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Der Kampf des Rococo mit dem Zopf.

1853.

Keine Zeit ist so reich an genrehaften humoristischen Originalen, die sich eine Welt für sich allein bauten, wie das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert. Wir begegnen dort überall Sonderlingen von Profession, die mit bewußter Absicht eine, wie die Schauspieler sagen, »chargirte« Charakterrolle spielten. Ihre Schrullen und Seitensprünge galten für würdig in Memoiren und Anekdotenbüchein der Nachwelt überliefert zu werden, und wer ein Gentleman sein wollte, mußte wenigstens in einigen Stücken ein Narr sein. Die romantischen Abenteurer des Mittelalters kehrten wieder in einem neuen Costüm, in minder phantastischen, aber weit humoristischeren Formen, Don Ouixote hat den Helm mit der Perücke vertauscht.

Für das neunzehnte Jahrhundert sind derlei Originale – wo sie etwa noch existiren – ganz zufällig, für das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert waren sie nothwendig.

Jener eigensinnige Trotz auf die möglichst barocke Persönlichkeit, jene dem ganzen Zeitalter eingeborne Neigung zur individuellen Caricatur reimt sich zwar ganz gut mit dem willkürlich abenteuerlichen Geschmack der Rococozeit – des siebzehnten Jahrhunderts –; aber sie steht im schroffsten Widerspruch zu der Tendenz des Zopfes, im achtzehnten; denn das Wildwüchsige zu beschneiden, das Phantastische nüchtern, das Ueppige schmal, mager und uniform zu machen, und Leben, Kunst und Wissenschaft über denselben Kamm der akademischen Regel zu scheeren: dies alles ist ja gerade ein unterscheidendes Merkmal des Zopfes vom Rococo. Dennoch behauptete sich jene Neigung zur individuellen Caricatur durch die ganze Zopfperiode. Ja das Wappenbild dieser Zeit selbst, der Haarzopf, ist hervorgewachsen aus dem widersprechenden Streben, die freiwuchernde Originalität des Haarwuchses zu bändigen und zu uniformiren, und doch auch wieder dem Menschen eine pure Grille, einen kleinen Originalitätsschnörkel hinten anzuhängen.

Man könnte kurzweg sagen, ein Extrem hat das andere herausgefordert. Als die Leute den alten fachmäßigen Hanswurst von der Bühne verbannten, ward es ihnen Bedürfniß selber als Hanswurste einherzulaufen. Die nüchterne, aufgeklärte Zeit protestirte gegen die alten Volksmährchen mit Kobolden, Gnomen, Elfen und Consorten, aber Tausende von lebendigen Caricaturen spielten dafür in ihrem eigenen Zimmer die Kobolde und Gnomen, und schäferliche Damen nahmen den Elfen, Nixen und Nymphen ihre Rollen ab.

Allein das Phänomen führt zu viel tieferen culturgeschichtlichen Thatsachen.

Scheiden wir vorerst die Begriffe. Die Wörter »Rococo« und »Zopf« galten anfangs nur der bildenden Kunst; man gewöhnt sich aber allmählich, sie für die ganze Culturperiode zu gebrauchen. Das ist fein und löblich; denn jene Wörter sind aus dem Leben, aus der sinnlichen Anschauung gegriffen, während wir sonst fast nur noch todte Schulwörter für derlei Dinge zu erfinden pflegen.

Das Rococo – in der bildenden Kunst – setzt die Renaissance voraus, und ich glaube, man hat es gar schon die verrückt gewordene Renaissance genannt. Gerechter könnte man sagen, als sich die Renaissance berauschte, ward sie zum Rococo. Und wenn dann das Rococo der Rausch, so wäre der Zopf der Katzenjammer der Renaissance.

Doch ich muß mein Roß zu ruhigerem Schritte zügeln und schulgemäßer definiren.

