F. Gräfin zu Reventlow
Herrn Dames Aufzeichnungen
F. Gräfin zu Reventlow

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Mir ist, als müßte ich mein Gehirn auseinander nehmen und wieder neu zusammensetzen. Die Art, wie es bisher funktioniert hat, die mir geläufigen und gewohnten Gedankengänge nützen mir nichts mehr – ich möchte sie ausschalten, ausrangieren, bis ich imstande bin, mich in all diesen neuen sicherer zu bewegen.

Einen halben Tag habe ich gebraucht, um das auf den Jour folgende Nachtgespräch aus meinen Notizen wieder zusammenzustellen und noch einmal durchzudenken. Wenn ich dann alles hier eingetragen habe, will ich den Philosophen bitten, es noch einmal nachzulesen. Auch was dazwischen konversationsweise gesprochen wurde, habe ich mir angemerkt, in der Absicht, das Ganze später für meinen Roman zu verwenden.

Da liegt nun eine Schwierigkeit, über deren Lösung ich mir noch nicht klar bin: kann ich dem Leser, der vielleicht nur persönliche Erlebnisse und Schicksale erwartet oder wünscht – zumuten, sich mit mir in diese seltsame und umfangreiche Gedankenwelt zu vertiefen? – Ich denke eigentlich: ja; und wer nicht dazu gewillt ist, der möge das Buch ruhig aus der Hand legen oder es mit einem anderen vertauschen. Denn es wird ihm sonst, ebenso wie mir, nicht möglich sein, die Menschen und Begebenheiten in diesem außerordentlichen Stadtteil richtig zu verstehen.

Ja, und einstweilen muß es wohl noch dahingestellt bleiben, ob ich selbst dieser schweren Aufgabe gewachsen bin.

Anmerkung
Wir nehmen an, daß Herr Dame die einliegenden, anscheinend aus seinem Notizbuch kopierten Blätter, gemeint und nur seine Absicht, sie in das Tagebuch einzutragen, aus irgendeinem Grunde nicht ausgeführt hat. Verfahren Sie bei einer eventuellen Veröffentlichung damit, wie Sie es für gut halten – vielleicht erscheint der Inhalt Ihnen, sowie etwaigen Lesern, leichter verständlich als uns.

Nachtgespräch mit dem Philosophen in der Jahreszeitenbar.

Am 5. Februar 19...

Das Souper war vorzüglich, der Philosoph bei guter Laune und ich fühlte mich allmählich wieder frisch und aufnahmefähig. Als wir dann beim Café saßen, begann Sendt mit jener wohlwollenden Heiterkeit, die ich so sehr an ihm schätze:

»Nun, lieber Dame, worüber wünschen Sie jetzt belehrt zu werden – der heutige Jour war ja einigermaßen reichhaltig und stellte wohl an den Laien ziemliche Anforderungen – – –«

Ich dachte nach, mir schwirrte wieder alles bunt durcheinander – wieso Luther ein Jude sein sollte – und Blutleuchte – dieses wunderbare, suggestive Wort wollte mich gar nicht wieder loslassen – ja, und die blaue Blume des Tiberius – und kosmisches Erlebnis – mir fiel wieder ein, daß die kappadozische Dame damals auch ihren Traum einen kosmischen genannt hatte.

»Nur Mut, und alles hübsch der Reihe nach,« sagte der Philosoph. »Haben Sie etwas davon behalten, was ich Ihnen kürzlich über die Substanzentheorie des Herrn Delius gesagt habe, und erinnern Sie sich noch an die Geschichte von dem Psychometer und dem Ring des Meisters?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Also – das dürfen Sie nun vor allem nicht verwechseln. Bei dem Psychometer handelte es sich um die Seelensubstanzen des einzelnen, die unter anderem an seinen Gebrauchsgegenständen haften bleibt. Zum Beispiel Adrian, den Sie ja auch kennen, besitzt einen Lehnstuhl von seiner Großmutter, den er als gespenstisch empfindet, weil die Substanz der Verstorbenen ihm wahrscheinlich noch anhaftet. Ist er abends alleine in seinem Zimmer, so wird er sich nie entschließen, in diesem Lehnstuhl zu sitzen, obgleich er ungemein bequem ist. – Aber lassen wir Adrians Großmutter – sie ist belanglos, und die ganze Sache mit den Einzelsubstanzen ist eigentlich unwahnmochingisch. Wahnmoching lehnt den Individualismus ab und lehrt, daß der einzelne wenig in Betracht kommt. Von großer Wichtigkeit sind dagegen die Ursubstanzen, aus denen die Einzelseele zusammengesetzt ist, so, wie ich Ihnen schon einmal sagte, die Rassensubstanzen: – die römische – germanische – semitische und so weiter. Diese befinden sich im Blut, – unterstreichen Sie Blut, es ist von größter Bedeutung. Wo nun eine von ihnen das Übergewicht bekommt, so daß sie allein das Erleben (Schauen, Dichten, Handeln und vor allem auch das Träumen) beherrscht – da haben wir die Vorbedingungen für das Zustandekommen der Blutleuchte. Hier ist nun eine mystische Komplikation zu merken: irgendeine heidnische Substanz hat periodisch größere Stärke, daher »heidnische Blutleuchte« in vielen Individuen gleichzeitig. So war in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts große heidnische Blutleuchte. Delius fand seine Weltanschauung – Nietzsche schrieb den Zarathustra – in der damaligen Jugend gärte es – König Ludwig II. versuchte seine phantastischen Ideen auszuleben – – –«

