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Den Grafen hatte noch niemals das Unglück im Spiel derart verfolgt, wie gerade in letzter Zeit. Jede Karte, die er anfaßte, war ein Fehlgriff, – jeder Versuch, sich wieder zu restaurieren, ein Fehlversuch. Trotzdem er wußte, daß er nicht gewinnen würde, versuchte er immer und immer wieder von neuem mit einer fast krankhaften Energie.
Trotzdem die Kasse der Vampyre leer war, und sie alle drei vor dem Nichts standen, hatte er es doch verstanden, sich immer ab und zu durch persönlich abgefaßte Drohbriefe etwas Geld zu verschaffen, das aber ebenso rasch wieder zerrann, als er es erhalten hatte. So wenig es ihm auch in der Absicht lag, seine Komplizen zu übervorteilen, zwang ihn doch diesmal seine wahnsinnige Spielleidenschaft dazu, sich heimlich Mittel zu verschaffen, ohne sie mit den anderen zu teilen oder ihnen auch nur etwas darüber zu sagen.
An dem Tage aber, da Judith Amadini das zweite Rendezvous bewilligte, waren alle seine Quellen versiegt. Er wußte sich keinen Rat mehr. Und gerade heute mußte er Geld haben, da es im Klub bekannt geworden war, daß ein Amerikaner, der gewöhnlich sehr unglücklich die Bank zu halten pflegte, heute abend wieder die Bank halten würde. Wenn also etwas zu machen war, dann war es heute nacht. Also mußte er sich Geld verschaffen, koste es, was es wolle. Er hatte die sichere Ueberzeugung, daß er gewinnen würde, gewinnen mußte.
Aber woher das Geld? Die Kasse war leer – – die Kasse? Da fiel ihm der Schmuck Judiths ein. Warum sollte der unverzinst im eisernen Schrank ruhen? Er brauchte ja nur einige tausend Mark. Und mit dem, was er in dieser Nacht gewinnen würde, konnte er immer noch morgen den Schmuck auslösen, ohne daß Anastasia oder Amadini das Fehlen desselben entdeckt hätten. Er kannte einen Juden, der ihm ohne weiteres dafür bar viertausend Mark – auch fünftausend – auf den Tisch legen würde.
Vorsichtshalber – um weitere Komplikationen zu vermeiden, wollte er doch die beiden anderen um ihre Einwilligung bitten. Da heute bei Anastasia kein Empfangsabend war, würde er sie sicher bei ihrem Gatten in der Bendlerstraße in traulichem Tete a tete finden. Gedacht – getan! Er fuhr in Amadinis Wohnung; doch traf er ihn zu seiner Verwunderung nicht an. Ob er etwa doch bei Anastasia war? Doch, wenn er zu ihr fuhr, konnte er sich gerade mit ihm kreuzen. Deshalb beschloß er, auf ihn zu warten.
Stunde um Stunde verrann – Amadini kam nicht. Schon wurde es dunkel. Der Boden brannte ihm unter den Füßen. Wenn es gar zu spät wurde, traf er seinen Juden nicht mehr an. Des Grafen Nervosität stieg aufs höchste.
Endlich hielt er es nicht mehr aus. Gehörte ihm der Inhalt der Kasse nicht gerade so gut wie den beiden anderen? Weshalb sollte er noch länger warten, da so viel auf dem Spiele stand? Nicht nur für ihn allein, sondern auch für die Genossen. Er kannte doch den geheimen Mechanismus des versteckten Wandschrankes.
Nachdem er dreimal schon ins Nebenzimmer gegangen war, den Schrank zu öffnen, jedesmal aber seine Absicht wieder aufgegeben hatte, immer noch auf das Kommen Amadinis hoffend, hob er die Portiere hoch, die vor dem Wandschrank hing und öffnete diesen nach einigen vergeblichen Versuchen. Der Schrank drehte sich schwerfällig – die Innenfächer kamen zum Vorschein, doch – – die Kasse war leer. Der Schmuck war daraus verschwunden.
Straußberg fühlte, wie ihm der Atem stockte. Sollte ihn Amadini etwa gestohlen haben? Das war doch undenkbar. Vermutlich hatte er ihn, ohne Grafs Wissen, zu Anastasia gebracht, vielleicht in der Absicht, daß sie ihn versetzen sollte, um sich Geld zu verschaffen.
Keine Minute war mehr zu verlieren. Er mußte Gewißheit haben. Rasch warf er sich in eine Droschke und fuhr zu Anastasia.