In der Renaissance wurden die antiken Formen wiedergeboren, zunächst in und neben den mittelalterlichen, dann zur Besiegung derselben. Aber die neue Zeit des sechzehnten Jahrhunderts hatte neue Bedürfnisse, neue Sinne, neue Leidenschaften, denen die Antike so wenig vollkommen genügen konnte, wie die Gothik. Wer kein alter Römer mehr ist, der kann auch nicht mehr ganz so bauen und bilden, wie die alten Römer. Darum reckte und dehnte man an der Antike und paßte sie dem neuen Menschen an, so gut es eben gehen wollte. Kunstformen anpassen ist aber eben so schwer, als Röcke zu verändern, die auf einen fremden Leib geschnitten sind. Nur wenigen der größten Baumeister und Bildner gelang es auf kurze Frist, den inneren Widerspruch zwischen dem neuen Leben und der alten Kunst zu beschwören. Keine Kunstperiode hat eine so spannenkurze Blüthe gehabt, wie die ächte Renaissance; schon da sie zur Welt kam, trug sie das Muttermal der Manier auf der Stirne. Diese Manier in ihrer Fülle und Reife ist das Rococo. Die vollsaftigen, lebensprühenden Leute, in welchen der Sturmgeist der Periode der Entdeckungen und Erfindungen, der socialen Revolution und der religiösen Reformation noch immer nicht ausgetobt hatte, fanden die Formen der Antike zu eng und wollten sie doch nicht aufgeben, reckten und dehnten, schnörkelten und verkröpften daran, ja zersprengten sie und hielten dann doch wieder ihre Trümmer fest, ja fanden diese Caricaturen und Ruinen schöner als das Original. Das Rococo ist in Fesseln gewaltthätig, übermüthig im Zwange, in der Nüchternheit trunken. Es ist die Kunst einer reichen, üppigen, unklaren, ruhelosen Zeit.

Da kam Krieg und Verwüstung, Armuth und Elend. Verkommene Menschen werden trocken und pedantisch; Druck und Tyrannei von Außen erzeugt Schulmeistern nach Innen. So ward denn auch die Kunst des Rococo im achtzehnten Jahrhundert arm, nüchtern, in Regeln eingeschnürt, jenes leidenschaftlichen Schwunges bar, der vordem mit ihren Auswüchsen versöhnen konnte. Geniale Manieristen können verführerisch glänzen, schulgerechte sind abschreckend langweilig. Der Zopf ist das vertrocknete, nach akademischen Regeln zugeschnittene Rococo. Die üppige Rococo-Flora von allerlei Kraut, Giftkraut und Unkraut wird uns in der Zopfzeit als todtes Herbarium auf Löschpapier präsentirt.

Die Perioden der Kunstgeschichte messen sich nur nach runden Ziffern. So mag der bildende Künstler immerhin sagen, daß dem sechzehnten Jahrhundert die Renaissance gehöre, dem siebzehnten das Rococo und dem achtzehnten der Zopf. Aber für die Culturgeschichte ist diese Rechnung denn doch wieder etwas zu rund. Die deutsche Litteratur gehört durch ein gutes Stück der Rococozeit bereits dem Zopfe und befreit sich von dem Zopfe bereits in der dicksten Zopfzeit des Architekten und Bildhauers. Palestrina und Orlando di Lasso zeigen die Nachblüthe des Mittelalters in der Renaissanceperiode; Händel und Bach standen im achtzehnten Jahrhundert dem Rococo viel näher, als dem Zopf, wenn sie nicht so neue und eigene Geister wären, daß man sie überhaupt gar nicht recht in jene Begriffe zwängen kann.

Und dennoch gibt das Rococo einen durch die ganze weite Culturgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts klingenden Grundton, wie der Zopf des achtzehnten.

Darum braucht man jenen allgemeinen Charakter der Periode nicht aufzugeben, und sieht doch, wie das Rococo noch in die Zopfzeit dringt. Denn die Colonnen der Geisterschlacht schreiten nicht in gleichem Schritt und gleicher Front vor, wie die Bataillone auf dem Paradeplatz, sondern die Flügelmänner sind hier oft um ein Jahrhundert dem Centrum voraus.

Wenn uns also die Kunst- und Sittengeschichte des vorigen Jahrhunderts zeigt, wie damals zwiespältige Geister dennoch auf gemeinsamem Boden miteinander rangen, das Uebermaß abenteuerlicher Willkür mit der nüchternsten allgemeinen Schulmeisterei, so nenne ich dies eben einen Kampf des Rococo mit dem Zopf.

Man verachtete die leibhafte Geschichte, und brach mit derselben, um sich vor der Tyrannei historischer Gespenster desto tiefer zu beugen. Während die Dichter in blindem Respect vor den Einheiten des Aristoteles als einem historischen Ur-Kanon befangen waren, verbesserte Houdart, ohne ein Wort griechisch zu verstehen, den Homer, der ihm nicht regelrecht genug gedichtet hatte.

