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Zehntes Kapitel

Aus Zürich traf noch eine lustige Ansichtskarte von der Lucie ein. Auch ihr Baron hatte unterschrieben. Dann hörte man geraume Zeit nichts mehr von dem reizenden Persönchen.

Cornelie fragte nicht weiter. Sie hatte, um ihren quälenden Phantasien zu entfliehen, die Gesellschaft der jungen Mädchen aufgesucht. Und solange die Lucie anwesend war, hatte sie sich dem Zauber ihres Wesens nicht entziehen können. Zuweilen war ein Neid in ihr aufgestiegen, vor dieser Fähigkeit, gedankenlos lachend zu genießen. Doch was ging sie im Grunde das leichtsinnige Mädel an? Sie wurde nun aufs neue von Widerwillen erfaßt gegen das verzerrte, verrenkte Abbild der Heiligtümer ihrer eignen Tempel, das sie in ihren Hausgenossinnen beständig vor Augen sah.

Sie fühlte sich in der letzten Zeit körperlich kräftiger, streifte viel in der Gegend umher, schrieb und studierte. Sie lauschte, in traurige Träume versunken, dem mit heftiger Ungeduld sich regenden jungen Leben unter ihrem Herzen. Dieses Seltsame, einen fremden Willen in sich zu tragen, der da mit bestimmter Energie seinen Zielen entgegenstrebt ... Sehr früh hatte sie ihn in sich gespürt – hatte an ihm zuerst erkannt, sie sei zur Mutterschaft erkoren ... Dieses Schauerlich-Heilige, sich nur als ein Gefäß zu fühlen, in dem sich eine neue Zukunft mit tausend Möglichkeiten und Hoffnungen vorbereitet, ergriff sie oft mit staunendem Ahnen über die unergründlichen Quellen alles Werdens. Und sie begann mit einem leisen Bedauern des Mannes zu denken, der sich all dieses heimlich-tiefen Erlebens, das er hätte mit ihr teilen sollen, beraubte, weil er einen unbestimmten Begriff der Freiheit als ein Schild vor die Bürde der Verantwortung hielt, die seinen geschonten ästhetischen Sinnen allzuschwer und niedrig zu tragen dünkte. In diesem Bedauern zerrann allmählich der krankhafte Abscheu, der sie bisher jedes Erinnern hatte meiden lassen.

Das Ungestüm, mit dem das kleine Geschöpf in ihr sich seiner engen Haft zu erwehren schien, mußte sie schon an den einst so sehr Geliebten, an seine heftige, stürmische Natur gemahnen. Solche Art fühlte sie als etwas dem eignen Wesen völlig Fremdes. Ihre schwersten Kämpfe waren allzeit schweigend und ohne viel äußere Bewegung durchgerungen worden. Jäh und still war sie ihren Weg gegangen, und als der laute Ruhm ihr begegnete, hatte sie anfangs nur erschrocken versucht, ihm zu entweichen. Er hatte sie erobert, nicht sie ihn – so war es wohl gewesen.

Und auch der Mann hatte sie erobert, jäh, ungestüm, mit der Lebenswärme und Jugendkraft, die so strahlend von ihm ausging, daß sie sich ihr in schneller Bezauberung unterwarf.

Schon als ein Mädchen von fünfzehn Jahren dünkte es sie ein wunderliches Rätsel, wie eine Verbindung zwischen zwei Menschen heiliger, reiner und fester werden könne durch die Erfüllung einer äußeren Form, durch Worte, die ein vom Staat oder von der Kirche Bevollmächtigter spricht. Wie so vielen Rätseln, mochten auch diesem praktische Ursachen zugrunde liegen. Was kümmerten diese praktischen Ursachen sie und ihren Geliebten? Ihnen beiden kam es doch nur darauf an, zum Inhalt und Kern der wahrhaftigen Liebesvereinigung durchzudringen. So wenigstens hatte Cornelie gemeint.

Allmählich – in diesen Monaten inneren Schauens – erkannte sie immer tiefer, daß das Wesen der Ehe, mochte sie durch eine Trauung bürgerlich sanktioniert sein oder nicht, im letzten Grunde die Herrschaft und Tyrannei der Frau über den Mann bedeutet. Und hier – auf diesem Punkte hatte ihr die Kraft versagt. So war es immer schon gewesen. Jedesmal wenn ein Mann ihr huldigte, war ein Augenblick gekommen, wo sie hätte um seinen Besitz kämpfen müssen, wo er es gewissermaßen als Liebesbeweis erwartete, daß sie mit listiger oder stürmischer Tyrannei ihr Recht auf ihn geltend machen müsse. Und dann war es, als ob der weibliche Instinkt ihr versagte – lässig, vornehm, degoutiert öffnete sie die Hände, und entließ ihn zurück in die Unabhängigkeit, in die Gleichgültigkeit. So hatte sie früher manchen Bewerber von sich gescheucht.

