Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Graf von Lerida hatte, nachdem sich der Jonier und die Spanier am Golf von Tarent von ihm getrennt, den französischen Legitimisten und seinen Gefährten, wie er versprochen, an einem Punkt der ligurischen Küste ans Land gesetzt, von wo sie mit der Eisenbahn nach kurzem Verweilen auf dem Felsenschloß des abenteuerlichen Spaniers ihren Weg nach Paris fortsetzen konnten. In Neapel hatte auch Dr. Walding bei dem kurzen Aufenthalt, den die Victory dort machte, die Reisegesellschaft verlassen und nur versprochen, später auf dem Wege nach Paris den Spanier wieder aufzusuchen, wenn er erst über seine Bestimmung einen Beschluß gefaßt hätte.
Welches sonst die Absicht des ernsten stillen Mannes auch sein mochte, er verhehlte sich selbst nicht ein gewisses Interesse, das er an dem Schicksal seiner Gefährten vom Arkiko bis zum Nil genommen, und das sich auch auf das chinesische Mädchen erstreckte; er wollte jedenfalls nicht nach seinem Geburtslande zurückkehren, ehe er sich nicht von ihrer aller Ergehen überzeugt hätte. War ihm doch der Abschied von Grimaldi schon schwer genug geworden und er in Versuchung gewesen, diesen an die Küsten des Jonischen Meeres zu begleiten. In Neapel oder Rom hatte er versprochen, weitere Nachrichten von ihm zu erwarten, ehe er die Alpen überschritten. Schon jetzt empfand er eine gewisse Sehnsucht nach dem Orient, und er betrachtete daher seinen Aufenthalt in Italien als eine Zwischenstation für sich und seine Erinnerungen, die er sich und seiner Vergangenheit schuldig sei.
Außerdem wünschte er erst über die ihm ganz fremd gewordenen Verhältnisse in der Heimat sich zu informieren und fühlte, daß dies am besten in der Schweiz oder in den Alpen geschehen könne. So entschloß er sich, einstweilen zu bleiben, wo er war, und, da ihm die reiche Besoldung des Negus, nebst dem Verkauf der beiden kostbaren Ringe aus Indien und sonstigen Kleinodien eine gewisse Selbständigkeit gab und seine und Kumeos Bedürfnisse ohnedies gering waren, so wollte er sich der Heimat nur langsam nähern, bis dahin aber dem Zufall seine Zukunft überlassen.
Ein unerwartetes Ereignis eröffnete ihm überdies einen neuen Wirkungskreis.
Die Rückkehr des Dr. Walding und des Grafen von Lerida von der abenteuerlichen Reise durch die Nil-Lande, auf der er mit dem Jugendfreunde des Majors Maldigri im Golf von Tarent zusammen traf, fand Ende August 1861 statt, sodaß Dr. Walding also Ende September in Neapel zurückblieb. Wenn auch die Neger-Physiognomie in Neapel nichts Seltenes ist, so war es doch dem zutunlichen Benehmen Kumurs, des einzigen Begleiters und Dieners des Arztes, leicht geworden, in dem kleinen Quartier, das sie bezogen, sich sehr beliebt zu machen. Die Mitteilung an seine Nachbarn, daß sein Herr ein sehr geschickter Arzt aus dem Orient sei, und einige ausgezeichnete Kuren, die Dr. Walding unentgeltlich unter den ärmeren Bewohnern ausführte, hatten dazu beigetragen, ihm rasch einen besonderen Ruf zu verschaffen, und da gerade deutsche und verständige Ärzte fehlten, hatte es nicht lange gedauert, bis ihm von Seiten der Stadtbehörden und der neuen Regierung angetragen worden war, die Stelle eines Oberarztes in einem städtischen Hospital zu übernehmen. Bei der Mannigfaltigkeit der Fälle, bei seiner Kenntnis der Mittelmeersprachen und seinen sonstigen guten Verhältnissen war es dem deutschen Arzt nicht schwer geworden, sich hier bald eine Stellung zu verschaffen, die allen seinen Wünschen entsprach, und vielfache Gelegenheit bot, seine Kenntnisse zu verwerten. Einige vorzügliche Kuren, die er machte, zogen bald die Aufmerksamkeit des Militärchefs auf ihn, und es hätte nur an ihm gelegen, sich eine sehr lukrative und dauernde Oberstelle zu sichern. Dr. Walding zog es jedoch vor, ein freier Mann zu sein und seine Muße der Bereicherung seiner Kenntnisse und den in diesem Lande gerade so reich sich bietenden Forschungen der Natur und Kunst zu widmen. Dennoch war sein Einfluß in der Stellung, die er sich gewählt, nicht unbedeutend, von vielen Seiten her wurde seine Wissenschaft in Anspruch genommen, und er war bald geschätzt und beliebt. Dazu kam sein stilles und ernstes Wesen, das ihn von allen Vergnügungen fern hielt und selbst seinen Umgang sehr beschränkte.
Es gibt Orte und Zeiten, in denen sich die halbe Welt zusammen zu drängen scheint und zu diesen Sammelpunkten gehörten im Jahre 1861 und 1862 sicher Rom und Neapel, obgleich seit der Besetzung durch die Sardinier das Leben der letzteren Stadt ein ganz anderes als früher geworden war. Das Bummeltreiben der Lazaroni und der Hang zum ewigen Müßiggang unter dem prachtvollen Himmel bei den geringen Bedürfnissen des Volks war freilich schon durch die politische Lage einer ernstern Auffassung des Lebens gewichen. Den Lazaronis, dieser ewigen Quelle politischer Unruhen, wurde sehr bald durch die Alternative der neuen Regierung, zu arbeiten und einen ehrlichen Lebenserwerb aufzuweisen oder nach Sardinien auszuwandern, eine Ende gemacht, aber noch währte die Herrschaft der Sarden zu kurze Zeit, um allen mit dem Klima und den Eigenschaften des Volkes verbundenen schlechten Gewohnheiten ein Ende zu machen. So war denn auch heute bei dem prächtigen Abend des August, der gewöhnlich in Italien die Nacht zum Tage macht, das Leben und Treiben auf der Chiaja ein überaus belebtes. Männer und Frauen aller Stände der Bevölkerung und der zahlreichen Garnison bewegten sich am Strande des Meeres, auf dem Largo del Palazzo und über die Toledostraße hinaus. Ganz Italien, Griechenland, Frankreich und selbst die Barbaresken-Staaten, wie die Inseln des schönen Golfs, hatten ihr Kontingent beigesteuert. Die größere Sicherheit des Landes begann sich wieder in dem Fremdenverkehr zu zeigen, und der Hafen wimmelte von Kriegs- und Kauffahrteischiffen, die Dampfer von Genua, Marsaille und Palermo zogen wieder über das tyrrhenische Meer, und das leichtlebige Volk schien bereits all das Blut und Elend vergessen zu haben, das die letzten Jahre ihm gebracht. Nicht weit von der Toledostraße nach der Chiaja hin am Ufer des Golfes lag ein Kaffeehaus, das viel von Einheimischen und Fremden besucht wurde. Auch am heutigen Abend war der Verkehr dort ein sehr lebhafter. Neben einem Tisch mit verschiedenen Offizieren der Garnison und einigen Fremden besetzt, befand sich auch ein solcher mit einer sehr gemischten Gesellschaft. An einem Ende desselben saß ein Mann, der den blauen Rock eines deutschen Seekapitäns trug, neben einem andern Seemann von martialischem Ansehen, dem er großen Respekt zu erweisen schien. Weiterhin am Tisch war ein Mann in mittleren Jahren, der die Halb-Uniform eines sardinischen Militär-Arztes trug, im ganzen sich wenig um die Gruppen bekümmerte, eine Zeitung las und nur, als er zufällig einen Ausruf des deutschen Kapitäns in der Sprache seiner Heimat gehört hatte, näher zu diesem heran gerückt war. Das Gesumme der Stimmen und verschiedenen Mundarten war betäubend, französisch, italienisch, englisch, selbst griechisch schwirrte hin und her, ohne daß der Fremde darauf achtete. –
»Wie ist es Ihnen gelungen, Kapitän, mich aufzufinden in all dem Treiben unter Tausenden von Fremden? Mein rastloses Suchen zeigt am besten, wie schwer es ist, eine Spur in diesem Lande zu finden, und hätten sie mich nicht heute im Hotel d'Angleterre erwischt, ich wäre morgen nach Rom aufgebrochen, um noch einmal meine Nachforschungen zu beginnen, da mir von dort der letzte Fingerzeig wurde. Ich bin kein Freund der Bourbonen, aber diesmal schulde ich Ihnen Dank, und Kapitän Lautrec ist nicht der Mann, damit hinterm Berge zu halten.«
»Der Wunsch, Mademoiselle sobald wie möglich einen Aufenthalt am Lande zu gewähren, ließ mich im Hotel nach Ihnen fragen und Sie glücklich finden. Sie wissen, daß Sie versprochen haben, noch diesen Abend wieder zurückkehren.«
» Pardioux! Hat mich die Kleine fast zwei Jahre entbehrt und die Reise durch halb Frankreich allein in Gesellschaft eines windigen Marquis gemacht, um Sie und mich zu treffen, so wird sie wohl auch die paar Stunden warten können. Die Bekanntschaft mit dem Marquis scheint ohnehin wichtiger zu sein, als Sie meinen, und wenn mich nicht noch die Hoffnung mit Rom wach hielte, so packte ich sie auf der Stelle morgen in ihr Schiff und kehrte nach Guadeloupe zurück, ohne Paris wiedergesehen zu haben.«
»Sie wissen, Kapitän, daß grade der Graf von St. Brie einer von denen ist, die Ihren Neffen zuletzt gesehen und der Mademoiselle Josephine ausdrücklich nach Neapel begleitet hat, um Ihnen bei den Nachforschungen beizustehen.«
»Ich weiß, und es ist brav von dem jungen Mann, daß er die Meldung bei Lamarmora nicht gescheut und sich unter den Schutz des französischen Konsuls gestellt hat. Gentleman bleibt immer Gentleman. Dennoch, wenn ich nicht mit den Herren Jesuiten und den Damen vom Sacré coeur mir vorgenommen hätte, ein andres Wort zu sprechen und der russischen Fürstin meinen Dank zu sagen für den Schutz, den sie Josephinen gewährt, brächten mich vier Pferde nicht nach Paris, und ich begleitete Sie direkt nach Havre und den Antillen, da Sie nun einmal Ihr Wort gegeben haben, dahin zurückzukehren. Ihre hübsche Cousine, die fromme Herrnhuterin, würde wohl auch sonst selbst den Weg von St. Thomas nach Deutschland gefunden haben.«
»Der General hatte es zugesagt, nochmals in allen Militär-Lazarethen die genauesten Nachforschungen halten zu lassen, um sich wenigstens die Gewißheit seines Todes zu verschaffen. Ich finde das Benehmen des Marquis von St. Brie sehr edel und chevaleresk,« bemerkte der Kapitän.
»Meinetwegen! Wenn er auch seine besondere Absicht dabei hat. Wenn nun einmal mein Lieblingswunsch nicht erfüllt werden soll und Sie die Josephine nicht mögen, was mir, ehrlich gesagt, sonst das Liebste wäre, weil ich weiß, daß sie dann einen braven Seemann zum Manne kriegte, so mag es immerhin der windige Marquis sein. Es ist dann doch wenigstens echtes französisches Blut, wenn er auch ein Bourbon ist.«
»Und brav ist der junge Mann, das hat er bei der Verteidigung von Gaëta bewiesen. Ich weiß, welchen Dank ich Ihnen schuldig bin und, wenn mein Leben und meine Zukunft nicht meinem deutschen Vaterlande gehörten, möchte ich sie niemand lieber danken, als Ihnen.« Der Kapitän reichte ihm über den Tisch die Hand und schüttelte sie kräftig.
»Ich glaubte schon. Sie hätten eine gewisse Neigung für die schöne Braut Ihres Bruders, und das wäre die Ursache, die ihr Herz stählte vor jeder anderen Neigung. Indes so oder so, Sie sind ein tüchtiger Mann, und was geht's den alten Lautrec an. Nehmen Sie mein Wort, wenn die Nachricht von Rom wieder mißglückt, führen Sie mich und die Josephine von Havre nach Guadeloupe, und meinetwegen auch den Marquis, dann sind Sie frei, und wir können weiter über die Schiffsangelegenheit reden.«
Der Fremde war nicht ohne Interesse dem größten Teil der Unterredung gefolgt, da verschiedene Personen erwähnt wurden, die er zu kennen glaubte. Jetzt wandte er sich zu einem schwarzen Diener, der eben zu ihm trat, ihm eine Meldung zu machen.
»Was willst Du, Kumur? Du hast einen Brief?«
»Ja, Sidi, schon vor mehreren Tagen ist ein solcher beim Albergo abgegeben worden, aber man hat Ihre Adresse vergessen; möge er Ihnen Glück bringen, Sidi.«
»Er muß einen Umweg gemacht haben, denn er kommt von Brindisi. Der Stempel zeigt, daß er schon vor mehreren Tagen aufgegeben ist.« Er öffnete den Brief. »Erinnerst Du Dich des Griechen, den wir im Golf von Tarent bei den unglücklichen Spaniern verließen?«
»Ja, Herr.«
»Wir dürfen ihn erwarten; noch in diesen Tagen will unser Gastfreund nach Neapel kommen. Gib dem Albergo unsere Adresse, daß er ihn zu uns sendet, sobald er nach mir fragt.«
Der Fremde hatte sich in den Brief vertieft.
»Schade,« bemerkte er, »daß es keine deutsche Zeitungen in Albergo gibt, es fehlt doch wahrhaftig nicht an deutschen Landsleuten hier.«
Ein Fremder, der an demselben Tisch saß, wandte sich zu ihm. »Verzeihen Sie, daß ich mich Ihnen aufdränge, ich höre soeben, daß Sie über Mangel an deutschen Zeitungen klagten. Ich komme direkt aus Deutschland, machte eben nur in Neapel Station auf dem Wege nach dem Orient, und es wird mich freuen. Ihnen Mitteilungen über deutsche Verhältnisse machen zu können, da ich erst im vorigen Monat Berlin verlassen habe.«
Der friesische Kapitän wandte sich ebenfalls dem neuen Sprecher zu. »Verzeihen Sie,« sagte er in deutscher Sprache, »wenn ich gleichfalls dem Bericht zuhöre. Mein Name ist Claus Hansen, und seit dem vorigen November, wo ich die friesische Küste verlassen, habe ich Deutschland nicht wieder betreten und bin jetzt auf den Ruf meines Freundes und Rheders, des ehrenwerten Kapitän Lautrec, aus Guadeloupe mit seiner Tochter, und ihrem Bräutigam von Marsaille herübergekommen, um ihn heim zu holen. Seit Juni vorigen Jahres habe ich nur wenig von Deutschland gehört und noch weniger gesehen. Ihr Bericht würde für mich also gleiches Interesse haben.«
»Es ist allerdings etwas länger her, daß ich deutsche Laute nicht gehört«, sagte der Arzt, »denn ich war vor wenig Jahren noch in Indien und in der letzten Zeit Leibarzt des Negus Theodor von Abbessinien, von dem ich im vorigen Sommer durch die Wüste zum Nil kam. Jetzt bin ich vertretender Oberarzt in dem großen Militär-Lazareth der Regierung. Es sollte mich freuen, wenn ich Ihre Mitteilung mit einer Neuigkeit aus Griechenland erwidern könnte. Wenn ich recht verstanden, gehen Sie ja nach dem Orient.«
»Nach Smyrna,« erwiderte der Fremde, »wo ich lange und während des orientalischen Krieges General-Konsul war, und von wo ich meine Familie nach Deutschland zurückhole.«
Die kurze Vorstellung der drei Fremden genügte, um sie wenigstens äußerlich miteinander bekannt zu machen. »Nach Ihrem Rock zu urteilen,« sagte der General-Konsul, »sind Sie Seemann und gehören zur deutschen Flotte?«
Der Kapitän lächelte spöttisch. »Zur deutschen Flotte! die existiert meines Wissens nicht mehr, sie müßte denn unter Hamburger Flagge segeln, und eigentlich einen französischen Reeder haben, wenn Sie mich, obgleich ich ein freier Friese bin, einmal zur deutschen Flotte zählen wollen. Die Aussichten für eine solche wären schlecht genug; ohne Preußen an ihrer Spitze wird nie was Großes hergestellt werden, und ich erinnere mich, daß die ewigen Nörgeleien des Bundestages wenig Aussicht dazu lassen. Alle Sammlungen des National-Vereins vermögen keine deutsche Flagge zu schaffen, solange ein Großstaat mit Mitteln und Küsten sich nicht an die Spitze stellt, und leider kann ich Ihnen die Gewißheit geben, daß meine letzte Erfahrung in deutschen Wässern die Überzeugung war, daß Preußen sein schönes Schiff, »die Amazone« unwiederbringlich verloren hat. Das ist das zweite Unglück, das die junge preußische Flotte trifft, möge es den neuen und wie ich höre, so kräftigen, wie tätigen König nicht abschrecken, an dem Werke fort zu arbeiten. Erlauben Sie, meine Herren, daß ich zu Ehren des Zusammentreffens mit Landsleuten eine Flasche von dem köstlichen Wein dieser Küste kommen lasse, um auf die ferne Heimat anzustoßen?«
Der General-Konsul verneigte sich. »Ich muß Sie bitten, mir wenigstens die Wahl des Weines zu überlassen, da ich mehr als einmal in Neapel gewesen bin. Ich halte das rote Blut von Salerno für das kostbarste Naß und weiß, daß der Wirt es führt!« Er bestellte bei dem aufwartenden Kellner rasch eine Flasche mit vier Gläsern. »Zum Dank für Ihre Freundlichkeit sollen Sie gleich eine Nachricht hören, die Ihr deutsches und seemännisches Herz hoffentlich erfreuen wird. Am Bundestag, der sich noch immer in Einzelheiten um den dänischen Streit verliert, obgleich er endlich einmal ein energisches Ende machen und eine bestimmte Erklärung abgeben sollte, hat der Antrag Preußens und Hamburgs auf sofortige Herstellung einer geeigneten Flottille zum Schutz der Küsten alle Aussicht, zum Beschluß erhoben zu werden; daß der König von Preußen im März bereits den liberalen Teil seines Ministeriums entlassen hat, werden Sie wissen.«
»Was ich aus den französischen Zeitungen davon gelesen, ist alles, was ich weiß, und ich glaube, Sie werden sich auch den Dank unseres neuen Freundes, des Arztes, erwerben, wenn ein so informierter Mann wie Sie, über den Gang der Ereignisse seit der neuen Regierung uns kurz unterrichten will.«
Der General-Konsul nahm sofort das Wort, denn er sprach gern und geschickt.
Der französische Kapitän fand, obgleich er kein Deutsch verstand, genug Unterhaltung in der Beobachtung der Szenen umher, und der wunderbaren Beleuchtung des Golfs.
»Da es Ihnen wohl zuerst darauf ankommt,« berichtete der General-Konsul, »was in Schleswig und Preußen geschehen, so mache ich Sie daraus aufmerksam, daß Dänemark mehrfach versucht hat, den Forderungen des deutschen Bundes und der Einführung der Selbständigkeit der Herzogtümer sich zu entziehen, daß man aber eifrig bestrebt ist, es zu seinen Pflichten anzuhalten. Der sogenannte Nationalverein, der sich für die Einigung Deutschlands gebildet hat, an dessen Spitze die Parlaments-Männer von 1848 stehen, ist streng dahinter her; doch scheint mir im Hintergrund ein Teil der Regierung zu stehen. Im ganzen scheint man über die Form des Bundes und über das Recht des Volkes, über seine Angelegenheit im Parlament mitzusprechen, einig zu sein Es kommt nur darauf an, wer an der Spitze stehen soll, Österreich oder Preußen? Preußen hat viele Gegner, da die Welfen, die Sachsen und Wittelsbacher sich für gleichberechtigt halten. Hieraus erklären sich all die Intriguen, die gesponnen werden. Die südlichen Staaten halten sich größtenteils zu den Österreichern und bilden eine Art Rheinbund. Einer der energischsten Gegner, den Preußen findet, ist der sächsische Minister v. Beust. Die zweite preußische Kammer steht noch immer im vollen Konflikt mit der Regierung über die Armee-Reorganisation und benutzt die Gelegenheit, um der Krone soviel als möglich Rechte zu entziehen und sie unter die Herrschaft der demokratischen Partei zu stellen, die offenbar jetzt das Übergewicht hat in Berlin wie im Lande. Die Kammer wurde deshalb im März 1861 aufgelöst, aber die Neuwahlen haben kein anderes Resultat ergeben, dagegen regt sich die konservative Partei, die alten Königstreuen, mächtig in den verschiedenen Provinzen.
Von allen Seiten kommen Deputationen und Petitionen an den König mit der Bitte um ein festes Regiment. In dem Bundestag haben Preußen und Österreich das Verlangen an Kurhessen gestellt, die Verfassung von 1831, als die einzig rechtsgiltige, wieder herzustellen, der Kurfürst besteht jedoch eigensinnig auf der von ihm 1852 gegebenen, und will nur nach ihr die Wahl seiner Kammer gestatten. Er hat bereits zweimal die Wahlen auf Grund derselben ausschreiben lassen, die Deputierten weigern sich zu gehorchen und er hat den preußischen General, der ihn an die Ausführung des Bundesbeschlusses mahnen sollte, schlecht empfangen, worauf Preußen militärische Beschlagnahme androhte. Unter den Staaten zweiten Ranges scheint mir eine besondere Koalition sich gebildet zu haben; man will zwar die holsteinschen und schleswigschen Ansprüche gegen Dänemark unterstützen, hofft aber damit nur, einen neuen Kleinstaat zu etablieren, der Preußen majorisieren hilft, sodaß die Einigung Deutschlands noch in weitem Felde steht, wie sehr sich auch der National-Verein dafür bemüht, dessen Mitglieder wahrscheinlich im Trüben fischen wollen. Man kann die Träumereien des Wartburg-Festes und den Machtkitzel, den man 1849 fühlte, nicht unterdrücken. Von Wien aus ist von neuem der Versuch gemacht worden, die Trias-Idee, also die der dreifachen Herrschaft, im Bunde einzuführen, Preußen verlangt aber Selbständigkeit. Der National-Verein hat in Weimar, Berlin und Heidelberg getagt und noch kürzlich in Frankfurt a. M. nach verschiedenen anderen gemeinsamen Volksfesten, womit er die deutsche Einigkeit zu Wege zu bringen gedenkt, unter dem Herzog von Coburg ein großes Schützenfest gehalten.
Diesen scheint es zu gelüsten, eine Rolle bei der deutschen Einigung zu spielen, und er hat sich an die Spitze gestellt. Daß der König von Preußen die Regierung von Italien anerkannt hat, wissen Sie wohl bereits, ebenso daß er das liberale Ministerium entlassen hat, er scheint aber noch immer nicht die Männer gefunden zu haben, die mit ihm die Militär-Reorganisation durchführen, und den Widerstand der Kammern beseitigen können. Ich bin überzeugt, daß er seinem Lande nur Nützliches geben will und schwer von seiner Militär-Erziehung, die so zweckmäßig wie notwendig ist, abzubringen ist. Der Zwiespalt mit Dänemark über die Herzogtümer wird früher oder später die beste Gelegenheit sein, ihren Wert zu erproben. Einstweilen verweigert der Landtag die Mittel dazu und ergeht sich in Angriffen gegen das alte Beamtentum, das die liberale Regierung ihm leichtfertig preisgibt; wenn es nur nicht zum Schaden für den Staat geschieht. Vorläufig hat Preußen einen guten Schachzug getan in einem neuen Handelsvertrage mit Frankreich, mit dem man Österreich aus dem alten Zollverein zu drängen sucht, und dem das Volk zustimmt.
Österreich, Württemberg, Sachsen, Hannover, Baiern wenden sich gegen die preußische Oberherrschaft, und es ist sehr möglich, daß dadurch die deutsche Einigkeit wieder in die Brüche geht, und ein Bund Zusammentritt, der das Ausscheiden Österreichs aus Deutschland verhindert.«
»Es ist vieles von dem«, sagte der Arzt, »was Sie uns mitgeteilt, mir unverständlich, weil ich in der Zeit nicht fortgeschritten bin, aber soviel scheint mir jedenfalls festzustehen, daß es mit der Herstellung einer deutschen Einigkeit noch gute Wege hat.«
»Rußland hat am 10. Juli Italien anerkannt, wahrscheinlich als Gegenschlag wegen der Weigerung der Kurie, bei der Unterdrückung des polnischen Aufstandes durch die Geistlichkeit zu helfen; seitdem macht Rußland die Bakuninsche Agitation viel zu schaffen, und die Verhältnisse scheinen nicht besonders glücklich in dem großen Reich der Romanows. In Petersburg jagen sich die Feuersbrünste untereinander, die offenbar von aufrührerischer Seite veranlaßt werden.