Bei den großen Herrschercharakteren des achtzehnten Jahrhunderts, die neue, strengere, geregeltere Formen des Staatsregiments schufen, zeigt sich der gleiche Gegensatz von persönlicher Willkür und der Hingabe an eben jenes allgemeine von ihnen begründete Gesetz. Friedrich der Große, Joseph II., Katharina von Rußland, Maria Theresia, Karl XII., Peter der Große konnten sämmtlich das Sonderlingswesen, welches die Zeit als das nothwendige Attribut einer genialen Natur ansah, nicht ganz los werden. Daher gaben sie den Stoff zu unzähligen Anekdoten; sie machten sich in persönlichen Launen, Grillen und Einfällen zeitweilig frei von dem neuen Geist der gesellschaftlichen Uniformität und der politischen Gesetzesgleichheit. Mit dem Bilde der antiken und mittelalterigen Heldenkönige könnte man einen solchen Anetdotenkram nicht zusammenreimen. In den beiden vorletzten Jahrhunderten dagegen mußte ein König witzig sein, wenn seine Größe den Zopfmenschen nicht langweilig erscheinen sollte. Die Scandalchronik der Höfe war mindestens ebenso wichtig, als die politische Chronik der Reiche. Durch seinen Mutterwitz und seine guten Einfälle ward der alte Fritz selbst bei seinen Gegnern eine volksthümliche Erscheinung, und bei dem nichtpreußischen Volk lebt er heute noch mehr in den Anekdoten seines Privatlebens fort als in seinen fürstlichen Handlungen. Daher sind alle die Könige und Helden der Rococozeit mehr ein Stoff für das historische Genrebild des Romans, des Lustspiels, als für das wirkliche Historienbild des Epos und der Tragödie. Ganz charakterisiren kann man sie nur durch Ausmalung von hundert Einzelzügen ihrer Eigenart und ihres Eigensinns, die der große epische Styl nicht verträgt. Es ist gar nicht zufällig, daß Scheerenberg in seinen historischen Genregedichten, in denen er Friedrich den Großen besingt, über die willkürlichsten holperigsten Versgebilde nicht hinauskommen kann. Die eigensinnigen Helden mit den Zöpfen dulden keinen glatten Vers. Der beliebte Vers ihrer Zeit aber, der steife Alexandriner, charakterisirt nur einseitig den Zopf, nicht das Rococo.

Die kleinen Fürsten ahmten die großen nach, und was dort originelle Charakterzüge gewesen, das ward hier zur ergötzlichen Caricatur. Der Eine copirte Peters des Großen Zwergenhochzeit, der Andere Friedrich Wilhelms I. Riesengarde. Ein Fürst von so wunderbarer Passion für die Baßgeige wie Herzog Moriz von Sachsen-Merseburg, der selbst seinem neugeborenen Töchterlein eine kleine Baßgeige in die Wiege legte, war nur im achtzehnten Jahrhundert möglich. Seine Unterthanen haben ihn vielleicht nicht einmal einen Narren, sondern nur einen Mann von fürstlichen Launen genannt. Ein Fürst, der den Fiedelbogen statt des Scepters führt, und dabei seine Hände »von Blut- und Dintengräueln rein« hält, ist ein ächter Repräsentant des Rococo, nicht des Zopfs. Jener Landgraf von Hessen, der in Pirmasenz ein zweites Potsdam schaffen wollte, und selig in dem Gedanken war, daß er in der tabakdampfenden Wachstube Hof halten durfte, der seinen höchsten Regententriumph feierte, indem er im stichdunkeln Exerciersaal sein ganzes Grenadier-Regiment manövriren ließ, ohne daß in den Gliedern die geringste Unordnung vorgekommen wäre, ist eine ächte Rococofigur; denn durch seine tolle Launen vernichtete er humoristisch den langen Zopf, der an seinen Handlungen hing.