So hatte sie zuletzt auch auf Rudi Imgart verzichtet. War sie, trotz aller Liebes- und Hingebungsfähigkeit, zur Ehe unbrauchbar?

Gerade der hohe Begriff von menschlicher Freiheit und Selbstverantwortung, den sie in sich entwickelt hatte, und auf den sie stolz war, weil sie fühlte, daß er sie über die Mehrzahl der Frauen stellte, machte es ihr unmöglich, ihr ganzes Wesen in der Herrschbegier der Liebe zu konzentrieren.

Freude an der gegenseitigen Freiheit hatte sie zueinander geführt, ein frohes Schenken und Nehmen hatte ihnen beiden die Liebe bedeutet. – Cornelie war es nur natürlich, als die Stunde der Gefahr kam, von dem Manne, den sie liebte, die feinste Treue, die ritterlichste Hingebung zu erwarten.

Er hatte versagt. – Einen Mann, den sie hätte beherrschen und unter ihren Willen zwingen müssen, der wäre ihr widerlich geworden. Sie hätte ihn nicht haben mögen zum Vater ihres Kindes. Aber noch weniger hätte sie ihn an ihr heiligstes Gefühl für Recht und Unrecht rühren lassen.

Jetzt sah sie um sich her in dem Reden, Denken und Handeln all dieser Mädchen das typische Frauenwesen sich enthüllen – nicht mehr versteckt unter mannigfachen, gesellschaftlichen und konventionellen Masken. Sie sah es sich in seiner ungeschminkten Wahrheit enthüllen, sie sah die schrankenlose Nachsicht und geduldige Güte der Mädchen gegen ihre Liebhaber, die sich doch alle mehr oder weniger feige und erbärmlich benahmen, sie sah aber auch ihr verzweifeltes Hängen an dem bißchen Freude, was sie durch den Mann bekamen, sah, wie alle, mit Ausnahme der armen Toni, deren Geschick in sich selbst eine Ausnahme bildete, sich unaufhörlich demütig, emsig bemühten, die Gunst ihrer Gebieter auf jede nur mögliche Weise, und sei es um den Preis der letzten Selbstachtung, zu bewahren, die Männer festzuhalten, mit zäher, entschlossener, gieriger Kraft, und in ihrem kleinen Reiche, dessen Grenzen ja eng genug gesteckt sein mochten, unbedingt das Zepter zu führen.

Keine von ihnen ließ sich die Kosten ihres Aufenthaltes bei der Uffenbacher von ihrem Liebhaber zahlen – durch Erniedrigungen der bittersten Art, durch Schluchzen und Jammern vor Basen und Onkels, hatten sie es alle erreicht, die jungen Männer von dieser Steuer zu befreien, um nur ja nicht darüber ihrer Neigung verlustig zu gehen. Selbst die Luis, das arme Dienstmädel, das keine Base und keinen Onkel besaß, war erst vier Wochen vor ihrer Zeit gekommen und half bei der Uffenbacher in Küche und Garten, um nur halbes Kostgeld zu zahlen, und ihrem Dienstherrn, einem wohlhabenden und verheirateten Manne, der sie verführt hatte, keine Ungelegenheiten zu machen.

Von der Rose von Ulm aber wurde erzählt, sie habe die ganze Woche kein Obst und kein Süßes gegessen, damit sie dem Herrn Leutnant, wenn er sie Sonntags besuchte, im Gasthof ein warmes Frühstück vorsetzen konnte.

Sie waren es sich gar nicht einmal bewußt, daß sie Opfer brachten – es wäre ihnen nicht eingefallen, daß Männer auch anders sein und handeln könnten. Cornelie würde nicht gewagt haben, sie darüber aufzuklären. Folgten sie doch, unbeirrt von Bildung und Idealen, einfach den Urinstinkten des Weibes, waren also in ihrem Recht.

Cornelie kam sich zwischen ihnen als eine Absonderlichkeit – beinahe als eine Anomalie vor. Sie hatte nie geahnt, daß ihre innere Kultur sie so weit von der allgemeinen Spezies »Weib« entfernte, weil ihre Umgebung ja bisher mehr oder minder auch aus solchen Abweichungen bestanden hatte. Zuweilen war sie sich fast unheimlich.

