenschaftlosigkeit, das Maßhalten im subjektiven Pathos, um deßwillen ich Jene pädagogisch um so viel höher stelle. Ganz gewiß; – wenn man diese Worte recht versteht. Aber es fleckt mir nicht recht, mit einem Politiker von Empfindung und Leidenschaft zu reden; weit besser gelang es mir jüngst, da ich über dieses Thema an eine Dame schrieb. Gestatten Sie, daß ich Ihnen als einem Diplomaten, der zwischen den Zeilen zu lesen weiß, das Concept jenes Briefes kurzweg abschreiben lasse. Es lautet wie folgt:

»Liebe Freundin!

»Ich bin eine leidenschaftlose Natur, im Leben wie in der Kunst« – so ungefähr sprachen Sie: – »ich weiß, daß ich warm und begeistert zu singen vermag: aber jene Leidenschaft des Vortrags finde ich nicht, die uns bei andern Sängerinnen aus jeder Note entgegenzittert, gleich als hätten sie ihre ganze Seele selbst in jeden Auftakt und in jeden Schlußschnörkel gegossen. Das Concert liegt mir darum weit näher als die Bühne. Es gibt Menschen wie Lieder, bei welchen jeglicher Ton accentuirt ist. Jene verstehe ich nicht, diese mag ich nicht singen. Erwärmt und begeistert habe ich mich schon für manches geliebte und verehrte Menschenherz; leidenschaftlich hingegeben jedoch an keines. Die Schule der Kunst wie des Lebens waren mir vor Allem ein steter Kampf wider die Leidenschaft. Wo nur ein Triebreis derselben aufschoß, da hab' ich es, wie die Gärtner sagen, zurückgeschnitten, und wenn ich einer Freundin recht nahe kam, dann zwang ich sie das Gleiche zu thun.« – –

So ungefähr sprachen Sie, als wir gestern Abend am Ufer des Sees lustwandelten, und auf jeden Ihrer Sätze zuckte in mir Antwort und Widerspruch: da wurden wir durch den fröhlichen Schwarm unserer Freunde unterbrochen, und ich mußte meinen ganzen Krieg gegen Ihre Ketzereien stille in mir selbst auskämpfen und kam nicht mehr zum Wort. Aber ich will die Sache los werden, die mich ernsthaft in Harnisch gebracht hat; darum gebe ich Ihnen meine Antwort schwarz auf weiß zum weiteren Bedenken, bis wir uns wiedersehen.

Sie behaupten in Einem Athem leidenschaftlos zu sein und – fort und fort jeden Sprößling von Leidenschaft, der in Ihnen aufwuchere, zurückzuschneiden. Das ist ein Widerspruch; denn wer gegen seine Leidenschaft kämpft, ist eben darum nicht leidenschaftlos. Eher umgekehrt: wer sich selber zur Leidenschaft anreizt.

Ich stand einmal zwischen den Coulissen, als eine gefeierte ächt moderne Sängerin sich eben anschickte, die hochdramatische Scene im vierten Akt von Meyerbeer's Hugenotten zu singen. Sie zerzauste ihr wild herabhängendes Haar, welches der Friseur doch schon so kunstreich zerzaust hatte, noch viel kunstreicher, stürzte auf mich zu, rief: »Aufregung, recht viel Aufregung! Leidenschaft, wüthende Leidenschaft!« wüthete sich durch Worte des Affektes in den Affekt, flog dann auf die Bühne und sang die Scene mit einer solchen Gewaltthat des entfesselten Pathos, daß der gesammte Kunstpöbel ihren Gefühlssturm durch seinen Beifallssturm noch überstürmte. Von Stund' an erkannte ich, daß diese gepriesene Meisterin der Dramatik eigentlich eine rechte todte, leidenschaftlose Natur sei, die sich mit Gewalt den Affekt von Außen holen mußte, den sie nicht in sich selber fand. Sie war mir damit freilich eine vollendete Repräsentantin Meyerbeer'scher Musik und zugleich jener musikalischen »Leidenschaft« im modernen Sinne, deren Nichtvorhandensein bei unsern Klassikern man jetzt so schlechthin für Trockenheit und Philisterei zu erklären pflegt.

Verfolge ich dagegen, wie Sie Gluck und Mozart singen, so erscheint mir ein ganz anderes Bild. Je größer die Aufgabe, um so gesammelter und ruhiger sind Sie vorher, nämlich nicht bewegungslos, sondern Ihre Bewegung niederkämpfend, um so maßvoller beginnen Sie, und je mehr Sie die Leidenschaft äußerlich zurückdrängen, um so ergreifender lassen Sie uns ahnen, wie tief Sie von derselben inwendig bewegt werden. So machten es auch jene klassischen Meister, selbst wenn ihre Weisen wie im Sturme des wogenden Menschenherzens einherbrausen sollten. Denn die moderne Musik scheint meist leidenschaftlich ohne es zu sein; die klassische aber ist leidenschaftlich ohne es zu scheinen.

Wir streiten uns also blos um ein Wort, nicht um die Sache, – um das Wort »Leidenschaft.«

So lange die wärmste Empfindung, das reichste Gefühlsleben unterthan bleibt dem abwägenden und zergliedernden Verstände, ist es nicht Leidenschaft. Diese erwächst erst, wenn unser Gefühl auf Einen Punkt gesammelt, nach Einem Ziele ringend, übermächtig wird und unsern ganzen inwendigen Menschen packt und mit sich fortreißt nach jenem Ziel. Also wäre Leidenschaft eine einseitige Aktion unsers Geistes? und jeder einseitig webende Organismus ist unharmonisch, ist krankhaft. Leidenschaft ist ein Leiden, eine Passivität der höheren Geisteskräfte unter dem Joche der niederen! So urtheilen Sie. Ich aber will Sie wiederum zu unsern musikalischen Klassikern führen, um Ihnen zu beweisen, daß Ihr Urtheil noch viel einseitiger ist als Ihr Gespenst der Leidenschaft.

Wenn der Musiker, leidenschaftlich erregt, ein Thema erfaßt, welches vielleicht selbst wieder die volle Gluth einer Leidenschaft malen soll, dann wird er in der That weniger noch als andere Künstler dem verständigen Nachdenken Raum geben. Aber wird er darum unharmonisch, krankhaft, sinnlos componiren? Vielleicht; nämlich wenn er zum Künstler nicht geboren ist. Denn zum Künstler geboren sein heißt: niemals verständig schaffen können, und aber eben darum niemals unverständig. Man sagt, der geborene Künstler folgt seinem Genius. Dieser Genius aber ist das Gesammtbewußtsein unserer sittlichen, intellektuellen und ästhetischen Persönlichkeit, welches uns als ein himmlischer Schutzgeist gerade dann am richtigsten führt, wenn uns die Leidenschaft des Schaffens gar nicht mehr zum verständig zergliedernden Nachdenken kommen läßt. Der Stümper componirt krankhaft, incorrect, formlos indem er leidenschaftlich componirt; der klassische Meister dagegen, der Mann des Genius, setzt niemals correcter und formvollendeter, als wenn er sich zur höchsten Leidenschaft aufgeschwungen hat. Gleich dem Nachtwandler geht er im Mondlicht und Sternenschein sicher auf schmaler Kante mit geschlossenem Auge, und nur wenn ihm der altkluge Verstand plötzlich ein brennendes Talglicht unter die Nase hält, fällt er herunter. Darum weiß er oft nicht, warum er so und nicht anders schafft, und gibt doch den Gelehrten die herrlichsten Thesen auf, woran sie später nachweisen, daß und warum er so und nicht anders habe schaffen müssen. Verstehen Sie nun mein Paradoxon, daß der geborene Künstler niemals verständig schaffen könne und doch eben darum niemals unverständig?