Der Fürst mußte damals ein Virtuose der Persönlichkeit sein. Dabei kam die zum steifsten Regelzwang veräußerlichte Etikette der Höfe in seltsamen Widerspruch mit dem Ehrgeiz der einzelnen Fürsten, als Original zu glänzen. Es ist derselbe Widerspruch, der auch die Kunst und Wissenschaft dieser Zeit charakterisirt, der Widerspruch zwischen akademischem Regelzwang und willkürlichster Verschnörkelung, der Widerspruch zwischen Zopf und Rococo. Wenn ein alter Haudegen von einem deutschen Reichsfürsten bei großer Tafel einem fremden Prinzen, der sich etwas zu viel Braten auf seinen Teller gehäuft, denselben ohne Weiteres zur Hälfte wieder wegnahm, so bezeichnet das den Kampf der Zeit zwischen Willkür und Etikette. Um den kleinen Verstoß des Prinzen und Gastes gegen die Etikette zu rächen, begeht der fürstliche Wirth einen noch viel großem, und man bewunderte das ohne Zweifel als einen rechten Geniestreich.

In den höchsten Kreisen der Gesellschaft glaubte man sich oft nicht besser amüsiren zu können, als indem man sich um das freieste Spiel der persönlichen Laune zu entfalten, dem strengsten Despotismus eines äußern Zwanges freiwillig unterwarf. Darin liegt ein ungeheurer Humor, eine tiefe Selbstironie des Zeitalters. Eines der merkwürdigsten Denkmale dieser Selbstironie gründete ein Bayreuther Markgraf in der Eremitage bei Bayreuth. Um die Freuden eines Landaufenthalts zu genießen, mußte der ganze Hof daselbst – Mönch und Nonne spielen. Durch Schweigen und Einsamkeit, durch die peinlichste Fessel von allerlei langweiligen Ordensregeln mußten sich die »Eremiten« zu geselligen Vergnügungen und Hoffesten vorbereiten. Um das Hofleben in einer ganz neuen Art zu genießen, gab man ihm die ernsthafte Maske des Klosters; man quälte und langweilte sich um vergnügt zu sein, und schnürte den geselligen Umgang in eine Zwangsjacke, um ihm den Anschein einer ganz neuen und freien Bewegung zu geben.

Selbst der deutsche Pietismus, der im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts gerade in der vornehmen Welt so viele Bekenner gewann, zeigte ein Stück Rococo im Zopf. Auch er beruhte zum Theil auf einer Vermischung der subjectivsten Freiheit und Willkür mit dem strengsten Zwang einer neuen Glaubensordnung. Daher trat er oft revolutionär, reformatorisch und reaktionär zu gleicher Zeit auf. Man sprengte die Fesseln der versteiften Dogmatik und des erstarrten Kirchenregiments, um jeden freien Athemzug in eine neue Fessel einzufangen. Sogar der letzte, unfreiwilligste Act des Lebens, das Sterben, sollte systematisch abgemacht werden. Die pietistische Litteratur dieser Zeit weist ein vierbändiges Werk auf, welches die letzten Stunden von 51 jüngst verstorbenen Personen in peinvollster Ausführlichkeit einer Art von vergleichender Anatomie unterwirft, damit man daraus die beste Art zu sterben gleichsam schulgerecht lernen könne. Der Verfasser dieses Werkes, ein Graf v. Henkel, beglückwünscht einen Freund, der Zeuge bei dem »lehrreichen Tod« eines Hrn. v. Geusau gewesen, darüber mit den Worten: »es lohne der Mühe, ein dergleichen Collegium privatssimum über die Kunst selig zu sterben, zumal von einem solchen professore moribundo, gehört zu haben.«

