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Die Geschichte der fetten Münchener Kellnerin nahm eine überraschende Wendung. Sie hatte ohne sonderliche Beschwerden einem Knaben das Leben gegeben. Ihr Herr, der stille Mann in altmodischem braunem Rock, war gleich darauf eingetroffen und hatte das Aufgebot beim Schulzen und beim Pfarrer bestellt.
Am zehnten Tage nach seiner Geburt sollte das Büblein getauft werden. Die Hebamme in ihrem besten Staat trug es hinauf zur Kirche, die Wöchnerin neben dem zukünftigen Gatten ging verdrossen hinterdrein.
Der Pfarrer nahm die heilige Handlung, um kein unliebsames Aufsehen zu erregen, in der Sakristei vor, er richtete dann einige mahnende Worte an die Brautleute. Und zwar belobte er den Bräutigam, daß er sich endlich zur Ehe entschließe, da doch nun schon das zweite Kindlein dem Bunde entsprossen sei.
Der stille, ernste Mann machte ihn auf seinen Irrtum aufmerksam, der Pfarrer aber blickte die Braut noch einmal forschend an und sagte: »Ich kannte Sie gleich wieder als Sie herein traten – Sie haben schon ein Kind an dieser Stelle taufen lassen – die Vorgängerin der Frau Uffenbacher trug es. Wir können ja im Kirchenbuch nachschlagen, in welchem Jahr es gewesen ist. – Lebt denn das Kind nicht mehr, daß Sie es so gänzlich vergessen haben?«
Die Braut stand schweigend mit trotzig aufgeworfenen Lippen.
Der stille, ernste Freund aber ließ sie samt der Hebamme allein ins Wirtshaus gehen, wo ein Frühstück bereit stand. Er begleitete den Pfarrer in seine Wohnung, um sich selbst im Kirchenbuche die Bestätigung zu holen. Der weiße Zettel im schwarzen Kasten wurde entfernt. Der Bub kam bei der Fischerin in Pflege. »Später nehm' ich ihn zu mir, ins Geschäft,« sagte der fragliche Vater wehmütig. Er zeigte sich nur noch, um die Rechnung für die Taufe zu begleichen. Es war anzunehmen, daß die Uffenbacherin ihn bei dieser Gelegenheit noch weiter aufklärte. Dann verschwand der stille Mann aus Schopfingen. Cornelie sah ihn die Landstraße hinab zum Bahnhof gehen, eine gestickte Reisetasche trug er in der Hand. Sie blickte lange hinter ihm her, auf den gebeugten traurigen Rücken in dem braunen Rock.
Die fette Blonde kehrte rosenrot blühend mit einem bösen Hohnlachen zu ihrem nächtlichen Schenkinnenamte zurück.
Nach diesem wurde es wieder still und friedlich im Häuschen an der Hügelflanke. Die Birnen vom großen Baum waren geerntet, und die Toni kaute den lieben langen Tag an den harten, grünen Früchten. Über die Stoppelfelder flogen im goldnen Herbstsonnenschein die Fäden des Altweibersommers. Der Storchenvater lehrte seine Brut. Rings um den Kirchturm sah man das unbeholfene Flügelschlagen der jungen Störchlein, die für die Winterreise gewaltig üben mußten.