Dies aber ist das Befruchtende des Studiums aller ächt classischen Kunstwerke, daß in ihnen der Conflikt zwischen Leidenschaft und Verstand geschlichtet erscheint durch den Genius, daß Maß und Ruhe in ihnen das Produkt der tiefsten Bewegung ist, daß sie uns leidenschaftlos bedünken, wenn wir sie zum erstenmale sehen, aber mehr und mehr der gewaltigsten Leidenschaft voll, je tiefer wir ihnen in's Herz schauen.

Unter allen Ihren Sätzen lasse ich nur den Einen gelten, welcher die Leidenschaft in der Kunst und im Leben vollständig gleich stellt. Auch im Leben ist nur die baare Mittelmäßigkeit leidenschaftlos – ein neuer Beweis, daß Sie es nicht sein können. Wem aber jenes harmonische Gesammtbewußtsein fehlt, welches uns in allem Sturm der Leidenschaft vor dem Unvernünftigen und Unsittlichen bewahrt, jener Genius, der uns zwar manchen tollen Streich, aber niemals einen dummen und schlechten thun läßt, der ist überhaupt nichts besseres werth, als daß er an seiner Leidenschaft zu Grunde gehe. Dieser Genius aber ist nicht blos angeboren, er ist zugleich ein Produkt unsers ganzen Lebens, und es ist ein böser Aberglaube, als ob uns der Genius der Kunst blos so im Schlafe gegeben werde; denn wer sich das göttliche Geschenk nicht fort und fort verdient, dem geht es auch wieder im Schlafe verloren.

Wenn aber unser sittliches Pathos aus gleicher Wurzel sproßt mit dem künstlerischen, wie mächtig muß dann auch der Einfluß unserer künstlerischen Erziehung auf unsre sittliche sein! Sie haben das an sich selbst erfahren. Im steten Umgang mit jenen großen Tonmeistern, die gerade in der Bändigung ihrer Leidenschaft zeigen, wie tief diese Leidenschaft und aber auch wie göttlich ihr Genius sei, gewannen Sie unbewußt jenes Maß der sittlichen Haltung, welches Ihnen fälschlich Mangel an Leidenschaft dünkt. Ihre Kunstgenossen gaben Ihnen darum den Spottnamen »Iphigenia.« Lassen Sie sich denselben gefallen; er ist ein Ehrenname, bei welchem zwei unsrer größten Geister, Gluck und Goethe, Gevatter gestanden. »Sage mir mit wem du umgehst, auf daß ich dir sage wer du bist.« Glauben Sie, das gelte blos von unserm Umgange mit Menschen? Wahrlich es gilt eben so gut von unserm Verkehr mit Kunstwerken, der doch oft so viel treuer und gründlicher ist, als das flüchtige Vorbeistreifen an hundert Eintags-Freunden.

Jeder jungen Dame würde ich's übel nehmen, wenn sie mir von ihrer leidenschaftlosen Natur spräche, nur einer Tonkünstlerin nicht. Denn unsere modernen Musiker, bei welchen »jeglicher Ton accentuirt« ist, treiben einen solchen Unfug mit dem Scheine der Leidenschaft, daß es hier fast wie ein Zeichen der höheren Bildung erscheint, sich mit dem Scheine der Leidenschaftlosigkeit zu schmücken. So erstand denn eine neue Ketzerei, vor welcher ich Sie doppelt warnen möchte. Viele treffliche Männer glauben jetzt den rechten Geist unserer klassischen Tonmeister erfaßt zu haben, wenn sie dieselben so ruhig und gelassen vortragen, als seien es ganz leidenschaftlose Philister gewesen, wenn sie Bach, den ureigenen aber auch ureigensinnigen Mann, so zahm und zierlich spielen wie eine bloße Fingerübung, wenn sie Gluck so steif im Tempo singen, als ob der stürmische Pulsschlag des großen Dramatikers nach dem Metronom gepocht habe, wenn sie Haydn's übermüthig frische, kecke Weisen so unfrei und accentlos wiedergeben, als seien sie für eine Spieluhr gesetzt.

Zwischen diesen Extremen treiben wir uns umher: hölzerne Klassicität, form- und fessellose Romantik und eine absterbende moderne Kunst, die uns gleich einer alternden Kokette in jeder Note zeigen will, wie glühend und jung noch ihre Leidenschaft sei.

Preisen Sie sich glücklich, daß Sie im unbefangenen steten Umgang mit unsern größten Meistern der Scylla wie der Charybdis entronnen sind und ergriffen von einer Leidenschaft, die Sie nicht suchen, und die nur um so gesunder sproßt, je mehr Sie ihre Schößlinge zurückgeschnitten haben.«

Neunter Brief

Musikalische Architektonik

Ich nehme die Skizze meines musikalischen Selbstunterrichtes wieder auf.

Die Händel'sche Oper führte mich zu den Italienern jener Zeit. Eine reiche Auswahl weltlicher Cantaten und Arien von Astorga, Durante, Traetta, Nicolo Porpora, Stefano di Spiga u. A. ward zu enträthseln versucht. Darunter war freilich manche Mumie, der ich vergebens den Odem des Lebens wieder einzublasen strebte. Aber der Bau namentlich der Solocantaten ward mir lehrreich. Ich erkannte, daß sie nichts als Sonaten für die Singstimme seien, in welchen die kargen Textesworte nur die allgemeine Stimmung gaben, im übrigen sich aber durchaus der hergebrachten Architektur des Tonstückes fügen mußten. Diese Cantaten führten mich darum zu den Sonaten und Geigen-Trios der gleichzeitigen Italiener. Ich meine nicht die Virtuosenstücke eines Tartini oder gar die geistlosen Schnörkeleien eines Pugnani, sondern jene schlichten Sätze eines Besozzi, die gleich Ottavio Pitoni's Messen so oft wie der letzte Nachklang des strengen Palestrinastyles in das achtzehnte Jahrhundert hinein tönen. Sie stehen den Quartetten unserer drei großen Klassiker dieses Styles gegenüber wie die Basilika dem gothischen Dom. Und wie es zu den sinnigsten und lehrreichsten Aufgaben der Kunstgeschichte gehört, dem Schüler das Hervorwachsen der Gothik aus dem romanischen Bau und der Basilika in seiner inneren Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit darzulegen, so auch das stätige Wachsen und Reifen der Sonate durch das ganze achtzehnte Jahrhundert. Wie sehr können doch unsre Musiker von den Architekten noch lernen, daß ein solcher Rückblick zu den Anfängen ihr eigenes Componiren läutert und befruchtet. Einem berühmten Tonsetzer, dem anerkannten Leiter einer Musikschule, legte ich die Trios von Besozzi einmal vor, und er war erstaunt über den ächten Geigeneffekt des Satzes, der mit den einfachsten Strichen das Eigenste aus der Natur des Instrumentes hervorzieht, und bat mich um eine Abschrift dieser Werke für – seine Violinschüler. Hätte er mich um eine Abschrift für sich selbst gebeten, damit er daran componiren lerne, so würde ich sie ihm mit Freuden gegeben haben.