Die französischen Neu-Romantiker, die doch allen litterarischen Ueberlieferungen des achtzehnten Jahrhunderts auf's entschiedenste den Krieg erklären, schwelgen trotzdem förmlich in Stoffen aus der Zeit; die Herren in der Perrücke sind ihre dankbarsten Helden geworden, und nicht blos in den Romanen, auch in der Wirklichkeit glauben wir unsere Salons und Möbel nicht moderner schmücken zu können, als indem wir sie mit dem Schnörkelwerk der Perrückenzeit bedecken. Darin liegt nur ein scheinbarer Widerspruch. Nicht der Zopf ist es, sondern das Rococo, das wir so emsig wieder beleben; nicht der akademische Regelzwang, sondern die subjective Willkür, der Geist der originellen, grillenhaften Charaktere. Diese freie Laune der Rococozeit dünkt uns frisch wie die Natur, gegenüber dem planvollen Gleichmaß unserer modernen Zustände, die gar nicht mehr gestatten, daß Einer ein rechter Narr sei, und darum schon keine grellen Romancharaktere mehr aufkommen lassen, wie das achtzehnte Jahrhundert seinerseits schon keinen rechten dramatischen Charakter mehr erzeugte. Wenn Rousseau, sobald der Geist der Grobheit über ihn gekommen ist, aller Welt die genialsten Sottisen sagt, wenn der Bauer und Dichter Robert Burns, ein »riesenmäßig ursprünglicher Mensch,« wie Thomas Carlyle ihn nennt, plötzlich unter den Drahtpuppen und Possenspielern des achtzehnten Jahrhunderts auftritt, und mit seiner derben, einfachen Natur wie ein Wunder in den Edinburger Salons angestaunt wird, dann ergötzen auch wir uns an der Naturkraft, die unter der Form des Rococo im Zopf steckt. So muß selbst der Kunsthistoriker, der sich empört über das Erlöschen des historischen Sinnes zu jener Zeit, über den Vandalismus, mit welchem ein hoffärtiger Unverstand damals die Denkmale des Mittelalters zertrümmerte, doch zugleich das Selbstbewußtsein bewundern, das aus diesem Vandalismus spricht, den Trotz auf die Weisheit des eigenen Zeitalters, der alles Alte keck nach dem eigenen Geschmack ummodelte, weil er fest überzeugt war, daß dieser Geschmack der allein wahre sei. Das ist ein eigenthümliches Zeichen von Kraftbewußtsein und Lebensfülle, die mitten aus dem kranken Leben einer entarteten Zeit hervorbrach. Um diesen blinden Glauben an sich selbst, der aus der vermessenen Willkür des Rococo in und trotz dem Regelzwang des Zopfes emporwächst und mit der tollen Originalitätssucht so vieler einzelnen Charaktere zusammenhängt, können wir schier die alten Zöpfe beneiden. Wir zweifeln stark an der Vortrefflichkeit unserer so viel vorgeschrittenen geistigen Entwickelung, während in den Tagen unserer Urgroßväter niemand zweifelte, daß jene Zeit, die wir mit Recht mit dem Spottnamen der Zopfzeit geißeln, die eigentlich goldene Zeit der Kunst und Wissenschaft sei.

Unsre süddeutschen Bauern leben eigentlich noch ganz und gar in dem Kunstgeschmack des Rococo. Das Mittelalter haben sie vergessen und die moderne Kunst noch nicht gefunden. Dem Schwarzwälder Bauern ist die barock brillante Kuppelkirche zu St. Blasien ein viel größeres Wunderwerk heimischer Kunst, als das Freiburger Münster. Bunte, überphantastische Rococoheilige dünken dem katholischen Landvolk meist weit erbaulicher, als ein streng stylisirtes Bild des Mittelalters oder der modernen Schule. In dem Zierwerk der Geräthe und Häuser der Bauern ist der Rococostyl ganz naiv in unsre Zeit mitgebracht worden, und wer jetzt ächte Rococosessel für seinen Salon haben will, der durchsucht nicht selten die Bauernstuben. Die Freude des Bauern am Rococo, welche standhaft so manchen Wechsel des Geschmacks überdauert hat, ist leicht erklärbar. Der Bauer ist selber ein Original, mehr zwar in der Gattung, als im Individuum, und seiner rohen, derben Kindernatur leuchtet das Glänzende, Abenteuerliche, Affektvolle, Gewaltthätige des Rococo ein, recht wie eine grobe Frakturschrift. Mit dem ächten Zopf dagegen hat er niemals sympathisirt. Der knappe, armselige Frack dieser Periode ist so wenig jemals herrschende Volkstracht gewesen, wie der wirkliche Haarzopf, und die kahlen Façaden der akademischen Zopfarchitektur wurden niemals epochemachend für den Volksbau. Der Bauer hat sich nur das Rococo aus dem Zopfe des vorigen Jahrhunderts herausgenommen.

Wir schulmeisterlichen Städter dagegen sind in dem Außenbau unsrer Häuser, in der schreinerhaften Kasernenarchitektur mit den eintönigen Fensterreihen so lange dem Zopf verhaftet geblieben; in der bunten, grillenhaften Ausschmückung unsrer Zimmer haben wir es dagegen wieder zum Rococo gebracht, und erst in neuester Zeit beginnt man – wie z. B. in der neuen Maximiliansstraße in München – wieder zum kräftigen Individualismus der Renaissance veredelnd zurückzugreifen. Dies ist aber nichts zufälliges; denn in unserm Bürgerthum wuchert überhaupt wieder ein persönlicheres, originelleres Leben als vor zwanzig Jahren.

