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Annerles Bübchen war unheimlich brav – es schlief Tag und Nacht, kaum, daß man nach dem Bade sein Quäkstimmchen hörte. Toni entdeckte die Ursache dieser Bravheit und zog Cornelie in ihr Vertrauen. Hinter dem Spiegel in der Schlafkammer der Uffenbacher fanden sie eine Reihe von Fläschchen mit dem braunen Mohnsaft, den die Hebamme den Kindern einzuflößen pflegte, damit ihre nächtliche Ruhe nicht gestört werde. Cornelie zog das Weib zur Rechenschaft, drohte mit Anzeige beim Kreisphysikus und erreichte doch nur, daß sie fühlte, wie der Ingrimm in der Brust des herrschsüchtigen Weibes gegen sie kochte. In ihrer schwersten Stunde würde sie einer erbitterten Feindin preisgegeben sein.
Ein Zufall, wie ihn niemand hätte voraussehen können, führte einen völligen Umschwung in der Gesinnung der Frau Uffenbacher gegen Cornelie herbei.
Es war ein Regentag zu Anfang des Oktober. Cornelie saß in der niederen, vor Hitze glühenden Bauernstube, an deren Ofen die Windeln des Ziehkindes und der nasse Rock der alten Hebamme trockneten und hörte ihr Geschwätz mit den zwei dürren Fräulein Hottinger und dem Annerle über eine ganz erschreckliche Entbindung, die sie einmal erlebt hatte und nun mit allen grausigen Einzelheiten wollüstig beschrieb. Dazwischen hinein quäkte Annerles Bübchen auf dem Arm der hagern Dorfjungfer, die gekommen war, es abzuholen. Das dicke Ziehkind gröhlte am Boden, wo es sich auf einem schmutzigen Federbett wälzte und von der blassen Luis vergeblich durch das Schnarren einer Holzknarre beruhigt werden sollte. Cornelie nähte an einem Kissenbezug für ihr Kleines – oben in ihrem Zimmer konnte sie sich nicht mehr aufhalten, weil der Ofen dort zerfallen und nicht zu heizen war. Und dieselbe Cornelie hatte draußen in der Welt eine Macht errungen, um ihren Einfluß tobte der Kampf der Parteien, eine Macht, die da weiter und weiter wirkte. Ihr Name war ein Kriegsruf geworden, den andere nun schon auf ihre Fahne schrieben, mit dem sie, unabhängig von ihr selbst, freie Bahn und Glück und Erfolg suchten ... Da draußen in einer Welt, die so unendlich ferne lag ...
Wie von einem Märchen las sie in dem großen, englischen Journal, das der Briefträger ihr soeben gebracht: Von ihren Vorfahren – von ihrer Kindheit – las kleine, lustige Geschichten aus ihren Schultagen und feine, geistvolle Worte eines gescheiten Mannes über das Werk ihres Lebens und von dem, was sie der Zukunft schuldig sei ... Sie lächelte in Gedanken versunken ihr stilles Mädchenlächeln. Plötzlich überfiel sie mit jäher Gewalt das Bewußtsein, erreicht zu haben, wonach Tausende von kraftvollen Männern vergebens ringen und kämpfen ...
Es kam wie aus weiter Ferne durch das Rauschen des Regens, vorüber am Stöhnen des Windes ein Ruf zu ihr, wie eine helle Geisterstimme –. Dort draußen lebte sie ja! War denn dies alles um sie her nicht nur ein wirres beängstigendes Traumland? Hinaus – hinaus in das wahre Leben! Zum Kampf – zum Wirken – zu neuen Taten, neuen Siegen! schrie plötzlich jubelnd ihr erwachender Mut.
Ungeduldig warf sie das Nähzeug hin, sprang auf und reckte die Arme. Die niedren Balken drückten auf sie, die übelriechende Glut des Raumes beklemmte sie.
»Ja, Fräulein Cornelie, wollen's denn hinaus bei dem argen Wetter?« fragte die Uffenbacherin erstaunt.
»Nur an die frische Luft,« sagte Cornelie zerstreut. »Der Regen tut mir nichts!«
Als sie heimkam, zog das Annerle sie unter hellem Gelächter in ihr Zimmer und berichtete eine tolle Geschichte.
Cornelie hatte das Haus kaum verlassen, da sprang die Alte hinauf, um das Bett für die Nacht zu richten. Zwei Minuten später winkte sie Annerle und Toni, ihnen in dem grünen Heft das Bild des Fräuleins zu zeigen. Vergebens aber hielt sie die Druckschrift bald nah bald weit vor die Brille, sie konnte doch nichts weiter entziffern, als den Namen »Cornelie Reimann«, der sowohl unter dem Bilde, als auch auf der folgenden Seite immer wieder zwischen dem sonst so unverständlichen Gedruckten auftauchte. Nun sollte Annerle weiter helfen.
»Das wird ihr Herr sein,« riet die findige Hebamme und betrachtete kritisch den neugewählten Londoner Bürgermeister, dessen Bild das Blatt auf derselben Seite brachte, »jung ischt er nit – aber ein feiner Mann!«
Des Annerles Englisch war nicht gar weit her, dennoch buchstabierte sie zuversichtlich an der Unterschrift.
»Lordmajor von London ist er,« sagte sie oben hin.
»Donnerschlag!« rief die Hebamme, »machst mir auch nix weiß?«
Sie buchstabierte nun selbst und fand denselben geheimnisvollen und hochtrabenden Titel heraus. Mit offnem Munde starrte sie auf Corneliens Bett – auf ihren Waschtisch, ihren Kleiderschrank und das tabaksduftige Kanapee.