Ein Cursus, welcher die Architektonik der Sonate, als der höchsten instrumentalen Form, von den kleinsten altitalienischen Tonstücken dieser Art, von den bescheidensten Suiten bis zur Beethoven'schen Sonate an Beispielen kennen lehrt, würde den Sinn für musikalische Logik, für gerechte Maße und Formen schärfen, Ordnung in die musikalische Phantasie bringen und ein Verständnis; für diese Kunstgattung erzeugen, wie es jetzt nur wenige Fachmänner besitzen. Man glaubt Wunder was gethan zu haben, wenn der Schüler planlos etliche Sonaten von Mozart und Beethoven spielt, und nennt das schon einen besonders klassischen Unterricht. Aber wer nicht die Anfänge der Sonate bei den Italienern und in den Suiten kennt, wer nicht ihre Fortbildung etwa bei den Söhnen Bach's, bei Benda und in der früheren Epoche Haydn's verfolgt und so stufenweise das Werden dieses Wunderbaues erfaßt, der kennt auch die Sonate nicht. Es wäre eine herrliche Aufgabe für einen reformatorischen Mann unter den Musikern: ein Sonatenwerk zur Lehre herauszugeben, ich meine ein Werk, in welchem das ganze Wachsthum der Sonate durch schlagende Muster und kritischen Text anschaulich gemacht ist, ein Werk, in welchem der Schüler die Geschichte der Sonate durchspielen und durchstudiren könnte. Viele der kleinern alten Meister zeigen übrigens die Genesis der Sonatenform weit anschaulicher als die großen Zeitgenossen; denn der Genius eisten Ranges nimmt sich überall Freiheiten heraus, die jedem Andern den Hals brechen würden, und wer nicht zu vergessenen Werken hinabsteigt, dem muß die Geschichte der Sonate stets lückenhaft bleiben.

Die italienischen Cantaten und Sonaten führten mich zur Hasse'schen Oper, deren einfach schöner, oft auch erhabener Gesang bei dem durchsichtigen, sparsamen Orchester ein Musterbild der Kunst gibt, wie man viel sagt mit wenig Worten. Dies unterscheidet überhaupt so manchen alten Meister von so manchem neuen, daß jene wenig Mittel aufbieten um viel, diese viele Mittel um wenig zu sagen. Dem Schüler aber, der gewonnen werden soll für eine einfach große, maßvolle Kunst, kann man solche Componisten, die sich in ihren Mitteln geflissentlich bescheideten, nicht fleißig genug vorführen. In diesem Sinne zählt Hasse zu den lehrreichsten Meistern seines Jahrhunderts.

Wenn einmal ein neuer Componist ersteht, der es wieder wagt, einfach zu werden, die Kunstgriffe einer üppigen Technik zu verschmähen, sparsam im Colorit, desto größer, reiner und gedankenvoller aber in der Zeichnung, dann wird ein ächter Reformator unserer entarteten Tonkunst gekommen sein. Die drei vorzugsweise reformatorisch bahnbrechenden Genien unter unsern sechs größten Tonmeistern: Händel, Gluck und Haydn, waren auch zugleich die technisch sparsamsten.

Wäre Richard Wagner jener Reformator, für den ihn Manche halten, so hätte er vorweg zu stolz sein müssen, mit der übermäßig fetten Instrumentirung nach wohlfeilen Effekten zu greifen. So lange die Welt steht, war es ein Zeichen der sinkenden Kunst, wenn die Künstler die technischen Mittel in ihrer äußersten Fülle ausbeuteten. Darum bezeichnet Beethoven nicht nur den Höhepunkt der neueren Musik: er deutet auch in seinen letzten Werken den unmittelbar nach ihm hereinbrechenden Verfall vor. In seltsamer Verblendung meint man, eben weil er in seiner neunten Symphonie gar nicht mehr Mittel genug habe finden können, um seine Gedanken auszudrücken, eben darum sei diese sein größtes Kunstwerk, während sie doch im Gegentheil gerade darum aufhört, ein fertiges Kunstwerk zu sein. Es verhält sich mit der neunten Symphonie etwa wie mit dem zweiten Theile von Goethe's Faust; auch dem Dichter wird hier das Kunstgebilde unter den Händen monströs, weil er zu viel sagen will, weil er die Gränzen der Poesie vergißt und so zuletzt alle Form der Tragödie auseinandersprengt. So wenig nun Goethe aufhört, der Dichterfürst zu sein, obgleich er den zweiten Theil des Faust geschrieben, so fällt es doch wohl keinem Menschen mehr ein, diesen zweiten Theil als Goethe's Meisterwerk zu bezeichnen und als den Eckstein zur Poesie »der Zukunft.« Unter den Litteratoren herrscht denn doch zu viel ästhetische Zucht und historische Bildung, als daß man mit einem solchen Urtheil Partei machen könnte. Die meisten Musiker sind aber leider noch lange nicht so weit.

Vielleicht wundert man sich, daß ich Arien und Cantaten zum Studium der instrumentalen, der absoluten Musik empfehle. Allein so sehr die Melodie bei jenen alten Italienern ächtester Gesang, so acht instrumental ist der Bau aller ihrer Vocalsätze. Wir machen es dermalen in Deutschland oft umgekehrt: wir bauen Instrumentalsätze gleich dramatischen Scenen und Gesängen, behandeln aber die Gesangesweise in Oper und Lied oft wie den ächtesten Instrumentalsatz. Beide Extreme muß man durchgearbeitet haben, um das hohe Verdienst der klassischen deutschen Periode in der gerechten Abmarkung beider Kunstformen zu würdigen.

Wer in den Genius des reinen Vocalsatzes eindringen will, der muß nicht Arien studiren, sondern das Lied. Obgleich nun aber unsere Zeit in den Liedern Schubert's, Mendelssohn's und Schumann's dem vorigen Jahrhundert kühn die Wette anbieten kann, so wähne doch Keiner das deutsche Lied zu kennen und in seinen Formen zu begreifen, wenn er blos moderne Meister kennt. Auch hier lernt man das Neue erst recht verstehen durch das Alte. Gleich dem vorgedachten Sonatenwerk ist auch ein Liederwerk an der Zeit, welches uns in reichen und schlagenden Proben zeigt, wie die Söhne und Schüler Bach's, wie Hiller, Reichardt, Haydn, Mozart, Schulz u. A. Lieder gesungen haben, um uns über alle die kleinen Stufen und Absätze endlich auch zu Weber, Schubert, Mendelssohn, Schumann und Spohr zu führen. Schlüge eine solche Anthologie durch, so könnte sie ein mächtiges Werkzeug zur musikalischen Reform werden. Denn man würde gewiß bei den Fragmenten der alten vergessenen Liedersänger nicht stehen bleiben; die Lust sie ganz wieder zu besitzen wäre geweckt. Die Kunst des Vortrages gewänne einen Damm wider einseitige Manier. Es ist für uns schwerer das einfachste Lied von Reichardt gut zu singen als das ausgeführteste von Schubert. Jenes muß mit Selbstentsagung historisch studirt werden; Schubert dagegen liegt nach Form und Idee noch ganz in der Luft der Zeit und studirt und singt sich von selbst. Jeder Kenner aber weiß welche ästhetische und sittliche Zucht in der Wiedereroberung des Fremden liegt. Das haben die deutschen Künstler jüngst bei der historischen Kunstausstellung in München empfunden, wo sie bei aller Pracht und Fülle der heutigen Kunst doch auch mit Händen greifen konnten, was man vor zwanzig und fünfzig Jahren gemacht, und ich weiß einen berühmten Virtuosen des Pinsels, der sich's in dieser Erkenntnis gelobte, wieder einmal von vorn anzufangen und ohne den anerkannten Fortschritt aufzugeben, doch auch wiederum so treu und ehrlich zu malen, wie es seine Lehrer vor fünfundzwanzig Jahren gethan. Wir können in der Musik keine historischen Ausstellungen machen, und historische Concerte sind gemeinhin nur eine Schnepfenpastete für Feinschmecker. Aber wir haben's viel bequemer: wir brauchen nur die verschollenen epochemachenden Werke neu aufzulegen, so ist die historische Ausstellung fertig und noch etwas mehr dazu.