Wenn Cornelie die schwermütigen und hoffnungslosen Gedanken allzu sehr bedrängen wollten, ging sie die untere Dorfstraße hinab und saß ein Weilchen bei der roten Bärbe, auf der hölzernen Bank, die um die Wand der kleinen Stube lief, wo die Bärbe mit ihrer Mutter und ihren Ziehkindern hauste. Zwar trug die Bärbe den Trauring am Finger, aber eine »Verlassene« war sie auch, und von Ehe und Mutterschaft war ihr nichts geblieben als ein leerer Kinderwagen mit himmelblauen Gardinen, den der Mann ihr in einer großartigen Laune geschenkt hatte, ehe er eines Tages mit andern italienischen Bahnarbeitern von dannen zog und nicht mehr wiederkehrte. Die Bärbe sprach nie von diesen Traurigkeiten. Sie tat alles, was eine Mutter tun kann für ihre Pfleglinge – nur den Wagen, unter dessen blauen Gardinen ihr eigenes totes Kindchen geschlummert hatte, den durfte keines von ihnen benutzen. Er stand, sorglich in ein weißes Laken gehüllt, auf dem Speicher des kleinen Hauses. Das Stübchen unten war immer voll Sonne, das Liesl mit den schönen Füßchen spielte und lachte, und das Agathle, dessen Mutter so bitter gekränkt war, daß es noch immer lebte, krähte jauchzend auf dem Arm der alten Frau mit dem lieben Großmutterlächeln, als warte ein Dasein voll Wonne und Herrlichkeit auf das ausgestoßene, arme, überflüssige Geschöpfchen. Die Nähmaschine klapperte unter den großen kräftigen Händen der Bärbe, die ab und zu gesäumte Stücke Leinenzeug in den Korb neben sich warf, und dabei mit ihrem guten schwäbischen Humor etwas Drolliges zu erzählen wußte.
Hatte Cornelie die stille, gesunde Friedensluft geatmet, die das Heim der zwei Frauen erfüllte, so kehrte sie immer ein wenig froher ins Tränenhaus zurück.
Dem Annerle war meistens »nit recht extra zumut.«
Das letzte Ereignis hatte einen Stachel in ihrer Seele zurückgelassen. Sie hatte es bisher für ganz selbstverständlich gehalten, die Zeit, da sie dem Hansel nicht gefiel, in der langweiligen Abgeschiedenheit zu verbringen. Nachdem sie die zarte Fürsorge des Mannes im braunen Rocke beobachtet hatte, nagte das Bedürfnis an ihr, sich selbst und dem Fräulein Cornelie zu beweisen, daß der Hansel hinter jenem nicht zurückstehe. Als der Herr Geheimrat einmal wieder die Villa Uffenbacher mit seinem Besuche beehrte, weinte das Annerle und erklärte ihm, die Sehnsucht müsse dem Kindle schaden, wenn der Herr Geheimrat es nicht zuwege bringe, daß der Hans sie einmal besuche. Sie wisse wohl, da sei ein reiches Judenmädle, das er längst hätte heiraten sollen, und es käme ihr arg verdächtig vor, daß er sich gar nicht einmal nach ihr umschauen wolle. Versprochen habe er's ihr längst – aber wer niemals Wort hielte, das sei der Hans.
Am folgenden Sonntag kam der Hans. Der Bub vom Weichensteller trug einen Korb mit zwei Flaschen Sekt hinter ihm drein.
Annerle hatte die grauen Filzpantoffeln gegen ein paar allerliebste Schühchen mit hohen Hacken vertauscht, die spitzenumflatterte Matinee, ein Geschenk der Lucie Bubenberg, verhüllte ihre umfängliche kleine Gestalt. Die Stirnlöckchen waren zierlich gekräuselt.
Frau Uffenbacher band die weiße Schürze vor, die sie anzulegen pflegte, wenn ein »Herr« ihrer Anstalt die Ehre seines Besuches verschaffte. Auch die arme Toni putzte sich ein wenig heraus und erwähnte ihre Genugtuung, daß der Besuch des Hans auf den Sonntag falle, an dem der Papa mit dem seinen aussetzte.
Cornelie ließ sich das Essen auf ihr Zimmer bringen und lud die Toni dazu ein. Gegen Abend, während sie, die jetzt oft an großer Schwäche litt, auf dem von den unangenehmen Düften durchzogenen Kanapee ruhte, kam Annerle zu ihr herüber. Heiß und rot war das kleine mollige Mädchen, mit verzaustem Haar und glänzenden Augen. Sie wollte das Fräulein Cornelie recht schön bitten, ob sie nicht nach dem Nachtmahl ein wenig herüberkommen möchte und ein Glas Sekt trinken. Es sei französischer und der Hans sei so begierig, sie kennenzulernen, und so dankbar für die Freundschaft, die das Fräulein Cornelie seinem Mädle bewiesen habe. Und mit dem reichen Judenmädele, daran denke er jetzt gar nimmer. – »Aber wissens,« gestand sie zuletzt kleinlaut zu Corneliens Ohr hinabgeneigt, »im Kopf rumgangen ist ihm die Partie doch – sonst wär' er längst schon einmal hier gewesen! Ach, Fräulein Cornelie – die Mannsleut'! ... wenn man sie nur nit so arg gern hätt'.«
Cornelie ging hinüber in Annerles Zimmer, und sie tranken französischen Sekt aus den Waschtischgläsern, der Hansel, ein hübscher blonder Mann mit lachenden blauen Augen und gesunden weißen Zähnen, und sein Schatz, Hand in Hand auf dem Sofa sitzend, die Toni, welche gleich einen Schwips bekam und fortwährend kicherte, und Cornelie, für die der Hansel die besten seiner salonfähigen Anekdoten hervorsuchte.