»Lordmajor von London ...« wiederholte sie erschüttert, und von plötzlicher Gewissensangst befallen. »Lordmajor von London« – und sie hatte dem Fräulein Lunge mit saurer Soß' vorgesetzt – zweimal die Woche ...
Ja – wer das hätt' denken können ...
Das Annerle aber stachelte der Schelm. Sie kauerte sich auf das Kanapee und studierte eifrig an dem Aufsatz, der von der Cornelie Reimann handelte. Und endlich auf das Flehen und Bitten der Alten, ließ sie sich herbei, ihr dessen Inhalt zu übersetzen, obschon er ein großes Geheimnis enthielt.
Cornelie Reimann war die angetraute Gemahlin des Lordmajor von London, und in der goldnen Kutsche mit den vielen Pferden, die alle nickende Federbüsche auf den Köpfen trugen, war das junge Paar nach der Hochzeit im Triumph durch London gefahren. Aber eine nahe Verwandte der alten Königin hatte sollen den Lordmajor heiraten. Deshalb verbannte die Königin Cornelie von ihrem Hof, sie mußte fliehen und sich unter falschem Namen verbergen, sonst hätte die Prinzessin ihr nach dem Leben getrachtet. Endlich habe der Lordmajor die Verzeihung der Königin erhalten, und wenn das Kind geboren sei, dürfe Cornelie an den Hof von England und in die Arme ihres Gatten zurückkehren.
Alles dieses las Annerle aus dem grünen Heft der andächtig lauschenden Hebamme vor.
»Am End' gar kommt der Herr Major selbst, seine Frau Gemahlin zu holen ...« sagte atemlos die Uffenbacherin.
»Lordmajor,« verbesserte Annerle, »das ischt was anders Vornehmes, als ein simpler Herr Major.«
Die alte Schwäbin aber sah in ihrer Phantasie bereits die verschnörkelte goldne Kutsche mit den Pferden, die nickende Federbüsche auf den Köpfen trugen, mit den Dienern hinten und vorn, in den wunderlichen Hüten und Kleidern, die Straße vom Bahnhof herabgefahren kommen, vorüber an den Vorgärtchen der Witwen mit den Kinderwagen – sie sah das Gefährt vor ihrer Anstalt stillestehen – und sie sah sich selbst hineinsteigen, in einem schwarzseidenen Kleide mit einer großen Flügelhaube auf dem Kopfe, wie sie sich die Kindsfrauen in vornehmen Häusern vorstellte – das Neugeborene unter weißen Schleiern auf dem Arme tragend ...
– Das wär ein anderes Pöstle für sie, als hier das Gefrett' mit den ledigen Mädeles, bei dem man nit sein trocknes Brot herausschlagen könnt', erklärte sie dem Annerle und der Toni. Sie war ganz bereit mit nach England zu gehen, und eine Vertrauensstellung bei der Frau Lordmajor einzunehmen – der Herr müsse sich doch auch dankbar erweisen, dafür, daß sie die verlassene Frau in ihrer schweren Zeit bei sich aufgenommen und gehegt und gepflegt habe! Es sei nicht zuviel, wenn er in ihren alten Tagen für sie sorge!
Cornelie fiel es bei diesem sonderbaren Bericht ein, wieviel Schönes, Verwunderliches und Tolles die ausbündige schwäbische Phantasie der deutschen Welt schon geschenkt habe – und sie beschloß, die Hebamme in ihren verworrenen Träumen vorläufig nicht zu stören.
Oh – wie war die zornige, herrschsüchtige und boshaftige Alte nun so demütig und dienstbeflissen!
Dreierlei Knöpfle gab's in die Supp', Zwetschgenkuchen und Zwiebelkuchen wurde abwechselnd gebacken, und es war schier, als wär's im Tränenhaus mit einemmal Kirmes geworden. Fast kam den Fräuleins eine Furcht an, wie es mit dem guten Leben, das sie jetzt führten, einmal schrecklich enden könne.
Auch die arme Toni mußte Cornelie noch durch ihre schwere Stunde geleiten. Sie ging mit dem ächzenden Mädchen im Zimmer auf und nieder – sie hielt sie in den Armen, wenn die Schmerzen sie überfielen, und sie wimmernd durch das Dunkel nach der Mutter rief – mit der angstvollen, verzweifelten Kinderstimme – nach der Mutter, die ihre junge Tochter allein das Furchtbare tragen ließ. Sie waren beide zufrieden, daß die Uffenbacherin fest schlief und Toni wehrte immer wieder ab, wenn Cornelie sie rufen wollte. Endlich mußte es doch geschehen, Corneliens Kräfte waren plötzlich zu Ende. Taumelnd, an den Wänden sich entlang tastend, versuchte sie im Dunkel ihr Zimmer zu erreichen, da klingelte die Alte schon der Hanne und schrie nach Badewasser.
Cornelie hörte durch die Wand das dünne Quäkstimmchen des Neugeborenen.
Toni bat sie am folgenden Morgen, ihre Eltern zu benachrichtigen. Corneliens Augen strömten von Tränen, während ihre Feder über das Papier glitt. Man nannte sie eine Meisterin des Wortes, die an der Menschen Herzen zu rühren verstand – nie noch hatte sie so inbrünstig begehrt, mit dem Worte zu wirken, wie in diesem Brief, in dem sie den fernen Eltern sprach von dem tapferen Ausharren, von dem klagelosen Dulden ihrer Tochter – von der Hochachtung, die sie in allen diesen Monaten vor dem stillen Mädchen bekommen habe – und – sie konnte es nicht lassen – sie mußte die Mutter fragen, ob sie nicht im Geiste empfunden, wie das Kind in seinen Schmerzen so unablässig nach ihr gerufen habe?