An Philidor's »Soldat magicien,« den ich schon frühe aus dem Schacht des väterlichen Musikschrankes heraufzog, wurde mir der nationale Unterschied zwischen dem französischen Chanson und dem deutschen Liede klar, nicht minder der Einfluß der Volksweise auf die durchgebildeten Musikformen. Ich achte es für ein Glück, daß ich zunächst an diesen Vater der französischen komischen Oper gerieth und nicht an seine zahlreichen Söhne. Die volksthümlichen Themen, welche bei Nicolo Isouard, D'Alayrac, Boieldieu und Auber, obgleich mit der Zeit immer manierirter, doch noch so liebenswürdig uns anmuthen, glänzen hier in frühlingshafter Jugendfrische. Philidor's Chansons und Romanzen sind köstliche Studien; denn die nationale Eigenart gibt sich bei ihm noch naiv und rein, noch nicht getrübt von jenem Beisatz der mit sich selbst buhlenden Tendenz, der Effektsucht, welcher jetzt die französische Musik so tief herunterdrückt und aus jeder kleinen Romanze, die man zur Guitarre singt, eine Scene macht, worin die Leidenschaft fliegenden Haares einherstürmt.

Neben der Partitur von Philidor stand Lully's Alceste in der Prachtausgabe von 1708, ein Notenstich, der auch dem Auge schon Stoff zur culturgeschichtlichen Erkenntniß bietet und in seinen Costüme- und Sceneriebildern voll halbnackter Göttinnen, Nymphen und Heldinnen den ganzen Pomp und die ganze Liederlichkeit der alten französischen Hofoper an uns vorüberführt. Lully ist, mit den Philologen zu reden, kein »Schulautor.« Formell kann man bei ihm sehr wenig lernen. Man müßte denn aus seinen trockenen Harmonien sich veranschaulichen, wie man nicht harmonisiren soll. Dagegen kann Gluck's historische Größe nicht vollauf würdigen, wer Lully nicht studirt hat. Dieser ist der Richard Wagner des achtzehnten Jahrhunderts. Seine Alceste ist, wie er selber sie nennt, eine tragédie mise en musique, keine Oper; sie gliedert sich nicht nach Arien, Duetten, Ensembles etc., sondern nach fortlaufenden Scenen; Lully singt nicht, er declamirt blos. Das Ganze ist ein stätes obligates Recitativ, von zerbröckelten Melodiestückchen und etlichen Chören unterbrochen. Ich sage das Alles von Lully; man könnte auch meinen, ich sage es von Wagner; es gilt für Beide. Nur die eingestreuten Märsche und Tänze sind wirkliche Musik und wurden populär, bei Lully – und Wagner.

An vielen Stellen ist Lully überraschend groß und wahr im dramatischen Ausdruck, ganz wie Wagner; dann fällt er aber auch wieder in die ungeheuere Langeweile des endlos recitirenden Dialogs zurück, ganz wie Wagner. Die Chöre sind einfach und tragen ein Gepräge der Feier und Würde, welches, selbst in Einzelzügen der Harmonie, mitunter an die hohen Kirchenhymnen der alten Italiener gemahnt. Dasselbe nicht geringe Lob kann man auch manchen Chören Wagner's nicht versagen. Lully opfert die musikalische Architektur dem dramatischen Ausdruck; er hat Anläufe zu Melodien, aber keine Melodie. Lully oder Wagner? Musik »setzt« man; – schon dieses charakteristische Wort erinnert an die Architektur; – wem aber die Phantasie nicht langt, um Musik zu setzen, der sagt, er »dichte« Musik. Maler, welche nicht malen können, dichten auch mitunter Gemälde, und poesielose Dichter malen Poesie. Es ergibt sich also bei Lully doch zuletzt ein zerstücktes, ungefüges, unruhiges Ganze, welches einen wirren, langweilenden Eindruck hätte machen müssen, wenn nicht die raffinirtesten Gegensätze der Scenen und der Prunk der Ausstattung, für welchen wenigstens in der Alceste (und im Tannhäuser) buchstäblich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt werden, der Phantasie des Hörers zu Hülfe gekommen wären. Lully und Wagner sind als Musiker schwach, stärker als Tondichter, am stärksten aber als Regisseure.

Gerade jene Formlosigkeit der Lully'schen Oper war es, die von Gluck vernichtet ward, während er zugleich das Streben nach Wahrheit der Dramatik aufnahm und weiterbildete. In der Form seiner Tonsätze steht Gluck den guten Italienern weit näher als Lully, und Wagner erinnert weit mehr an Lully als an Gluck. Würden sich unsere Musiker etwas eifriger historischen Studien widmen, so müßten sie erkennen, daß es doch nicht wohl ein so großer Fortschritt sein kann, wenn man nach fast hundert Jahren von der inzwischen so reich entwickelten Weise Gluck's wieder zurückspringt auf eine der Weise Lully's entsprechende Opernform. Man kann auch aus lauter Fortschrittseifer ein Reactionär werden.

Stünde unter den Malern ein Künstler auf, der das Evangelium verkündete, daß man mit der Kunstgeschichte brechen müsse, daß es nur verwirre und verknöchere, wenn man alle Pfade Dürer's und Rafael's belausche, daß man aber vollends die Werke von Meistern wie Rubens und van Dyck, Fiesole, Leonardo, Poussin, van Eyck, Rembrandt und derlei kleineren Leuten zum Heile der Welt ganz auf die Rumpelkammer zu stellen habe, – so würden ihm doch nur sehr wenige zufallen. Verkündeten nun gar seine Schüler, dieser Künstler eben sei es, der die Malerei der Zukunft geschaffen, der, unabhängig von seinen Vorgängern, die absolute Malerei in sich darstelle, ein künstlerischer Christus, ein Mann für dessen Beurtheilung die Kritik erst in ferner Zukunft reif werde, – so würde man diese Apostel des neuen Messias geradezu auslachen. Denn da es bei den Malern noch zum Fache gehört, die Alten zu studiren und Galerien zu besuchen, wo auch die kleineren Meister in Ehren gehalten werden, so wissen sie auch, daß alle Kunst stätig aus großen und kleinen Keimen hervorwächst, daß alle großen Meister die Vorarbeit ihrer Vorgänger aufgenommen und weitergebildet haben, und daß nicht blos kein Gelehrter, sondern auch kein Künstler jemals vom Himmel gefallen ist.

Bei den Musikern dagegen, wo es noch lange nicht zum Fache gehört, sich in die Geschichte der Kunst nach den Quellen einzuleben, kann ein Bekenntniß wie das vorgedachte noch immer eine starke Gemeinde von Gläubigen finden.

Unsere musikalische Erziehung drängt in unstäter Hast immerfort den neueren und neuesten Experimenten zu, ohne nach deren Wurzeln in der Vergangenheit zu fragen, und die Componisten selber vergessen in der Sucht der Originalität die einfachsten Gesetze des Schönen.

