Franziska Gräfin zu Reventlow
Der Geldkomplex
Franziska Gräfin zu Reventlow

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Schon Anfang August... Gott, wie lange bin ich schon hier. Bald kann ich mir überhaupt keine andere Daseinsform mehr vorstellen und werde dermaleinst gar nicht wissen, wie ich mich wieder daran gewöhnen soll. Ebensowenig aber kann ich mir ein Bild davon machen, wie lange das hier noch so fortgehen wird. Immer wieder muß ich Baumann vorschieben, damit er von Zeit zu Zeit den Professor beruhigt. Der hat ihm neulich wieder einmal sein Herz ausgeschüttet und gesagt, es ginge einfach nicht, daß man ihm das Sanatorium so auf den Kopf stellt. Wir wären doch alle keine richtigen Patienten: Henry käme nur zu den Mahlzeiten wie ein Tourist, Balailoff betränke sich fortwährend, trotz seiner Abstinenzkur, und es liege auf der Hand, daß wir ihm dabei Vorschub leisteten – ich habe ihm von Anfang an einen fragwürdigen Eindruck gemacht, zum Beispiel die Geschichte mit Gottfried... kurz, er ist sehr besorgt, daß wir seine Anstalt diskreditieren. Bei jedem von uns liegt aber irgendein Grund vor, weshalb er ihn eben doch dabehalten möchte. An Henrys Terrainspekulationen ist er stark interessiert, Balailoff bringt ihm mit den vielen Zimmern, die er innehat, mit Extrapavillons und Gefolge ein Bombengeld ein, und bei mir muß er eben warten, bis Geld da ist. Nur Lukas sei durch und durch ein Ehrenmann, hat er gesagt, und es sei geradezu unbegreiflich, daß er ausschließlich mit uns verkehre.

Baumann ist nun auf den guten Gedanken gekommen, ihm zu raten, er solle die ganze Gesellschaft etwas mehr von den normalen Patienten isolieren. So hat man uns in einem entlegenen Teil des Gebäudes untergebracht, was sehr viel für sich hat. Gegen den Idioten hat Baumann auf unsere Bitte, aber vergeblich, zu intrigieren versucht. Er hat infolge seines vertrottelten, aber äußerst gesitteten Benehmens einen ganz besonderen Stein im Brett, und der Professor erklärte ihn, im Gegensatz zu uns anderen, ebenfalls für einen Ehrenmann. Es ist aber wenigstens erreicht worden, daß er sein bisheriges Zimmer behalten hat und nicht mit in den Separatflügel gekommen ist. Er steht sich zu gut mit dem Professor und hätte beständig spioniert. Statt dessen habe ich jetzt Balailoffs friedlichen alten Priester als Nachbarn.

Unser Flügel hat einen Ausgang, durch den man über einen wenig frequentierten Seitenhof auf die Straße gelangt. Es ist eine große Wohltat, nicht mehr wie Pensionszöglinge aufpassen zu müssen, ob man kontrolliert wird. Es haben sich im Lauf der Zeit allerhand Privatinteressen ergeben, die bisher nur unter großen Schwierigkeiten verfolgt werden konnten, jetzt aber um so eifriger gepflegt werden. Baumann ist uns gewissermaßen als ärztlicher Aufseher gesetzt worden. Da er nun selbst eine kleine Freundin in der Stadt hat, läßt er mit sich reden. Henry und ich haben ebenfalls einige Bekannte unter den Schauspielern des Sommertheaters (etwas anderes gibt's hier nicht). Man ist natürlich sehr vorsichtig, hält auf den Ruf der Anstalt und auf den eigenen, und ich finde, man sollte das anerkennen, anstatt uns, wie es leider von verschiedenen Seiten geschieht, schief anzusehen.

Schade, daß Du nicht auch hier bist... das heißt – verzeih mir diesen Egoismus und begreife ihn – es hat so viel für sich, die einzige Frau in einem Kreise zu sein, daß ich doch nicht gerne teilen möchte. Bitte, mißverstehe das nicht. Die vorhin erwähnten Privatinteressen bringen es mit sich, daß unser Familienleben intakt bleibt, und eben dadurch ergibt sich eine sympathische Atmosphäre, die einen Stich in alles mögliche hat. Lukas ist sozusagen stiller Teilhaber, er ist noch nicht lange und sehr glücklich verheiratet und steht auch in dieser Beziehung auf demselben Standpunkt wie mit der wirtschaftlichen Basis. Dabei läßt er wenn nicht mit sich reden, so doch mit sich zanken, denn es ist klar, daß weder Henrys noch meine «Privatinteressen» Gnade vor seinen Augen finden. Meines... ja siehst Du, Maria, die hiesigen Möglichkeiten beschränken sich eben auf die Mitglieder des kleines Theaters, das nur für ein paar Monate hier gastiert – und ich muß beschämt gestehen, daß es sich um einen Tenor handelt. Seine Stimme reicht kaum hin, um ihn zu rechtfertigen, und seine Mitteilungen geschehen manchmal auf wild marmoriertem, manchmal auf azurblauem Briefpapier mit eingepreßtem weißem Schwan. Das mag schlimm sein, aber ich kann mir nicht helfen, es hat für mich etwas Ergreifendes, und im übrigen ist er wirklich, was man einen lieben Kerl nennt. Seine Manieren sind zum Ärger der anderen, die ihn nicht billigen, völlig einwandfrei... er weiß eben von der Bühne her, wie man sich unter Leuten von Welt zu benehmen hat, denn bei dem Mangel an Personal spielt er auch die Lebemänner in modernen Stücken. Henry, der sich mit der jugendlichen Heroine in gleicher Verdammnis befindet, hat immer noch das nötige Verständnis dafür, aber die Blicke unseres Privatdozenten, wenn «er» persönlich auftritt oder wieder eines seiner Schwanenbilletts morgens neben meinem Teller liegt, sind unbeschreiblich. Ich gebe gerne und willig zu, daß es eine Verirrung ist, aber das reizt ihn nur noch mehr. Ja, er greift in blindem Eifer zu den stärksten Mitteln, um mich davon abzubringen, und meinte neulich: Als Jugendtorheit könne so etwas ja noch hingehen, aber für eine Frau, die – Verlegenheitspause – über dieses Stadium doch allmählich hinaus sein dürfte...