Als der Hansel Abschied nahm, denn Frau Uffenbacher hielt auf ihre Reputation im Hause, übernachten durfte niemals ein Herr, und sei er auch Vater oder Bruder zu einem der Fräuleins – mußte Cornelie es sich gestehen, daß sie sich heiter angeregt fühlte und einen fröhlichen Abend verbracht hatte – unbeschadet der Tatsache, daß der Sekt nur aus Waschtischgläsern getrunken worden war. Oder vielleicht gerade deshalb.
Als Annerle endlich ihre Mutterschmerzen leiden mußte, kannte ihr Zorn über eine solche Ungehörigkeit der Natur keine Grenzen. Sie bekamen es alle zu hören, die Natur, das Schicksal – der liebe Gott auch. – Gar dem abwesenden Hansel, dem unmittelbarsten Anstifter dieser Ängste, wurden Kosenamen zuteil, wie er sie sonst nicht von den liebevollen Lippen seines Mädchen zu hören bekam.
Auch mit der Frau Uffenbacher zankte Annerle zwischen Stöhnen und Wimmern wie ein schwäbischer Rohrspatz. Aber wenn die sonst so zornwütige Hebamme im Dienst war, hatte sie sich ganz zur weisen Frau umgewandelt. Mit unerschütterlicher Sanftmut waltete sie ihres Amtes und nahm die seltsamsten Beleidigungen von ihren Fräuleins hin, während sie versicherte: Schimpfen täte den Kindbetterinnen gut und wär' gesünder als Schreien.
Zuhörer mußte das Annerle haben, sonst wäre ja die ganze Geschichte nur der halbe Spaß gewesen. Sie war nicht zufrieden, bis sie nicht abwechselnd alles, was sie in Schopfingen kannte, um ihr Bett versammelt sah. Cornelien und Toni ließ sie schon gar nicht von ihrer Seite, auch die Bärbe und die Fischerin sprachen am späten Abend noch vor und gaben Ratschläge und Meinungen.
Mit sanfter Gewalt brachte Cornelie Toni endlich zu Bett und legte sich ebenfalls nieder. Die Uffenbacherin hatte versichert, es könne Morgen werden, ehe das Ereignis stattfinden möchte. Cornelie versank in Schlaf, die Ohren noch erfüllt von dem Geschrei Annerles, da wurde sie am Arm gefaßt, Toni stand, ein Licht in der zitternden Hand, vor ihrem Bett ...
»Sie hat noch eben geschimpft: Kreuzsakra, jetzt ischt's mir aber zu arg – da war der Bub' da! Kommen Sie nur – er ist herzig –, Annerle sagt, Sie müssen ihn gleich anschauen! –«
Cornelie lief hinüber. Annerle lachte über das ganze von Schweiß betaute Gesicht.
»Einen Buben, gebt mir meinen Buben!« rief sie übermütig wie ein Kind, das glücklich aus dem Dunkel in die helle Stube kommt. »Jetzt bin ich aber stolz! Der Hansel hat mich immer geuzt, ich könnt' nie einen Buben zur Welt bringen – jetzt hat er die Bescherung, der Fratz!«
»Wenn du so weiter fortschwätzt, nachher hascht' morgen ein braves Milchfieber,« sagte die Uffenbacherin unter fürchterlichem Gähnen. »Hier ischt die Klingel – den Buben nehm' ich mit in mei Bett – nun geht schlafen, alle miteinand'.«