»Oder heuer im Karneval,« warf Maria dazwischen, »Monsieur Dame läßt sich zu einem wahnmochinger Fest verurteilen und Chamotte empfindet sich als Sklave, weil man ihn schwarz angestrichen hat.«

»Maria, unterbrechen Sie mich nicht,« sagte der Philosoph, »hören Sie lieber gut zu. Es würde Ihnen gar nicht schaden, wenn Sie auch etwas von diesen Geschichten begreifen lernten.«

»Ach Gott, ich vergesse es ja doch gleich wieder,« antwortete sie resigniert und zündete sich eine neue Zigarette an.

»Also – eben Ihr Freund Hallwig lehrt, daß nicht wir handeln, dichten, träumen und so weiter, sondern die Ursubstanzen in uns. Über die Rangordnung der historischen Substanzen dürften er und Delius wohl etwas uneinig sein, da dieser die römische, jener die germanische für sich gepachtet hat. Immerhin gelten beide für kosmisch, die semitischen dagegen immer für molochitisch – Herr Dame, sehen Sie mich nicht so verzweifelt an und brechen Sie nicht immer ihren Bleistift ab – mit etwas gutem Willen werden Sie schon dahinterkommen. – Also kosmisch – kosmisch ist das Prinzip, welches das wahre unmittelbare Leben aufbaut und in jedem Wesen, das überhaupt an ihm Teil hat, das gleiche ist. Notabene: den Begriff kosmisch braucht man gewöhnlich nur im Gegensatz zum chaotischen. Erst indem man ihn statt auf das Gebilde auf die bildende Kraft anwandte, bekam er die wahnmochinger Nuance.

Kosmisch werden deshalb solche Erlebnisse genannt, die deutlich aus diesem Prinzip stammen – auch Träume werden dazu gerechnet und spielen eine große Rolle. Delius oder Hallwig pflegen darüber zu entscheiden, ob ein Traum oder Erlebnis kosmische Bedeutung hat – die Damen beim Jour irren sich häufig über diesen Punkt und begehen dann Mißgriffe, welche den Professor Hofmann nervös machen. Denn auch er erfreut sich in diesen Fragen einer gewissen Autorität.«

»Ich danke Ihnen, cher philosophe – die Nebel fangen an sich zu lichten – aber was heißt molochitisch?«

»Moloch, Herr Dame, wie Sie vielleicht wissen, war ein unangenehmer Götze, der sich von kleinen Kindern nährte, mithin also das Lebendige, Hoffnungsvolle verschlang. Molochitisch bedeutet daher in gutem wahnmochinger Jargon alles lebensfeindliche, Leben vernichtende – kurz und gut, das Gegenteil von kosmisch. Man wandte nun in unserem Stadtteil mit Vorliebe diesen Gegensatz auf die Rassensubstanzen an und gelangte zu dem Resultat: Die Arier repräsentieren das aufbauende, kosmische Prinzip, die Semiten dagegen das zersetzende, negativ-molochitische. Zu merken ist hierbei noch, daß eben die Substanzen sich im Laufe der Zeiten nicht rein erhalten haben und vielfach vermischt sind.

Luther zum Beispiel, den man im allgemeinen für einen Germanen halten dürfte, wandte sich gegen die heidnischen Reste im Katholizismus – verneinte sie und bewirkte ihre Zersetzung, – folglich war er molochitisch – folglich war er nach Delius ein Jude.«

»Sehen Sie, das finde ich einfach entzückend,« meinte Maria, »aber ich weiß schon, unser Philosoph schätzt solche Wahnmochingereien nicht.«

»Liebes Kind, die Sache hat eben auch ihre tragische Seite – denn in Wahnmoching wird vor allem jede Vernunft und Klarheit in den Bann getan, weil sie ihnen für verderblich und molochitisch gilt. Und das erlaube ich mir für bedenklich zu halten.«

Er gähnte, und Maria fragte teilnehmend, ob er müde sei, dann wollten wir doch lieber von etwas anderem reden. Mir schien, sie hatte selbst genug davon und fing an sich zu langweilen.