»Sie sind allein?« fragte Anastasia, sobald er eintrat. »Wo ist Ernst?«
Er erkannte sofort, welchen Fehler er begangen hatte, zu so später Stunde ohne Amadini zu kommen. Aber wer konnte auch wissen, daß er nicht hier war? Um diese Unvorsichtigkeit halbwegs wieder gut zu machen, sagte er:
»Ich habe mich mit ihm hier verabredet. Er muß gleich kommen.«
»Er soll kommen? Was reden Sie denn für dummes Zeug? Er hat mir doch um acht Uhr per Rohrpost geschrieben, daß Sie ihn in einer wichtigen und dringenden Angelegenheit sprechen müßten, ihn zu sich bestellt hätten. Und nun kommen Sie um ein Viertel elf Uhr hierher, um ihn zu erwarten? Wer von Euch beiden lügt also …? Jedenfalls er! Und das wäre nicht das erstemal …!« Sie redete sich immer mehr in Zorn und Aufregung hinein, wobei ihr dunkle Röte in das dicke Gesicht stieg.
»Und so, wie er heute lügt, werden auch seine anderen geschäftlichen Unterredungen mit Ihnen, mit denen er sich immer ausgeredet hat, stinkend erlogen sein. – Ah, hab' ich dich endlich, du elender Lump! Hab' ich dich endlich, du Schuft! – Betrügen will er mich –«
Anastasia sah wirklich angsterregend aus. Ohnedies mit ihrem Asthma stets kämpfend, trieb ihr jede Erregung das Blut nach oben in das Herz, so daß sie förmlich nach Luft schnappte und mit den Händen ihren Kragen aufriß. Sie sah aus, als wollte sie augenblicklich der Herzschlag treffen.
Straußberg hätte sie ja mit irgendeiner gut erfundenen Lüge, auf die er sich ja so trefflich verstand, beruhigen können. Aber augenblicklich lag ihm verflucht wenig daran, diese japsende Fettmasse zu beruhigen oder Amadini eine Eifersuchtsszene zu ersparen. Er hatte nur einen Gedanken: seinen Geldleiher zur rechten Zeit noch zu treffen und bei ihm den Schmuck zu versehen, um mit dem Erlös weiterspielen zu können.
»Sie täuschen sich über den guten Amadini, meine Teure,« sagte er. »Was hier vorgeht, ist sehr einfach. Aber ich habe jetzt keine Zeit, Ihnen das alles auseinanderzusetzen … Ich brauche sofort – im Interesse von uns allen – den Diamantschmuck, den Sie ausgelöst haben. Es ist dringend nötig. Bitte, geben Sie mir ihn sofort, ich hafte dafür.«
»Wie kann ich ihn denn Ihnen geben? Ich habe ihn doch nicht,« sagte Anastasia, immer noch keuchend. »Sie wissen doch, daß er in der Kasse liegt, wo wir ihn in Ihrer Gegenwart eingeschlossen haben.«
Doch mit einem Male sprang sie in die Höhe und zeterte im höchsten Diskant:
»Ist der Schmuck am Ende nicht mehr da? Antworten Sie!« Sie fuhr wie eine Wilde auf ihn los und packte ihn an der Brust. »Lügen Sie nicht! Ich werde es ja doch erfahren. Ich werde nachsehen gehen – –«
»Nun denn, er ist nicht mehr im Schrank,« erwiderte Straußberg dumpf.
Anastasia erwiderte ihm mit einem schrecklichen Schrei: »Nicht mehr da? Sie haben ihn nicht – ich habe ihn nicht. – Also hat er ihn! – Und wozu? – Was will er damit? – Spieler ist er doch nicht!«
Stoßweise und abgerissen kam jeder Satz hervor – wie bei einer Fieber-Delirierenden.
Mit einem Mal war ihre Röte verschwunden. Totenbleich wankte sie und fand noch soviel Kraft, sich am Tisch festzuhalten. Ihre Augen traten aus den Höhlen und pfeifend flog ihr Atem. Sie deutete wie irrsinnig mit der Hand in die Ferne und stotterte kaum verständlich:
»Gestohlen hat er ihn – für sie! – Für Judith – Schon seit einigen Tagen – habe ich bemerkt –«
Straußberg hatte gerade noch soviel Zeit, zuzuspringen und sie in seinen Armen aufzufangen.
»Anastasia – um Gotteswillen – fassen Sie sich!«
Sie hatte wieder das Bewußtsein erlangt. Sie wankte nach der Klingel und klingelte dem Mädchen:
»Was wollen Sie tun?« fragte Straußberg besorgt.