Zum Glück läßt sich der Kaiser in dem großen Werk der Bauern-Emanzipation nicht stören, und es ist vielleicht günstig für ihn, daß er auch die der Juden in Polen ausgesprochen hat.«
»Sie haben Frankreich und England noch nicht erwähnt!«
»Frankreich hat sich mit Mexiko eine neue Rute gebunden, weil es doch nicht stillsitzen kann. Es fängt den Krieg mit Mexiko auf eigne Hand an, indem es sich von Spanien und England trennt. Die Einigung Italiens scheint nicht lange mehr auf sich warten zu lassen, und, wie aus den Zeitungen zu ersehen, hat schon der Besuch Viktor Emanuels und des Prinzen Napoleon in Neapel im April und Mai den allgemeinen Ruf »nach Rom« veranlaßt.«
»Obgleich der Kaiser Napoleon unbedingt durch die Besetzung Roms ein festes Pfand für den guten Willen in der Tasche hat, sollte es mich doch wundern, wenn Mazzini und Garibaldi ruhten, ehe nicht Rom in ihrer Hand ist.«
»Es bedurfte dazu in der Tat der Brandrede des Prinzen Napoleon gegen die weltliche Herrschaft des Papstes nicht; wenn auch die Kurie durch die Berufung der Bischöfe nach Rom unter dem Vorwande der spanischen Heiligsprechung ein neues Mittel gefunden hat, die Herrschaft der katholischen Kirche zu erneuern, wird sie doch über kurz oder lang noch ganz andere Wege nötig haben, um sich auch nur noch einen Schatten der alten Macht zu erhalten. Die Revolution ist jetzt in Italien für sie zu mächtig, sie wird nach Österreich oder Malta auswandern müssen.«
»Es scheint mir, daß, wenn das Anerbieten von Malta alles ist, was Sie über England zu sagen haben, Sie seinen eigennützigen und zähen Charakter wenig kennen, ich glaube nicht, daß es seinen Weg nach Indien aus den Augen gelassen hat, sondern daß es neue Stationen sucht, um sich ihn auf dem Wege durch das Mittelmeer und Ägypten zu sichern, nachdem es die Idee des Suezkanals versäumt hat. Sollte es nicht auch in der Angelegenheit der Herzogtümer und Dänemarks seine Hand im Spiel haben?«
»Gewiß,« sagte der friesische Kapitän, »die Angelegenheit wegen des Ankaufs von St. Thomas scheint sich zwar aus unbekannten Gründen zerschlagen zu haben; man glaubt billiger dazu zu kommen, oder die alte Flibustier-Insel hat keinen reellen Wert für Großbritannien; Helgoland am Eingang der Elbe ist ihm wichtiger.«
»Sie wissen wahrscheinlich aus den Zeitungen, daß davon die Rede ist, es wolle sich anstatt in Korfu an einem günstigeren Punkte im Mittelmeer festsetzen?«
Der Arzt hatte einige Augenblicke wie überlegend geschwiegen, dann zog er rasch entschlossen den Brief, den er soeben empfangen, aus der Tasche und drehte ihn zwischen den Fingern.
»Ich glaube in der Tat,« sagte er zu dem Konsul, »daß es in diesem Augenblick mit anderen Plänen umgeht. Kennen Sie den Charakter Englands von seinem ersten Staatsmann bis zu seinem letzten Gliede?«
»Wie sollte ich nicht, habe ich doch schon vor dem orientalischen Kriege Gelegenheit genug gehabt, ihn kennen zu lernen und nun in Italien meine alte Meinung bestätigt gefunden: Zäh, gewissenlos, wo es seine eigenen Interessen gilt, und nie seine Pläne aus den Augen verlierend! Erlaubt es Ihre Zeit, eine kurze Geschichte anzuhören, die ich aus meinem früheren Beamtenleben mitteilen kann, und die so recht den englischen Charakter zeigt?«
Der Arzt sah finster vor sich hin. »Ich könnte Ihnen wohl einige Pendants dazu geben. Vielleicht tut es der Mann, den Sie wohl noch hier kennen lernen werden, da er mir seine Ankunft verkündet hat. Bitte, erzählen Sie.«
»Es ist eine einfache Geschichte,« sagte der Konsul, »wie sie oft im Orient den besten Aufschluß über die Charaktere gibt, eine Geschichte, die sich kurz vor dem orientalischen Krieg ereignet; ich nenne sie:
Die Konsulate in Smyrna lagen und liegen am Quai, wenn man die einzelnen Ausladestellen des prächtigen Hafens so nennen will, denn einen fortlaufenden gangbaren Hafendamm gab es damals noch nicht, und die Promenade beschränkte sich vom Café Anglais aus auf eine sehr kurze Strecke, die trotzdem schon sehr oft der Schauplatz von Raub und Mord gewesen ist und es namentlich in jener Zeit, kurz vor Beginn des großen orientalischen Krieges war. Die Konsulate sind sämtlich massiv, die Zugänge fest, die untern Fenster vergittert, das Dienstpersonal außerdem durch die Khawassen des Konsulats vermehrt, und so bieten sie eine verhältnismäßig weit größere Sicherheit, als alle anderen Gebäude der Stadt, selbst die wenigen Amtsgebäude nicht ausgenommen.
Aus diesen Gründen geschieht es gewöhnlich, daß die Kaufleute, wenn sie bedeutende Geldsummen eingenommen haben, diese auf einem Konsulate zur Aufbewahrung deponieren. Selbst die Türken und Juden folgen diesem Gebrauch.
Die blutige Anekdote, die ich hier erzählen will, ist während meiner Amtsführung passiert, jedermann bekannt und sehr geeignet, das Treiben der englischen Verwaltung wie das der öffentlichen Sicherheitspflege zu charakterisieren; sie ist auch jetzt, nach der englisch-französischen Allianze und dem Sieg über Sebastopol, keine andere geworden. Der Vorgänger des jetzigen Konsuls im österreichischen Konsulat, Herr v. W., hatte unter seinem Dienerpersonal seit längerer Zeit einen jungen Griechen, den er mit großer Vorliebe und Nachsicht behandelt und stets mit Wohltaten überhäuft hatte. Sei es das Gefühl dieser und das sich regende Gewissen, sei es – und das ist dem griechischen Charakter entsprechender – die Erwartung eines weniger gefährdeten Verdienstes und einer besseren Belohnung, als Herr v. W. eines Tages nach Hause kommt, nachdem bei ihm kurz vorher eine Summe von einer halben Million Piaster deponiert worden war, folgt der Diener ihm in sein Zimmer, wirft sich ihm zu Füßen und gesteht ihm, daß er an dem Anschlag einer berüchtigten Räuber- und Mörderbande teilgenommen, die in der bevorstehenden Nacht in das Konsulat eindringen und den Konsul ermorden wolle. Herr v. W., zuerst von Schrecken ergriffen, faßt sich bald. Er erklärt dem Diener, daß, wenn die Entdeckung wahr sei, er sich einer großen Belohnung sicher halten könne, von diesem Augenblick an aber das Zimmer nicht mehr verlassen dürfe. Auf sein weiteres Befragen erfährt er Folgendes: Die Bande hatte schon lange auf eine günstige Gelegenheit gelauert. Durch ihre Spione von der Deponierung der bedeutenden Geldsumme, ca. 28 000 Talern, in Kenntnis gesetzt, hatte sie den griechischen Diener durch das Versprechen eines bedeutenden Anteils gewonnen, in der Nacht den Riegel der Tür des Hauses nach dem inneren Hofraume zu öffnen. Sieben der verwegensten Räuber Smyrnas würden in der Nacht von der Meeresseite her in den inneren Hof des Konsulats einsteigen, durch die geöffnete Tür in das Haus dringen, die beiden in einer Kammer schlafenden Khawassen überfallen und den Konsul mit seiner Familie ermorden, um vor jedem Verrat und jeder Verfolgung sicher zu sein.
Man denke sich die Lage des Vaters und Gatten. Jeder offene Schritt zu seiner Sicherheit hätte diese nur auf kurze Zeit gewahrt und ihn und den Diener der Rache und dem Dolche der Mörder preisgegeben, deren kurze Verhaftung auf die wahre Aussage des Griechen hin kaum zu ermöglichen gewesen wäre. Herr v. W. war ein entschlossener Mann, er kannte die herrschenden Zustände vollkommen und nach kurzer Überlegung hatte er sich über sein Verfahren entschlossen. Er wiederholte dem Diener seine Versprechungen, schloß ihn in ein inneres Zimmer des Hauses, und steckte den Schlüssel zu sich. Dann machte er dem Khawassbaschi, d. h. dem türkischen Polizeimeister oder Anführer der Khawassen einen Besuch, rauchte mit diesem den Schibuck und brachte das Gespräch auf die herrschende Unsicherheit.
»Ich habe viel Geld in meinem Hause und bin besorgt deshalb,« sagte der Konsul. »Ich möchte Dich fragen, ob Du wohl einige Leute hast, auf die man sich verlassen kann?«
Der Türke schluckte bedächtig seinen Rauch, sah mit klugen Augen den Konsul an und erwiderte: »Du hast etwas vor, Freund? Du glaubst, daß man Dich berauben wird?«
Der Konsul wich der Frage aus und erklärte, daß nichts bestimmtes vorläge, daß die große Summe Geldes, die sich in seinem Hause befände, ihn jedoch besorgt mache, und widerholte seine Frage, ob er eine Anzahl Khawassen für diese Nacht gegen Belohnung zur Bewachung erhalten könne, die gut bewaffnet wären und auf die man sich in jedem Falle verlassen könne.
Der Baschi küßte die Spitzen seiner Finger. »Sie trinken Frankenblut!« sagte er, um den Haß seiner Leute gegen die Rajahs auszudrücken. »Wie viel brauchst Du?«
»Acht bis neun.«
»Es ist gut. Du verschweigst mir die Wahrheit, aber das ist Deine Sache. Ich werde die Leute auswählen und ihnen nur ihre Pistolen geben. Das knallt ein Mal, aber es ist sicher und macht keinen langen Lärm. Verlaß Dich auf mich.«
Nachdem Herr v. W. noch mit dem Baschi verabredet, daß die Khawassen einzeln am Abend und statt in ihren weißen kennbaren Mänteln in dunkler Kleidung kommen sollten, ließ er auf seinem Sitz einen Beutel mit Piastern zurück und ging nach Hause.
Hier schickte er, ohne ein Wort zu sagen, seine Familie und das Dienstpersonal bei Zeiten zur Ruhe, und als es Nacht wurde, stellte er sich selbst an die Tür und ließ die Khawassen, wie sie ankamen, ein.
Wer dieses Korps in Smyrna gesehen hat, weiß, wessen er sich von ihnen versehen kann. Wildblickende, trotzige Gestalten, früher auf den Bergen Anatoliens oder in den syrischen Wüsten vielleicht selbst kühne Räuber, die durch ihren Eintritt in jenes Korps ihre Begnadigung erkauft, ist ihre orientalische Gleichgültigkeit gegen das eigne und anderer Leben notwendig zu solchen Szenen, wie sie hier sich täglich bieten.
Das österreichische Konsulat hat wie die meisten anderen größeren Häuser des Orients zwei hohe, mit Mauern umgebene Höfe. Der äußere geht, wie bereits erwähnt, nach dem Hafen; nach dem inneren, der durch eine Pforte in der Zwischenmauer von dem äußeren zugänglich ist, gelangt man aus dem Hause. Als die neun Khawassen versammelt waren, führte sie Herr v. W. in den äußeren Hof und postierte sie in verschiedene Winkel und Verstecke. Das Ganze ging stillschweigend ab ohne weitere Verhandlung und Instruktion – der Khawassbaschi hatte sie ihnen zur Genüge gegeben.
Dann kehrte der General-Konsul in sein Haus zurück, verschloß selbst die Tür und setzte sich mit einer Doppelflinte und seinen Pistolen bewaffnet, in einem dunklen Zimmer des oberen Stockwerks nieder, nachdem er sich nochmals überzeugt hatte, daß der griechische Diener in fester Verwahrung war, das weitere dem Himmel und den Khawassen überlassend.
Es war Neumond, und dieser war bereits vor 10 Uhr untergegangen. Der glänzende Sternenhimmel des Orients ließ jedoch die äußeren Mauern ziemlich klar überschauen; was darunter war, lag im tiefen Schatten.
Die Uhr im Zimmer schlug Mitternacht, endlich die erste Stunde. Gleich darauf sah Herr v. W. eine dunkle Gestalt sich über den Rand der äußeren Mauer heben und im ersten Hofe verschwinden. Eine zweite folgte, so noch fünf andere. Der letzte Mann zog die Leiter nach sich, ließ sie in den Hof hinab und stieg hinunter. Das alles geschah in größter Stille, das Hinabgleiten an einem Strick, – kein Laut ließ sich hören.
Nach wenigen Minuten hob sich ein Mann auf der an die zweite, zum inneren Hofraume führenden Mauer gelehnten Leiter empor und warf das Seil in den Hof.
In diesem Augenblick fiel der erste Schuß – die dunkle Gestalt breitete die Arme aus und stürzte in den äußeren Hof zurück. Zehn bis fünfzehn Pistolenschüsse knallten hinter- und durcheinander; man vernahm unterdrückte Flüche – dann das wütende Klingen von Streichen, zuletzt nochmals drei Schüsse – dann Grabesstille, – das ängstliche Lauschen des Konsuls vernahm kein anderes Geräusch, als das regelmäßige Aufschlagen der Wogen vom Hafen her, nichts gab ihm Auskunft über den Ausgang des Kampfes.
Er beruhigte die erwachte Familie und die Dienerschaft und legte sich nieder. Ob er geschlafen? Ich bezweifle es!
Am Morgen kamen von allen Seiten die Nachbarn und erkundigten sich, was die Ursache des nächtlichen Schießens gewesen. Dergleichen gehört in Smyrna nicht zu den Seltenheiten, aber es fällt niemandem ein, deshalb bei Nacht sein sicheres Haus zu verlassen, um etwa Gefährdeten zu Hilfe zu kommen. Man ist ja gewiß, am Morgen die Neuigkeit zu hören.
Herr v. W. wich einige Zeit den Fragen der untergeordneten Personen aus. Als aber die benachbarten Konsuln schickten oder selbst kamen, und sich eine Menge Neugieriger um sein Haus versammelt hatte, erklärte er, daß wahrscheinlich in der Nacht von Dieben ein Überfall gegen das Konsulat versucht und zurückgewiesen sein müsse, denn man habe zu seiner Sicherheit am Abend einige Khawassen in den äußeren Hof postiert. Dabei zog er den Schlüssel aus der Tasche und lud die Anwesenden, unter denen sich der englische Vize-Konsul befand, ein, mit ihm in den Hof zu gehen, den er nicht allein habe betreten wollen.
Die Tür wurde geöffnet – der Anblick, der sich der andrängenden Menge bot, war ein grauenvoller.
Auf den Marmorfliesen des Hofes lagen sieben Leichen in den furchtbarsten Verzerrungen des Todeskampfes, bewegungslos gleich Statuen lehnten an den Wänden umher die Khawassen, zwei verwundet, der eine durch einen Stich in den Arm und den schrecklichen Hieb eines Yatagan über die Brust. Einer der Banditen, ein französischer Fechtmeister, hatte sich mit rasender Anstrengung gewehrt, als er sich überfallen und seine Gefährten fast ohne Gegenwehr unter den Kugeln der Khawassen stürzen sah. Erst bei der fünften Kugel, die er empfing, war er selbst gefallen. Während ein Teil der Khawassen mit den abgeschossenen Pistolen die Hiebe des Wütenden parierte, hatten die anderen wieder geladen und ihn so niedergestreckt. Die Steine des Hofes schwammen in Blut.
Ein Schrei des Grauens und Entsetzens erhob sich aus der versammelten Menge. Ein griechisches Weib mit fliegenden Haaren brach sich Bahn und warf sich heulend und wehklagend auf einen der blutigen Leichname, vergeblich eine letzte Lebensspur zu finden. Dann streckte sie die geballten Hände drohend gegen den englischen Vize-Konsul. »Sieh diesen Toten«, lautete ihre Verwünschung, »hättest Du vor zwei Tagen nicht fünfzig Kolonate von mir genommen, um ihn aus seinem Gefängnis loszumachen, dann wäre er noch dort, und ich nicht eine Witwe!«
Herr v. W. drehte mit dem Fuße den nächsten auf dem Gesicht liegenden Körper um. Ein verzerrtes, aber in ganz Smyrna wohlbekanntes Antlitz starrte zum Himmel empor.
Der österreichische Beamte faßte den Arm des Vertreters englischer Gerechtigkeit und Humanität und wies auf die Leiche: »Wie ist mir denn, Mr. H., das Gesicht müssen Sie kennen, das ist ja einer Ihrer Agenten und Schutzbefohlenen, den Sie so häufig gegen die türkische Polizei in Protektion genommen haben?«
Mr. H. sah mit großer Gleichgültigkeit auf den Toten: » C'est un cadavre! Je ne connais pas un cadavre!« Damit ging er, verfolgt von den Verwünschungen der Witwe.
Smyrna war von einer seiner gefährlichsten Banden befreit, aber Herr v. W. beeilte seine Versetzung.« –
Der Konsul hatte, um die Geschichte für den französischen Kapitän nicht verloren gehen zu lassen, sie in französischer Sprache erzählt, dieser hatte sich deshalb der Gesellschaft wieder zugewandt.
»Es zeigt das ganz, wie sie sind! – Hören Sie jetzt, und ich denke, es wird auch Sie interessieren, was ich Ihnen zum Dank für Ihre Darstellung mitteilen kann. England sinnt allerdings darauf, die Ionischen Inseln aufzugeben, aber nur, weil sie nicht den geglaubten Vorteil gewähren und es dem Drängen eines Volkes nicht länger widerstreben kann, überdies sich eine bessere Gelegenheit für seine Zwecke bietet. Was meinen Sie zu Griechenland, Kreta oder Cypern als Station für Ägypten und gegen Syrien, wo es lange den französischen Einfluß dulden mußte?«
Der Konsul und die beiden Männer sahen sich fragend an. »Unmöglich! Ich habe mich zwar lange gewundert, daß man sich nicht aus der östlichen Insel ein neues Malta machte, aber ich bin gewohnt zu sehen, wie England nur mit großer Vorsicht vorwärts geht, und ich weiß, daß jede Annexion in diesem Augenblick Rußland, Frankreich und den kranken Mann ihm auf den Hals hetzen würde. England ist durch den russischen und indischen Krieg noch zu sehr geschwächt, um es auf einen Zusammenstoß mit so vielen ankommen zu lassen.«
»Und dennoch muß es jetzt die Gelegenheit für gekommen halten. Wollen Sie mir Gehör schenken? Der Arzt entfaltete den Brief, den er bisher in der Hand gehalten und sah einige Augenblicke hinein. »Sie wissen,« sagte er, »daß im vorigen Jahre von dem Studenten Dosios auf die Königin geschossen, und dieser zur Einsperrung in Nauplia begnadigt wurde. Der revolutionäre Gang scheint auch durch Griechenland sich zu erstrecken, im Februar dieses Jahres ist eine neue Revolution in Griechenland ausgebrochen, man hat sie zwar unterdrückt, aber Dosios ist in Nauplia befreit worden. England fühlt, daß es das Protektorat über Ionien, das es ohnehin zu Unrecht besitzt, aufgeben muß, aber es wird dafür eine bessere Station nach dem Orient erwerben. Bereits hat das Parlament in Corfu mehrfache Anträge auf Selbständigkeit gestellt, die man bisher immer, ebenso wie den freiwilligen Anschluß an Griechenland, mit Gewalt und Strenge unterdrückt hat. Man unterstützt im Stillen die Bewegung Griechenlands, erhofft die Vertreibung des jetzigen deutschen Königs und die Wahl eines neuen. Für das Geschenk Ioniens an Griechenland aber erwartet man die Wahl des Prinzen Alfred zum griechischen König; man beabsichtigt sodann den Pyräus oder eine der griechischen Inseln, vielleicht auch Cypern, zum englischen Hafen und zur Station nach Syrien und Ägypten zu machen. Das hieße aber für die türkische Herrschaft ein noch schlimmeres Joch eintauschen. Grimaldi oder Maldigri Khan, der Schreiber dieses Briefes, mein Freund, ist ein eifriger Patriot und ein entschiedener Gegner der englischen Herrschaft. Grimaldi wird in diesen Tagen hier eintreffen. Er kommt mit seinem Freunde Danilos, der ein Seemann ist, und der damals die armen Spanier des General Borries zu ihrem Unglück übersetzte vom Golf von Patras, ist also mit allen Vorgängen aufs Genaueste bekannt und will mich sprechen. Frankreich wie Italien, Österreich wie die Türkei und Rußland können unmöglich wünschen, daß England diese neue Station gewinnt, aber was tun? Sie sehen, daß diese Weltherrschaft fortschreitet, und langsam, aber sicher geht.«
Er hatte nicht bemerkt, daß während seiner Rede ein Fremder am nächsten Tische sich umgewendet und ihn scharf ins Auge gefaßt hatte, es war ein tunesischer Jude, in den weiten faltenreichen Gewändern seines Landes, den Fez tief in die Augen gezogen, das Gesicht von einem dichten schwarzen Bart umgeben. Der Fremde hielt sich etwas im Schatten, aber er verlor die Männer, die bisher gesprochen, nicht aus den Augen.
»Die Nachricht, die Sie mir gegeben, war mir neu,« sagte der Konsul, »aber es ist von hohem Interesse für mich; wenn Sie es erlauben, soll sie nicht ungenutzt bleiben.«
Der Arzt lächelte. »Ich habe keine Ursache, ein Freund der Engländer zu sein und ihre eigennützigen Pläne zu unterstützen, vielleicht lernen Sie meinen Freund noch kennen, der ein ebenso großer Gegner dieses Inselvolkes ist, wie ich. Nur wünsche ich, daß er sich nicht zu Intriguen gegen England brauchen läßt, denn er hat bereits ihre Feindschaft genugsam auf dem Halse. Wer mag jener Mann dort sein?« Er wies nach einem ältern wohlbeleibten Herrn mit Krauskopf und grauer Reisebekleidung, der an dem anderen Tisch aufgestanden war und eben die Hand einer fahrenden Sängerin festhielt, die beschäftigt war, nach dem Vortrag einer Canzonette mit dem Notenblatt eine Gabe der Umsitzenden einzusammeln. Es war dies ein einfach und dunkel gekleidetes Weib, dessen leichter Strohhut mit einem Halbschleier das anscheinend nicht mehr ganz junge Gesicht verhüllte. »Das ist Teresella, – so wahr ich Alexander heiße, halt da, Du entgehst mir nicht, wir haben Dich alle längst untergegangen geglaubt und ich Dich nicht wiedergesehen, seit Du der Armee damals nach Italien gefolgt bist.«
Die fremde Frau schien sich mit Gewalt losreißen und lieber die Einnahme im Stich lassen zu wollen, als Rede zu stehen, aber mit dem berühmten Pariser Schriftsteller hatten sich zugleich auch andere Personen erhoben und um die Flüchtende gedrängt. Darunter befanden sich auffallender Weise der deutsche See-Kapitän und der sardinische Militär-Arzt.
»Kapitän Lautrec«, sagte der erstere, »hier ist zufällig eine Spur, die vielleicht zur Auffindung Ihres Neffen führt. Erinnern Sie sich, daß der Marquis diese Person als die einzige bezeichnete, die über den Kapitän Gauthier sichere Kunde geben könne. Eilen Sie nach dem Hotel, um ihn hierher zu holen, ich lasse sie unterdes nicht aus den Augen.« Auch der sardinische Arzt war mit hervorgetreten, aber er schien sich mehr als Beschützer und Helfer zu zeigen, und er reichte der Frau sofort den Arm, an den sie sich zitternd und erschreckt hing.
»Ich wußte nicht, Mademoiselle, daß ich Sie hier wieder finden würde,« sagte er menschenfreundlich, »aber das seltsame Inkognito erklärte mir manches. Warum wenden Sie sich nicht offen an mich, wenn Sie des Beistands bedürfen, statt zu diesen Mitteln zu greifen? Meine Herren, ich bin der piemontesische Militär-Arzt Dr. Walding, vertrete den Chef vom großen Garnison-Lazarett, und wenn Sie meiner bedürfen, können Sie dort meine Adresse hören. Diese Frau kenne ich und achte sie wegen ihrer menschenfreundlichen Hilfe bei einem unheilbaren Unglücklichen. Sie erlauben, daß ich sie in meinen Schutz nehme.«
Er wollte sie fortführen, aber der berühmte Schriftsteller hielt ihren Arm fest. »Es ist unmöglich, Herr, daß ich mich irre,« sagte er, »ich bin Dumas, dessen Namen Sie kennen werden, und das ist die Chansonniere Therese, die sich meiner aus Paris erinnern muß, und die ich mehr als hundertmal im Alcazar gesehen, bis sie uns plötzlich aus den Augen verschwand; Sie werden erlauben, daß ich ihre Bekanntschaft erneuere, um in der traurigen Lage, in der sie sich zu befinden scheint, ihr beizustehen.«
Der Arzt hatte ihn zur Seite geführt, das Frauenzimmer noch an seinem Arme.