Wo aber sind diese Gesetze rein und deutlich ausgesprochen? Ich könnte kurzweg sagen: bei den Klassikern des vorigen Jahrhunderts und mich dafür auf die ganze Kette meiner hierüber bereits entwickelten Ansichten berufen. Allein Sie müssen mir schon gestatten, daß ich im nächsten Briefe noch einige größere und weitere Gesichtspunkte hinzufüge; denn ich stehe hier ja im Kern meines ganzen Systemes.

Zehnter Brief

Die Antike in der Tonkunst

Es gibt keine Antike für den Musiker. Die griechische Tonkunst ist für uns nur eine theoretische Antiquität, bedeutungslos für das musikalische Schaffen.

Mit dem Studium der Antike fehlt unserer Kunst leider ein Mittel der ästhetischen Zucht, welches durch kein anderes ersetzt werden kann.

Die ganze gebildete Welt hat sich gleichsam einverstanden erklärt über gewisse Naturgesetze der bildenden Kunst und der Poesie, die in der Antike ihren reinsten, ursprünglichsten Ausdruck gefunden. Die Grundzüge der Kunst wurden in Hellas zuerst so naiv und vollendet dargestellt, daß alle spätere europäische Cultur auf den mannigfachsten Umwegen doch immer wieder den Ausgangspunkt für ihre Begriffe des Schönen, der Kunst, ihrer Formen und Arten bei der Antike fand. Jede Theorie der Kunst geht zuletzt auf allgemein anerkannte historische Thatsachen zurück, und in diesem letzten Grunde ruht unsere ganze Aesthetik der bildenden Künste und der Poesie auf der Antike. Die Aesthetik der Tonkunst entbehrt dieses Bodens; sie steht in der Luft. Ueber ästhetisch musikalische Fragen kann man mit Niemanden streiten, denn es fehlen die Ausgangspunkte, über welche Alle einverstanden wären, eben weil es keine Antike gibt für den Musiker. Die Geschichte der musikalischen Aesthetik ist darum eine wahre Jammergeschichte; überall Zank und Hader und fast nirgends ein positives Ergebnis. Die litterarische Debatte ist hier ein Streit unter Leuten, deren Jeder von ganz anderen letzten Grundsätzen ausgeht, so daß sie nie zu einem Einigungspunkte kommen werden.

Wenn ich die Gränze zwischen Plastik und Malerei ziehen will, so berufe ich mich auf die Antike. Jedermann gesteht mir diese Berufung zu. Soll ich dagegen die durch unsere Neuromantiker so sehr verwischte Grenze zwischen Musik und Poesie ziehen, so kann ich mich auf kein allgemein anerkanntes Gesetz berufen. In der Musik kann uns Richard Wagner noch in die ganze ästhetische Confusion der Zopfzeit zurückwerfen und mit seiner Verwechslung des dichterischen und musikalischen Ausdrucks den halbgebildeten Sand in die Augen streuen. Für ihn haben Lessing und Winckelmann nicht gelebt, zu deren größten Thaten es gehörte, im Hinblick auf die Antike die Grenzlinie gezogen zu haben zwischen Zielen und Mitteln der einzelnen bildenden Künste und der Poesie.

Die Antike gibt uns einen Kanon des einfach Schönen. Gerade von dem einfach Schönen sind wir gegenwärtig in der Musik am weitesten abgekommen. Wer das einfache Schöne darstellen will, der gilt für einen Flachkopf, mindestens für einen Mann ohne Phantasie. Einer solchen Barbarei hält der bildende Künstler den Schild der Antike entgegen.

Die Blüthezeit der antiken Kunst nennt man die »klassische Zeit« und hat dann diesen Ausdruck bei allen Künsten auch auf die späteren Epochen übertragen, in welchen die Meister sich erhoben zu dem Ideal einer einfachen, naiven, maßvollen Schönheit. In solchen Epochen ist dann auch das Studium der Antike wieder belebt worden.

Welches aber ist in der Geschichte der Tonkunst die klassische Zeit? Darauf gibt es zahllose verschiedene Antworten; eben weil der Kanon der antiken Schönheit dem Musiker fehlt. Der Eine läßt die klassische Zeit mit Bach abschließen und der Andere fängt sie gerade erst mit Bach an, Beethoven wird von der halben musikalischen Welt das Haupt der klassischen Periode genannt, von der andern Hälfte das Haupt der romantischen. Den Neuromantikern gilt der spätere Styl Beethovens als der eigentlich klassische, den Musikern der älteren Schule dagegen umgekehrt gerade der frühere Styl. Ja es gibt jetzt sogar Viele, denen die Musik der Gegenwart oder gar erst die »Musik der Zukunft« als die klassische erscheint, die Haydn-Mozart'sche Periode aber als eine Periode des Zopfes; dagegen bin ich selber der unmaßgeblichen Meinung, daß jene Periode nur ein ganz kleines Zöpfchen gehabt und vielmehr in einem großen Theile der gegenwärtigen Musik der Zopf erst recht ausgewachsen und eine Verschnörkelung, ein gleißender Byzantinismus zu Tage gekommen sei, so widerwärtig, wie ihn kaum eine frühere Zeit in der Geschichte der Tonkunst kannte.

Wer hat nun Recht und wo liegt die klassische Zeit?

Der antike Geist des Maßes, der Versöhnung, der naiven, heiteren Schönheit bricht schon bei jenem merkwürdigen Tondichter hervor, der sich als der letzte mittelalterliche Künstler mitten in die Zeit der Renaissance stellt, bei Palestrina. Er hat »klassische« Elemente, insofern er die einfachen, reinen Formen des italienischen Volksgesanges statt der überladenen contrapunktischen Schnörkel der Niederländer in seine Messen bringt. Eben als ein solcher Klassiker, opfernd dem unbekannten Gott der musikalischen Antike, wird er der große Reformator seiner Kunst.

Die weltlichen und geistlichen Meister der späteren römischen Tonschule bauen weiter an den Vorhallen einer klassischen Musik, indem sie Symmetrie, eine durchsichtige hellenische Architektonik in die Tonstücke bringen, und die gebundene Melodie zu natürlicher Anmuth und edler Sinnlichkeit entfesseln.

Sie waren dem achtzehnten Jahrhundert die eigentlichen Stellvertreter der musikalischen Antike, und was der Bildner in Rom bei den griechischen und römischen Marmortrümmern suchte, das trieb auch die deutschen Jünger der Tonkunst damals nach Rom: auch sie suchten die ästhetische Zucht eines Studiums der Antike, aber sie suchten dieselbe bei lebenden Meistern.

Die alten Italiener hatten die wunderbare Naturgabe, mühelos jene einfach schönen, flüssigen, natürlichen Melodien auszuströmen, die sich wie von selbst singen, sparsam zu arbeiten, ohne arm zu sein, züchtig und doch nicht spröde, volksthümlich und doch edel und vornehm. Der klassische Himmel, der über ihnen leuchtete, der klassische Boden, auf dem sie wandelten, that ihnen diesen gnadenreichen Zauber an, und gar manchem mittelmäßigen italienischen Musikanten war durch mehr als ein Jahrhundert dieser Hauch klassischer Formenanmuth im Schlafe gegeben, um den sich in Deutschland die begabtesten Geister oft vergeblich müheten.

In der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts haben wir eben so große und größere Tonmeister gehabt als die Italiener. Dennoch wanderte jeder Musiker, der etwas Tüchtiges werden wollte, über die Alpen. Die Technik, die den Musikanten macht, konnte er daheim lernen, aber das ästhetische Maß, den feinen Takt für die Reinheit und Klarheit der Form, was den Musiker macht, die Schule der musikalischen Antike suchte er in Italien.