In der Rococozeit porträtirte man unendlich viel, und diese Neigung, im Oelbild, Pastell und Kupferstich, in der Silhouette und dem Miniatur-Medaillon, pflanzte sich fort durch die ganze Zopfperiode. Es war zeit- und standesgemäß, seine eigenen Züge für nichts geringes anzusehen und Niemand argwöhnte darin eine persönliche Eitelkeit.

Wie man sich vom Kupferstecher porträtiren ließ, so liebte man es auch, sich selber in seinen Briefen, Tagebüchern und Memoiren abzuconterfeien. Die Sitte kam von den Franzosen aus dem siebzehnten Jahrhundert zu uns herüber und bestand als ein ächtes Kind des Rococo den Kampf mit dem Zopfe siegreich bis in's neunzehnte. Solch breite Freundschaftscorrespondenz, wie man sie vor fünfzig bis hundert Jahren noch allgemein geführt hat, vermag jetzt kein Mensch mehr zu führen. Diese Selbstschau, dies Wichtigthun mit kleinen Personalien ekelt uns an. Gleim's, Heinse's, Jacobi's, Johannes Müller's Briefe genügen, um uns diesen Ekel vollauf empfinden zu lassen. Man würde denjenigen jetzt einen Gecken nennen, der sein liebes Ich für so wichtig hielte, daß er eine ellenlange Correspondenz jahraus jahrein über sich selber führte. Die allgemeinen Interessen sind gewachsen, die privaten zusammengeschrumpft, aber die Originalköpfe der alten Tage sind dabei freilich auch unmöglich geworden.

Jener wunderliche Bund der Charlatanerie und der Wissenschaft, zeichendeutender Mystik mit scharfblickender Beobachtung, der in der Renaissance in großen gelehrten Gruppen, als der Astrologen, Alchymisten, Theosophen ec. gleichsam zünftig geworden, klingt in der Rococozeit in einzelnen Wundermenschen aus. Mesmer, Lavater, Athanasius Kircher, Cagliostro sind solche Rococofiguren mitten im Zopfe. Professor Beireis in Helmstädt, der sich im achtzehnten Jahrhundert noch auf's Goldmachen legte, mit seinen Curiositätensammlungen unglaubliche Gaukelei trieb, und seinen aufgeklärten Zeitgenossen weiß machte, daß er einen Diamant von 6400 Karat Gewicht besitze, den der Kaiser von China bei ihm versetzt habe, würde in früheren Zeiten, wofern man ihn nicht rechtzeitig als Hexenmeister verbrannt hätte, das Haupt einer Schule geworden seyn. Im achtzehnten Jahrhundert blieb er nur ein geheimnißvoller Originalmensch, dessen bunter Kram von allen Reisenden angestaunt wurde, halb Charlatan, halb Gelehrter, jedenfalls aber ein wunderbarer Virtuos der Persönlichkeit. In unsern Tagen wäre auch schon eine solche vereinzelte Originalfigur gar nicht mehr möglich. Sie ist durchaus Rococo.

Das Mittelalter hatte seine Zunftgeheimnisse gehabt. Daraus war in der Rococozeit eine Geheimnißkrämerei der einzelnen Gelehrten und Künstler geworden. Namentlich trieb bei den Malern und Musikern auch der kleinste Meister sein besonderes Gaukelspiel mit den »Geheimnissen« der Kunst, die er angeblich allein besaß, und nur seinen Schülern mittheilte.

Die Zunft der Hofnarren war ausgestorben. Dafür traten die einzelnen Genies der Narrheit in der Rococozeit ein: Gundeling, der passive Hanswurst, der von andern zum Narren gehalten wurde, Kyau, der Eulenspiegel des achtzehnten Jahrhunderts, der die andern selber foppte. Bei dem gelehrten Athanasius Kircher kämpft fortwährend der geniale Charlatan mit dem Pedanten. Das ist der große Kampf der mitten durch das ganze Zeitalter ging, in Religion, Kunst, Wissenschaft und Staatspraxis, der Kampf des Rococo mit dem Zopf. Die widerliche innere Unwahrheit so vieler bedeutender Charaktere dieser Zeit wurzelt in diesem ungeschlichteten Kampf. Schon um als ein rechtes Original zu erscheinen, durfte man übrigens nicht ganz einfach, wahr und offen seyn. Münchhausen, der Lügenbeutel, ist eine ächte Rococo-Caricatur in der Zopfzeit.