»Ich bin nicht so unbekannt in der französischen Literatur, mein Herr, als daß ich Ihren Namen nicht kennen und achten sollte, aber wenn dem auch so ist, sollte es nicht mehr im französischen Charakter liegen, eine Unglückliche, die Sie früher gekannt, und die sich dem öffentlichen Mitleid entziehen will, lieber nicht wiederzuerkennen, als ihre Lage zu erschweren? Auch wissen Sie, wo Sie morgen meinen Namen erfahren können, und wo ich Ihnen Rede stehen werde.«
Der bekannte Schriftsteller verbeugte sich, er sah ein, daß er zu hastig verfahren war, suchte nur noch Gelegenheit, ein Tausend-Frankbillet zwischen das Notenblatt zu schieben und trat zurück.
Das edelmütige Eintreten des Arztes sollte aber noch eine andere Frage veranlassen, denn von der anderen Seite trat der friesische Kapitän zu ihm.
»Verzeihen Sie, daß ich Sie aufhalte, aber es geschieht im Interesse meines Freundes und Reeders, der eben nach dem Hotel gegangen ist, um einen unverdächtigen Zeugen zu holen. Ich bitte Sie als Mann von Ehre, fragen Sie diese Sängerin, ob sie den Namen Theresia in Paris geführt hat, und ob sie uns eine Auskunft über den französischen Kapitän Gauthier geben kann, der bei dem Überfall von St. Agata vor Gaëta in die Hände der Sardinier fiel und seit zwei Jahren spurlos verschwunden ist. Man sucht ihn in seinem eigenen Interesse.«
Diesmal war es der sardinische Arzt, dem kein Zweifel über die Person bleiben konnte, denn ein Blick zur Seite belehrte ihn, daß die Frau, die er in Schutz genommen, die Namen, die genannt worden, wohl kannte, und bitterlich hinter ihrem Tuche schluchzte. »Diese Frau,« sagte er zum Kapitän, »ist mir unbekannt, ich weiß nur, daß sie mit ihrem schwer erkrankten Mann oder Verwandten ein Gartenhaus an dem Ort bewohnt, wo auch ich Aufnahme gefunden; zweimal bereits hat sie meinen ärztlichen Beistand in Anspruch genommen, aber ich konnte ihr leider wenig Aussicht machen, daß der Kranke, den sie so sorgfältig pflegte, Genesung finden werde.
Ich hatte keine Ahnung davon, daß ihre Mittel so gering sind, daß sie das Brot für sich und ihren Kranken des Abends ersingen muß. O, Frauenliebe, Frauenliebe, das Herz bleibt sich unter allen Zonen gleich! Lassen Sie mich die Unglückliche nach Hause bringen und beruhigen, ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich Sie noch heut abend an dem Tisch, wo wir saßen, aufsuchen werde.«
Der Friese reichte der armen fremden Sängerin ehrerbietig die Hand. »Wenn es sich bestätigt, was Sie mich hoffen lassen, können Sie meinem Freunde, dem Kapitän Lautrec keinen größern Dienst erweisen. Der Unglückliche ist sein Neffe, und nichts darf ihm oder denen, die sich seiner angenommen, fehlen, ich bitte Sie, disponieren Sie einstweilen über meine Börse, und kehren Sie bald zu uns zurück.«
Er verbeugte sich vor ihm und der Frau und ging eilig wieder zu dem Café, wo er noch den General-Konsul fand im eifrigen Gespräch mit dem tunesischen Juden, der sich ihm als ein Korallenhändler vorgestellt, aber, sowie der Kapitän sich nahte, ihn verließ, da er seine Neugierde befriedigt zu haben schien.
Es war länger, als eine Stunde später, als der erwartete Arzt wieder zu dem Tische trat; schon machte sich der friesische Kapitän Vorwürfe, daß er nicht sogleich ihm nachgegangen, um sich zu überzeugen, wo er wohnte, aber sie hatten ja alle seine Angaben über das Lazareth mit angehört und der General-Konsul, der aus Teilnahme geblieben, beruhigte ihn, daß er jedenfalls eine dem Albergo bekannte Persönlichkeit sein werde.
Die Gesellschaft hatte sich um eine Person vermehrt, denn mit Kapitän Lautrec war der junge Marquis gekommen, um sich von der Person der Cantatrice zu überzeugen und die Angaben, die er über sein letztes Zusammentreffen mit Gauthier machen konnte, zu wiederholen.
Von dem alten französischen Kapitän befragt, teilte er mit, was er wußte. Von dem Augenblicke an, wo Kapitän Gauthier, mit der Leitung des Unternehmens gegen die Sardinier betraut, den armen Schiffer geopfert hatte, war er noch stiller und in sich gekehrter gewesen, als gewöhnlich. Vergl. Biarritz V. (Die Tauben der Königin.)
Als die Geistesgegenwart des bretonischen Matrosen den Opfertod des Schiffers unnötig gemacht, konnte der Marquis wohl erkennen, daß, obgleich der Kapitän nur seine Pflicht erfüllt, der Tod des Schiffers schwer auf ihm lastete, und er nur mit Gewalt die Fassung zu der weiteren Leitung des Unternehmens gewinnen konnte. Er wiederholte, so gut er sich des Wortlautes erinnerte, die Unterredung, die er mit Gauthier vor dem Angriff auf die Batterie gehabt, und wie dieser ihm vertrauensvoll den Auftrag an seinen fernen Verwandten erteilt.
Es war wie eine Ahnung gewesen, daß er den Angriff nicht zu Ende führen werde und das Kommando an Leutnant Chesnaige überlassen müsse. Als er ihm darauf das Geständnis gemacht, daß sein Kamerad Kastellan nicht von der Hand eines Österreichers, sondern auf den Befehl des Kaisers von seinem eignen Degen im Zweikampf gefallen sei, ohne daß er Näheres darüber mitzuteilen Zeit hatte, folgte gleich nachher der Angriff der Krieger des Königs Franz im Refektorium auf die leichtfertige Gesellschaft. Wir erinnern uns jener Szene, wo der Succurs, den die Sardinier erhielten, den kühnen Überfall der Legionäre vergeblich machte und die Hand der Kantatrice selbst es gewesen war, welche den furchtbaren Vorwurf, den ihr Gauthier ins Gesicht geschleudert hatte, gerächt hatte. Von dem Augenblick an hatte man weder von Theresa, noch von dem Kapitän etwas gehört, man wollte nur wissen, daß er als Gefangener und Schwerverwundeter nach Neapel gebracht und von ihr begleitet gewesen war. Sicher war, daß er bei dem Rückzug der Bourbonisten nach der Festung nicht dorthin zurückgekommen und daß unter den gefangenen Offizieren aus Gaëta einer nach Neapel überführt worden sei, aber weder die Listen der Gefangenen und der Lazarethe, noch eine sonstige Mitteilung gab sicheren Aufschluß über ihn. Das war alles, was man von dem Verbleiben des Kapitäns und der Sängerin erfahren, und da die Festung bald darauf in die Hände der Sardinier gefallen war, so blieb dies für Kapitän Lautrec der einzige Fingerzeig. Um so willkommener mußten die merkwürdigen Nachrichten sein, die der sardinische Arzt jetzt brachte.
Es war in der Tat die Chanteuse Theresa, die eine so glänzende und leichtfertige Rolle in Paris gespielt hatte, und die man seit ihrem Verschwinden von der Pariser Schaubühne untergegangen geglaubt hatte. Erst jetzt, nach der Rückkehr des Kaisers von Villafranca, vernahm man, daß sie ihn oder einen andern der Generäle bei dem Feldzug in der Lombardei begleitet hatte und dort verschwunden sein sollte. Der Kaiser erwähnte ihrer nie und die schroffe Art und Weise, in der er eine zufällige Erwähnung ihrer Person zurückgewiesen, machte sie ganz verschwinden. Jetzt brachte der deutsche Arzt neues Licht in jene Angelegenheit. Wir werden uns jener zügel- und zuchtlosen Art erinnern, in der die Kantatrice aufs neue ins Leben getreten war und die Zeit nachzuholen suchte, die sie in so tiefer Abgeschlossenheit hatte zubringen müssen. Es ist nichts seltenes, daß Personen von ihrer Art bei einem Leben voll Schmach und Übermut plötzlich von einem rächenden Strahl des Himmels getroffen und so zur gänzlichen Umkehr gebracht werden. Die Verwünschung, die ihr Gauthier als Donnerwort zugeschleudert bei jenem Sieg der Sardinier, und die sie mitten im tollsten Taumel ihrer Sünden getroffen, hatte sie völlig gebrochen und ihr ganzes Sein und Denken geändert. Die übermütige Phryne, die selbst in ihrem Kerker den sprudelnden Lebensmut bewahrte, hatte die Verachtung des Kapitäns wie ein Donnerschlag getroffen, des einzigen Mannes, für den sie wahres Interesse gefunden, und den sie in dem wüsten Treiben ihres Lebens wirklich geliebt hatte. Wenn auch nur aus den kurzen Mitteilungen des Marquis sich die Ursache jenes Duells entnehmen ließ, da die Sängerin selbst jede Auskunft verweigerte, ließ sich doch daraus schließen, daß der Degen des ehemaligen Zuaven-Offiziers einen andern nur vertreten, und er die Beleidigung einer höher gestellten Person, die sich dem Zweikampf nicht preisgeben durfte, gerächt hatte.
Unter diesen Umständen erschien es fast wie ein Trost, als der Arzt erzählte, es könne kein Zweifel darüber walten, daß der Kranke, den Theresa bei sich beherbergte und pflegte, der Kapitän Gauthier sei. Er war vorerst nach Neapel gebracht, und als Gefangener ins Militär-Lazareth abgeliefert worden, wo auch Theresa Zutritt gefunden. Bei der großen Zahl der Personen – vielleicht auch war sein Name unbekannt geblieben – war es nicht möglich gewesen, nähere Auskunft über ihn zu erhalten. Sicher war es, daß es vor länger als Jahresfrist der Sängerin gelungen war, ihn aus dem Lazareth zu entfernen und ihn in Privatpflege zu bringen, der sie sich dann treulich gewidmet hatte.
Wie sie sich dazu die Mittel geschafft, vermochte man nicht zu erfahren, genug, es zeigten sich jene nicht seltenen Erscheinungen des Frauenherzens, das oft alles zu opfern versteht, um seine Reue zu bekunden. Der Arzt konnte nur bezeugen, daß sie nur selten von dem Bette des Kranken gewichen war, und daß sie alles aufgeboten und die niedrigsten Dienste geleistet hatte, um ihn dem Leben zu erhalten, ja, ihre Worte ließen durchschimmern, daß sie die bittersten Aufgaben für seine Erhaltung nicht gescheut. Sein schwarzer Diener war es gewesen, der ihn auf diese Selbstaufopferung aufmerksam gemacht und ihn zu dem Kranken geführt hatte. Obgleich nie ein Wort der Klage, nie ein Name über seine Lippen kam, konnte es dem kundigen Arzt doch nicht entgehen, daß von diesem schwindenden Leben nichts mehr zu bewahren war, und daß es sich hier nur um eine Verlängerung von Stunden handeln konnte. Er hatte dem Kranken den Namen seines Oheims genannt, und ihm Kunde der von diesem und einem Freunde angestellten Nachforschungen gegeben, auch Erlaubnis erhalten, beide am andern Morgen an sein Sterbebett zu führen.
Eine andre Frage war es, ob und wie Kapitän Lautrec die treue Pflege und Aufopferung, welche die Sängerin dem Kranken gewidmet, vergelten könne. Auch hier wußte der Arzt Rat. Theresa, die sich dem unvermeidlichen Verlust gefügt, bestand darauf, niemals mehr unter dem Namen, den sie sonst geführt, in die Welt zurückzukehren, der Rest ihres Daseins sollte in Reue dem Andenken des Verstorbenen geweiht sein. Auf der Erde, die ihn deckte, wollte sie bleiben, und wenn ihr der Kapitän die Mittel gewähren wollte, diesen Rest unbemerkt in einem nahe gelegenen Kloster zu verbringen, so wollte sie ihn segnen und mit dem letzten Hauch sein und seiner Tochter Glück erflehen. Lange Stunden dauerte es, ehe der französische Kapitän diese Mitteilung überwinden konnte und Kraft genug gewann von seinen Hoffnungen zu scheiden, und spät in der Nacht war es, als alle sich trennten und jener nach dem Hotel zu dem jungen Mädchen zurückkehrte.
Am andern Morgen saß Kapitän Lautrec mit dem Grafen in dem einsamen Hause, das der sardinische Arzt mit der Chanteuse und dem Kranken bewohnte, in der Nähe des Largo del Merkato und am Bett des Leidenden. Obschon Kapitän Lautrec Mannes genug war, den Bruch seiner Hoffnungen zu ertragen, änderte das Wiederfinden des Kapitäns doch seinen früheren Reiseplan, und er beschloß, Neapel unter keinen Umständen zu verlassen, ehe das Schicksal seines Neffen sich auf die eine oder andere Weise entschieden hätte. Die Bekanntschaft des Konsuls verschaffte ihm bald, da es damals in Neapel an Wohnungen infolge der zahlreichen Auswanderungen nicht mangelte, eine geräumige Villa in der Nähe des Meeres; auf den Rat des Arztes beschloß er, den Kranken nicht von Theresia zu trennen und übersiedelte diese mit nach dem geräumigen Hause. Was Wissenschaft und Reichtum aufbieten konnten, geschah, um dem Kranken noch seine letzten Tage zu erleichtern, aber selbst alle Wissenschaft konnte hier nichts mehr helfen, man fühlte, daß Gauthier in seinem Innern gebrochen war und sterben wollte. –
Es war eines Abends, als Kapitän Gauthier ihn und den Grafen an sein Lager rufen ließ, auch die Anwesenheit seiner schönen Cousine verlangte, und mit einem bittenden Blick auf seine Verwandten die Hände der jungen Leute ineinander legte.
»Du weißt, daß es anders sein sollte,« sagte der reiche Plantagenbesitzer, »aber, wenn Du es wünschest, so mag es darum sein. Kann ich Dir noch einen andern Wunsch erfüllen, so sprich, denn Du weißt, daß der Sohn meiner Schwester nicht als Schuldner von dieser Welt scheiden darf.«
Das Auge des Sterbenden traf ihn und wandte sich dann bittend von ihm zur Sängerin; der Kapitän hatte ihn verstanden.
»Magdalena die Büßerin, hatte auch Vergebung gefunden, und möge, was Du mir tun wolltest, ihr zum Beistand werden, daß sie nicht wieder in die Vergangenheit zurücksinkt.«
Der Kapitän reichte ihm die Hand. »Es ist gesorgt für sie,« sagte er, »ich habe es Deiner treuen Dienerin frei gestellt, uns nach der fernen Heimat zu begleiten, wo niemand sie kennt, aber sie zieht es vor an dem Ort zu bleiben, wo Du ruhen wirst. Ich werde dafür sorgen, daß keine Gewalt der Kirche sie davon entfernen kann. Die Macht Roms und der Jesuiten, die ihr Leben beherrschen könnten, hat aufgehört in diesem Lande. Ehe Du denkst, wird Rom vielleicht unter der Herrschaft des Königs von Italien stehen, und Dein alter König wird ihm weichen müssen aus dem Quirinal. Ein edler Grieche, der gestern von Sardinien kam, bringt die Nachricht mit, daß sich unter Garibaldi ein Zug nach Rom vorbereitet.«
Der Sterbende sah mit weit geöffneten Augen hinaus, als könne er die Zukunft durchschauen.
»Noch ist es nicht Zeit, aber was kommen muß, wird kommen. Der Fortschritt der Völker läßt sich nicht halten in seiner Bahn, und auch dies wird kommen. Viel Blut sehe ich fließen bis dahin, dann aber wird Frankreich gesühnt und groß sein und nicht mehr leiden an den Schwächen der einzelnen. Wenn die Zeit anderer Herrscher gekommen und das Blut, das dafür verspritzt wird, erst seinen vollen Wert gewonnen hat, dann mögest auch Du mit Deinen Kindern zur Heimat zurückkehren, und dessen gedenken, der sich der Größe Frankreichs geopfert hat. Vielleicht, daß ihr in einem freien Lande noch einmal sein Grab aufsucht, und die Schuld vergebt, wie er sie vergeben hat.«
Der Arzt, der schweigend eingetreten, gab den beiden Männern einen Wink, und machte Zeichen des Kreuzes über dem Sterbenden. Sie begriffen ihn und knieten an dem Lager, an dessen Fußende die Sängerin schluchzte; so fand sie die sinkende Sonne zu den Füßen eines Toten.
»An dem Lager des letzten Gauthier,« sagte der alte Kapitän, dem jungen Grafen die Hand reichend.
»Nehmen Sie sie, wenn es ihr ernst ist, jedem alten Vorurteil zu trotzen. Möge für Frankreich eine bessere Zeit kommen, in der das alte bourbonische Blut sich mit den Erinnerungen des großen Kaisers ohne Scheu verbindet.«
Der Graf mit dem alten Namen legte die Hand auf die Brust des Toten.
»Ich habe den Ahnen geopfert, was ihnen gebührt. Die Zukunft gehört mir und meinem Glück; wenn Sie mir Josephinens Schicksal anvertrauen wollen, werde ich für ihr Glück sorgen; ich bin ein freier Mann, und meine Verwandten sollen mir nicht im Wege stehen. Ich begleite Sie nach Guadeloupe, nachdem wir einen Tapfern, der die Treue bewahrt, zur letzten Ruhestätte gebracht haben.«
Der alte Seemann schloß ihn zum erstenmale als Sohn in seine Arme.
Der Arzt versprach, alles Nötige zu veranlassen, und da die ehemalige Sängerin den Toten nicht verlassen wollte, für einen Wächter zu sorgen. Nach seinem Vorschlag sollte die Beerdigung von dem nahen Militärhospital aus erfolgen, damit dem Toten auch die kriegerischen Ehren zuteil würden. Dann nahm er den Kapitän und das junge Paar und führte sie hinweg zu den Freunden, die er bei dem bereits als Sammelplatz bestimmten Albergo fand.
Hier traf er auch den Freund aus Griechenland, der bereits am Tage vorher angekommen war.
Es konnte jetzt kein Geheimnis mehr sein, daß von Seiten der revolutionären Partei ein weiterer Schlag gegen Rom vorbereitet wurde, obgleich die Regierung des Königs sich öffentlich gegen jede revolutionäre Demonstration ausgesprochen und sie mit einem Verbot bedroht hatte. Betrieb man doch ganz offen die Vorbereitungen, den Zuzug nach Sizilien zu dem Garibaldschen Unternehmen zu unterstützen. Ja, die Sache hatte mehr eine Art komödienhaften Widerstandes an sich und nur die energischsten Proteste der französischen Regierung waren es, welche die offene Zustimmung verhinderten.
An dem Tisch, an dem sie den friesischen Kapitän und den General-Konsul fanden, trafen sie auch den Ionier, von dem der alte Franzose von der Heerschau gehört hatte, die Garibaldi am 1. August im Walde von Fikuzza über 800 Freischärler abgenommen hatte. Noch konnte es Kapitän Lautrec nicht begreifen, daß der Zug gegen Rom und die französische Besatzung ohne vorherige Bewilligung des Kaisers Napoleon geschehen sollte, der General-Konsul machte ihn aber darauf aufmerksam, daß der Politik Frankreichs bereits genügt worden wäre durch die Verhinderung des Freischärler-Zuges gegen Wälsch-Tyrol in seiner Verhaftung in Palazzolo und Maggiera und man also die Hoffnung hege, Frankreich werde sich zu Gunsten des Papstes nicht mehr einmischen. Wußte man doch, daß man England auf seiner Seite haben würde.
Nach dieser Mitteilung drehte sich das Gespräch bald auf die griechischen Verhältnisse. Während der alte Kapitän den Friesen von dem Geschehenen und Beschlossenen unterrichtete, hatte Grimaldi den Arzt am Arm genommen und führte ihn am Strande entlang, um so allein mit ihm sich besprechen zu können.
»Ich will es Ihnen nicht verschweigen,« sagte er, »daß man in Paris Nachricht erhalten zu haben scheint von meiner Anwesenheit an der griechischen Küste; wenigstens sind mir Andeutungen gemacht worden, man würde mich an die Spitze der jonischen und griechischen Bewegung stellen, um dann gegen die englischen Absichten aufzutreten. Man weiß sehr wohl, daß ich ein Gegner der Engländer bin. So sehr ich auch meinem Volke Freiheit und Selbständigkeit wünsche, so kann ich doch kein Unglück in der Herrschaft des bairischen Königs erkennen, der es jedenfalls ehrlich mit dem Volke meint und wahre Bildung und Freiheit fördert. Schon einmal ist es geschehen, daß der Kaiser Napoleon mich zu dem Dienst gegen England in Indien bewog. Ich widmete mein Schwert damals der Freiheit eines unterdrückten Volkes. Darf ich es jetzt, wo es der Freiheit meiner eigenen Landsleute gilt, in der Scheide zurück halten?«
»Und welchen Nutzen haben Sie damals davon gehabt?« fragte der Arzt, »haben Sie Ihren Zweck erreicht?«
»Ist damals weniger ein Unrecht geschehen, wenn auch Indien nicht zu seinem Rechte kam,« entgegnete der Grieche, »Sie wissen, daß ich aushielt bis zum letzten Mann, daß ich freiwillig in die Dienste der Rhani von Jhansi trat und, solange sie diese wollte, bei ihr blieb. Sie kennen meine Schicksale bis zu dem Augenblicke, als wir uns im Golf von Tarent trennten. Sie waren der einzige Mann, zu dem ich Vertrauen hatte. Deshalb versprach ich Ihnen, nichts ohne Ihren Rat zu tun, ehe ich den Rest meines Lebens an eine andere, als an die Sache meines Vaterlandes setze. Jetzt bietet sich mir eine solche Gelegenheit und zwar für mein Vaterland; soll ich feig zurückstehen? Sie hoffen, wie ich, nicht mehr auf Frauenliebe und irdisches Glück. Es fragt sich also nur, dürfen wir dann feige das Leben für der Güter Höchstes halten?«
Der Arzt blickte ihn ernst an. »Sie haben gesehen, daß ich mir bereits eine neue Existenz zu schaffen gesucht, um nicht untätig zu leben. Was ich mit England abzurechnen habe, gehört dem persönlichen Leid an, dem Unrecht, das mir getan worden ist. Dies trieb mich in die Reihe der aufständisches Indier. Ich kann vergeben; alles Leid ist mein persönliches. Ich begreife sehr wohl, daß Sie für die Schmach einstehen, die man Ihrem Lande angetan hat, unser Kampf und unsere Pflicht sind daher verschieden. Sprechen Sie, und ich will Ihnen raten, was ich dann für das Richtige halte.«
»Als ich mich dem abenteuerlichen Zuge des Conte Lerida nach Ägypten anschloß, war es der Wunsch, Sie wieder zu sehen, Sie, von dessen Existenz mir zufällig durch den jungen französischen Offizier Mitteilung geworden war. Ich schloß mich ihm in Rom an, und Sie werden mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich vorher geschwankt habe, ob ich mich dem Kampf für die neue italienische Einheit, oder für das unterdrückte junge Königspaar anschließen sollte, gegen das ja auch England in die Schranken trat. Die Begegnung im Golf von Tarent entschied über meine letzte Aufgabe. Denn, Freund, ich glaube, daß es mein letzter Kampf ist, und deshalb habe ich den Weg nach Neapel genommen, um mit Ihnen das wenige zu ordnen, was ich noch zu ordnen habe. Sie wissen, daß ich älter bin als Sie, und das Ende der Laufbahn daher eher zu erwarten habe.«
»Sie versprachen mir Näheres über alles, was Sie damals im Golf von Tarent von uns schied.«
»So hören Sie denn. Daß ich damals den Uskoken Danilos, meinen Milchbruder, in dem Führer der Felucke wiederfand, der die unglücklichen Spanier von Malta nach der Basilikata brachte, wissen Sie. Ihr Schicksal ist es, was mir zum Teil auch den Anschluß an die neue italienische Regierung verleidet hat. Danilos, dem es nach der Flucht aus Indien und mancherlei Fährlichkeiten wieder gelang, Griechenland zu erreichen, hat am Golf von Patras eine neue Heimat gefunden, dahin begleitete ich ihn und habe bereits, da er in der alten Rastlosigkeit das Meer durchstreift, zwei Fahrten mit ihm gemacht. Aber, was Sie nicht wissen, oder wozu damals nicht die Zeit blieb, es Ihnen mitzuteilen, ist, daß ich bei ihm noch eine andere Erinnerung wiederfand, einen Unglücklichen, den er als lebende Mahnung an jene Furchtbaren mitgebracht, in dem sich alle unsere Erinnerungen an Indien vereinigen; ich traf auf der Klippe, die Danilos sein Eigen nennt und die er mit seiner Familie bewohnt und die seitdem auch meine Heimat geworden ist, das unglückliche Opfer des Schurken Rivers, den verstümmelten Eduard O'Sulliwan.«
»Den Schwager des Nena?«
»Ihn selbst und, was Sie nach ihren eignen Mitteilungen kaum noch wundern wird, die Spuren, daß der Nena nach Europa und nach Frankreich gekommen ist.«
Der Arzt schwieg. »Also auch Sie spüren seine Anwesenheit?« Ich hoffte niemals mehr von ihm zu hören, aber es ist, als wenn ein Fluch sich an diesen Namen knüpfte, bis alle Schuld gerächt ist.« Er versank in Schweigen.