Ich konnte darauf nur erwidern, man sei nun einmal nicht mehr jung, und tausendmal wichtiger sei es, die dritte, vierte, fünfte und so weiter Jugend auszukosten als die erste und zweite. Er war etwas entwaffnet und genierte sich nachträglich, daß er umsonst und ohne jeden Erfolg eine Taktlosigkeit gesagt hatte.

Natürlich hat auch Lukas den üblichen Alterskomplex... von einer bestimmten Grenze an soll man vorsorgen, Leibrenten kaufen und stetiger in seinen Neigungen zu werden. Ich halte das für einen Irrtum und sehe gerade den einzigen Vorzug des Älterwerdens darin, daß die Zukunft einen weniger interessiert und der Moment immer wichtiger wird. Solange mir noch Tenöre von Sommertheatern himmelblaue Billetts schreiben, sehe ich nicht ein, warum ich darauf verzichten soll. Dabei habe ich es ganz gern, wenn mir jemand Moral predigt, mich ärgert und ich ihn wieder ärgern kann. Mehr Verständnis hat der alte russische Priester – ich kollidierte neulich in einem etwas ungeschickten Moment mit ihm auf dem Korridor. Nachher saß er im Mondschein auf seinem Balkon... als ich dann auf den meinen hinauskam und wir unseren gewohnten Gruß austauschten, war ich doch etwas verlegen und suchte nach einem erlösenden Wort (wir haben uns inzwischen etwas besser verständigen gelernt), aber mir fiel nichts anderes ein als: Pater, peccavi. Er lächelte milde, anscheinend erfreut, und antwortete: Te absolvo... und noch irgend etwas, was ich nicht verstand.

Ach Gott, Maria, ich muß doch immer wieder darauf zurückkommen... und wenn es auch langweilig wird zum die Wände hinauflaufen... wie könnte das Leben schön sein ohne die Geldfrage. Und wie ist es möglich, daß Menschen mit Geld jemals wirklich unglücklich sind?

Schau, ein gewisser Grad von Komfort, einige nette Leute und etwas Durcheinander – eine dumme Liebesgeschichte ohne höhere Ansprüche – Mondschein und ein wohlwollender alter Priester –, und ich wäre schon wieder imstande, für das Dasein zu schwärmen, wenn nicht immer die Geldgedanken wie eine schwarze Wand hinter allem ständen. Ob nun das Pflichtteil endlich einmal tatsächlich in meine Hände gelangt oder nicht, früher oder später wird doch einmal der Moment kommen, wo ich wieder rechnen oder darüber nachdenken muß und der Komplex mich von neuem umnachtet...

Ich tue ja mein Bestes, um das jetzt als Ferienzeit aufzufassen, wie man als Kind die großen Sommerferien festlich beging. Sie schienen endlos, und doch wurde man die Gespenster nicht ganz los – Lehrer, Schulstunden und Strafarbeiten – und wußte ganz genau: davor war die Hölle und dahinter lauerte auch wieder die Hölle. Wie könnte man es nur anfangen, darum herumzukommen. Nein, das gibt's eben nicht, einmal wird man doch wieder in die Schule müssen und wieder nachsitzen, weil man die Rechenaufgaben nicht in den Kopf kriegen kann. Es kommt mir jetzt recht symbolisch vor, daß ich früher wegen jeder, aber auch jeder Rechenaufgabe nachsitzen mußte. War sie einmal richtig, so hatte ich entweder abgeschrieben, und dann gab es erst recht Strafe, oder es beruhte auf einem Zufall, an den niemand glauben wollte. Wie das den Charakter verdirbt... man kann sich schließlich nur damit trösten, daß auch der Lehrer infolge seiner eigenen Infamie um seinen freien Nachmittag kommt. Und später... was hatte ich von Haus aus für einen sympathischen Charakter, und wie sehr hat er unter den Geldkalamitäten gelitten. Es gibt gewiß keine Gemeinheit, die ich nicht mit Vergnügen beginge, wenn sie sich rentierte, aber es gibt zu wenig Gelegenheit... die wirklich rentablen Gemeinheiten kommen immer nur in Romanen vor. Wenigstens die sich mir bisher boten, waren nicht der Mühe wert. Ich hätte beispielsweise einmal jemandem mit zwanzigtausend Mark durchbrennen können, und die drei Tage, wo ich sie in Obhut hatte, waren qualvoll genug. Aber wie weit wäre ich damit gekommen, über kurz oder lang hätte ich doch wieder umkehren müssen. Wären es hunderttausend gewesen, so hätte ich eher die moralische Kraft dazu gefunden.

Ich will mich lieber nicht weiter in diesen Gegenstand vertiefen. Henry gab uns gestern ein kleines Souper, man war etwas zu lustig, und ich habe heute ein wenig Katzenjammer. Dann fallen einem alle möglichen trüben Dinge wieder ein. Lieber hör ich auf...


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