Bei Händel mögen wir die Früchte dieser Wanderfahrt nach Italien deutlich erkennen. Gluck hängt inniger mit den klassischen Italienern zusammen, als man gewöhnlich meint; seine klaren Melodien und seine maßvolle Instrumentation bekunden die Begeisterung für das Studium der musikalischen Antike im Sinne seiner Zeit. Hier reicht er dem leichtfertig talentvollen Piccini versöhnt die Hand, mehr noch dem tiefer gehenden Sacchini. Und vernähme er, der Meister antiker Großheit im musikalischen Drama, den Unfug, welchen man heute mit seinem Namen treibt, indem man ihn als den Großvater aller modernen titanischen Struwelpeter, als einen formlosen Deklamator, als das Zwittergespenst eines halben Poeten und halben Musikers hinzustellen sucht: wahrlich, dieser ganze Musiker würde denen, die seinen Namen mißbrauchen, nicht minder derb den Text lesen, als er ihn seiner Zeit nach der andern Seite hin den spielenden musikalischen Flachköpfen unter den Zeitgenossen gelesen hat.

Das Studium der klassischen Formen der alten Italiener trägt seine köstliche Frucht bei Haydn und Mozart, und auch der junge Beethoven nimmt noch Theil an diesem reichen Erbe mehr als eines Jahrhunderts. Was diese Leute so fest und meistermäßig sicher machte in Gedanken wie in der Technik, das ist nicht bloß ihr Genius gewesen: es wirkte auch mit der feste, von den Italienern überkommene Kanon der einfach schönen Form. Schon in der bloßen Einbildung, als besäßen sie das Musterbild einer musikalischen Antike, gewannen sie die Kraft, ihre Epoche zu der vorwiegend vom klassischen Geiste durchdrungenen zu erheben. So ward auch ihnen, gleich den alten Italienern, der Hauch antiker Formenschönheit mühelos gegeben wie im Schlafe. Als eines der tiefsten Räthsel der Culturgeschichte steigt es vor uns auf, daß diese Männer in derselben Zeit, wo Klopstock, Lessing, Goethe, Herder und Schiller bewußt und absichtlich in dem Studium des klassischen Alterthums edlere und reinere Formen der deutschen Poesie gewannen, ohne allen Zusammenhang mit jener litterarischen Strömung instinctiv dem gleichen Ziele zusteuerten. Für uns schufen sie ein neues Ideal der musikalischen Antike, Haydn, indem er Symphonien als Tafelmusik für den Fürsten Esterhazy schrieb, Mozart, indem er Opern für eigensinnige Theaterdirektionen setzte. Beide verfuhren dabei so naiv, wie die altdeutschen Maler malten. Es gilt von diesen äußerlich beschränkten, innerlich vollendeten Werken, was Goethe von Rafael's Sibyllen sagt: »wie in dem Organismus der Natur, so thut sich auch in der Kunst innerhalb der genauesten Schranke die Vollkommenheit der Lebensäußerung kund.« Als Mozart eine Symphonie dichten wollte, die den Charakter des Herrschergewaltigen trüge, ward eine Jupiter-Symphonie daraus. Sie ist Mozart's Sinfonia eroica. Beethoven, der Romantiker, soll schon an Napoleon gedacht haben, als er seine Symphonie dieses Namens schrieb; Mozart dachte noch an Jupiter. Hier stellt sich der goldene Abend der klassischen Periode dem glühenden Sonnenaufgang der romantischen gegenüber. Mozart's Jupiter ist ein Stück von einer musikalischen Antike im Sinne der großen alten Italiener und der großen alten deutschen Meister. Es ist ein Jupiter voll seliger Heiterkeit, Jupiter, der bei Nektar und Ambrosia sitzt, der mit Semele, Danae und den vielen anderen Schönen allerlei curiose Abenteuer hat, der im Menuett auf der Hochzeit der Thetis tanzt, aber dem auch im Adagio die versöhnten Hymnen der opfernden Sterblichen erklingen, und der in dem herrlich fugirten Finale als Weltbeherrscher auf das irdische Gewimmel niederblickt. Der wunderbar harmonische, klare, in sich befriedigte Gesammtbau dieser Symphonie ist eben »klassisch,« hellenisch, im Sinne des damals von den Italienern überlieferten Kanons der musikalischen Antike; die Gedanken aber und die einzelnen Melodien und Harmonien sind ächt deutsch. Beneidenswerthe Zeit, der eine feste Form der musikalischen Architektonik noch wie für die Ewigkeit gebaut stand! Die großen Geister stützten sich daran; sie erstarrten nicht in diesen Formen. Mozart's Jupiter ward ein deutscher Jupiter; denn der Künstler vermochte wohl sich aufzuschwingen zu einer wahrhaft antiken einfachen Großartigkeit, aber er blieb dabei doch durchaus in seiner nationalen Art stehen, er dichtete nicht mit historischer und philosophischer Kritik, auch nicht befruchtet vom Studium des Alterthums wie Schiller und Goethe, sondern blos in genialer Divination des antiken Geistes und ohne sich selbst und seiner Gegenwart im mindesten untreu zu werden.

So müssen wir denn die musikalische Antike in jener Frühlingszeit der modernen Tonkunst suchen, wo die großen Meister so naiv und doch so sicher die Grundlinien der verschiedenen Kunstgattungen zogen und so den Grundbau zur musikalischen Aesthetik legten, ohne selber in ästhetischen Reflexionen befangen zu sein. Für die Kirchenmusik thaten dies die großen Italiener des sechzehnten, für die weltliche die großen Deutschen des achtzehnten Jahrhunderts. Wer solchen historischen Ausgang verschmäht, der kann das absolut Schöne in der Tonkunst am Ende auch a priori in der Negermusik finden oder das Ideal der Architektur in der indischen Pagode oder der Plastik in den Götzenbildern den Südseeinseln.

Man lerne und lehre Aesthetik an jenen Vätern der modernen Musik nicht blos zur Erziehung der Jugend, sondern auch der ausgewachsenen Musiker. Zum naiven Schaffen ist unsere Kunst bereits zu alt. Sie wird entweder untergehen in der Maßlosigkeit und Verwilderung der deutschen und französischen Neuromantiker, oder sie muß mit klarem Bewußtsein sich wieder einleben in jenen Geist des Maßes, der uns in so verschiedener Form als der klassische Geist erschienen ist. Denn jenen modernen Byzantinern sind die Meisterwerke der musikalischen Antike vergraben unter Schutt und Trümmern, wie weiland ihren Ahnherrn die Meisterwerke von Hellas und Rom.