»Die Erwähnung seiner Person erklärt mir auch, wodurch man sich meines Namens und meiner Rückkehr nach Griechenland erinnert hat. Ich erzählte Ihnen bereits, daß man Versuche gemacht hat, meinen Namen und mein Interesse für Griechenland zu benutzen. Sie erinnern sich, daß ich ein Sohn Ioniens bin und meine Familie aus Corfu und Zante stammt, und daß die englische Verfolgung und die österreichische Verurteilung mich in Italien nicht länger duldete. Jene Zeit ist zwar längst vorüber, und kaum sollte sich meiner noch jemand erinnern. Die Tatsache ist wahr, daß eine geheime Macht, die mit England in Unfrieden lebt, einen Führer sucht, um ihn an ihre Spitze zu stellen gegen die Intriguen, die England in diesem Augenblick anzettelt, um in Griechenland eine Revolution hervorzurufen und einen englischen Prinzen bei einer Umwälzung auf den griechischen Thron zu bringen. Ja, ich glaube, daß man in mir, ohne mich näher zu kennen, die Ursache der Bewegung sucht, welche die Erhebung des Jonischen Parlaments seit zwei Jahren betreibt für die Selbständigkeit des ursprünglich freien Landes und den Anschluß an Griechenland. Sie wissen, und ich kann Ihnen die nötigen Aktenstücke darüber vorlegen, daß die Ionischen Inseln im Traktat von Paris 1815 nach der Gründung als Republik durch Kaiser Paul von Rußland 1800 nur unter eine allgemeine Protektion Englands gestellt wurden, als freier und selbständiger Staat, » libre et indépendant«, und daß England die Herrschaft an sich gerissen hat, wie es dies mit so vielen fremden, ihm nicht gehörigen Ländern getan hat. Jetzt, nachdem der Gedanke des Kaisers Napoleon von der Berechtigung der einzelnen Nationalitäten so viel Unheil und Bewegung in den Köpfen verursacht hat, daß er schließlich seinen eigenen Erfinder erschrecken wird, fängt er an, auch England unheimlich zu werden. Griechenland besteht freilich erst durch den Willen Englands, Frankreichs und Rußlands seit der Schlacht von Navarin, aber es ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen und ein selbständiges Reich, mit dem man nicht unwillkürlich nach bloßen Interessen rechnen kann. Selbst, wenn es sich zeigen sollte, daß England beabsichtigte, Ionien aufzugeben, um seine Vereinigung mit Griechenland zu gestatten, werden die andern Mächte es nicht so geduldig zugeben, daß es dies auf Kosten des Erwerbs einer neuen Station nach dem Orient tun darf. Ich liebe mein Vaterland, ich liebe Ionien. Darf ich zu Gunsten seiner Befreiung vom englischen Joch helfen, es frei zu machen, indem ich Griechenland unter englische Herrschaft bringe und es zur Station auf dem Wege nach Indien mache?«
Der Arzt blieb nachsinnend stehen. »Sie haben mir viel zu denken gegeben mit Ihrer Frage,« sagte er, »es läßt sich nicht leugnen, daß der Kaiser Napoleon mit dem Gedanken der Nationalitäten ein bedeutendes Schisma auch in der griechischen Angelegenheit hervorgerufen hat. Zu den Mächten, die Sie eben genannt, gesellt sich noch eine neue, Italien. Es ist zwar richtig, daß Ionien der Sprache nach und, soviel ich weiß, selbst dem Glauben nach zu Griechenland gehört, indes die politischen Grenzen sind durch die neue Stellung der Staaten zu ganz andern, als durch die nationalen geworden, sodaß auch darauf Rücksicht genommen werden muß, und es muß wohl gefragt werden, kann es dem neuen Italien gleichgültig sein, einen Nachbar wie England künftig zu gewinnen? Es läßt sich nicht leugnen, der germanische Stamm ist ein zäher und mächtiger, und über kurz oder lang wird er mit dem romanischen zusammenstoßen. Folgen Sie Ihrem vaterländischen Gefühl, Sie und ich können es nicht hindern, wenn England seinen Einfluß über Griechenland zu gewinnen sucht. Ihre Aufgabe als geborener Ionier ist es, das Land zunächst von dem englischen Joch befreien zu helfen und wenn sich eine günstige Gelegenheit dazu bietet, wären Sie ein schlechter Sohn Ihres Vaterlandes, wenn Sie nicht nach Kräften dazu helfen. Die Bestimmung, was aus dem Lande werden soll, ist dann Sache seiner Söhne.«
»Sie haben Recht, und in diesem Sinne will ich handeln, doch gibt es einen zweiten Punkt, weswegen ich Ihren Rat wünschte. Ich möchte über das wenige, was ich besitze, verfügen.«
Der Arzt sah ihn an. »Sie denken doch nicht zu sterben, ein Mann wie Sie, der seinem Vaterlande noch so große Dienste leisten kann?«
»Ich weiß nicht, es überkommt mich oft, als würde mein Leben nicht mehr lang sein, und ich wünsche meine irdischen Angelegenheiten vorher geordnet. Ich besitze, wie ich bereits dem Grafen von Laforta anzudeuten die Ehre hatte, aus der Erbschaft der Rhani ein Vermögen von fast 400 000 Livres, die Hälfte davon wünsche ich meinem Milchbruder Danilos und dem Ärmsten, den er Pflegt, zu hinterlassen, obgleich seine Tätigkeit ihm bereits Selbständigkeit gesichert hat. Den Rest will ich zur Begründung von Stipendien für talentvolle Söhne Ioniens auf den Universitäten von Neapel oder Athen verwenden. Das Vermögen ist in Staatspapieren an den Banken von Paris und Wien hinterlegt, dort können die Zinsen erhoben werden. Sie habe ich ausersehen, wenn Gott über mich anders bestimmt, die Stiftung zu verwalten und dafür mit meinem Dank als Andenken jenen Dolch an sich zu nehmen, den die Rhani mir zum Gedächtnis hinterlassen hat.«
»Torheit, Freund! Ich hoffe. Sie werden selbst am besten über Ihr Geld verfügen, doch, wenn es Sie beruhigen kann, so seien Sie überzeugt, daß nach Ihrem Willen verfahren werden wird. Nun aber lassen Sie uns zu den unsern zurückkehren, die sich bereits über die Dauer unseres Gesprächs gewundert haben werden. Außerdem scheinen mir dort neue Nachrichten angekommen zu sein.« –
Er reichte ihm die Hand und führte ihn nach dem Alberge zurück.
In der Gesellschaft des Konsuls fanden sie zwei Personen, die zwar nicht allen, aber doch mehreren von ihnen bereits bekannt waren, und die der Arzt und der Ionier gleich wieder erkannten. Es waren der Graf von Lerida und der Abbé Calvati, der, in bürgerlicher Kleidung, durch ein flüchtiges Zeichen zu erkennen gab, daß er seinen Namen nicht genannt wissen, sondern lediglich als Begleiter des Spaniers gelten wollte. Beide waren offenbar nicht ohne Absicht und Zweck nach Neapel gekommen, es zeigte sich auch bald, daß die Ankunft des Abbé mit der Neuigkeit des Tages in Beziehung stand, denn er war der erste, der Maldigri über die neuesten Nachrichten aus Sizilien befragte.
Die Abendblätter brachten die Nachricht, daß auf strengen Befehl von Turin her von dem Gouvernement Anstalten getroffen seien, den Marsch Garibaldis, wenn er auf seinem Vorhaben bestehen sollte, mit Waffen-Gewalt zu verhindern, daß trotzdem aber die Freischärler Miene machten, nach Kalabrien überzusetzen. Admiral Persano hatte die königlichen Schiffe vor Catania gelegt. Mit jedem Augenblick erwartete man neue Nachrichten, und es läßt sich denken, welche allgemeine Aufregung die schon eingegangenen verursachten. Die Sardinier machten gar kein Hehl daraus, daß sie auf der Seite Garibaldis standen und als Soldaten nur notgedrungen den Befehlen des Königs Folge leisteten, die offenbar von dem Willen in Paris diktiert waren. Dazu hatte das Manifest der römischen Emigration an die Römer neuen Zündstoff in den Brand geworfen. Kühn sagte dies: »Frankreich wird nicht wagen, mit offener Gewalt die Pfaffentyrannei gegen das römische Volk zu beschützen, sobald dieses wahrhaft entschlossen ist. Zwischen dem Frankreich von 1849 und 1862 liegt ein Abgrund, liegt die Schlacht von Solferino und die Proklamation von Mailand. Mögen die Franzosen in Rom bleiben, wenn es ihnen gefällt; wenn sie bleiben, wird dies geschehen, um an unserer Seite gegen den Despotismus des alten Europa zu streiten. Frankreich ohne Bourbonen bedeutet immer Revolution.«
Der Graf von St. Brie hatte neben dem Abbé Platz genommen.
»Sie sehen, daß Sie zu einer unglücklichen Zeit gekommen sind,« sagte er leise, »man würde Sie in Stücke reißen, selbst der erzbischöfliche Palast würde Sie nicht schützen können, wenn man wüßte, daß Sie aus dem Vatikan kommen. Wie konnten Sie sich unvorsichtiger Weise hierher wagen, wissen Sie denn auch, daß morgen ein Zufall bei dem Begräbnis Sie eine alte Bekannte finden und Sie erkennen lassen kann?«
»Still«, flüsterte der Abbé, »ich verlasse mich natürlich auf Ihre Diskretion und fühle mich sicher, da Sie es sind. Ich verstehe Ihre Andeutung nicht, aber wer sagt Ihnen denn, daß ich ohne Auftrag hier bin? Die zufällige Anwesenheit des Grafen von Lerida in Rom gab mir Gelegenheit, mich unter seinen Schutz zu stellen und ihn nach Neapel zu begleiten. Sie erinnern sich des Obersten oder Generals Maldigri, der uns in der Colombaia die interessanten Geschichten aus Indien erzählte und dem ein Teil unsers Auftrags gilt; Sie müssen nachher helfen uns mit ihm in Berührung zu bringen. Wen meinen Sie mit der Bekannten, die ich hier treffen soll?«
Der Marquis sah ihn verwundert an. »Sie versuchten damals auf der Fahrt von Compiegne nach Paris zwar die Bekanntschaft zu leugnen,« sagte er, »aber ich habe ein gutes Gedächtnis, und die Anwesenheit des Fräulein von Lautrec wird Ihnen zeigen, daß wir die Zeit zu benutzen verstanden, und daß für die Kirche nichts mehr von der Pensionärin der Schwester vom sacre cœur zu hoffen ist.«
Der Abbé verschluckte die Pille, aber er war gewandt genug, sich keine Blöße zu geben. »Sie haben noch immer nicht den Namen genannt, nach dem ich sie fragte?«
»Sie werden sich der Französin erinnern, einer Pariser Sängerin, die Sie Gott weiß woher unter die Gesellschaft aufgenommen, mit der Sie die Aufmerksamkeit der piemontesischen Offiziere zu beschäftigen wußten, während wir den Überfall von San Agata versuchten. Theresella nannte man sie ja wohl?«
Der Abbé sah ihn bestürzt an.
»Theresella,« sagte er erschrocken, »soviel ich gehört, hat sie sich nicht wieder zu ihren Gefährtinnen zurückgefunden, sondern ist seitdem verschwunden geblieben.«
»Sie irren auch darin, Theresella war es, die den Schuß auf den Kapitän Gauthier abfeuerte und ihn verwundete; damit scheint sich ihre Gesinnung gegen ihn jedoch geändert zu haben, denn sie hat den Verwundeten und Gefangenen nach Neapel begleitet, ist seitdem seine treue Pflegerin gewesen und hat Mittel und Wege gefunden, ihm diese Wohltat zu erzeigen, ohne daß Freund oder Feind eine Ahnung von dem Verbleib des Kapitäns erhielten, bis es uns endlich gelungen ist, beide hier aufzufinden, denn Sie müssen wissen, daß Gauthier ein Neffe des Kapitän Lautrec ist und eigentlich zum Gatten der schönen Pensionärin von Gouadeloup bestimmt war, an dessen Stelle bei seinem Tode mit Bewilligung des Kapitäns und der schönen Braut ich getreten bin. Er ist es, der morgen von dem Lazarett der Sardinier aus beerdigt wird.«
Der Abbé hatte ihm mit Erstaunen zugehört, aber er war klug genug, seine gänzliche Unkenntnis der Umstände nicht merken zu lassen.
»Es wird gut sein, wenn ich morgen vorher die Französin sprechen kann.«
»Das dürfte nicht nötig sein,« erwiderte der Marquis, der offenbar ein Vergnügen darin fand, dem Abbé seine damalige Abweisung zu vergelten.
»Die heilige Kirche wird gut tun, auch hier ihre Finger davon zu lassen, wie bei der Pensionärin vom Sacre Cœur. Madame Theresa wird hier zurückbleiben als Pflegerin des Grabes des Verstorbenen, es ist genügende Anstalt getroffen, ihr den Schutz gegen jede Einmischung von Rom zu sichern!«
»Sie scheinen eine falsche Meinung von der Aufgabe der Kirche zu haben; was kümmert es mich, wo und wie dieses Frauenzimmer endet. Sie werden es als guter Katholik gleich begriffen haben, daß die Kurie diesem öffentlichen Zuge Garibaldis gegen Rom nicht geduldig zusehen konnte, und ich bin daher hier, um den Vorstellungen des Generals Gemeau bei dem sardinischen Gouvernement gegen den Angriff auf Rom Ausdruck zu geben. Was wir mit dem Major Grimaldi zu verhandeln haben, betrifft einen andern Gegenstand, und dazu nehme ich eben Ihre Bekanntschaft mit ihm in Anspruch.«
Er wandte sich dem allgemeinen Gespräch zu, und auch der Graf von St. Brie suchte und fand nicht Gelegenheit, ihn näher zu befragen.
In tiefem Nachdenken folgte Grimaldi dem Gespräch; es war leicht, zu bemerken, daß er mit einem Entschlusse rang, und erst, als der Uskoke herbeitrat, und Walding die Nachricht gebracht hatte, daß Garibaldi in der Tat bereits mit seinen Freischärlern in der Nähe von Reggio in Calabrien gelandet sei, und sich in das Gebirge bei Aspromonte zurückgezogen habe, um einen Zusammenstoß mit den ihm bereits entgegengesandten Truppen der Regierung zu vermeiden, schien er diesen Entschluß gefaßt zu haben. Er versprach, am andern Tage dem Begräbnis des Kapitäns beizuwohnen, wie auch der Graf von Lerida sich dazu erboten. Man verabredete, sich zur bestimmten Stunde am andern Tage in dem Krankenhaus zu treffen, von wo aus die Beerdigung des Kapitän Gauthier stattfinden sollte, und erst jetzt erfuhr der Arzt den Entschluß Grimaldis, sobald in Betreff des Zuges gegen Rom etwas Entscheidendes erfolgt sei, seinen Milchbruder nach der griechischen Küste zurückzubegleiten.
Während die Männer das politische Gespräch fortsetzten, hatte der Abbé Gelegenheit gefunden, sich zu Grimaldi zu gesellen.
»Sie werden sich meiner von Rom her erinnern, und ich danke für die beobachtete Diskretion. Ich weiß, daß Ihre Familie aus Venedig stammt, und der Kirche auch in ihrem griechischen Zweige treu geblieben ist und möchte, darauf fußend, einige Fragen an Sie richten, deren aufrichtige Beantwortung ich Ihnen natürlich anheimstelle; doch will ich Ihnen nicht verhehlen, daß eine aufrichtige Antwort auch dem Kardinal-Staats-Sekretär von Wichtigkeit sein dürfte.«
Der General sah ihn aufmerksam an. »Unsere Bekanntschaft war zwar nur kurz, aber Sie wissen, daß meine Meinung offenherzig gegeben wird; was wünschen Sie zu erfahren?«
»Glauben Sie, daß England Aussicht hat, wenn eine Veränderung in Griechenland eintreten sollte, dort Einfluß zu finden, und halten Sie dies für günstig oder schlimm für den katholischen Glauben, da der jetzige König als Prinz von Bayern ein geborener Katholik ist? Ich will keineswegs eine Heimlichkeit daraus machen, daß nach der Meinung Roms das griechische Schisma fast gefährlicher ist, als die offenbare Ketzerei.«
»Es ist eine seltsame Frage, die Sie in Ihrer Stellung an mich richten,« sagte Grimaldi, »da Sie aber offen fragen, will ich auch ebenso offen antworten; ist doch diese Frage in denselben Worten heute schon zum zweitenmale an mich gerichtet worden. Mein Entschluß steht deshalb fest. Ich betrachte nicht blos Ionien, sondern auch Griechenland als mein Vaterland, wenn auch dem ersteren meine näheren Gefühle gehören. Ich bin daher entschlossen, zunächst für die Befreiung Ioniens von dem englischen Joch und für seinen Anschluß an Griechenland zu sorgen und zu tun, was ich kann. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß an dem Horizont der gegenwärtigen Regierung von Griechenland bedrohliche Wolken stehen, und ein Teil des Volkes revolutionäre Gesinnungen hegt, mögen sie von Italien eingeschleppt sein, möge die friedliche Stellung gegen die Türkei den Erwartungen des Volkes nicht entsprechen, möge die Aufreizung von anderer Seite kommen. Ich will hoffen, daß es König Otto und seiner Regierung gelingen möge, den Sturm zu beschwören. Tatsache ist, daß für eine englische Nachfolge, da er selbst keine Nachkommenschaft hat, sich viele Stimmen im Lande erheben, und wenn es vor eine solche Wahl gestellt werden sollte, das Volk sehr dazu neigen würde. Ich selbst halte englische Oberherrschaft oder auch nur Protektion für ein Unglück, denn wie Sie wissen, kenne ich den englischen »Schutz« zur Genüge. Ob die römische Kirche durch die Oberherrschaft Englands, das jetzt offenbar sehr zum Katholizismus neigt, gewinnen würde, oder unter der russisch-griechischen Kirche, wage ich nicht zu entscheiden. Sagen Sie dies denen, die Sie gesandt haben, und bei denen ich dasselbe Interesse vermute, das schon einmal die gleiche Frage an mich richten ließ. Ich bin ein Sohn Ioniens und will zunächst mein Vaterland vom englischen Joch befreien. Das Weitere ist Gottes Sache, und ich kehre zu diesem Zweck mit meinem Milchbruder zunächst an die Mündung des Aspropotamos zurück.«
Der Abbé schien genug gehört zu haben und schloß sich den andern wieder an. Als er später mit dem Grafen von Lerida in das Hotel zurückgekehrt war, in dem sie beide Unterkommen gefunden hatten, begleitete er ihn noch nach seinem Zimmer.
»Es war doch gut, daß Sie mich aufsuchten, als Sie von Luzern zurückkamen. Seiner Eminenz ist es nicht allein von Interesse gewesen, zu erfahren, was Sie von der Zusammenkunft der Legitimisten mitteilten, sondern auch von der Spanierin und ihrer Tochter zu hören, die Sie uns so geschickt entführt haben und auf Ihrer Felsenburg, ich weiß nicht zu welchem Zweck, verborgen halten.«
»Es machte mir Mühe genug, das Vöglein im Käfig zu halten; Mutter und Tochter wollen gar zu gerne ausschwärmen und es war schwierig, ihnen begreiflich zu machen, daß ihre Zeit noch nicht gekommen sei. Ich hoffte dies einen Augenblick, als ich von Prim und seiner Expedition nach Mexiko las, nachdem ich aber erfahren, daß er und die Engländer sich von den Franzosen getrennt haben, und nicht blindlings die napoleonischen Pläne verfolgen wollen, hielt ich die Gelegenheit für ungünstig. Almonte ist verhaßt und kann sich nicht halten. Wie ich höre, will man einen deutschen Prinzen vorschieben und hofft durch diesen die Herrschaft der Kirche in Mexiko wieder herzustellen. Es scheint mir, als ob in diesem Augenblick der Einfluß Roms in Spanien überhaupt schwankend wäre und die Königin Isabella eine starke Partei gegen sich hätte. Sagen Sie dem Kardinal, daß sich die beiden Frauen bei mir in Sicherheit befinden und er erst, wenn die Zeit gekommen, über sie verfügen mag. Einsperren lasse ich sie nicht mehr, da sie meine Verwandten sind, vielleicht aber, daß wir einen Tausch machen. Sie wissen, ich bin ein kurioser Gesell und halte den Fuß in zwei Lagern. Haben Sie den General gesprochen? Ich weiß; er ist ein Feind der Engländer, aber ich habe Sympathien für ihn. Wissen Sie, daß ich vorhabe, diesen Winter in Paris zuzubringen? Ich weiß nicht, was mich treibt, dahin zu gehen, aber es ist so und die Einladung des Kaisers und der Kaiserin war eine aufrichtige. Vielleicht kann ich Ihnen, oder Sie können mir dort nützen, ich bin zu lange von dem politischen Schauplatz entfernt gewesen, um nicht lange Weile zu empfinden.«
»Sie sind ein seltsamer Charakter, ein würdiger Neffe Ihres Oheims, ich sollte meinen, die Verhältnisse in Italien gäben Ihrem unruhigen Geist jetzt Stoff genug; haben Sie gehört, daß man auch in Griechenland revolutionäre Bewegungen fürchtet?«
»Daher das Auftauchen Grimaldis; nehmen Sie sich in Acht, Rom hat seinen besten Halt an der Kaiserin, verlassen Sie die Stadt nicht, denn wenn Sie« – er sah ihn scharf an – »den Antrag Russel's mit Malta annehmen sollten, würde, wie der Riese Anthäus, das Papsttum seinen besten Halt verlieren. Nur in Rom herrscht Rom ewig!«
Der Abbé sagte erstaunt: »Also auch das wissen Sie? Es scheint, es bleibt Ihnen nichts verborgen. Fürchten Sie nichts, wir wissen sehr wohl, daß nur von Rom aus die Kirche herrscht, aber an jedem andern Ort ihre wahre Macht verlieren würde. Deshalb müssen die Ungewitter, die sie bedrohen, jetzt getragen werden, das Anerbieten Englands bleibt deshalb nicht weniger ein guter Wink für Paris. Aber haben Sie Dank, ich sehe, daß Sie doch ein guter Sohn der Kirche sind, wenn auch etwas schwer lenkbar, und ich werde nicht verfehlen, dem Kardinal Ihre wahre Gesinnung zu rühmen. Schlafen Sie wohl! Bis morgen!« Er reichte ihm die Hand und ging nach dem ihm angewiesenen Zimmer, aber ehe er es erreichte, sollte er noch eine andere Begegnung haben. Es war der tunesische Jude, der ihn an einer der geöffneten Türen zu erwarten schien.
»Verzeihen Sie, Signor, wenn ich mich in der Person irre! Erwarten Sie den Schreiber eines Briefes nach Rom?«
Der Abbé trat aufmerksam zu ihm in das Zimmer. »Wenn Sie der richtige sind – ja.«
»Dann werden wir uns verständigen, kennen Sie den Rektor Corpasini?«
»Ich kenne den Mann.«
»Ich habe ihn zufällig auf der Mission in der Bay von Arkiko kennen gelernt; er war es, der mir empfahl, in Europa, wenn ich Rat und Beistand brauchen sollte, mich an Ihre Kongregation in Rom zu wenden; hier ist die Karte, die er mir zu meiner Legitimation gab.« Er reichte ihm ein dreieckiges Stück Papier, das der Abbé aufmerksam prüfte.