»In die Kochstraße – will ich – er muß dort sein. – Und wenn nicht – – so werde ich sie – schon zu finden wissen! – Bleiben Sie! – Ich bringe den Schmuck! – Und ihn! – Oder beide! – Tot oder lebendig!«
Ehe er es sich versah, hatte sie das Zimmer verlassen.
Mit einer Droschke fuhr sie nach der Kochstraße. Das Haus war verschlossen. Oben bei Judith brannte Licht. Sie suchte nach einem Türschließer. Dort war einer. Trotz ihrer Körperfülle und des sie erstickenden Atemmangels lief sie auf ihn zu, gab ihm ein Zehnmarkstück und ließ sich das Haus aufschließen. Mit schweren Schritten – beinahe laufend, wobei sie öfters im Dunkeln niederstürzte, raste sie nach oben. Sie hatte ja den Schlüssel zur Wohnung ihrer Sklavin. – Erschreckt wich das Dienstmädchen zurück, das sie vor die Brust stieß und keuchte in den Salon.
Ins Toilettenzimmer – –
Beide leer.
Es war dies gerade der Augenblick, da Amadini – im dunklen Verbindungszimmer – an die Tür schlug und Judith in sinnloser Leidenschaft beim Namen rief.
Amadini hatte das Kommen Anastasias gänzlich überhört: nicht aber Judith, die – im leichten Negligee – die Tür öffnete und beiden entgegentrat. Amadini – ohne Anastasia zu sehen – riß Judith in seine Arme. Doch im selben Augenblick fühlte er sich von hinten gepackt. Er wandte sich um und sah in das entstellte Gesicht seiner Frau, die er kaum wiedererkannte.
»Ah! Bube! – Bube!« keuchte sie, Amadini hin und her zerrend, obwohl er sich ohnedies vor Schreck kaum mehr auf den Beinen halten konnte. »Und du – du – du Schlange!« zischte sie Judith an, vor Wut schäumend. »Hab' ich's doch gewußt! – Du!«
Nur einem raschen Seitensprung hatte es Judith zu verdanken, daß der Schlag mit der Faust, den Anastasia ihr zugedacht hatte, daneben ging. Judith flüchtete hinter ihr hohes Himmelbett. Wenn ihr Anastasia je Angst eingeflößt hatte, so war es heute.
Statt jedoch sie zu verfolgen, begann Anastasia gräßlich und gellend zu lachen.
»Da hast du ihn, deinen Amadini! – Ich schenke ihn dir! – Ich mag ihn nicht mehr, diesen Buben – diesen Mörder! Ja, ja – meine Traute. Einen Mörder mache ich dir zum Geschenk! – Er ist es – er – der vor Jahren mit Straußberg und dem – – dem – anderen Kerl die Melmström umgebracht hat. – Er ist es, den die Polizei gesucht hat – der Mann mit den Katzenaugen. – Geh' hin und übergib ihn deinem anderen Geliebten, deinem Egon – du – du – –«
Sie konnte nicht zu Ende reden. Sie faßte plötzlich in die Luft, als suchte sie irgendeinen Halt – eine neue Blutwelle färbte ihr Gesicht – und wie vom Blitz getroffen stürzte sie der Länge nach dumpf auf den Boden hin. Ein Herzschlag hatte ihrem Leben anscheinend ein Ende gemacht.
Amadini und Judith standen erstarrt. Egon benützte diesen Augenblick, aus seinem Versteck zu entkommen und ins Vorzimmer zu stürzen. Judith bemerkte ihn. Das brachte sie wieder zum Bewußtsein.
Amadini kniete neben Anastasia, deren bläulichrote Lippen weißer Schaum bedeckte. »Einen Arzt – rasch einen Arzt!« rief er halblaut, am ganzen Körper zitternd.
Judith eilte hinaus, wie Amadini glaubte, um einen Arzt zu holen. Draußen warf sie sich in Egons Arme.
»Wirf rasch deinen Mantel um und komm mit mir,« flüsterte ihr Egon zu. Dann wandte er sich an das Dienstmädchen, gab ihr ein Goldstück und sagte: »Sagen Sie dem Herrn Baron, die gnädige Frau wäre nach einem Arzt geeilt – würde aber selbst nicht wiederkommen. Sagen Sie ihm nicht, daß ich hier gewesen bin. Dreitausend Mark sind Ihnen sicher, wenn Sie schweigen können.«
Das zitternde Mädchen hatte indes Judith ihren Theatermantel umgeworfen und versprach, nach Egons Wunsch zu handeln.