Die alten Fabelbücher sagen aber, als nach dem goldenen Zeitalter alle Götter der Erde entflohen, da sei nur eine Göttin – die Hoffnung – zurückgeblieben. So ist auch der entgötterten Musik nur die Hoffnung, nur eine einzige Verheißung zurückgeblieben, daß auch wir die Antike in der Tonkunst noch nicht ganz verlieren sollen. Diese Verheißung ruht auf dem historischen und ästhetischen Studium unserer Kunst, worin wir es jeder vergangenen Zeit leicht zuvorthun und wiedergewinnen können, was uns im naiven Schaffen für immer verloren ist. Diese Verheißung ist uns außerdem bewahrt in dem deutschen Volksliede, welches auch in der Zeit nach Beethoven fort und fort unsere musikalische Lyrik befruchtete und den reinen klassischen Geist in so manchem kleinen köstlichen Liede Schubert's, Mendelssohn's und vieler Anderen fortleben ließ. Selbst bei Schumann blicht die Keuschheit und naive Schönheit der Antike durch, wo er sich der volksthümlichen Weise des deutschen Liedes unbefangen hingibt. Hier ist unsre moderne Musik noch wahlverwandt der Goethe'schen Dichtung, wenn auch in anderem Sinne, als es Mozart's Lieder waren. In der einfachen Liedesform besitzen wir wenigstens noch eine einzige ächt moderne Kunstform, die da zwingt zu Ebenmaß und Einfalt. Schon zweimal – bei Palestrina und Haydn – hat sich aus der schlichten volksthümlichen Weise heraus die ganze Musik verjüngt. Dieselbe Verheißung ist auch uns noch im Liede gegeben, eine Verheißung, die Hölderlin – auch ein Mann der antiken Form – in den tiefsinnigen Spruch gefaßt hat:

»Und ist ein großes Wort vonnöthen,
Mutter Natur, so gedenkt man Deiner!«

Elfter Brief

Musikgeschichte

Ich will meine Resultate noch einmal kurz und bündig fassen.

Wir sollen Musik studiren, nicht um des Spielens, sondern um der Musik willen, um der Kunst willen, um der ästhetischen Gesittung willen und von wegen der historischen Erkenntniß unserer gesammten Cultur, davon die Musik kein geringes Bruchstück ist.

Wir sollen uns einleben in die Geschichte der Musik, und selbst bei jedem Schritte des rein technischen Studiums soll dieser Gedanke beachtet sein.

Die ganze Litteratur unserer großen Tondichtungen durchzuarbeiten, ist freilich eine Lebensaufgabe für den Fachmann. Aber ein Jeder, der sich der Musik auch nur als eines Hülfsstudiums befleißt, soll wenigstens den einzelnen Zweig, an welchem er lernt, in seinem historischen Zusammenhange erfassen. Der Eine mag von Sonate, Quartett und Symphonie ausgehen, der Andere von Oper und Oratorium, der Dritte vom Lied, der Vierte von der Kirchenmusik. Aber er soll dann nicht blos auf ein paar Stücklein oder etlichen Lieblingsmeistern reiten, denn dies ist der rechte schlechte Dilettantismus, sondern die ganze Gattung von der Wurzel an durchforschen und im steten Blick auf ihre Verästelung mit dem vielstämmigen Wunderbaume der ganzen Tonkunst. Der bloße Kunstfreund, welcher sich in seinen Studien beschränkt, aber in dieser Beschränkung ganz ist, hat mehr Frucht von der Kunst, als der Künstler, welcher fragmentarisch ziellos in allen Fernen und Weiten der Musik herumvagirt.

In's Centrum stelle man immer die wahrhaft schöpferischen Meister, nicht die bloßen Schüler und Nachahmer. Aber hat man einmal bei den epochemachenden Größen festen Fuß gefaßt, dann lerne man auch die kleineren Männer der Vermittelung und der Uebergänge kennen; denn sonst bleibt auch das gründlichste Studium jener Heroen dennoch dilettantisches Stückwerk.

Das Alte, Einfache, Spröde, Strenge ist ein besserer Stoff zur intellektuellen, künstlerischen und sittlichen Zucht, als das Moderne, Reiche, Weiche, Selbstverständliche. Zu jenem bedarf es strenger Lehre und selbstentsagenden Fleißes; dieses kommt uns nachgehends schon von selber angeflogen. Den Einflüssen der Gegenwart kann sich Niemand entziehen: wer sich aber die Vergangenheit mit eigener Arbeit errungen hat, der wird inmitten dieser Einflüsse wenigstens fest auf seinen eigenen Beinen stehn. Wir führen den Jüngling durch Homer und Sophokles in das Studium der Poesie, ohne darum im mindesten zu fürchten, daß ihm solchergestalt der Geschmack für die modernen Dichter verdorben werde oder daß er sein Lebenlang festgebannt bleibe bei Hexametern und Trimetern. Man weiß, daß die Leute ihren Shakespeare und Schiller und Goethe, ihren Uhland und Platen nachgehends nur um so sicherer von selber finden; aber ihren Homer und Sophokles würden sie nicht von selber gefunden haben. Den gleichen Weg sollte auch der Musikunterricht gehen.

An den klassischen Meistern, an den Vätern der Kunst entwickele man das Fundament der musikalischen Aesthetik, nicht an den werdenden und verschwindenden Versuchen der Epigonen. Dem historischen Studium fehlt die Krone, wenn wir uns nicht zuletzt die ästhetischen Grundwahrheiten aus demselben abziehen, und die Aesthetik steht in der Luft, wenn sie nicht von den Thatsachen der Kunstgeschichte ausgeht. In der Kirchengeschichte steckt die Dogmatik und in der Dogmatik die Kirchengeschichte. Nur ist noch nicht Geschichte, was eben erst wird und wächst.

Man soll aber die Kunstgeschichte nicht blos erleben an dem Studium der Kunstwerke, man soll sie auch wissenschaftlich geordnet überschauen. Darum geselle sich zu dem historischen Studium der Kunst auch noch das Studium der Historie der Kunst. Dies liegt für den Musiker leider noch tief im Argen.

Wir besitzen musikalische Conservatorien. Sie sollten die rechten Hochschulen für Aesthetik und Geschichte der Tonkunst sein. Sind sie es wirklich? An mehreren dieser Anstalten werden allerdings die vorgedachten Disciplinen gelesen. Aber ich habe auch noch kürzlich mit Staunen bemerkt, daß bei einem deutschen Konservatorium, welches Staatsanstalt und aus öffentlichen Mitteln fundirt ist, weder Geschichte noch Aesthetik der Tonkunst im Lehrplane steht und überhaupt gar kein Lehrer für diese Fächer angestellt ist! Nun fällt aber doch ein solches Conservatorium culturpolizeilich ganz in dieselbe Kategorie mit unsern Akademien der bildenden Künste. Das heißt, es ist nicht in erster Linie eine Anstalt, wo man gut singen, geigen, flöteblasen und orgelspielen lernen soll; denn dies lehren dieselben Meister, welche am Conservatorium wirken, als Privatlehrer ebensogut, und es liegt doch wahrlich dem Staate sehr fern, für gute Sänger, Geiger und Flötisten Geld auszugeben. Dagegen gehört es zu seinen ächtesten culturpolitischen Aufgaben, eine Kunstpflege zu fördern, welche, das Maß der privaten Kräfte übersteigend, auf die Wahrung der höchsten Reinheit, Gesundheit und Idealität der Kunst als eines volksbildenden Elementes gerichtet ist. Bei einem Conservatorium als Staatsinstitut müssen daher voranstellen: Geschichte und Aesthetik der Tonkunst und Compositionslehre. Die obengenannten rein technischen Fächer sollen freilich auch nebenhergehen, aber auch nur – nebenher. Die Fäden der ganzen Anstalt sollen zusammenlaufen in den Händen des Geschichtslehrers, des Aesthetikers und des Compositionslehrers. Denn Sänger, Geiger und Flötisten werden immer nur Musikunterricht ertheilen, Jene aber leiten die musikalische Erziehung. In solcher Einheit und Unabhängigkeit aber wird kein Privatmann, und sei er der gefeiertste Meister, die Sache in die Hand nehmen können; denn der Einzelne kann immer nur eine Schule gründen, keine Akademie. Darum ist es recht, wenn der Staat zugreift und eine Hochschule der Musik fundirt, deren Wirkung nicht blos auf die Fachmusiker, sondern auf die ganze gebildete Nation, auf unsere ganze ästhetische Cultur zielt. Die Vorträge über Geschichte und Aesthetik der Tonkunst müßten dann auch allgemein zugänglich sein und sie würden, wo der rechte Mann auf dem Katheder stünde, gewiß von Hospitanten aus allen Ständen besucht werden. Die technischen Uebungen der eigentlichen Schüler aber würden ihre letzte Spitze gleichfalls in diesen Vorträgen finden; denn mit den Kräften der Anstalt müßten fortlaufende historische Concerte in die historischen und ästhetischen Collegien eingewebt werden, so daß die Anschauung stets neben der Lehre stünde. Der Vortheil wäre unberechenbar. Alle litterarische Thätigkeit ist schwach und klein neben dem lebendigen Wort und den lebendigen Kunstgebilden, die man in den Sälen einer solchen Akademie hörte und schaute. Und eine Stadt, welche ein Conservatorium dieser Art besäße, würde in kurzer Frist eine herrschende Metropole sein im deutschen Musikleben.