»Ich kenne den Namen des Rektor Korpasini allerdings und sehe, daß er Sie als vertrauenswürdig empfiehlt. Wer sind Sie, und womit kann ich Ihnen dienen?«
»Ein tunesischer Kaufmann, wie Sie sehen, ein Moslem, erlauben Sie mir, auf das weitere nicht einzugehen, aber wir können einander vielleicht gegenseitig in unserm Zweck dienen; vorerst, wenn das Ihnen Vertrauen geben kann – ich bin ein Feind der Engländer, ein Diener der grünen Schlange.«
Der Abbé starrte ihn an. »Sie haben entweder zu wenig oder zu viel gesagt, Herr; was meinen Sie mit dieser Andeutung?«
»Ich will offenherziger sein als Sie, und ich kann es, da ich in diesem Lande ein Fremdling bin. Ich stamme vom Indus, von dem alle Nationen und Religionen stammen, und es geht die Sage unter uns, daß, als Brahma, Gott oder Allah die Welt erschaffen, er an die Weisen aller Nationen drei Ringe verteilt habe, in welchem Zeichen sich alle Macht vereinigen soll. Die Weisheit soll herrschen durch die Auserwählten, die Menge ist zum Gehorsam da und, um beherrscht zu werden. Man sagt, daß auch an die weißen Völker ein solcher Ring gekommen sei, und daß Rom ihn bewahre. Was kümmert es mich, ob Sie Christ oder Hindu sind, ich denke nur, daß Rom der Ort ist, wo sich die weisen Männer der Christen vereinigen, die wahre Aufgabe des Lebens zu verfolgen: zu herrschen; das Zeichen der Herrschaft aber ist die Schlange.«
»Sagte der Rektor Korpasini, an welche Kongregation Sie sich wenden sollten?«
»An das Kollegium der Jesuiten, dem er selbst angehörte; sie besitzen verschiedene Missionen, auch in Indien. Ich habe schon früher von der Macht ihres Ordens und seiner Aufgabe sprechen hören. Sie sind ein Mitglied dieses Ordens?«
Der Abbé überging die direkte Antwort. »Ich bin hier im Dienst der heiligen Kirche. Wenn Sie weiteres über die Gesellschaft Jesu wissen wollen, muß ich es Ihnen überlassen, sich an das Kollegium des Ordens selbst in Rom zu wenden. Es muß natürlich der heiligen katholischen Kirche daran liegen, ihre allein selig machende Lehre über den ganzen Erdball zu verbreiten. Sie werden allen Menschen eine Wohltat erweisen, wenn Sie dazu helfen, da die Gesellschaft Jesu, soviel ich weiß, die mächtigste und den Christenglauben am reinsten predigende ist, Sie werden das Kreuz am meisten fördern, wenn Sie ihm jeden Beistand leisten, den Sie können, zum Beispiel bei der Anlegung von Missions-Stationen, zu der Rektor Korpasini den Auftrag hat.«
Der Tunese stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. »Was kümmert es mich, ob Christ oder Heide, ich sagte es Ihnen bereits! Die Engländer wollen überall herrschen, über das Volk, über die Masse. Stimmt es mit ihrer Lehre überein, daß Sie einen Herrscher neben sich dulden?«
Der Abbé sah ihn mit einem stillen Lächeln an, »Ich glaube nicht; die Kirche soll überall gebieten und die erste sein.«
»Also herrschen!?«
»Wenn Sie es so nennen – ja.«
»Wir sind also einig in der Bekämpfung der englischen Obermacht. Ich werde Ihnen Mittel und Wege angeben, wie Sie ihr am leichtesten Hindernisse in den Weg legen können, durch Hindus und Moslemes, gleichviel, mich kümmert die Sekte nicht. Mein Glaube sieht die Herrschaft in dem Gebot der Vernichtung, das ist Macht.«
»Wir erblicken die Macht in dem Gebot über alles Lebendige, über die Geister. Wir üben die Herrschaft über Leben und Tod, indes ich zweifle nicht, daß Sie sich über den Grundgedanken des Herrschens leicht verständigen werden, aber dazu ist Ihre Reise nach Rom notwendig; kann ich Ihren Zwecken hier mit etwas dienen?«
»Ich sah, daß Sie mit General Maldigri oder Grimaldi, wie er sich hier nennt, sprachen, wo treffe ich ihn?«
»Er wohnt, wie er mir sagte, mit seinem Milchbruder Danilos Petrowitsch an der Mündung des Aspropotamos und kehrt dahin zurück, wenn die Engländer es ihm gestatten; denn, wie ich höre, wird eine große Versammlung oder antienglisch gesinnten Mitglieder des Ionischen Parlaments auf Zante stattfinden und er derselben beiwohnen.«
»Gut, ich danke Ihnen; kann es England schaden, wenn es sich dieser Versammlung feindlich zeigt und an der Person Grimaldis Rache übt, zum Beispiel für den indischen Aufstand?«
»Gewiß, es würde seine Sympathien unter dem griechischen Volke vernichten.«
»Wann soll diese Versammlung stattfinden und wer residiert jetzt in Zante?«
»Oberst Wodehuse, ein strenger Soldat, wie der Oberbefehlshaber der britischen Truppen, General Sir Buller.«
»Noch eine Frage! Wer ist der Mann, mit dem Sie gekommen, Conte Lerida nannte man ihn?«
»Ein abenteuerlicher Mann, aber in vieler Beziehung zu brauchen, namentlich, wenn es ein Abenteuer gilt.«
»Nehmen Sie meinen Dank für die Auskunft und die Versicherung, daß ich Sie in Rom aufsuchen werde. Es wäre mir lieb, einen Beweis zu erhalten, daß ich Sie gesprochen.«
Der Abbé nahm aus einer Tasche, die er an einem Kettchen unter dem Rock trug, eine dreieckige Karte. »Wenn Sie nach Rom kommen, suchen Sie die Sapiencia auf, und zeigen Sie dies, dann wird man Sie an den richtigen Ort weisen. Wünschen Sie noch weitere Auskunft?«
»Nein, Sie finden mich in demselben Hotel und brauchen nur nach dem tunesischen Kaufmann Hassun zu fragen, wenn Sie mich brauchen. Leben Sie wohl!«
Jetzt erst konnte der Abbé sein Zimmer erreichen, aber mit der Nachtruhe der Meisten, denen wir an diesem Abend begegnet sind, schien es schlecht bestellt, denn die aufgehende Sonne fand sie alle mit Briefschreiben beschäftigt. Grimaldi richtete einen Brief an dieselbe Adresse, an die der tunesische Kaufmann geschrieben hatte, es war die des Kaisers Napoleon in Paris. Der des tunesischen Kaufmanns enthielt nur wenige Worte:
»Sire, der Mann, der sich Palican unterzeichnet, macht Sie darauf aufmerksam, daß England damit umgeht, Griechenland und Cypern zu einer Station nach Indien für einen englischen Prinzen zu erwerben. Werden Sie, Rußland und das neue Italien dies dulden?«
Ausführlicher war der Brief Grimaldis unter der Adresse des französischen Gesandten in Rom. Er lehnte den Auftrag, an die Spitze der griechischen Bewegung zu treten, ab, aber er machte darauf aufmerksam, welche Gefahr es für die Uferstaaten des mittelländischen Meeres haben würde, die englischen Interessen in Griechenland Herr werden zu lassen, und machte auf das Verlangen des Jonischen Parlaments nach Selbstständigkeit aufmerksam.
Der ausführlichste Brief war der Bericht des Abbé Calvati an den Kardinal-Staats-Sekretär. Er teilte mit, was bis jetzt geschehen, und welche Stimmung in Neapel herrschte. Dann ging er auf die griechische Frage über und deutete damit an, welche Vorteile es für die Kirche haben würde, Monsignore Madellena, den katholischen Erzbischofs von Corfu, für eine Trennung der Inseln von England zu interessieren. Ein besonderer in Chiffern geschriebener Brief an den Superior des Jesuiten-Kollegiums machte von der bevorstehenden Ankunft des tunesischen Kaufmanns Anzeige und schloß mit den Worten:
– – – Ich glaube, nicht zu irren, wenn ich in ihm eines der Häupter des indischen Aufstandes vermute. Vielleicht einen Thug. Suchen Sie sein Vertrauen zu gewinnen. Er trägt den Ring mit der grünen Schlange. So lange ich hier bin, werde ich ihn nicht aus den Augen verlieren. Eine der Frauen von der Santa Clara traf ich hier wieder. Es droht hier keine Gefahr – – –.«
An demselben Vormittag fand von dem Lazareth der sardinischen Garnison aus die Beerdigung des französischen Kapitäns statt. Der General-Gouverneur hatte ausdrücklich Befehl gegeben, sie mit allen militärischen Ehren zu vollziehen. Das zahlreiche Gefolge von Franzosen und Fremden genügte, um den Conduct zu einem der feierlichsten zu gestalten, die seit langer Zeit die Strada del Campa passiert war.
Wer sich erinnert, mit welchen eigentümlichen Ceremonien die Leichenbestattung im südlichen Italien und in Griechenland vollzogen wird, wird sich nicht wundern, wie der lange Zug der verhüllten und unkennbaren Kreuzträger eine Menge Volkes an sich lockte, namentlich, da unter der Hand bekannt geworden war, daß es sich nicht um das Begräbnis eines piemontesischen Soldaten, sondern um einen Krieger des Königs Franz und einen Verteidiger von Gaëta handle. Dennoch wäre die Masse des Publikums kaum erklärlich gewesen, wenn nicht noch andere Ursachen hinzugekommen wären. Welch trauriger Natur diese waren, sollte sich bald zeigen, als unter die militärische Salve, welche die kommandierte Truppe über dem Grab des Tapfern abgab, eine andere militärische Charge sich mischte und sich bald unter den Anwesenden die Nachricht verbreitete, daß auf ausdrücklichen Befehl des General-Gouverneurs hinter der Mauer des Campo zur selben Zeit die Füsilierung einer Anzahl von Royalisten aus der Provinz, die am Tage vorher zum Tode verurteilt worden waren, stattgefunden hätte. Es schien, daß General Lamarmora mit dieser Expedition die Höflichkeit an die Franzosen und die Hoffnungen, die man an den Zug Garibaldis knüpfte, ausgleichen wollte.
Unter den verhüllten Kuttenträgern, welche die Leiche des Kapitän Gauthier zur letzten Ruhe geleiteten, schritt eine Figur, die sich ihrem Gewande nach als ein Angehöriger der sogenannten »Blauen Brüderschaft« kennzeichnete. Niemand beachtete weiter den Blauen mitten in dem langen paarweise geordneten Zug der seltsam vermummten Gestalten, denen ihre langen verschiedenfarbigen Kutten mit spitz zulaufenden Kapuzen, die tief über das Gesicht herabgezogen, und in die zwei runde Augenlöcher geschnitten waren, das Aussehen einer Gespensterprozession gaben. Voraus trug einer ein florumwundenes Kreuz mit dem fast lebensgroßen Christusbilde, links und rechts von dem Kruzifix rauschten zwei Kirchenbanner. Nichts kann für den Ausländer, der diesem Schauspiel zum erstenmal begegnet, schauerlicher sein, als der Anblick dieses vermummten Trauergeleites! Aus den Löchern der Kapuzen glühen die Augen hervor, im Windzug flackern die Kerzen, deren jeder Bruder eine in der Hand trägt, und dazu ertönt ein Chorgesang, dumpf und hohl wie ein Geisterruf aus bodenloser Tiefe …
Für den deutschen und besonders nicht katholischen Leser dürfte es wohl zum bessern Verständnis dienen, wenn wir hier eine kurze Notiz einschalten über das Wesen und Wirken dieser Brüderschaften, die unter den verschiedensten Namen und Abzeichen in Italien, Spanien und den sonstigen romanischen Ländern bis zum heutigen Tage eine so charakteristische Rolle spielen.
Das Entstehen der Brüderschaften greift weit in das Mittelalter zurück, und man bezeichnete mit dieser Benennung gewisse Verbindungen von Laien, die, ohne aus dem Weltleben gänzlich herauszutreten, dennoch zeitweise sich bestimmten kirchlich-religiösen Übungen und Funktionen unterzogen. Sie legten weder ein Klostergelübde ab, noch war ihnen irgendwelche priesterliche Autorität verliehen, weshalb man sie von den eigentlichen geistlichen Orden wohl unterscheiden muß. Sie entstanden und verbreiteten sich hauptsächlich seit dem zwölften Jahrhundert, wie schon bemerkt, unter den verschiedensten Benennungen und Verpflichtungen. Es gab, um hier nur die hervorragendsten dieser Kongregationen zu bezeichnen, die sogenannten »Apostelbrüder«, ferner die »Beguinen« und »Begharden«. Die »Brückenbrüder« ( frères pontifes) entstanden in Frankreich aus dem Bedürfnis, den Pilgern den Weg nach den verschiedenen Wallfahrtsorten zu erleichtern; die im Jahr 1185 zu Avignon erbaute Brücke über die Rhone ist eines der Denkmale dieser Brüderschaft. Wieder andere Kongregationen, wie z. B. die »zur heiligen Dreieinigkeit«, beschäftigten sich mit der Pflege und Unterstützung erkrankter und armer Wallfahrer und Pilger, oder stifteten und leiteten Freischulen für arme Kinder. Die »Brüder des Todes« besorgten die Begräbnisse des Proletariats; die »Alexianer« und ihr weiblicher Zweig, die »schwarzen Schwestern«, wirkten hauptsächlich in den Gefängnissen, begleiteten die Armsünder nach dem Richtplatz und ließen für deren Seelenheil Messen lesen. Die »Büßer« endlich, die bei der Beerdigung des Kapitän zugegen waren, bilden verschiedene, wenn auch organisch zusammenhängende Brüderschaften, die sich durch die Farben ihrer Kutten in schwarze, graue, rote, blaue, grüne etc. teilen. Sie nennen sich »Büßer«, weil sie ihre Liebeswerke als reinigende Büßungen ihrer eigenen Sünden und Vergehen betrachten und vereinigen in ihren Kongregationen Personen aus allen, selbst den höchsten Ständen. In allen Städten Italiens findet man die Brüderschaften der »Büßer«, und der Mangel an staatlichen Wohlfahrtsanstalten macht diese Kongregationen heute noch unentbehrlich. Die Ausstattung armer würdiger Mädchen, die Bekehrung der Prostituierten, die Pflege hilfloser Kranken und Verlassenen, das ehrende Trauergefolge beim Begräbnis eines Fremden sind die Hauptzweige ihrer humanen Wirksamkeit. – –
Auch beim Kriegshandwerk endigt mit dem Tode jede Gegnerschaft, welche die Lebenden trennt, und so war ein Zug sardinischer Jäger ausgerückt, um mit gedämpftem Hörnerschall dem tapfern Paladin eines entthronten Königs die huldigende Grab-Eskorte zu geben. Hinter dem blumenbekränzten Sarge folgten in verschlossenen Kutschen Kapitän Lautrec, als Oheim des Verstorbenen, der junge Marquis von Saint-Brie, als vormaliger Freund und Waffenbruder des Toten, dann der Graf von Lerida, Dr. Walding, der Ionier Grimaldi, der friesische Schiffskapitän und der General-Konsul.
Unter den Trauerfanfaren der Jägerhörner und den düstern Litaneien der Büßer bewegte sich der Conduct die Riviera di Chiaja entlang, dem Friedhof von Santa Maria del Carmine entgegen, unter dessen dunklen Zypressen der Tote von seinem wildbewegten Leben ausruhen sollte.
Schon dämmerte der Abend, als der Zug das Ende seiner melancholischen Wanderung erreichte. Ein letzter verglühender Sonnenstrahl verklärte den langsam in die Tiefe hinabschwebenden Sarg. » Requiescat in pace«! murmelte der Priester und ließ eine Scholle Erde in das Grab niederfallen. » Et lux perpetua luceat tibi«, klang's aus dem Kreise der vermummten Büßer her. Es war der Blaue, der diesen Todesgruß gesprochen hatte. »Amen«, respondierte feierlich am Grabe der Priester, und »Amen« gab die Schar der Büßer zurück wie ein verhallendes Echo. Im selben Moment krachte die Ehrensalve der Jäger, und wie ein Schleier wogte der weißgraue Pulverdampf über das stille Soldatengrab hin. Mit einem krampfhaften Druck preßte Kapitän Lautrec die Hand des neben ihm stehenden deutschen Arztes. Dem alten Seebären tropften die hellen Tränen in den grauen Bart.
»Mut, mein alter Freund!« flüsterte, selber tief erschüttert, Dr. Walding; dann bückte er sich, um, wie die übrigen, dem Toten eine Hand voll Erde als letzten Tribut zu weihen. Der Zug wandte sich, um nach der lärmenden Stadt zurückzukehren – – nur einer blieb da: der ritterliche Sohn des schönen Frankreichs, dem jetzt der Nachtwind zum erstenmale sein geisterhaftes Schlummerlied rauschte.
Eine milde Frühlingsnacht umhüllte mit ihrem Sternenmantel Land und Meer. Der Friedhof Santa Maria del Carmine, den Gipfel eines Hügels krönend, hat eine entzückende Lage, und doppelt süß mag es sich hier auf diesem Saatfeld der Ewigkeit träumen lassen.
Über die Vorstädte Pietra Bianca und Chiaja hinwegragend, eröffnet das Campo Santo von Maria del Carmine einen magischen Rundblick auf den weiten Golf und den im Osten dampfenden Vesuv, der dem leichtlebigen Volke ein beständiges Memento mori zuwinkt.
An die Brüstung der Friedhofmauer gelehnt, von dem Gezweig eines Feigenbaumes überschattet, stand regungslos ein Mann, offenbar in einer Art von Traumwachen in den Anblick des imposanten Nachtbildes versunken, das sich im Mondschein vor seinen Augen entrollte.
Obwohl noch früh in der Jahreszeit, prangten doch schon Garten und Flur im Blätter- und Blütenschmuck einer üppigen Vegetation. Hier in der Natur ein tiefer Gottesfrieden, dort in der von tausend und abermals tausend Lichtern durchblitzten Stadt Neapel das Lärmen und Schwärmen eines heißblütigen, lusttrunkenen Menschengeschlechtes. Bis in das stille Reich der Toten herauf klangen die Töne von Guitarre und Tamburin, in die sich das Lachen und Scherzen der sonnenbraunen Fischerdirnen und ihrer barfüßigen Ritter und Tänzer mischte.
Draußen im sanft wogenden Golf schwirrten wie gaukelnde Glühkäfer kleine Lichter hin und her: die Barken der Schiffer von Posilippo, die mit einbrechender Nacht in See stechen, um unter den zerklüfteten Klippenhängen von Capri, Procida und Ischia, bis in den Golf von Gaëta hinaus, die schuppigen Bewohner der feuchten Tiefe zu erjagen. Ein Vogel, der aus dem Gebüsch aufschwirrte, riß den einsamen Beschauer aus seinen tiefen Träumen.
Mit ein paar Schritten aus seinem Versteck hervortretend, zog er seine Uhr und hielt sie prüfend in den Mondschein. »Sollte ich mich in meiner Erwartung getäuscht haben?« Er ließ seinen scharfen Blick über den Friedhof hinschweifen; mit einem Male zuckte er zusammen! Noch eine Weile lauschte er gespannt: dann glitt er leisen Fußes durch das Buschwerk, das die Gräberreihen überschattete …
An dem kaum geschlossenen Grabhügel des französischen Kapitäns kniete eine schwarz gekleidete Frauengestalt. Das lange blonde Haupthaar war aufgelöst und rieselte im Mondlicht wie ein goldener Regen über die schwarze spanische Mantille hin. Das Antlitz in die beiden Hände gepreßt, ließ sie keinen Laut hören, aber es gibt auch ein stummes und tränenloses Weinen, und das ist das qualvollste, denn es bietet keine Linderung. Ohne das konvulsivische Zittern, das zeitweise den gebrochenen Frauenleib schüttelte, hätte man glauben können, der Lebensfunken sei erloschen.
Eine Hand legte sich leicht auf die Schulter des trauernden Weibes.
Mit jenem müden, starren Ausdruck, der uns im Blick der Irrsinnigen begegnet, schlug die Nachtwandlerin die glanzlosen Augen empor, dann aber, von einem plötzlichen Entsetzen gepackt, streckte sie mit einem halblauten Schrei die beiden Arme aus, als wolle sie ein Wesen aus anderer Welt abwehren. Und wohl durfte die bebende Frau an das Erscheinen eines überirdischen Sendboten glauben, denn vor ihr stand regungslos, die Arme über die Brust gekreuzt, eine Gestalt in wallender blauer Kutte. Die Kapuze war tief über das Gesicht herabgezogen, aus den zwei hineingeschnittenen Sehlöchern blitzten die Augen hervor, kalt und scharf wie ein Paar Dolchklingen.
»Bist Du Mensch oder Gespenst?« stöhnte das Weib in namenlosem Grausen. »Ich bin Mensch wie Du!« scholl's zurück, und mit einem raschen Griff streifte die Gestalt die verhüllende Kapuze zurück.
»Sie, Abbé Calvati?!« flogs über die Lippen des Weibes.
»Ich, Therese!« antwortete der Jesuit.
»Und dieses seltsame Kleid?« Die Sängerin deutete auf sein Gewand.
»Es ist die Kutte der blauen Büßer«, entgegnete er, leichthin; »unter ihrem Schutze hab' ich unserm gemeinsamen Freunde – er wies nach dem Grabe des Kapitän Gauthier – die letzte Ehre erwiesen. Ich befinde mich überhaupt inkognito in Neapel, denn Sie wissen ja – ein flüchtiges Lächeln enthüllte seine kleinen schneeweißen Zähne – für uns arme Jünger Christi weht eben ein recht ungemütlicher Wind. Doch, kommen Sie, Mademoiselle, ich habe dort unter jener Cypresse eine Bank entdeckt, die Ihrem erschöpften Zustande wohl tun wird.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, bot er mit einer galanten Verbeugung der Sängerin seinen Arm. Sie setzten sich nieder.
»Ich wußte,« begann er nach kurzem Sinnen, »daß Sie noch heute auf den Friedhof kommen würden, um Ihre melancholische Liebesidylle für dieses Leben abzuschließen.«
In einem krampfhaften Schluchzen löste sich der Sturm in der Brust der Sängerin. Geduldig ließ der Jesuit die bis ins Innerste zerwühlte Frauennatur sich müde ringen, dann erst sprach er weiter: »Ich wußte, daß Sie kommen würden, und darum hab ich Sie erwartet.«
»Ich hätte Sie in Ihrer Wohnung aufsuchen können, aber ich wäre dort vielleicht zu keinem ungestörten Moment gekommen, und außerdem ist mir ja auch der alte Kapitän Lautrec, Ihr gegenwärtiger Schirmherr, im Herzen nicht allzu hold.«
Die Sängerin wollte eine Entgegnung machen, aber mit einer gelassenen Handbewegung schnitt ihr der Abbé das Wort ab. »Keine weitere Entschuldigung, liebe Therese! Halten Sie mich für so naiv, daß ich von jedermann eine schwärmerische Begeisterung für uns Jesuiten verlangen sollte? Der eine liebt uns, weil er uns braucht, der andere haßt uns, weil er uns fürchtet, der Dritte endlich will uns aus dem Wege gehen, weil – –«
Ohne den Satz zu vollenden, fixierte er die Sängerin mit dem faszinierenden Blick, den man der Klapperschlange zuschreibt.
»Sie wollen sich hier in ein Kloster zurückziehen,« sprang er mit einem Mal kurz über; »der Marquis von Saint-Brie hat mir wenigstens so gesagt. Sie wollen hier in Neapel Ihr Leben beschließen, um dem Grabe Ihrer einzigen Liebe nahe zu bleiben?«
»Ja,« flüsterte sie und der Abglanz einer anderen Welt verklärte ihr tränenverschleiertes Auge: »die einzige wahre Liebe in meinem wilden, sündenvollen Leben.«
»Der Entschluß ehrt Sie, Madame,« warf der Jesuit kalt hin; »es bleibt aber noch eine andere Frage übrig.«
Die Sängerin ließ einen scheuen Blick nach ihm hinübergleiten.
»Die Frage nämlich,« sprach er ruhig weiter, »ob Ihr Entschluß den Interessen meines Ordens entspricht? Sie wissen, Therese, daß unsere wichtigsten Operationen auf weiblichen Beistand berechnet und daß wir demzufolge darauf angewiesen sind, stets eine genügende Stammtruppe von Mitarbeiterinnen zu unterhalten. Hinter den Klostermauern, Therese, gehen Sie uns verloren, während wir Sie im Salon sehr nötig brauchen können.«
»Im Salon?« lächelte die Sängerin schmerzlich: »mein Fuß wird diese Stätte der eiteln Weltlust nie wieder betreten.«
» Qui vivra, verra,« bemerkte kaltblütig der Jesuit. »Vorläufig ist allerdings mein Orden nicht in der Lage, Ihrem Vorhaben zu begegnen und, wenn der Marguis von Saint-Brie, wie er mir selber sagte, der Meinung ist, die Gesellschaft Jesu werde wohl daran tun, von Ihren Klostergelüsten die Finger wegzulassen, so mag dieser junge Windbeutel bis auf weiteres Recht haben. Sie sehen, Therese, ich rede ganz offen.«
»So offen wie immer,« bestätigte die Sängerin mit zermalmendem Spott.