»Nun ja – was meinen Sie etwa zum Hetärentum?« fragte Sendt, und sie wurde ganz böse – es schien irgendeine Anzüglichkeit zu sein.

»Aber ich bitte Sie – die matriarchale Zeit ist sicher von ungemeiner Wichtigkeit, wie Delius sagen würde. Waren Sie dabei, Dame, wie Frau Hofmann neulich proklamierte, wir gingen zweifellos wieder matriarchalen Zeiten entgegen? Man sprach nämlich von einem Mädchen, das unberechtigterweise ein Baby bekommen hatte, und irgend jemand nahm Anstoß daran – ich glaube, es war an dem Festabend.«

Ich sah zufällig Maria an und bemerkte, daß sie ganz rot geworden war. Warum nur? – Nein, die erwähnte Äußerung hatte ich nicht gehört oder jedenfalls nicht verstanden.

»Aber darüber müssen Sie Bescheid wissen,« nahm Sendt wieder das Wort, »sonst wird man Sie niemals für voll nehmen. Merken Sie sich überhaupt, daß alle mit der Vorsilbe Ur beginnenden Worte hierzulande einen bedeutungsvollen Klang haben: Urzeit – Urnacht – Urkräfte – Urschauer – und so weiter. Des Ferneren: Den Unterschied zwischen kosmisch und molochitisch hat man auch auf die matriarchale und patriarchale Weltanschauung übertragen (vergessen Sie nie, daß ›man‹ stets Wahnmoching bedeutet, denn an allen anderen Orten der zivilisierten Welt pflegt man diese Sachen nur vom wissenschaftlichen oder historischen Standpunkt und ohne starke innere Beteiligung zu beurteilen). Notieren Sie sich also, bitte, folgendes: in der matriarchalischen Urzeit folgte die Frau nur dem kosmischen Drange, wenn sie sich – pardon – mit einem Manne einließ. Nach Bachofen – das ist ein bekannter Gelehrter, lieber Dame, und wenn Sie sich dauernd in unserem Stadtteil niederlassen wollen, müssen Sie ihn lesen – nach Bachofen ist der Hetärismus die früheste Lebensform – in Wahnmoching gilt sie natürlich für die enormste. Dem Hetärismus entspricht die Anbetung der blind gebärenden Erde, sie wird in seinen chthonischen Kulten verehrt – wenn Sie Ihr Griechisch noch nicht vergessen haben, werden Sie vielleicht wissen, daß Chthon den dunkeln Schoß der Erde bedeutet.«

»Nein, nun hören Sie auf – das ist wirklich nicht mehr zum Aushalten,« rief Maria ganz verzweifelt.

»Gemach, gemach,« antwortete Sendt mit Ruhe, »haben Sie mich nicht selbst dazu verurteilt, Herrn Dame zu belehren, damit er ruhig schlafen kann? Und war er nicht heute zum erstenmal auf einem Wahnmochinger Jour mit kosmischen Gesprächen?«

»Zum zweitenmal,« bemerkte ich, »aber damals sprach man nur über die Geste, und ich entsinne mich jetzt, daß sie ebenfalls als Urform des Lebens bezeichnet wurde.«

Der Philosoph lobte mich und sagte: übrigens, wenn dort von der Geste gesprochen würde, so meine man immer nur die Geste des Meisters oder vielleicht noch die seiner verehrenden Anhänger.

»Er tut sich leicht,« meinte Maria, »seine Geste ist einfach das dritte Zimmer,« und Sendt erklärte, sie habe ausnahmsweise etwas Richtiges gesagt. Sie war sehr stolz darauf und versprach sich noch ein wenig zu gedulden.

»Wo waren wir stehen geblieben?« fragte der Philosoph und warf einen Blick in mein Notizbuch – »ah richtig – Chthon der dunkle Schoß der Erde – Das ältere Heidentum neigte dazu, sich die schöpferische Urkraft blind gebärend vorzustellen – Wahnmoching schließt sich ihm an, der Hetärismus gilt ihm als das Höchste, – Urschauer, die noch durch keine molochitisch rationalen Hemmungen geschwächt sind.