Unter diesen sie fortwährend umgebenden Einflüssen begann sie langsam – nach und nach – den Vater ihres Kindes milder, gerechter zu beurteilen. Wahrscheinlich hatte sie Zartheiten der Empfindung und des Handelns von ihm erwartet, zu denen er seiner Mannesnatur nach einfach nicht fähig war – zu denen die Art des Mannes sich nur unter dem Drucke bürgerlichen Pflichtenzwanges nötigen läßt.

Gleich einem siebzehnjährigen Backfisch hatte sie gläubig auf »das Wunderbare« geharrt: Seinen frischen Frohsinn hatte sie als Ergänzung ihrer schwerblütigen Grüblernatur mit innerm Jubel geliebt – hatte geträumt, aus einem freudigen Genießer könne ein freudiger Entsager, ein Mann der Tat und des Kampfes hervorgehen. Aber Zeichen und Wunder geschehen nur unter dem Feuerkuß der Leidenschaft –. Auch er wäre wohl im Rausch der Sinne über seine eigne, im Grunde zaghafte Natur hinauszuheben gewesen – immer doch nur für die Augenblicke der Leidenschaft ... Als sie seine schützende Liebe am notwendigsten gebraucht hätte, war ihr versagt, seine Glut zu reizen – sie hätte solches wie eine Entweihung ihrer keimenden Mutterschaft empfunden. Da hätten andere Mächte reden müssen ... Und er wurde blind und taub gegen ihre sanften Stimmen aus Angst vor dem Leben. War möglicherweise die Furcht ein sicherer Instinkt, daß seine Kräfte wirklich nicht ausgereicht hätten ...?

Vielleicht glich seine Begabung jenen Traubensorten, die nur in der Sonne gedeihen, sich zartbehaucht am Rebgelände schaukeln und auch im Sonnenschein genossen werden müssen, wenn sie nicht dürr und trocken werden sollen. Und hatte Cornelie in manchen stolzen Augenblicken die Gewißheit in sich empfunden, daß ihre Schaffenskraft durch Qual und Leiden wie durch eine notwendige Folter gehen mußte, um ihre letzte beste Süßigkeit und Würze herzugeben – durfte sie ihm grollen, weil er so verschieden von ihr selbst, aus dem unbegreiflich reichen Schoß der Mutter Natur hervorgegangen war?

Täglich wurde Cornelie ruhiger, in der Sicherheit, recht gehandelt zu haben, als sie eine Lebensgemeinschaft ablehnte, die dem Manne zum täglichen Opfer geworden wäre. Mit stillem Lächeln nahm der Haß von ihr Abschied. Sie konnte wieder der Stunden denken, da sie beide fröhlich durch Herbstgold und Winterschimmer gewandert waren, an alle traulichen Zwiegespräche über feine, köstliche Dinge, von denen nur sie beide wußten.

Sie stellte sich nun gerne vor, daß das Böse, Grausame, welches in der letzten schweren Zeit an ihm hervorgetreten war, wieder verschwinden mußte. Sie hatte ihm sein besseres Teil gerettet und er blieb die heitere, etwas phantastische Gestalt, der fahrende Geselle, mit den leichten Versen auf den Lippen, dem schnell lodernden Zorn gegen alle dumpfe Alltäglichkeit – mit der glühenden Andacht vor der Schönheit der Welt.

Sie meinte, wenn sie sich recht intensiv der lieben und schönen Seiten seines Wesens erinnere, könne sie ihrem Kinde als ein Erbe alles, was sie an seinem Vater geliebt hatte, übermitteln. Auf diese Weise kam sie dazu, wenn auch nicht mit Sehnsucht oder hingebender Wärme, so doch mit einer Freundlichkeit und einer Art mütterlicher Nachsicht seiner zu denken. Das würde sie noch vor wenigen Wochen nicht für möglich gehalten haben.

Und gerade in dieser Zeit geschah es, daß ein Brief von Rudi Imgart sie auf mancherlei Umwegen erreichte. Er fragte bescheiden, aber inständig nach ihrem Ergehen und bat sie, ihm ihren Aufenthaltsort und die Zeit, da sie ihr Kind erwarte, mitzuteilen. Es war ein Ton in den wenigen Worten, wie in der schüchternen Bitte eines Knaben an seine Mutter, ihm zu verzeihen, und ihm wieder gut zu sein. Das stand wohl nicht ausgesprochen dort auf dem Blatte, aber Cornelie las es zwischen den Zeilen, wie sie immer in seiner Seele zu lesen vermocht hatte. Sie weinte über den Brief und fühlte dabei, wie hoffnungslos kalt es in ihr geworden war. Wäre sie nun in der Gesinnung den kleinen Bewohnerinnen des Tränenhauses ähnlicher gewesen – am Ende hatte sie ihrem Kinde den Vater zu retten vermocht ...