»So offen wie immer«, wiederholte der Abbé, ohne die geringste Notiz von der ironischen Einschaltung zu nehmen. »Ich verlasse morgen Neapel, wahrscheinlich auch Italien, und weiß nicht, wann ich zurückkehren werde! Erlauben Sie mir also zum Abschied Ihnen einen wohlgemeinten Rat zu geben. Schlagen Sie sich Ihre Klosterpläne aus dem Sinn; auch mitten im Treiben der Welt finden sich Zeit und Gelegenheit, heilige Erinnerungen zu pflegen. In allen Fällen aber, Therese, vergessen Sie das eine nicht: die Hand des Consilio di Tre ist mächtig genug, die dicksten Klostermauern zu sprengen und, wenn die Gesellschaft Jesu Ihrer bedarf, so wird sie Sie zu finden wissen und – von Ihnen Gehorsam erwarten, wie ich einstweilen im Namen des Consilio das unverbrüchlichste Schweigen über unsre Begegnung von Ihnen fordere.«
Wie eine unheimliche Drohung bohrte sich das Auge des Jesuiten auf die vor innerer Erregung zitternde Frauengestalt, dann aber war wie auf einen Schlag der finstere Priester zum galanten Weltmann geworden, als er sagte: »Kommen Sie, Madame, die Runde der Friedhofswächter kann uns jeden Moment überraschen, und dies würde zu allerlei Unannehmlichkeiten führen. Auch dürften Sie sich in Ihrer leichten Kleidung bei längerem Verweilen erkälten.« Er deutete nach dem Grabe Gauthiers hin. »Lassen Sie ihn ruhen, er war müde.«
»Bin ich es vielleicht nicht?« fragte die Sängerin mit einem geisterhaften Lächeln unter Tränen zurück.
Schweigend bot ihr der Abbé seinen Arm an und, wie unter einem übermächtigten Bann, leistete die Sängerin der stummen Aufforderung Gehorsam. Noch einen letzten tränendunklen Blick sandte sie nach dem Grabhügel des Geliebten hin, dann verschwand das Paar unter den Platanen, die den Weg überschatteten. Unbehelligt verließen sie den Friedhof, dessen Tor nach neapolitanischer Sitte auch bei Nacht weit offen stand. Unten in der Vorstadt begegnete ihnen eine leer nach Neapel zurückkehrende Mietkutsche. Sie stiegen ein, und der Abbé geleitete die Sängerin bis zur Villa, die Kapitän Lautrec bewohnte. Unterwegs sprachen Sie nur wenige Worte miteinander, jedes hing seinen eigenen Gedanken nach. Die Kutsche hielt, und die Sängerin stieg aus. Der Jesuit ergriff ihre kleine fieberheiße Hand. »Vergessen Sie nicht, Therese, was ich Ihnen gesagt habe! Das Auge des Consilio di Tre folgt Ihnen auf Schritt und Tritt: also Gehorsam, Schweigen und – auf Wiedersehen!« Sinnend blickte er der enteilenden Frauengestalt nach, bis sie zwischen den Lorbeer- und Zitronenbäumen des Vorgartens entschwunden war.
»Wohin, Padrone?« Mit dieser Frage wandte sich der Kutscher nach seinem Fahrgaste um.
»Largo del Castello,« lautete die kurze Antwort.
Nach kurzer Fahrt hielt der Wagen an seinem Ziele – auf dem Platz vor dem königlichen Palaste. Beim Aussteigen streifte der Jesuit seine Kapuze über das Gesicht herunter, er drückte dem Kutscher einige kleine Silbermünzen in die Hand; dann verlor er sich in dem buntfarbigen Gedränge der bis tief in die Nacht hinein lustwandelnden Menge.
In einem Hause unweit der Kirche de Gesu nuovo, in einem bescheiden ausgestatteten Gemach saß ein Mann, der eifrig mit der Durchsicht verschiedener Papiere beschäftigt war. Der milde Schein zweier Wachskerzen erhellte das Zimmer, dessen einziger Schmuck in einem kunstvoll geschnitzten Kruzifix von Elfenbein bestand.
Die etwas derangierte Reisekleidung, die der Herr trug, ließ darauf schließen, daß er soeben erst angekommen war. Er mochte etwa vierzig Jahre zählen, und der flüchtigste Blick genügte, um in ihm den Südländer zu erkennen. Kurzgeschnittenes, pechschwarzes Haar umrahmte die massiv gewölbte Stirn, über die sich quer eine leicht gerötete, fast fingerbreite Narbe hinzog. Unter buschigen Brauen bargen sich ein Paar Augen, die in ihrem jähen Aufschlag die kalte durchbohrende Schärfe hatten, die dem Blick der Raubvögel eigen ist. Die schmale, schnabelartig gebogene Nase vervollständigte noch diesen Effekt. Mit dem hagern gelben Gesicht harmonierte der starke schwarze Schnauzbart, den der Kaiser Louis Napoleon sozusagen zum nationalen Wahrzeichen der lateinischen Race erhoben hat. Obwohl nur von mittlerer Größe und jeder Formenfülle entbehrend, pulsierte gewiß in diesem Mann eine ganz enorme Kraft, die desto gewaltigerer Leistungen fähig sein mochte, als sich offenbar die Behendigkeit einer Wildkatze damit verband. Alles in allem genommen, war er eine charakteristische, aber auch unheimliche Erscheinung …
Entweder war er mit dem Durchblättern seiner Papiere fertig oder aber begann diese Beschäftigung ihn zu langweilen – genug, er faltete die Schriften zusammen und schob sie in ein Portefeuille von dunkelbraunem Leder. Eine Weile blickte er sinnend vor sich hin, dann griff er in die andere Brusttasche seines Reisepaletots und zog einen sechsläufigen Revolver hervor; es war eine ungewöhnlich solid gearbeitete Waffe und schon die Art, womit der Mann sie handhabte, ließ ein routiertes Vertrautsein mit dem todbringenden Feuerrohr erkennen. Jedenfalls hatte er aber keinen weiteren Gedanken dabei, als sich irgendwie über eine müßige Zeitpause hinauszuhelfen, denn gleich darauf schob er den Revolver wieder in seine Tasche zurück und brachte dafür eines jener schmalen, langen Stilete zum Vorschein, wie sie in dieser Form besonders von den Eingeborenen der Inseln Korsika und Sardinien getragen und mit furchtbarer Geschicklichkeit gehandhabt werden. Den Dolch aus seiner Scheide ziehend, ließ der Mann mit einer Art von wilder Lust die mörderische Klinge im Kerzenlichte spielen, seine Augen funkelten und eine Blutwelle schoß in sein gelbes Gesicht. Unbewußt schnellte er vom Stuhle empor und rasch, wie der Blitz, der aus der Wetterwolke zuckt, führte er einen Luftstoß. Es war nur ein phantastisches Spiel, aber es genügte vollkommen, um darnach den Ernstfall bemessen zu können. Ein solcher Stoß ging niemals fehl und in der nächsten Sekunde mußte der Gegner ein stiller Mann sein! –
Auch das Stilet wanderte in sein Versteck zurück, und die Uhr kam an die Reihe. »Maladetto!« murrte er vor sich hin: »jetzt wart' ich schon über eine Stunde, und immer noch will er nicht kommen … Und um Mitternacht geht der Dampfer nach Palermo ab.« Mit der nervösen Ungeduld eines hinter seinen Gitterstäben festgehaltenen Tigers schritt er in dem Zimmer auf und nieder. Leise, fast geräuschlos, öffnete sich eine Tapetentüre – das scharfe Ohr des Mannes hatte es aber dennoch vernommen, und rasch fuhr er herum.
» Ah, buona sera, Abbate!« rief er und streckte dem Eingetretenen halb vertraulich, halb respektvoll die Hand entgegen.
» Benvenuto, caro mio, benvenuto à Napoli!« grüßte der Ankömmling zurück und erwiderte den Händedruck des Revolvermannes.
Der Ankömmling war der Abbé Calvati und, um es gleich zu bemerken, das Zimmer, in dem ihn der pudere so ungeduldig erwartet hatte, gehörte zu dem bescheidenen Logis, das der Jesuit, während seines Aufenthaltes zu Neapel, im Hause eines weltlichen Mitgliedes seines Ordens bewohnte.
Die blaue Büßerkutte war verschwunden und hatte dem Interimsgewand der Jesuiten, der knapp anliegenden schwarzen Soutane, Platz gemacht.
»Mein Hauswirt,« begann Calvati in italienischer Sprache, »hat mir bereits Ihren Besuch angekündigt und aus dem Signalement, das er mir gab, hab' ich auch sofort Ihre Person erraten.«
Beide setzten sich, und der Abbé präsentierte seinem Gaste eine Schachtel voll Zigaretten: auch er selber zündete sich eine an.
»Was führt Sie so unerwartet nach Neapel, lieber Griscelli?« leitete der Jesuit das Gespräch ein.
»Ich bin auf dem Wege nach Palermo,« antwortete der Gast.
» Cospetto!« lachte der Pater: »ich errate den Rest! Sie sollen wieder einmal als geheimer Schatten den Signor Garibaldi auf Schritt und Tritt begleiten, ihn, den Mann mit dem Herzen eines Löwen und dem Kopfe eines Esels.«
Das finstere Gesicht des Gastes verzog sich zu einem flüchtigen Lächeln, dann aber sprach er mit einer bei ihm überraschenden Gefühlswärme: »Sie wissen, Abbate, bei mir heißt es: Wess' Brot ich eß', dess' Lied ich sing'. Ich habe nacheinander dem Kaiser Louis Napoleon und dem Minister Cavour gedient, jetzt hab ich meine Knochen und mein bischen Witz an den Kardinal Antonelli vermietet. Ist es auch da herum, nun, dann vivat sequens!« Er blies rasch einige Rauchwolken von sich, dann sprach er weiter: »Eine tiefe Kluft scheidet mich von Garibaldi, dennoch aber gibt es eine Brücke, auf der ich ihm begegnen und ihm die Bruderhand reichen kann.«
Der Jesuit fixierte seinen Gast. Der fuhr fort: »Garibaldi ist Italiener wie ich, und er will ein einiges Italien wie ich!«
Leise mit den Fingern auf der Tischplatte trommelnd, blickte der Abbé vor sich hin. Grünte ja selbst auch in seinem sonst so verknöcherten Herzen eine kleine Oase, auf welcher der Patriot dem Jesuiten den Vorrang streitig machte!
Calvati schien übrigens keine Lust zu haben, das angeschlagene politische Thema weiter zu verfolgen, denn kurz überspringend stellte er die Frage: »Was gibt es sonst neues in Rom?«
»Mancherlei,« antwortete der Gast. »Zunächst sucht die liberale Partei mit allen Mitteln das Projekt des Abbé Michon frisch aufzuwärmen.«
»Die Übersiedelung des heiligen Vaters nach Jerusalem?« lachte Calvati. Der andere nickte. »Um dem Statthalter Christi den Umzug zu erleichtern, will ihm eine Aktiengesellschaft eine Eisenbahn von Jaffa nach Jerusalem bauen.«
Der Jesuit lachte abermals herzlich auf. »Um noch sicherer zu gehen, könnte sich ja der heilige Vater gleich selber mit soundsoviel Stück Aktien an dieser apostolischen Eisenbahn beteiligen … Was haben Sie mir sonst noch von Rom zu erzählen?«
Der Gast blickte auf seine Uhr. »Um Mitternacht geht der Dampfer nach Palermo ab,« bemerkte er.
»Es ist jetzt elf Uhr,« sagte der Abbé; »Sie haben also noch eine volle Stunde vor sich. Wo haben Sie Ihr Gepäck?«
»Es ist bereits an Bord des Dampfers.«
»Nun desto besser! Von hier nach der Riviera, wo der Dampfer ankert, ist es kaum ein halbes Stündchen. Sie können mir also noch ganz gut ein paar Pikanterien aus der frommen Tiberstadt auftischen.«
»Kennen Sie die regierende Fürstin von X…?« begann nach einigem Sinnen der Gast.
»Ich habe sie vor zwei oder drei Jahren im Bad Sankt Moritz gesehen,« antwortete der Abbé, »eine geistreiche, energische Dame, der, wie man mir sagte, das Stückchen Erde, auf dem ihr gutmütiger Herr und Gemahl regiert, manchmal zu eng sein soll.«
»Von ihrer Heimat her mag sie allerdings großartigere Verhältnisse gewohnt sein,« meinte der Gast, »vorige Woche ist sie in Rom gewesen.«
»In Rom?« rief der Abbé erstaunt, »ich habe nichts davon gehört noch gelesen.«
»Glaub's wohl, Abbate,« lächelte der andere, »es war ein Abstecher im allerstrengsten Inkognito, der den indiskreten Laternenstrahl einer Zeitung kaum ertragen dürfte.«
»Sie kitzeln meine Neugierde, lieber Griscelli,« sagte der Jesuit, indem er unwillkürlich seinen Sessel näher rückte. »Heraus mit Ihrer geheimnisvollen Geschichte, die, wie Sie wissen, in mir einen verschwiegenen Mann findet.«
Der Gast nickte. »Ich weiß, Abbate, daß Diskretion eine Ihrer Haupttugenden ist, sonst würde ich mich hüten, Ihnen eine Sache zu verraten, die mich soweit gar nichts angeht und zu den delikatesten Kapiteln der römischen Geheimpolizei gehört.«
»Wie es scheint, wollen Sie mich mit Ihrer Einleitung über einem langsamen Kohlenfeuer rösten,« lachte der Abbé.
»Bedenken Sie, hochwürdiger Pater,« lachte auch seinerseits der Gast, »der Heilige Märtyrer Laurentius ist auf seinem Rost von Kopf bis zu Fuß gebraten worden, ohne daß er zum Lohn meine Geschichte zu hören bekam.« Und nun begann er dem hochaufhorchenden Abbé zu berichten, was folgt. Der nachfolgende Beitrag zur höfischen Chronique scandaleuse jener Zeit mag dem Leser als die Ausgeburt eines tollen Romanschreiber-Gehirns vorkommen; dem gegenüber gibt der Verfasser die bestimmteste Erklärung ab, daß der ganze Vorfall auf strengster Wahrheit beruht, und daß er in der Lage war, aus durchaus authentischen Quellen, zum Teil aus gerichtlichen Aktenstücken, zu schöpfen. Daran knüpfte sich für den Verfasser das Gebot, mit der nötigen Behutsamkeit zu Werke zu gehen, denn zur Zeit, da dies Buch erschien, lebten noch die Fürstin und die übrigen Hauptpersonen des düstern Dramas. Wir lassen demzufolge sämtliche Figuren unter anderen Namen auftreten – zugleich aber mit der nochmaligen Erklärung, daß wir an dem übrigen Hergang kein Wort ändern oder verschweigen werden.
Verschiedene Jahre war es her, daß der (seitdem verstorbene) alte Fürst Gerhard sein Residenzschloß in den Haupt-Teilen hatte renovieren und neu dekorieren lassen. Es war dort damals drunter und drüber gegangen; Künstler und Handwerker aus aller Herren Länder hatten hier gewirkt. Der große Thronsaal besonders sollte ein Meisterstück moderner Dekorationskunst werden und ein berühmter Dekorateur aus Paris war verschrieben worden, der seine Virtuosität hier bewähren sollte.
Der Hofmarschall und seine Beamten und Vertrauensmänner hatten sich in dem Saale versammelt, um die Projekte und Ideen des Franzosen zu vernehmen. Der Mann explizierte denn auch seine Pläne haarklein und legte seine Kosten-Voranschläge mit gleicher Akkuratesse bis auf Heller und Pfennig vor.
Mit den Plänen war der Hofmarschall vollkommen einverstanden – weniger dagegen behagte ihm die Rückseite der Medaille: der Kostenpunkt.
Der Pariser aber erklärte steif und fest, billiger zu arbeiten sei ihm unmöglich, und er könne nicht einen Sou ablassen, denn der neu von ihm erfundene »Goldfirniß«, der bei dieser Dekorierung eine große Rolle spielen sollte, koste in seiner Herstellung ein Heidengeld. Bei der bekannten Sparsamkeit des alten Landesherrn wollte der Hofmarschall diese Ausgabe nicht so ohne weiteres wagen und demzufolge beschied er den Künstler von der Seine auf den folgenden Tag. Kaum war der Franzmann fort, so kletterte von einer im Saal stehenden Doppelleiter ein kleiner rotbackiger, weißbestaubter Junge – der mit dem Wegkratzen der alten Plafond-Stukkatur beschäftigt war – herunter, und, vor dem Hofmarschall sich stramm aufpflanzend, sprach er im echten Dialekt der Obermosel: »Herr Exzellenz, halten zu Gnaden, was der Kerl da gesagt hat, ist heller Schwindel! Ich bin zwei Jahre bei ihm in der Lehre gewesen und kann den Goldfirniß gerade so gut machen, wie er selber.«
Ungläubig schüttelte zwar der Marschall den Kopf, aber die Gewißheit des kecken Bengels imponierte ihm. Er ließ also den Jungen eine Probe machen und siehe, das Experiment gelang vollkommen. Nun hatte man einen ebenso brillanten Goldfirniß, wie der von dem Pariser erzeugte, man konnte den Thronsaal ohne dessen Hilfe dekorieren und was dabei die Hauptsache war, man ersparte eine ganz erkleckliche Summe Geld.
Als der Saal fertig war, wurde der kleine Stukkateur zum Fürsten beschieden. »Na, du kleiner Hexenmeister wie heißt Du denn?« fragte ihn gütig der alte Monarch, der niemandem so gewogen war wie dem, der ihm sparen half.
»Ich heiße Hirt,« antwortete der Knirps.
»Du hast mir mit Deinem Firniß ein schönes Sümmchen erspart,« bemerkte der hohe Herr, »bitte Dir dafür eine Gnade aus.«
Sinnend drehte der Junge seine Mütze zwischen den Fingern, dann antwortete er: »Wenn ich mir etwas ausbitten soll, so möcht' ich am liebsten auf die Akademie kommen, damit ich Künstler werden kann.«
»Bravo, mein Sohn,« nickte der alte Fürst, »die Bitte gefällt mir! So lange Du Dich talentierst zeigest und dabei fleißig und brav bleibst, sollst Du auf meine Kosten studieren und ein Jahresstipendium von fünfhundert Talern aus meiner Chatoulle erhalten.«
So geschah's. Sieben Jahre studierte Hirt auf des Fürsten Kosten; jedes Semester mußte er vor dem gestrengen Herrn antreten, seine Zeugnisse vorlegen und über seine Fortschritte genaueste Auskunft erteilen. Dann sandte ihn sein hoher Gönner nach Rom und aus dem kleinen Gipsarbeiter ward ein genialer Bildhauer, dem die Protektion des Fürsten schöne Aufträge zuführte und der zugleich auch als Archäologe sich durch die berühmt gewordenen »Nenniger Ausgrabungen« einen geachteten Namen machte.
Es geschah noch weiteres: Fürst Gerhard, der an dem geweckten und findigen Wesen seines Schützlings Gefallen fand, machte ihn zu seinem Vertrauten und benutzte ihn zu allerlei delikaten und heiklen Privatmissionen nach verschiedenen europäischen Hauptstädten. Auch eine nordische Residenz besuchte der Geheimkurier, um hier, im Auftrag seines Gebieters, einen gewissen dunklen Punkt in dem jungfräulichen Vorleben der Prinzessin Eleonore (der heute regierenden Fürstin von X…), aufzuhellen. Die Aufklärungen, die Hirt zurückbrachte, schienen auf das von jeher nicht allzu freundlich gewesene Verhältnis zwischen dem alten Monarchen und seiner erlauchten Schwiegertochter sehr ungünstig einzuwirken, und die Prinzessin, die bald durch ihre Spione erfuhr, wer der Überbringer der verhängnisvollen Kundschaft sei, ließ den jungen Bildhauer zu sich bescheiden und nahm ihn unter vier Augen ins Verhör. Etwa eine Viertelstunde waren die beiden zusammen gewesen, als mit einem Mal die Tür heftig aufgerissen ward und Hirt in höchster Erregung herausstürzte. Die Fama will wissen, im Verlauf des sehr animierten Tête-à-Tête sei ins Gesicht gespuckt worden und daraufhin sei eine Hand mit einer Wange in unsanfte Berührung gekommen.
Sei dem wie da wolle – soviel bleibt gewiß, daß Hirt schnurstracks zu seinem Gönner lief und ihm alles haarklein rapportierte. Der alte Herr – so tuschelte man damals im Schloß – soll herzlich gelacht und dabei gesagt haben: »Hirt, dafür bring' ich Dich in mein Testament!«
In ihrem Boudoir aber soll die Prinzessin Eleonore in heller Raserei geknirscht haben: »Hirt, dafür bring' ich Dich ins Grab!«
Nicht lange darauf ward bei dem fürstlichen Kriminalgericht gegen Hirt eine Fälschungs-Klage eingereicht, die aber die Reichskammer als nichtig abwies. Als Kläger figurierte der Onkel einer gewissen Marie Tony, die als Kammerfrau in Diensten der Prinzessin Eleonore stand.
Hirt, der den Ursprung dieser Klage weiter und höher suchte, blieb dann vorläufig unbehelligt. Erst der im Sommer 18** erfolgte Tod des Fürsten Gerhard, seines Wohltäters und Schirmherrn, schien wieder eine gewisse Aufmerksamkeit auf die Person des Bildhauers zu lenken, denn kaum 14 Tage nach dem Ableben des Fürsten Gerhard erschien eines Morgens bei Hirt der Stadtdirektor M. und erteilte ihm den vertraulichen Rat – auszuwandern. Der junge Künstler bedauerte, gar keine Europamüdigkeit oder sonstige Wanderlust zu verspüren, und blieb.
Unmittelbar darauf lief beim Kriminalsenat eine Anzeige ein, die, im Hinweis auf die kurz zuvor stattgehabte Feuersbrunst im fürstlichen Residenztheater, den Bildhauer als Brandstifter denunzierte.
Doch auch dieser tückische Anschlag mißlang. – –
Fürst Gerhard war im Monat Juni verstorben; im August stellte Hirt die von ihm geschaffenen Büsten des neuen Herrscherpaares aus. Hierbei kann er von dem Vorwurf großer Taktlosigkeit nicht gereinigt werden, denn seine obenerwähnte unerquickliche Begegnung mit der jetzt zur Landesfürstin erhobenen Prinzessin Eleonore mußte ihm nicht nur Ehren-, sondern auch schon anstandshalber ein für allemal verbieten, seiner Feindin eine derartige Ovation zu bereiten. Ob er vielleicht damit eine Versöhnung anbahnen wollte, läßt sich nicht sagen, jedenfalls ist sein Mühen ein fruchtloses geblieben, denn schon tags darauf erging ein Ministerialbefehl, der den fürstlichen Ämtern verbot, die von Hirt modellierten Büsten des Herrscherpaares als offiziellen Saalschmuck anzuschaffen; dagegen empfahl der Erlaß eine Konkurrenzarbeit des Bildhauers Haupt. Dieser Ukas wurde von dem liberalen Teil der Residenzpresse derb genug glossiert, um so mehr, als das Werk Hirts das seines Nebenbuhlers an künstlerischem Wert weit überragte.
Ein paar Wochen später konnte man in der Fremdenliste die Ankunft eines russischen Staatssekretärs Graf von Sch. lesen. Er mochte wohl einen längeren Urlaub haben, denn er bezog vor den Toren der fürstlichen Residenz eine Villa, in der er sich auf großem Fuße einrichtete.
Eines Tages erschien der Graf im Atelier Hirts und bestellte bei diesem unter allerlei schmeichelhaften Komplimenten eine Marmorbüste seiner Gemahlin. Als die Büste fertig, abgeliefert und splendid honoriert war, lud der freundliche Graf den Künstler zur Tafel; er unterhielt ihn da lang und breit von seinen Landgütern und industriellen Etablissements im Gouvernement Tula und erzählte, wie er gerade eben eine Vertrauensperson brauchen könnte, um dort verschiedene verwickelte Angelegenheiten zu schlichten. »Würde es«, schloß er seine Rede, »Sie als Künstler nicht interessieren, Rußland kennen zu lernen? Sie hätten, falls Sie in meinen Geschäften dorthin gehen wollten, die schönste Gelegenheit, ohne Kosten und mit voller Vergütung Ihres Zeitverlustes bis an die Wolga zu kommen.«
Hirt acceptierte den verlockenden Antrag.