Die originellsten unter den originellen Leuten lebten sich damals aus als Caricaturen. Das Rococo ist der bewußte Humor des Zopfes. Darum ist es heute noch künstlerisch brauchbar; während der Zopf, dem der Humor der Selbsterkenntnis; fehlt, längst künstlerisch todt ist. Wenn heute noch ein Genremaler recht wahre, lebenvolle Caricaturen malen will, so malt er sie im Rococo-Costüm. Hasenclevers Hieronymus Jobs z.B. würde uns durchaus übertrieben erscheinen, wenn die Figuren dieser Bilder nicht Zöpfe und Perrücken trügen. Nur in dieser einzigen Rococozeit halten wir es für möglich, daß solche Fratzen leibhaftig auf Erden gewandelt seien. Und nicht mit Unrecht. Denn durch die Sucht ein Original, ein Virtuos der Persönlichkeit zu sein, wurden damals unzählige Charaktere zu wirklichen Caricaturen. Ein Graf v. Hoditz hatte in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts auf seinem Gut Roswalde in Schlesien eine sogenannte »theresianische Schäferei« (zu Ehren der Maria Theresia) gestiftet, auf welcher seine Unterthanen und Leibeigenen jahraus jahrein Griechenland und Rom spielen mußten. Es waren Tempel der Thetis, Diana, Flora u. s. w. errichtet, verkleidete Bauern gingen als Haruspices und Augurn einher. Der Pontifer schlachtete ein Schaf am Opferaltar, in einer Höhle wurde das Orakel befragt, und in einem der Sonne geweihten Tempel unterhielten junge Priester ein immer loderndes Feuer. Ein Schauspieler war auf diesem Gut Oberjägermeister, Bibliothekar, Theaterdirector, Sonnenpriester und – Schulmeister in einer Person, und Friedrich der Große fand so viel Gefallen an dem schlesischen Arkadien, daß er es in einer poetischen Epistel besungen hat. Wollte man diese bare Wirklichkeit jetzt in einem Roman ausführlich schildern, so würde das wie die ärgste Caricatur aussehen. Das Rococo verträgt aber den stärksten Farbenauftrag und die verzogensten Formen. Nicht umsonst liebte man damals an jedes Hausthor, an jeden Geigenhals ein Fratze zu meißeln oder zu schnitzen, die Gesichter schneidet und die Zunge herausstreckt. Viele Figuren in Moliere's und Holberg's Lustspielen und den zahllosen nachgebildeten Possen des achtzehnten Jahrhunderts dünken uns jetzt plumpe maßlose Caricaturen. Erinnern wir uns aber solcher historischer Erscheinungen wie eben jener theresianischen Schäferei, dann werden wir finden, daß die plumpen Gestalten für ihre Zeit weit mehr gut porträtirte Charakterfiguren als Caricaturen waren. In ihnen spiegelt sich die unbändige Eigenart der originellern Menschen in der an Zwang und Dressur so überreichen Zopfzeit.

Ohne diesen Gegensatz von Willkür und Fesselung, der sich als ein Kampf des Rococo mit dem Zopf darstellt, ist die Culturgeschichte und noch mehr die Kunstgeschichte des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts gar nicht zu verstehen. Aus der starren Zopfzeit konnte die große politische Umwälzung der Neunzigerjahre nicht hervorgehen, wohl aber aus dem Rococo im Zopfe. Im Rococo saß noch Leben, tolles, unbändiges Leben; der Zopf hatte immer ein hippokratisches Gesicht. Die Virtuosen der Persönlichkeit, die wunderlichen Rococo-Originale waren die Ahnherren der litterarischen Stürmer und Dränger, der künstlerischen Reformatoren, der großen und kleinen Demagogen. Die Pedanten des Zopfs dagegen waren die Propheten der Gamaschenknöpferei, des Bureaukratismus, der rationalistisch mechanischen Dressur von Jungen und Alten in Kirche und Schule. Und dieser Gegensatz von Rococo und Zopf währt auch jetzt noch fort, nur verhüllt und in neuem Gewand, und nicht bloß an und in unsern Häusern, sondern auch in unserm öffentlichen und Privatleben. Die ächten Originalköpfe des Rococo aber, die abenteuerlichen Virtuosen der Persönlichkeit sind freilich längst zu ihren Vätern gegangen, und werden nicht wiederkehren.


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