War es nicht noch möglich, wenn sie auch auf ihr letztes Besitztum, ihren letzten Weibesstolz verzichtete? Forderte die Mutterschaft auch dieses härteste Opfer von ihr?

Einmal hatte sie geglaubt, für ihr Kind stolz sein zu müssen – hatte in den ersten Regungen seines jungen Lebens seine Antwort zu spüren gemeint.

Sollte sie geirrt haben? Es überkam sie eine abergläubische Furcht, wenn sie sich nicht bis zum äußersten demütige, könne das Schicksal, oder Gott, oder welche geheimnisvolle Macht über den Menschen walte und Zerknirschung, Selbstentäußerung, Demut erwarte, ihre Schuld an dem Kinde strafen. Der Gedanke verließ sie nicht wieder.

Nach einigen Tagen antwortete sie Rudi Imgart kurz und freundlich, nannte ihren Aufenthaltsort, bat ihn jedoch, ihre Zurückgezogenheit zu achten, und nicht weiter nach ihr zu fragen.

Und wieder nach einer kurzen Zeit schleppten Toni und Annerle mit geschäftiger Wichtigkeit einen Korb, den der Postbote gebracht hatte, in Corneliens Zimmer. Sie begannen sofort an Schnüren und Siegeln zu reißen und sahen dabei neugierig zu Cornelien auf, die zusammengefaßt neben ihnen stand und keine Miene machte, ihre teilnehmende Wißbegier zu befriedigen.

Da erhob sich denn Toni zuerst, warf Annerle einen mahnenden Blick zu, und nachdem sie den Korb bis zum bequemen Öffnen fertig aus seinen Hüllen gelöst hatten, verließen sie beide das Zimmer.

Cornelie wandte sich ab, ging zum Fenster, starrte in die Nesselwildnis, die darunter mit sommerlicher Üppigkeit dunkelgrün emporgeschossen war und dachte, wie weh es tun müsse, wenn man dort mit den Händen hineingreife. Sie verfolgte den Storch, der schwerfällig die großen Flügel schlagend, in der Luft sichtbar wurde, wie er seiner abendlichen Wiesenjagd zusteuerte.

Vom Herzen aus lief ihr ein ziehender Schmerz, den sie lange nicht mehr gespürt hatte, durch die Brust und an den Armen hinunter bis in die Fingerspitzen.

Sie erschrak. So wund war alles noch in ihr?

Dann ging sie und öffnete den Korb. Er war gefüllt mit weißem feinen Linnenzeug, wie ein Kindlein es braucht, wenn es zum Leben kommt. Gleich Flaumgewölk entquoll es ihm, als Cornelie hineingriff und die Gegenstände aus der weichsten Wolle, dem zartesten Gewebe, durch ihre kalten Finger gleiten ließ.

Sie saß auf dem Boden, legte den Kopf an das Weidengeflecht und ihre Tränen fielen auf die Hemdchen und Jäckchen, wie Nachttau aus den Tiefen der Erde quillt. Und so weinte sie ihren letzten Stolz in Schlaf und Traum.

Als sie sich endlich erhob und die kleinen Dinge zu denen, die sie selbst genäht hatte, ordnete, war ihr Gesicht noch von Tränen feucht, doch rosenrot und wie ein nadelfeines, grünes Grasspitzchen streckte eine kleine, wunderlich junge Freude ein Fühlfädchen durch erstorbene Trümmer.

Sie dankte Rudi und bat ihn, ihr Kind lieb zu haben, wenn sie sterben sollte. Aber sie glaubte jetzt nicht mehr so sicher, daß sie sterben würde.

An demselben Abend erhielt Annerle die Nachricht, sie solle ihre mütterliche Freundin, die Frau Bubenberg aus Ilferlingen auf dem Bahnsteig treffen. Frau Bubenberg fuhr zu ihrer Tochter nach Zürich. Und schluchzend erzählte Annerle, als sie heimkam: Ein Telegramm habe sie dorthin gerufen, die Ärzte gäben wenig Hoffnung für das Leben der reizenden Lucie, welche dort in einer Frauenklinik sich einer schweren Operation habe unterziehen müssen. Im besten Fall war eine lange Leidenszeit dem armen Glücksvogel gewiß.

»Der Baron hat's halt gewollt,« murmelte Annerle.

Schweigsam saßen die Mädchen beisammen. Wie Nebelschatten zogen die Erinnerungen der Versuchung durch ihre fröstelnden Herzen.


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