»Wenn Sie,« bemerkte Graf Sch., nachdem er seinem Mandatar das reich bemessene Reisegeld eingehändigt hatte, »wenn Sie nach Tula kommen, so begeben Sie sich zu dem Herrn, den Sie auf dieser Karte da genannt finden und er wird Ihnen die nötigen Papiere, die ich ihm mittlerweile übersenden werde, einhändigen.«
Ahnungslos reiste der junge Künstler ab und erreichte auch unbehelligt Tula; noch immer dachte er an keinen hinterlistigen Fallstrick, als er erfuhr, der Herr, an den er sich wenden sollte, sei der Polizeidirektor der Stadt: er stellte sich vor und verlangte, seinem Auftrage gemäß, die ihm vom Graf Sch. nachgeschickten Papiere. Ein unheimliches Lächeln zuckte über das Gesicht des Direktors, als er von seinem Tische einen Bogen Papier aufnahm und rasch durchflog. »Graf Sch. hat Sie mir unter den schwersten Indizien als einen Emissar des polnischen Revolutions-Komitee signalisiert,« sagte kalt der Polizeibeamte, »Sie sind also bei mir an die beste Adresse gekommen.« Ehe der vor Staunen und Schrecken erstarrte Künstler die Lippen öffnen konnte, hatte schon der Direktor eine Klingel in Bewegung gesetzt, ein Paar Polizei-Soldaten stürzten herein, denen ihr Vorgesetzter einen Wink gab. Von wuchtigen Fäusten gepackt, ward der Unglückliche aus dem Bureau gestoßen und in eine Kerkerzelle geworfen. Dem so treulos Verratenen dämmerte jetzt die grausige Gewißheit, daß er, als das Opfer einer satanisch geplanten Intrigue, lebendigen Leibes in den sibirischen Bergwerken begraben werden sollte. Auf faulem Stroh, von Ratten gequält, verbrachte der Gefangene in seiner Zelle unbeschreibliche Wochen, bis allerlei Versprechungen, die er seinem ein wenig deutsch redenden Kerkermeister machte, und eine mitleidige Regung, die dessen Weib für den hinsiechenden Fremdling empfand, ihm in einer dunklen Regennacht zur Flucht verhalfen. Unter unsäglichen Schwierigkeiten erreichte der Arme die Grenze des heiligen Rußland und eine Pistolenkugel, die dem Flüchtling ein patroullierender Kosak nachschickte, war der letzte Scheidegruß. In der fürstlichen Residenz angelangt, machte Hirt von dem Geschehenen amtliche Anzeige, und das dortige Kriminalgericht erließ wider den Grafen Sch., der mittlerweile, unbekannt wohin, verzogen war, einen Steckbrief. In Bonn wurde der adelige Wicht verhaftet und wegen eines anderen konkurrierenden Verbrechens vor das Schwurgericht in Mannheim gestellt, das ihn am 27. Juni 18** zu vier Jahren Zuchthaus verurteilte. Hirt aber, der seit seiner unerwarteten Rückkunft in die Residenz der Fürstin Eleonore der Gegenstand unausgesetzter, wenn auch zumeist kleinlicher Vexationen geworden war, schnürte sein Bündel und ging, um Ruhe zu finden, nach Amerika.
Aber auch das Land der Freiheit konnte ihn nicht schirmen: seine ebenso mächtige wie unversöhnliche Todfeindin ließ das Verfolgungswerk nicht stille stehen. Das Schrecklichste sollte nun aber erst kommen! – –
Kaum war der gehetzte Künstler in Amerika angelangt, als bei dem Strafgerichte der fürstlichen Residenz eine Anzeige eingereicht wurde, in der Hirt beschuldigt war, der Anzeigerin eine Staats-Obligation und eine größere Summe baren Geldes gestohlen zu haben. Die angeblich Bestohlene war aber – – die Hofgarderobe-Verwalterin der Fürstin Eleonore, eine gewisse Frau Mathilde von Hodeleiff, zugleich Tante der schon erwähnten fürstlichen Kammerfrau Marie Tony.
Das Kriminalgericht der Residenz erließ infolge dessen gegen Hirt einen Steckbrief, worin er mit der Kontumatialbehandlung des Falles bedroht wurde. Eine Zeitung in Philadelphia nahm von diesem Steckbriefe Notiz und dergestalt kam er zu Hirt's Kenntnis. Tags darauf dampfte er schon nach Europa zurück, um sich der fürstlichen Justiz freiwillig zur Verfügung zu stellen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich durch die Residenz die Kunde, der vermeintliche Ausreißer habe sich freiwillig gestellt! Die Hofgarderobe-Verwalterin aber riß nun selber aus, und in einem Landstädtchen starb sie schon wenige Tage darauf. Allerdings war die Person schon zuvor kränklich gewesen, aber keinem Zweifel kann es unterliegen, daß der Schrecken über die ganz und gar unverhoffte Rückkehr des so grob verleumdeten Künstlers ihr den Garaus gemacht hatte. Rühmenswert bleibt diesen von so hoher Hand angezettelten Intriguen gegenüber, die strenge Pflichttreue und unnahbare Gewissenhaftigkeit des fürstlichen Justizpersonals. Nach genauester Untersuchung erfolgte auch diesmal der ehrenrettende Freispruch für den so schwer geprüften Künstler.
Doch damit gaben sich die Rachegelüste eines erlauchten Frauenherzens noch lange nicht zufrieden. Eine Anklage reihte sich an die andere: ein Finanzbeamter, ein Gendarm, obskure Künstler und sonstige Leute beschuldigten den Bildhauer aller erdenklichen Verbrechen, u. a. auch der Knabenliebe. Siebenmal ging das Gericht in eine Untersuchung ein, und siebenmal wurde die vollkommene Schuldlosigkeit des ruhelos gehetzten Mannes festgestellt. Endlich verließ er den ihm so verbitterten deutschen Boden und ging nach Rom.
Etwa ein halbes Jahr mochte er, bis dahin unbehelligt, in der ewigen Stadt weilen, als er eines schönen Maimorgens im » Café greco«, wo er zu frühstücken pflegte, verhaftet und dem päpstlichen Militärgericht zur Untersuchung überliefert wurde, denn er war – wie er zu seiner nicht geringen Verwunderung vernahm – beschuldigt, ein Agent Garibaldi's zu sein und als solcher päpstliche Soldaten zur Desertion verleitet zu haben. Der Anzeiger in diesem Falle war ein Deutscher, ein Unterthan der Fürstin Eleonore, ein notorischer Vagabund, der zuletzt dem heiligen Vater seine schmutzige Haut verkauft hatte und jetzt bei den Schlüsselsoldaten als Korporal diente.
Nach siebzehntägiger schwerer Haft ward der Bildhauer als durchaus schuldlos entlassen und an seiner Stelle wanderte wegen wissentlich falscher Denunziation der Korporal auf fünf Monate nach dem Bagno von Termini. Von hier aus schrieb der Züchtling an Hirt einen Brief, worin er den Bildhauer Haupt, der vor einigen Wochen in Rom angekommen war, als den Urheber seines jetzigen Unglücks bezeichnete, denn Haupt hätte ihn (den Korporal) durch Bestechung und Versprechungen zur Denunziation wider den ihm total unbekannten Hirt verleitet!! Diesem merkwürdigen Brief folgte in den nächsten Tagen ein zweiter, der den Hergang der Sache in allen Einzelheiten schilderte.
Hirt überreichte diese Briefe dem Tribunal; ein Untersuchungsrichter begab sich nach dem Bagno von Termini und verhörte den Korporal, dessen Aussagen unverkennbar den Stempel der Wahrheit trugen, auch mit den Angaben weiter vernommener Zeugen durchaus übereinstimmten. Demzufolge verfügte das Tribunal die Verhaftung des Bildhauers Haupt. Nun aber lief der diplomatische Vertreter des Ländchens, dem die Fürstin Eleonore als Landesmutter bescheert war, von Pontius zu Pilatus, um Haupts Freilassung zu erwirken; mit allen Mitteln und auf allen Wegen ward bei den in Rom lebenden Deutschen eine Adresse an den beim heiligen Stuhl akkreditierten preußischen Gesandten, als den geeignetsten Repräsentanten des damals noch ungeborenen deutschen Reiches, zusammengetrommelt, die denn auch zur Folge hatte, daß der gedrängelte Preuße wenigstens die provisorische Freilassung Haupts durchsetzte.
Dafür wurde aber einige Tage darauf Hirt von dem Polizeidirektor Marchese Capranica in Haft gebracht, infolge eines Steckbriefes aus Trier, worin Hirt beschuldigt war, »einen Landrat beleidigt zu haben!« Die römische Polizei wollte den Malefikanten kurzweg an Preußen ausliefern, die dortige Regierung dankte aber für diese Gefälligkeit, und der preußische Justizminister nahm sogar Veranlassung, den so plötzlich und geheimnisvoll aufgetauchten Steckbrief offiziell zu desavouieren …
Bald darauf, im Dezember, erschien bei dem mittlerweile wieder freigegebenen Hirt ein Soldat der päpstlichen Artillerie; der Mann, ein Deutscher, nannte sich Heß und erklärte, er habe hochwichtige Geheimnisse bezüglich des Komplottes des Bildhauers Haupt mit dem Korporal zu enthüllen. Der mißtrauisch gewordene Hirt lehnte jedoch jede Enthüllung ab und wies dem Kanonier kurz die Tür.
Am 21. Januar in aller Frühe empfing er folgenden Brief:
Herr Hirt!
Ich muß Sie benachrichtigen, daß unser schlauer General möcht' Sie ins Unglück bringen durch den Kanonier Heß. Der Heß war gestern Abend noch spät in der Kantine auf'm Fort. In seinem Rausch hat er alles babbelt. Er soll in einem Prozeß Zeuge sein, der General Zappi hat ihm geheißen, er soll nix zeugen, sonst käm sein bester Freund ins Pech. Sie haben verabredet, daß der Heß heut morgen mit ein falschen Vorladschein zu Ihnen gehe, er soll glauben machen, daß er als Zeuge verhört werden mußt. Der Heß verlangt von Ihnen für gefälligst, daß Sie ihm ein Rock, Hos und West' leihen für sein Freund, ein Schuster, der in eine Audienz zum Kardinal Merode gehen soll. Er hat eine Empfehlungskart', die er Ihnen zeigt; alles ist falsch, die Kart' ist vom General geschrieben. Die Vorladung ist vom Sergeant-Major geschrieben. Wenn Sie so ein Vieh wären und geben ihm die Kleider, gänge Sie in die Galeere. Das möcht ja der Schuft Zappi. Gehen Sie gleich zum Kanzler, der Saukerl darf nit mehr General sein, das ist ja eine helle Affenschand'. Der Heß ist mit zwölf Napoleonsd'or geschmiert, um den Schlechten zu machen. Der Herr, von dem er das Geld gekriegt hat, wohnt bei der Post. Heß hat gestern gesagt, daß er bezeuge, er habe zwei Napoleon von Ihnen erhalten. Fünf Spion' sind bereit, Sie zu verhaften, wenn der Heß die Kleider bekommen hat. Der General hat zum Schein den Heß schon Sonntag zu sich kommen lassen, für ein falschen Rapport zu machen. Heß hat Briefe, die Ihnen gestohlen worden sind. Ihr Hausherr spielt auch den Schlechten.
Fort San Angelo 21. Januar 18**
Morgens sechs Uhr.
C. Bernhard Ney.
Kanonier aus München.
Nachschrift: Heß sagt, der Korporal, der im Bagno zu Termini sitzt, sei unterrichtet, sein Zeugnis zurückzunehmen. Der General Zappi war bei ihm in Termini. Lassen Sie nur den Zeugen Karl Wiesner vorladen, der weiß alles und kann alles erklären.
Man kann sich leicht den Eindruck vergegenwärtigen, den dieses inhaltsschwere Schreiben auf den armen, so grausam verfolgten Künstler machte. Wenn er sich bisher manchmal hatte fragen wollen, ob denn auch wirklich die Denunziation des Korporals und der mysteriöse Steckbrief aus Trier derselben Hand ihren Ursprung verdankten, deren verborgener Wink ihn damals in den Schreckenskerker von Tula geworfen, und seitdem mit einem wahren Hagel von Kriminalklagen überschüttet hatte – – die Kunde von dem neuen satanischen Attentat, das sich gegen seine Freiheit und Ehre vorbereitete, mußte ihm jetzt den allerletzten Zweifel benehmen. Und das ließ sich schon jetzt erkennen: das heranziehende Gewitter war furchtbarer, als all die anderen, die sich bisher über seinem Haupte entladen hatten! Dafür bürgte der Name des General Zappi, der jetzt dem bedrohten Künstler als das erkaufte Werkzeug fürstlicher Weiberrache in den Weg trat. Unter all' den höheren Offizieren der Schlüsselarmee (die doch so wie so sich nicht des besten Leumundes zu erfreuen hatten) war keiner berüchtigter als gerade dieser General Marchese Johann Baptist Zappi, Brigadier und Platzkommandant von Rom. Wegen seines grausamen und launischen Despotismus war er – wie wir dies aus den ungeschminkten Kraftausdrücken in dem Schreiben des Kanoniers Ney entnehmen können – von den Soldaten bitter gehaßt; das Bürgertum verachtete ihn wegen seines pöbelhaften Benehmens. Der Volkswitz in ganz Italien hatte sich eines Ausspruches bemächtigt, den Zappi im Jahre 1860 getan haben sollte und dem er seitdem als Eisenfresser eine gewisse, wenn auch lächerliche Berühmtheit verdankte. Er soll sich nämlich damals hoch und teuer verschworen habe, er würde »mit der Reitpeitsche die Romagna von den Piemontesen säubern.« Aus Vorsicht vermutlich, damit er diese furchtbare Drohung nicht verwirklichen könne, ließ sich unser Bramarbas später von den Piemontesen in einem bombenfesten Weinkeller der Zitadelle von Pesaro abfangen, den er stramm bis auf die allerletzte Flasche »verteidigt« hatte. Die piemontesischen Offiziere aber übersandten ihm am folgenden Tage eine Pracht-Reitpeitsche mit vergoldetem Knopfe. Das also war der saubere »General«, der den Kanonier Heß zu Hirt schicken wollte, damit dieser in den Verdacht der Desertionsverleitung gebracht werden könne.
Wer aber war der »Herr«, der, wie der Kanonier schrieb, mit zwölf Napoleonsd'or sich an dem schmutzigen Geschäft beteiligt hatte und »bei der Post« wohnen sollte?
Halt! Neben dem Ober-Postamt wohnte – – der diplomatische Vertreter des Landes, in dem jetzt die Fürstin Eleonore als wohlbestallte Landesmutter konditionierte …
Kaum hatte der aufgeregte Künstler Zeit und Besinnung gefunden, sich das alles klar zu machen, als auch schon die Tür aufging. Herein trat – der Kanonier Heß. Ohne den Judas zu Wort kommen zu lassen, drängte ihn Hirt mit derbem Ruck über die Schwelle zurück: im selben Moment aber stürzten sich auch schon fünf Sbirren auf den Bildhauer, packten ihn trotz all seines Protestierens mit ihren herkulischen Fäusten fest, schlossen ihm mit einer starken Stahlkette die Hände auf dem Rücken, nieteten ihm an die Beine wuchtige »Springer« und schleppten ihn so barhäuptig, nur halb bekleidet, durch die ganze Stadt nach der Engelsburg. Dort empfing ihn ein Kerkerknecht, der ihm zunächst die Taschen leerte und ihn dann Trepp' auf, Trepp' ab nach einem grausigen Kellerarrest brachte. Es war ein dreieckiges, niederes Loch, worin sich kaum ein Schritt tun ließ und worin fast ewige Nacht herrschte.
Eine Schütte halb verfaulten Strohs, in dem die Ratten quiekend herumraschelten, bildete das Lager des Gefangenen, ein Krug voll abgestandenen Wassers und eine Schnitte Schwarzbrot, die ihm täglich hineingereicht wurden, waren seine einzige Nahrung. Eine entsetzliche mephitische Luft schwängerte das enge, dunkle Verließ, das außer den Ratten, diesen langgeschwänzten Plagegeistern, noch eine ganze Unzahl jenes ekelhaften kriechenden und springenden Gewürmes und Geziefers beherbergte, das in dem südlichen Boden so üppig gedeiht …
Tag um Tag verstrich, es wurden Wochen daraus, die sich zu Monden aneinanderreihten. Umsonst klagte der Gefangene in herzzerreißenden Tönen seinem Wärter sein grenzenloses Leid: der abgestumpfte Sklave einer erbarmungslosen Disziplin blieb so kalt und stumm wie die Kerkermauern und außer ihm erblickte der Dulder keinen andern Menschen. Die einzige Gnade, die der finstere Alte seinem Pflegebefohlenen gewährte, war ein dünner Stock, womit Hirt sich der quälenden Ratten einigermaßen erwehren konnte. Gelang es ihm, eine der unsauberen Kreaturen zu töten, so war sie schon nach wenigen Minuten von ihren Stammesgenossen mit Haut und Haar aufgefressen.
Welche Feder könnte diese Tage und Nächte in ihrem namenlosen Grauen schildern!! Kein Untersuchungsrichter ließ sich den Gefangenen vorführen, kein Arzt sah nach seinem leiblichen, kein Priester nach seinem seelischen Zustande: er war nicht eingekerkert, nein, er war lebendig begraben. Mehr und mehr wich seine anfänglich fieberhafte Spannung einer dumpfen und stumpfen Apathie, eiternde Wunden bedeckten seinen zum Skelett abgemagerten Leib, den ein zeitweises Blutspeien nur noch mehr erschöpfte …
Da öffnete sich eines Tages zu ungewohnter Stunde kreischend die Eisenpforte! Zwei Kerkerknechte treten ein, greifen, ohne ein Wort zu reden, dem halbgelähmten Dulder stützend unter die Arme und schleppen ihn über Treppen und Korridore in eine Zelle über der Erde.
Ein scheibenloses Gitterfenster reichte nahe an den Boden der ziemlich geräumigen Zelle und gewährte den Ausblick in einen großen schönen Garten, den der nahende Lenz mit seinen ersten Knospen schmückte.
Mit tränendunkeln Augen preßte der Unglückliche seine Stirn an die Eisenstäbe des Gitters, um die, ach, so lange entbehrte balsamische Luft einzuatmen. Doch nicht lange sollte ihm dieser Genuß unvergällt gestattet sein, denn mit einem Mal hörte er draußen im Garten Stimmen reden, und im nächsten Moment zeigte sich vor dem Gitter der General Zappi! Er war in voller Uniform, an seinem Arm tänzelte die dem Gefangenen wohlbekannte Baronesse Emma von Lindenthal, eine Hofdame und Vertraute der Fürstin Eleonore! Beide postierten sich vor das Gitterfenster und beguckten mit Pincenez und Lorgnon die Jammergestalt, die bleich und matt an der Wand lehnte. So entkräftet und abgestumpft der Gefangene auch sein mochte, die vier frechen Augen, die sich an seinem Leidensbild ergötzten, wie an den Capriolen eines Affen, reizten den Armen nach und nach zu einem Ausbruch von Raserei und mit rollenden Augen und geballten Fäusten schleuderte er aus heiserer Kehle seinen Verderbern Flüche und Verwünschungen entgegen.
Der biedere Kriegsmann und seine Begleiterin wollten sich darob vor Lachen ausschütten. Endlich mochten sich die Herrschaften sattsam amüsiert haben, mit einer spöttischen Verbeugung verschwanden sie, und gleich darauf traten die zwei Kerkerknechte in die Zelle, um den halbtoten Märtyrer – – in sein altes Rattennest zurückzuschleppen. Er war also nur zu einer bequemen Revue in jene Zelle gebracht worden …
Wieder vergingen Wochen, die die Phantasie des Lesers sich ausmalen mag, als die Kerkerpforte sich abermals erschloß. Diesmal erschien ein freundlicher, älterer Herr – um es gleich zu sagen: ein Arzt, der im amtlichen Auftrag die Kerkerzellen der Engelsburg visitierte. Der wackere Mann schauderte, als er vor sich ein zuckendes Gerippe liegen sah; er ging nicht von der Stelle, bis der Unglückliche in das Gefängnis-Hospital gebracht war.
O unsagbare Wonne und Seligkeit! Nach Monden lag der Dulder in einem sauberen Bette, zum ersten Mal wieder schlürfte er eine warme Suppe. Er glaubte, vor Dank all das überstandene Weh vergessen zu müssen. Doch es war nur ein trügerisches Glück! Schon nach wenigen Tagen riß man ihn wieder aus seinem Bette, steckte ihn in Züchtlingskleider und warf ihn in die Detentionszelle der zum Tod verurteilten Armsünder. Hier teilte er die Gesellschaft des berüchtigten Brigantenhäuptlings Viola, der für sechsunddreißig Mordtaten büßen sollte, und noch zweier anderer Galgenkandidaten aus Subiacco.
Immerhin aber durfte er sich noch glücklich preisen, denn er war doch wenigstens unter Menschen, denen er sein namenloses Leid klagen konnte. Und bald sollte er auch gewahr werden, daß diese verworfenen, dem Henkertod geweihten Verbrecher sich mitten in ihrem blutigen Handwerk ein Gefühl von Erbarmen reserviert hatten, das sie, die Mörder und Räuber, himmelhoch über eine Fürstin von Gottes Gnaden erhob …
Am folgenden Morgen erschien in der Armsünderzelle ein Mönch, um einem der drei Todeskandidaten die letzte Beichte abzunehmen.
»Ehrwürdiger Vater,« meinte mit philosophischer Ruhe der Delinquent, »was soll ich Euch mit meinem Sündenbekenntnis langweilen? Ihr könnt ja viel besser aus den Gerichtsakten ersehen, was alles ich auf dem Kerbholze habe, und wenn Ihr dann ein Gebet für das Heil meiner armen Seele tun wollt, so soll's mir recht sein.« Er deutete nach seinem deutschen Zellenkameraden. »Seht, ehrwürdiger Vater, dort ist ein armer Teufel, der Euren Trost und Beistand nötiger brauchen kann, als ich.«
In kurzen Worten berichtete der Bandit, was ihm der Künstler geklagt hatte. Kopfschüttelnd hörte der Mönch zu, dann wandte er sich an den Deutschen, um sich aus dessen eigenem Munde den Bericht bestätigen zu lassen.
Noch am gleichen Tage trat der Sachverwalter Hirts den Gang nach dem Galgen an. Mit einem kräftigen Händedruck verabschiedete sich der Armsünder, ein schöner, herkulisch gebauter Mann von kaum dreißig Jahren, von seinen beiden Schicksalsgenossen, die ihm bald nachfolgen sollten, dann von dem Deutschen, zu dem er tröstend sagte: »Faßt Mut, lieber Freund, der Pater Cyrillo ist ein braver Kerl, der für Euch das Möglichste tun wird.« Und mit diesem Gedanken an die Wohlfahrt eines andern, eines Fremdlings, ging der Mörder in den Tod. Vielleicht hat seine Seele doch noch ein bescheidenes Winkelchen im Himmel gefunden …
Und der Trostspruch des Banditen war kein leeres Wort gewesen, denn wirklich tat der brave Pater sein Möglichstes. Ungesäumt setzte er das Tribunal in Kenntnis, und der Präsident beauftragte den wegen seiner Pflichttreue und Unparteilichkeit in ganz Rom beliebten Richter Ciardoni mit der Untersuchung dieses himmelschreienden Falles.
Gleich nach dem ersten Verhör verfügte Ciardoni die provisorische Demission des Inhaftierten. Am 13. Mai – also nach einer Einkerkerung von hundertundzwölf Tagen, – wankte, gebrochen an Leib und Seele, der Dulder aus dem Höllentor der Engelsburg. Das Tribunal, das die Freilassung des Künstlers bestätigte, leitete nun gegen den General Zappi die Untersuchung »wegen Menschenraubes« ein. Vergebens bot der Elende seine ganze Protektion auf, um den schwebenden Prozeß zu hintertreiben, denn das bleiche Leidensbild des Deutschen zeugte ja am besten für die erlittene Pein. Wenn General Zappi sich und seine Stellung retten wollte, so blieben ihm nur noch zwei Auswege: er mußte den Versuch machen, den Prozeß von dem Zivilforum auf das des Militärgerichts hinüberzuspielen, denn hier lag ja der Ausgang in seinen Händen. Die zweite Aufgabe war, das Opfer seiner Bestialität im richtigen Moment mundtot zu machen.
Wegen des ersteren Punktes erhob sich zwischen den beiden Gerichten ein weitläufiger Streit, das Ziviltribunal ließ sich nicht ins Bockshorn jagen und machte in energischster Weise seine Rechtsbefugnis geltend. Die bedrohliche Situation ließ den General nicht länger mehr mit dem zweiten Gewaltakt zögern. Am hell lichten Tag und auf belebter Straße ward der Künstler von Domenico Zauli, einem in Rom wohlbekannten Bravo, angerempelt und dadurch zu einem Wortwechsel provoziert, der damit endete, daß der Bandit sein ihm überwiesenes Opfer mit einem Knittel zu Boden schlug und mit drei Dolchstichen in der Herzgegend verwundete.