Er hatte Mühe, Judith die Treppen hinunterzugeleiten.
Auf einem Treppenabsatz sich an ihn lehnend, sagte sie halberstickt: »Großer Gott! Ich dachte bisher, mich nur im Schlamm der Großstadt zu bewegen. Aber das – das – – – das hätte ich nie gedacht – nie geahnt!«
»Fasse Mut, Kind! Sei froh, daß alles so abgelaufen ist. – Ich werde dich in ein Hotel bringen – oder nein. Noch besser: Zu meinem Vater. Dort wartest du das weitere ab. Erzähle ihm, was hier vorgefallen ist. Ich habe keine Zeit – ich muß noch einen Nachtzug benutzen, um nach Potsdam – zu Rudolfs Schwiegervater zu fahren. Komm, Liebling! Das alles soll bald wie ein böser, böser Traum weit hinter dir liegen. Komm!«
Zum Glück fand er gleich eine Droschke. Erst fuhr er noch zu einem Arzt, den er bat, sofort in die Wohnung der Frau von Rastori nach der Kochstraße zu fahren, da eine ältere Dame dort anscheinend einem Herzschlag erlegen sei. Dann fuhren sie direkt zu Professor Kleinthal, dem er Judith mit den Worten übergab: »Vater, sorge für Judith wie für dein eigen Kind. Sie wird dir alles sagen. Ich muß nach Potsdam.«
Um halb ein Uhr nachts hielt er vor der Villa Wesenthals, die – wie ein Märchen – von den glitzernden Wellen der Havel umspült, im Mondlicht gebadet, träumend dalag. – Eine Nachtigall schlug in den Büschen. – –
Rasch eilte er über den Kiesweg. Im Schreibzimmer Wesenthals brannte noch Licht. Egon klopfte an die Scheibe.
Wesenthal, der noch bei der Arbeit saß, erschrak heftig. Atemlos lauschte er. Hatte er sich getäuscht? – Nein. Da klopfte es noch einmal. Und eine bekannte Stimme, in der er sofort die Egons erkannte, rief: »Herr von Wesenthal! Ich bins! Egon Kleinthal. Machen Sie auf!«
»Sie hier? Um diese Stunde? Was ist geschehen?« fragte Wesenthal, die Tür aufschließend.
»Sie sollen gleich hören.«
Und Egon berichtete nun, was sich in den letzten Tagen zugetragen. Von dem, was er durch Laura erfahren hatte – von Amadinis Besuch bei Judith – von dem katzenartigen Funkeln seiner Augen, deren Leuchten er im finsteren Verbindungszimmer ganz gut hatte beobachten können – von dem Ueberfall Anastasias und ihren letzten Worten, die Straußberg und Amadini als die Mörder der Frau Melmström bezeichnet hatten – von seiner Flucht mit Judith und daß er sie bei seinem Vater inzwischen untergebracht hatte.
»Und da bin ich nun,« schloß er endlich. »Sind Sie jetzt endlich davon überzeugt, daß sie es sind, die wir suchen?«
»Jetzt freilich kann ich nicht mehr zweifeln,« erwiderte Wesenthal. »Dank Ihrem ruhelosen Eifer und Ihrer List – allerdings auch dank dem Zufall, der uns zu Hilfe gekommen ist, ist es Ihnen gelungen, mir die überführendsten Beweise zu liefern, die ich von Ihnen haben wollte. Und ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen in Rudolfs und in meinem Namen danken soll! Es ist kaum glaublich, was Sie alles in den letzten Tagen geleistet haben.«
Egon seufzte tief auf. Dem Himmel Dank, daß es mir geglückt ist. Jetzt also können Sie beruhigt Rudolf die Mörder seiner Mutter entdecken –«
Egon sah ihn fragend und eigentümlich an, beinahe ängstlich. Denn unwillkürlich überdachte er, welche ungeheuren Konsequenzen dies alles nach sich ziehen konnte.
»Das könnte ich freilich,« sagte Wesenthal ernst, auf das Papiermesser starrend, mit dem er spielte. In seinem Ton lag etwas, das Egon sagte, daß er es nicht tun würde.
»Werden Sie also Rudolf zurückberufen?« fragte Egon ebenso zögernd weiter.
»Das werde ich. Aber jetzt noch nicht. Es hat Zeit.«
»Aber wenn uns die Elenden entkommen sollten?«
»Ich stehe Ihnen dafür, daß sie uns nicht entgehen werden.«