Die spätere Zeit erkannte das Licht der Vernunft als göttlich an und dachte sich das schöpferische Prinzip als männlich und zeugend. Man nennt sie deshalb die patriarchale, und Wahnmoching schätzt sie ziemlich gering ein.

Es wird Ihnen deshalb ohne weiteres einleuchten, daß man das Dionysische stark betont, gerade jetzt im Fasching haben Sie öfters Gelegenheit, das zu beobachten.«

Ja, es war mir schon aufgefallen, daß die kappadozische Dame Hofmanns Tanzweise für dionysisch erklärte.

»Sehr richtig,« bemerkte Sendt, »Apollo ist bekanntlich der Gott des Lichtes, der Vernunft – Dionysos der des Rausches und des Blutes – Auch in Wahnmoching hat man nicht umsonst seinen Nietzsche gelesen, aber es genügt hier, zu wissen, daß es ehrenhafter ist, mit dem Dionysos auf vertrautem Fuß zu stehen.«

Mir wurde jetzt auch klar, weshalb die Kappadozische bei der Szene zwischen den beiden Männern und Maria so bedeutsam sagte: »Sie wissen doch – Blut –« Damals war es mir völlig unverständlich geblieben.

Die beiden brachen in ein freudiges Gelächter aus, als ich es ihnen jetzt erzählte.

Dann wollte ich gerne noch wissen, wie man es nun in diesen Kreisen mit der Magie hält, – an jenem Nachmittag im Café war ich ja noch so ganz unerfahren, und das Thema scheint doch hier und da wieder aufzutauchen.

»Nein, dieses Gebiet liegt Wahnmoching eigentlich fern,« meinte der Philosoph, »man beschäftigt sich wohl gelegentlich in seinen Mußestunden damit, und die kappadozische Dame verwechselt es manchmal mit kosmischen Dingen. Hofmann ist seit dem bedenklichen Fauxpas jenes Psychometers ganz davon zurückgekommen, und Adrian – –« er lächelte ein wenig ironisch.

»Was haben Sie nun wieder gegen Adrian?« fragte Maria, »ich kann ihn sehr gut leiden.«

»O, ich auch,« erwiderte Sendt, »und ich wollte ihn gerade in einer poetischen Anwandlung mit einem Schmetterling – nein, falsch – mit einer Biene vergleichen, die aus allen Blumen den Honig herauszufinden weiß und das Gift wohlweislich darin läßt. Für jemand, der sich hier in und zwischen den verschiedenen Kreisen bewegt, ist das eine sehr glückliche Eigenschaft – Was? Immer noch eine Frage, lieber Dame – aber es sei die letzte, die ich als vielgeplagter Philosoph Ihnen heute noch beantworte – die Uhr ist zwei –«

»Ja, sicher die letzte – was nun diese vielgenannten Kreise voneinander unterscheidet, und was ihnen gemeinsam ist, – das möchte ich gerne noch wissen.«

»Leicht gefragt – und nicht so leicht zu beantworten – Sie werden es mit der Zeit schon selbst herausfühlen. Ich kann es Ihnen zu dieser vorgerückten Stunde nur noch flüchtig andeuten. Etwa so: alle die sogenannten mystischen Entdeckungen, die Substanzangelegenheiten, kosmischen Dinge und so weiter sind in erster Linie Sache des Hallwig-Delius Kreises, und der Hofmannsche partizipiert daran – man ›kann‹ es eben auch und findet es fabelhaft, tut auch noch allerlei Beiwerk dazu, das bei den anderen nicht immer Anklang findet.

Und die Hauptdifferenz könnte man etwa so formulieren: dort bei Hallwig und Delius sucht man die alten Götter und alten Kulte wiederzufinden – hier, nämlich bei Hofmanns, braucht man keine alten Götter, denn man hat einen neuen, der allen Ansprüchen genügt, – Mirobuk! – und jetzt – –«

»Gehen wir nach Hause,« sagte Maria, die schon ganz teilnahmlos da saß. »Ob wir wohl noch ein Auto finden?«

»Und wo gedenken Sie heute zu schlafen?« fragte der Philosoph besorgt, »Ihre Wohnung liegt ja wohl am Ende der Welt.«

»O nein, ich gehe ins Eckhaus – –«

Sendt sah sie prüfend an und sagte noch einmal Mirobuk! aber in etwas anderer Tonart.

 

Nachtrag: etwas Wichtiges habe ich vergessen – der Philosoph sagte mir, daß alle diese Dinge in Wahnmoching eigentlich als Geheimnis behandelt werden. Deshalb wende man wohl auch die vielen merkwürdigen Ausdrücke an, die eben nicht jeder versteht.


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