An unsern Universitäten haben wir Lehrstühle der Litterärgeschichte, Lehrstühle für Geschichte und Aesthetik der bildenden Kunst, und zwar wirken auf diesen Lehrstühlen nicht etwa Techniker als Maler und Poeten, sondern Historiker, Philologen und Philosophen, denen natürlich eindringende praktische Studien in den betreffenden Künsten nicht fehlen dürfen. Nun gibt es freilich auch Musiklehrer an den deutschen Universitäten; diese sind aber, mit seltenen Ausnahmen, blos Techniker, nicht künstlerisch durchgebildete Männer der Wissenschaft, und in den Lektionskatalogen geräth solchergestalt die Musik leider noch oft unter die sogenannten »freien Künste,« das heißt in jenen hintersten Winkel, wo auch Reitlehrer, Fechtmeister und Tanzmeister als freie Künstler verzeichnet stehen, die Musikprofessur wird zu einer Sinecure, einem bloßen Titel. Daß diese Musiklehrer, so tüchtige Künstler sie sein mögen, nur in den seltensten Fällen als wissenschaftliche Lehrer wirken, daß sie überhaupt gar nicht zu dem Zwecke angestellt sind, um aus dem Schooße der philosophischen Facultät heraus, die Wissenschaft der Tonkunst und namentlich die Geschichte der Tonkunst in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Culturgeschichte vorzutragen, das weiß Jeder, der deutsche Universitäten besucht hat. Ich möchte Ihnen wohl die Frage dringend an's Herz legen, ob es nicht geboten sei, im Hinblick auf den wahren Nothstand unserer musikalischen Erziehung, tüchtige Männer zum wissenschaftlichen Anbau der Geschichte und Aesthetik der Tonkunst an deutsche Hochschulen zu berufen und zwar in einer äußeren Stellung, welche den Studenten den alten Glauben benähme, als sei die Musikprofessur eine bloße Dekoration und Spielerei. Ein Kollegium über Bach oder Händel paßt so gut in den Rahmen der philosophischen Facultät, wie ein Collegium über Dante oder Goethe's Faust. Der Musikhistoriker an der Universität wird sich dabei ergänzend gegenüberstellen dem Musikhistoriker am Conservatorium. Jener wird als Culturhistoriker mitarbeiten an der Kunstgeschichte; dieser gibt als Kunsthistoriker Forschungen zur Culturgeschichte.

Sind nur diese ersten Schritte gethan, dann wird man von oben nach unten weitergehen müssen. Auch der Musikunterricht an den Gymnasien und namentlich an den Schullehrerseminarien wird im kleineren Ringe theilnehmen am befruchtenden Geschichtsstudium. Eine Welt von Reformen für die ganze ästhetische Cultur der Nation liegt dann vor uns ausgebreitet.

Ich schwimme nicht gegen den Strom, indem ich dies Alles sage; ich schwimme mit dem Strom. Seit zehn Jahren ist der Eifer für die Geschichte der Musik in Deutschland riesenhaft gewachsen. Hat ihm die Litteratur auch noch nicht in epochemachenden großen Geschichtswerken Genüge geleistet, so doch in einer Reihe bedeutender monographischer Schriften, welche die Musik mehr und mehr in Verbindung bringen mit der gesammten Culturgeschichte. Man spürt es nachgerade, daß die Musik ein ebenso gewaltiger Faktor in der Gesittung des 18. und 19. Jahrhunderts ist, wie Poesie und bildende Kunst und Wissenschaft, ja daß in der Periode von Händel bis Beethoven der deutsche Geist bei den Musikern in einer Tiefe, Kraft und Reinheit hervorbrach, die nur in den größten Kunstepochen aller Zeiten und Völker ihres Gleichen findet. Selbst jene moderne Schule, welche uns lehren wollte, über der Zukunft die Vergangenheit zu vergessen, hat auf dem Wege der Opposition den Eifer für die Geschichte unserer Kunst erstaunlich gefördert, wie ja auch der Teufel mehr Menschen zur Tugend bekehrt als alle Heiligen.

Unsere musikalischen Classiker sind niemals vorher in so vielen und correkten Ausgaben gedruckt, so gründlich litterarisch commentirt und mit so großer Pietät in Concerten und im Hause aufgeführt worden, wie gegenwärtig. Sie haben sämmtlich jetzt schon einen breiteren Wirkungskreis in allem Volke als bei Lebzeiten. Daß diese Wirkung auch eine tiefere werde, dafür bedarf es der gründlichen Reform unserer musikalischen Erziehung, die nicht auf eine geträumte Zukunft zu harren braucht: die Gegenwart ist schon reif für dieselbe.

Und mit diesem trostreichen Gedanken breche ich ab. Ich richtete diese Briefe an Sie als an einen unmusikalischen Mann; aber Sie sind ein politischer Mann, der den tiefen Zusammenhang zwischen unseren musikalischen Nothständen und unserer ganzen Gesittung auch da herauszulesen weiß, wo ich ihn nicht immer andeutete, ein Mann von universeller Bildung, der also den Werth einer so hohen Kunst für unser ganzes Kulturleben scharf durchschaut, auch wenn Sie nicht Klavier spielen oder Lieder singen. Es ist an der Zeit, über die Musik auch von anderem Standpunkt zu reden als dem musikalischen. Die reinen Handwerksmusiker haben die Musik heruntergebracht und schelten auf die Dilettanten. Inzwischen waren es – seit alten Tagen – sogenannte Dilettanten, welche die Geschichte der Musik schrieben und eine Aesthetik dieser Kunst begründeten, Dilettanten, welche die vergrabenen Schätze der alten Kirchenmusik wieder an's Licht zogen, Dilettanten, welche Oratorienvereine in's Leben riefen und Sängerfeste und Sängerbünde, Dilettanten, welche durch ihre liebevolle Pflege ächter Kammer- und Hausmusik die hunderttausendfältige Verbreitung unserer reinsten, klassischsten Tonwerke erst buchhändlerisch ermöglichten, Dilettanten, welche der musikalischen Debatte den Weg in die großen Organe der Presse bahnten und die verkommene musikalische Kritik der litterarischen ebenbürtig machten. Lassen wir Dilettanten darum jene Musiker schelten und rächen wir uns an ihnen, indem wir die Musik rastlos hoher zu heben trachten, nicht uns zu Ehren, sondern zu Ehren der Kunst.


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