Zweifellos hätte der Meuchelmörder dem Unglücklichen den Rest gegeben, wenn nicht noch zeitig ein paar Soldaten herbeigeeilt wären, bei deren Annäherung der Blutmensch die Flucht ergriff. Bewußtlos ward der Gemeuchelte in das Spital geschafft, das er, zwischen Tod und Leben schwebend, erst nach Wochen als genesen verlassen konnte. Kaum in seine Wohnung zurückgekehrt, erwartete ihn eine unheimliche, neues Übel kündende Entdeckung: in der unmittelbar über seiner Wohnung belegenen Etage hatte sich nämlich mittlerweile niemand anders eingemietet, als – die Baronesse Lindenthal, die Hofdame der Fürstin Eleonore! …
Das Mordattentat Domenico Zaulis blieb ungesühnt, denn der Bandit war seitdem spurlos verschwunden, und wenn auch ganz Rom mit dem Finger auf den General Zappi, als den eigentlichen Urheber der Bluttat, deutete, so bot dieser Verdacht doch noch keinen Haltpunkt zu weiterm Eingreifen. Der wider Zappi eingeleitete Prozeß »wegen Menschenraubes« schritt dagegen unter der Obhut des wackern und unbeugsamen Richters Ciardoni langsam, aber stetig bei dem Tribunal fort; immer enger und enger zog die Justiz um den Menschenräuber ihren erdrückenden Ring, alle Lügen und erkauften Advokatenkünste konnten, den klaren und bestimmten Aussagen Hirts gegenüber, dem Schänder des militärischen Ehrenkleides nicht mehr helfen – – da, gerade am Tage einer neuen Gerichts-Zitation, erkrankte der so vielgeprüfte Künstler abermals, und zwar unter allen Symptomen einer Vergiftung. Wie der Generalarzt Doktor Branco konstatierte, war Hirt in der Tat das Opfer einer starken Quecksilbervergiftung. Die nähere gerichtliche Untersuchung, die wiederum der vortreffliche Ciardoni leitete, ergab, daß in Hirts Zuckerdose von verbrecherischer Hand ein Quecksilberpräparat gemischt worden war. Anfänglich war von einigen Hausgenossen die Aussage gemacht worden, sie hätten die Baronesse Lindenthal – jedenfalls mit falschen Schüsseln – in die Wohnung des Bildhauers schleichen sehen; mit einem Mal aber hatten sich die guten Leute eines anderen besonnen; sie wollten gar nichts gesehen haben und die Baronesse selber, von dem Untersuchungsrichter in diskreter Weise interpelliert, warf mit dem majestätischen Air einer olympischen Göttin den blonden Lockenkopf zurück und meinte, sie könne in diesem Falle nichts tun, als – lachen. Und munter zeigte sie denn auch dem Repräsentanten der Themis ihre weißen Perlenzähne …
Um es kurz zu sagen: ganz wie jenes Mordattentat verlief auch diese Vergiftungsgeschichte im Sande, das in die Zuckerdose gelegte Kuckucksei war und blieb ein Rätsel und der nur durch ein Wunder abermals dem Tod entronnene Unglückliche konnte nichts tun, als sein Bündel schnüren, um wenigstens aus dem gespenstischen Hause wegzukommen, unter dessen Dach sich die lachende Baronesse eingenistet hatte.
Inzwischen war der leidensreiche Dulder zu einem vollständigen und voraussichtlich auch unheilbaren Krüppel geworden, der sich nur noch auf Krücken mühsam fortbewegen konnte! Sein Gesicht und sein ganzer Leib waren mit Narben und Pusteln bedeckt: der einst so blühende Jüngling und Mann war zu einem gräßlichen Zerrbild der Menschheit geworden. Mittellos stand er auf dem Pflaster der ewigen Stadt, und dem Hungertode wär' er verfallen, wenn nicht barmherzige Landsleute eine Kollekte veranstaltet hätten, die wenigstens seine nächste Existenz sicher stellte. Und so saß er eines Tages in seinem Stübchen am Fenster und ließ vor seinen müden gramverdunkelten Augen die Erinnerungen eines mit diabolischer Erbarmungslosigkeit zerstörten Lebens vorüberziehen. Aus dem hochbegabten, göttliche Ideale verfolgenden Kunstjünger war nun ein elender Krüppel geworden, der von Almosen sein armseliges Dasein fristete. Von seinem brennenden Seelenschmerz übermannt, stützte der Dulder die Stirn in die zitternde Hand und begann bitterlich zu weinen. Mit einem Mal war es, als müsse er einem magischen Bann gehorchen, und langsam hob er seinen tränenumflorten Blick.
Und siehe! War es wüster Traum oder schreckensvolle Wirklichkeit??
In dem Hause gegenüber stand hinter einem Fenster eine hohe, dunkelgekleidete Frauengestalt. Nur die meerblauen Augen lebten – im zuckenden Blitz eines dämonischen Triumphes. Und nicht länger wie das blendende, unheimliche Aufleuchten eines Wetterstrahles zeigte sich die Vision dort an jenem Fenster – – dann rauschten die Vorhänge wieder zusammen …
O, fürstliches Weib, Rachegöttin im Hermelin – du durftest triumphieren, dein finsterer Schwur war erfüllt! Dort der Krüppel war dein Opfer!! – –
Und jetzt noch das Finale dieses gespenstischen Dramas.
Der Prozeß gegen den Menschenräuber und Menschenquäler Zappi – wie war sein Ausgang?
Ja, es gibt keinen Ausgang, wenigstens keinen solchen, wie man ihn erwarten möchte. Der Prozeß ist auf einmal sanft und selig eingeschlafen, und selbst der brave Richter Ciardoni konnte ihn nicht wieder wach rütteln. Von woher das Narcotikum so plötzlich gekommen ist?
Ja, das ist auch so eine Frage! Vielleicht von jenem Fenster her. Eines aber bleibt keine Frage! Gleich nach jener Inkognito-Visite der Hermelindame dampfte der biedere Kriegsmann Zappi – natürlich in »Zivil« – nach Neapel, um dort bei dem Bankhaus Levi eine Tratte von vierzigtausend Francs einzukassieren.
Und damit: Ende gut, alles gut … Hier bricht die Hof- und Künstlergeschichte ab, die zum klaren Verständnis des Lesers, ihrer Gesprächsform, wie sie zwischen dem Abbé Calvati und seinem vielwissenden Gaste hin- und herging, entkleidet, im übrigen aber wahrheitsgetreu berichtet worden ist.
Ein ungewohnter Ernst lag auf dem sonst so kaltironischen Geschichte des Abbés, als er sagte:
»Wir sind unter uns – hören Sie, lieber Griscelli, im heiligen Rom ist doch sehr vieles möglich!« Gleichmütig zuckte der Gast die Achsel. »In Rom, Abbate, ist alles möglich, wenn man zweierlei besitzt: Geld oder einen Titel – noch besser beides zusammen.«
»Ganz wie in Rußland, das ja auch heilig sein will,« lachte der Abbé schon wieder in seiner sardonischen Manier.
Griscelli nickte. »Was gehts eigentlich mich an, Abbate? Ich diene dem Kardinal Antonelli, er bezahlt mich und damit basta.«
»Seine Geheimpolizei dürfte wohl zu den bestorganisierten Instituten dieser Art gehören,« warf der Jesuit hin. –
Ein flüchtiges, spöttisches Lächeln enthüllte das starke, weiße Wolfsgebiß Griscellis, gleich darauf entgegnete er ruhig: »Seitdem die italienische Einheitspartei auch in Rom Wurzel gefaßt hat, mangelt es uns nicht an Arbeit. Die päpstliche geheime Polizei ist die Contreguerilla gegen diese liberalen Sprudelköpfe, die, wie sie sagen, dem heiligen Vater nichts übrig lassen wollen, als den Vatikan und einen Gemüsegarten.«
Der Jesuit lachte herzlich auf, dann griff er nach einem auf dem Kaminsims liegenden Zeitungsblatte, in dem verschiedene Stellen blau und rot angestrichen waren. Mit dem Finger auf eine dieser Stellen deutend, sagte er: »Auch in den auswärtigen Journalen wird jetzt weidlich die Lärmtrommel gerührt, um die Sturmbataillone gegen den heiligen Vater zu sammeln und ihm in möglichster Kürze zu dem bewußten Gemüsegarten zu verhelfen. Gerade die päpstliche Geheimpolizei muß der Firma Mazzini, Garibaldi & Co. ein ganz besonderer Stein des Anstoßes sein, denn schon seit einiger Zeit finde ich in der liberalen Presse des Auslandes Korrespondenzen aus Rom, die, in Gift und Galle getaucht, die haarsträubendsten Schilderungen vom Tun und Treiben der päpstlichen Polizei bringen.«
Ein trockenes Lächeln flog über das gelbe Gesicht Griscellis. Nach dem Zeitungsblatte hinüberweisend, sagte er: »Bitte, Abbate, lassen Sie mich einmal den Gallapfel da schmecken, Sie wissen, als Mann vom Fach kann es mich interessieren, was man über uns Sündenböcke von der Polizei denkt und schreibt.«
Der Abbé las: »Nieder mit der Geheimpolizei des Vatikans, die selbst noch in den engsten Familienkreis den Keim giftigen Mißtrauens pflanzt. Die Spionage hüllt sich nicht blos in das geistliche Gewand, sondern verbirgt sich auch hinter der Blutsfreundschaft. Der Spion hat einen Freibrief – –«
» Ma bene«, schaltete Griscelli gleichmütig ein: »was soll der arme Teufel anfangen, wenn er diesen Freibrief nicht in der Tasche hat!«
»Die Zeiten Gregor's mit ihrer Despotie,« las der Abbé weiter, »erscheinen jetzt den Römern als ein Zustand paradiesischer Unschuld. Die Gesandten und die Konsuln der fremden Mächte nehmen in der ewigen Stadt eine Stellung ein, wie vordem in den nordafrikanischen Raubstaaten; sie tun das Möglichste, um ihre Landsleute aus den Klauen der jesuitisch geleiteten Geheimpolizei zu retten, dennoch aber liegen nicht selten Fremde wochenlang unverhört und sehr oft unschuldig, aus Privathaß denunziert, mit den gemeinsten Verbrechern in einem und demselben Kerkerloch.«
Der Abbé blickte von dem Blatte auf; sein Gast nickte leicht mit dem Kopfe.
»Lieber Abbate,« bemerkte er gleichmütig, »der Mann hat keineswegs übertrieben – er hat sogar das beste verschwiegen, allerdings aus dem einfachen Grunde, weil er es nicht weiß.« Mit einem ironischen Blick fixierte Griscelli für einen Moment den Jesuiten. »Ich selber, Abbate,« sprach er weiter: »habe zu Rom, als ich in die Dienste Antonellis und seiner Geheimpolizei trat, noch manches lernen müssen, was mir weder bei Louis Napoleon noch bei Cavour in der Praxis vorgekommen ist. Was meinen Sie, Abbate, mit wie viel Goldstücken pro Zeile die liberale Presse die Korrespondenzen honorieren würde, die ihr ein römischer Geheimpolizist schreiben könnte?!« Er lachte unheimlich auf. »Zum Beispiel so eine Pikanterie wie die da: kurz, nachdem ich meinen neuen Dienst bei dem Kardinal angetreten hatte, kontrollierte ich eines Tages die Zellenregister der Carceri nuovi, die damals mit politisch Verdächtigen und Verurteilten vom Keller bis zum Dach hinauf vollgepfropft waren. In der Wachtstube bemerkte ich eine junge bildschöne Dame mit einem Körbchen voll Konfekt und Früchten, dazwischen lugte der Hals einer Weinflasche hervor. Ich befragte einen der Schließer, was die Dame mit ihrem Körbchen da wolle. Der Mann verzog sein Gesicht zu einem lustigen Grinsen, dann tuschelte er mir zu, die Dame erscheine täglich, um ihrem eingekerkerten kränklichen Vater eine Erquickung zu bringen. Auf weiteres Befragen nannte mir der Schließer den Namen des Gefangenen. Erstaunt bemerkte ich ihm, daß ich einen derartigen Namen in dem Register gar nicht gefunden hätte.
»Glaubs gern, Signor,« lachte der Schließer: »daß Sie den Namen nicht gefunden haben! Noch schwerer sollt' es Ihnen werden, wenn Sie den Gefangenen selber suchen wollten.«
»Der Mann war wohl aus seiner Haft entflohen?« warf der Abbé ein, indem er seinen Gast fragend anblickte.
Griscelli machte eine kleine Pause, dann antwortete er ruhig: »Nein, Abbate, der Alte, den man als glühenden Schwärmer für ein einiges und freies Italien hinter Schloß und Riegel gebracht hatte, war nicht entflohen, sondern er war ohne jeden weitern Prozeß bei Nacht und Nebel in seiner Zelle erdrosselt worden.«
»Und die Tochter mit ihrem Körbchen?« Der Jesuit sagte es in Ton und Miene einer unwillkürlichen Rührung.
»Die Tochter mit ihrem Körbchen?« erwiderte Griscelli, und auch seine ehernen Gesichtszüge waren für einen Moment weicher geworden: » Cospetto! Das arme Ding kam bei Regen und Sonnenschein Tag um Tag herbeigetrippelt, ohne auch nur zu ahnen, daß seinem alten Vater schon seit drei Jahren durch den Henker der Kragen umgedreht worden war.«
Der Abbé hatte sich in ein tiefes Sinnen verloren, aus dem er ordentlich aufschrak, als der andere seine Schulter berührte.
»Abbate,« sagte der Gast und hielt seine Taschenuhr hin: »ich habe keine Sekunde mehr zu verlieren, wenn ich den Dampfer noch rechtzeitig erreichen will … Sie begleiten mich wohl zum Hafen? Unterwegs können wir noch über dies und jenes sprechen.«
Der Priester machte eine zustimmende Bewegung und griff nach Hut und Mantel. Von seinem Gaste unbemerkt, ließ er noch flink ein Stilet in seine Rocktasche gleiten. Dann wanderten beide dem Hafen entgegen. –
Jacopo Francesco Griscelli – korsikanischer Ziegenhirt, halbwild aufgewachsen in der Bergeinsamkeit seiner heimatlichen Insel, dann in aufsteigender Reihenfolge französischer Soldat, Unteroffizier, Fechtmeister, »Sitzredakteur« eines Lyoner Oppositionsblattes, Zuchthäusler (wegen Bigamie), Schlepper beim Staatsstreich-Bauernfang am 2. Dezember, Mouchard bei der Pariser Polizeipräfektur und in weiterm Avancement spezieller Leib-Spitzel des Kaisers Louis Napoleon. – – Das sind so ungefähr die Kapitelüberschriften für den ersten Teil des tollen Lebensromanes des Mannes, von dem noch mehrfach die Rede sein wird. Der zweite Teil entrollt eine wo möglich noch buntere Musterkarte. Infolge des Orsini-Attentates hat der Polizeipräfekt Pietri Knall und Fall seine Demission erhalten und gleichzeitig scheidet auch Griscelli aus dem kaiserlichen Geheimdienst. Ob freiwillig oder gezwungen – das bleibt eine offene Frage. Später hat er sich über diesen Punkt kurz dahin geäußert: »Pietri war Korsikaner wie ich, dazu war er noch mein Wohltäter und Freund, ich mußte ihm also folgen.«
Durch diesen seinen »Wohltäter und Freund« mit den besten Referenzen und Zeugnissen versehen, wendete sich Griscelli zunächst nach Turin, und hier stand er bald darauf im Dienste des Grafen Cavour, um als politischer Geheimagent des piemontesischen Ministers die Schritte und Tritte Rattazzis, Brofferios, und Solars zu überwachen, gelegentlich auch allerlei mehr oder minder heikle Missionen zu Genua, Florenz, Bologna, Modena, Verona und Rom zu erledigen. Von Rom aus wendete sich der einstige korsische Ziegentreiber nach Sizilien, um, immer im Auftrage Cavours, das Tun und Treiben Garibaldis zu überwachen – dieses Mannes, der, wie Abbé Calvati ebenso witzig als treffend bemerkt hatte, in seiner Brust ein Löwenherz und auf seinen Schultern einen Eselskopf trug … Von Palermo instradierte ein Wink Cavours den Agenten nach Neapel, wo er sich bei der bourbonischen Königsfamilie Eingang verschaffte und dann zur Berichterstattung nach Turin zurückkehrte.
Gleich darauf starb Cavour. Griscelli war Zeuge des Todeskampfes; zu Füßen des scheidenden Staatsmannes stehend, verfolgte der Agent den Auflösungsprozeß seines Herrn und Meisters, er hörte, wie der gewaltige Geist mit den Schauern des Todes rang und seine morsche Hülle nicht verlassen wollte, weil so viele Aufgaben ihn noch an das Leben, an den so heißgeliebten italienischen Boden fesselten. Leise schluchzend kniete vor dem Bette die Gräfin Alfieri, die Nichte und treue Pflegerin des sterbenden Patrioten, auf der andern Seite stand in stillem Gebet ein würdiger alter Mönch, Pater Jacob, der auf den ausdrücklichen Wunsch des Kranken herbeigekommen war, um ihn zum geheimnisvollen Gang in die Ewigkeit vorzubereiten. Mit einem Mal erschien ganz unerwartet in dem Sterbegemach der König Viktor Emanuel. Achtungsvoll wichen die Anwesenden in den Hintergrund des Zimmers zurück. Dem König tropften die hellen Tränen in den martialischen Schnurrbart, wortlos preßte er die fieberheiße Hand seines treuen Beraters, der mit einem geisterhaften Lächeln zu seinem königlichen Herrn emporblickte. »Sire,« murmelte er, »Norditalien ist fertig! Es gibt keine Lombarden, keine Piemontesen, keine Toskaner, keine Romangolen mehr, wir sind alle Italiener!«
Schwermütig nickte er vor sich hin. »Aber, Sire, es gibt leider noch Neapolitaner! O, in ihrem schönen Lande ist viel Korruption, aber es ist nicht ihr Fehler, die armen Kerle sind so miserabel regiert worden! Das ist der Schelm Ferdinand!« Seine bleiche Wange rötete sich, seine magere Hand ballte sich wie zu einem letzten Schlag. »Nein, nein, nein! Eine solche Schandwirtschaft darf nicht restauriert werden, das kann Gott nicht zulassen!« Erschöpft sank er in die Kissen zurück. Die heftige Aufregung schien ihm Schmerzen zu verursachen, aber auch der König vermochte sein eigenes Weh nicht länger mehr zu bemeistern. Wie in stummem Dank für all die Dienste, die ihm dieser geniale Kopf geleistet hatte, legte er seine Hand auf die gedankenreiche Stirn des sterbenden Staatslenkers, noch einmal heftete er seinen tränenfeuchten Blick auf die irdische Hülle, die in der nächsten Spanne Zeit für immer erkalten sollte – – dann trat er leise zurück und verließ, sein Gesicht in die beiden Hände gedrückt, das Gemach. Der Sterbende hatte nichts davon bemerkt, er phantasierte leise vor sich hin. Die Anwesenden verstanden die einzelnen Sätze: »Mit Istrien und Tirol ists etwas anderes, das bleibt für eine andere Generation übrig … Wir haben genug getan … Der deutsche Bund zu Frankfurt a. M. – diese Anomalie! … Er muß sich auflösen … Die deutsche Einheit wird gegründet werden … Aber das Haus Habsburg kann sich nicht modifizieren … Seine Lippen bewegten sich eine Weile wortlos; mit einem Mal begann er wieder in einer Art von nervöser Hast: »Was werden die Preußen tun? Sie sind so langsam, ihren Entschluß zu fassen … Sie werden am Ende fünfzig Jahre dazu brauchen, um zu erreichen, was wir in sechsunddreißig Monaten gemacht haben …«
Einige Minuten lag er still da, dann öffnete er plötzlich die Augen und ließ sie durch das Gemach irren. Sein Blick traf den alten Mönch, und gleichzeitig schien der erlöschende Geist noch ein Mal aufzuflammen, denn mühsam murmelte er gegen seinen Beichtvater die letzten Worte hin:
» Frate, frate – – libera chiesa in libero stato!« Bruder, Bruder – – freie Kirche im freien Staate
Noch zwei schwache Bewegungen und … die Seele flog, um mit Rabelais zu reden, dem »großen Vielleicht« entgegen.
Es war der 6. Juni 1861, Donnerstag morgen gegen sieben Uhr. – –
Tiefe Trauer erfüllte Turin, Piemont, ganz Italien, wo ein italienisches Herz schlug. Die Städte, Männer und Frauen legten Trauergewänder an; d'Azeglio, im Leben der so eifersüchtige Gegner Cavours, hatte für die Leiche die sorgenvollen Worte: »Ein Blitzstrahl hat uns getroffen, dessen Sinn und Tragweite noch gar nicht zu ermessen ist! Für ihn, den Toten, ist es vielleicht ein Glück: er durfte verschwinden, ehe er herabzusteigen brauchte. Für uns ist es eine schreckliche Prüfung, und wir alle wollen über ihn weinen wie über einen Bruder.«
Auch der Cäsar in den Tuilerien hätte weinen dürfen, und neun Jahre später, am blutigen Gerichtstag von Sedan, mag in furchtbarer Klarheit der Gedanke an ihn herangetreten sein, was alles ihm in dem piementesischen Denker und Patrioten verloren gegangen war. Mit dem Tode Cavours sollte ja Napoleon sichtlich mehr und mehr sinken, der ihn aufwärts leitende Genius war von ihm gewichen, und er wurde wieder, was er vorher gewesen war – ein Abenteurer …
Aber auch noch einer durfte den Tod des Ministers als einen harten Schlag empfinden: Griscelli. Hatte er doch einen Brotherrn verloren, der jeden Dienst seiner Spürhunde brillant zu lohnen pflegte! »Wenn ich« – so äußerte er sich späterhin – »von Persigny, Morny oder sonst einem der Herren des kaiserlichen Geheimkabinets zu irgend einem heiklen Gang beordert wurde, so war für die Herren nichts wichtiger, als die Frage, ob ich denn auch meinen Revolver und mein Stilet schuß- und stoßfertig zur Hand habe. Bei Cavour dagegen hieß es immer zuerst: Wieviel Geld brauchst Du?«
Item – über dem generösen Staatsmann hatte sich die Gruft geschlossen, und Griscelli, der in den Tagen des Überflusses Gott einen guten Mann sein ließ, mußte sich jetzt nach einem neuen Herrn umsehen. Offenbar waren es denn auch finanzielle Beweggründe, die ihn dazu bestimmten, ein ländliches Stillleben am Genfer See aufzusuchen und hier seine bunten Erlebnisse im Geheimdienste Cavours niederzuschreiben unter dem Titel: »Streiflichter über Land und Leute im neuen Königreich Italien.«
Bei einem Mann, der, wie Griscelli, die Spionage professionell betrieb, darf man hinsichtlich des point d'honneur keine besondere Empfindlichkeit erwarten. »Kein Kreuzer, kein Schweizer« – so hieß es auch bei ihm.
Für blankes Gold hatte er sich als Schild zwischen Louis Napoleon und dessen mordplanende Feinde gepflanzt; dasselbe gleißende Metall beugte ihn unter den herrischen Willen Cavours, und um klingenden Lohn stellte auch jetzt wieder Griscelli seinen Witz, seinen Revolver und sein korsisches Stilet zur Verfügung. Cavour ist tot, eine Hand hat, nach Griscellis nüchterner Moralphilosophie, die andere gewaschen und fürs liebe Brod muß jetzt ein neues Liedlein gesungen werden …
Den Blick nach dem Vatikan gerichtet, setzte sich also unser Mann hin und schrieb das obenbezeichnete Pamphlet, worin er sich »vor Gott und seinem Gewissen« gedrungen fühlte, die »höchst unsaubern Machinationen« zu enthüllen, wodurch Piemont sich die italienischen Fürstentümer »angegliedert« habe. Das Manuskript überbrachte er dem katholischen Pfarrer Mermillod in Genf zur gefälligen Durchsicht und Stilkorrektur; der gallsüchtige Pfaffe griff mit beiden Händen nach der hochwillkommenen Gelegenheit, mit den verhaßten piemontesischen Ketzern und Kronenräubern ein literarisches Hühnchen zu pflücken und »korrigierte« wacker darauf los. Dann erschien das Büchlein anonym zu Brüssel im Verlag der ultramontanen » Revue belge«, um gleich nach seiner Veröffentlichung allerlei Interpellationen von Seiten der Kabinette zu Paris, London, Brüssel und Madrid hervorzurufen. Der Kardinal Antonelli und der Graf von Tropani, Oheim des Königs Franz von Neapel und Bruder des verflossenen Re Bomba, lohnten den unter die Literaten gegangenen Agenten mit dem ziemlich magern Douceur von je tausend Francs; der ultramontane Adel zu Brüssel – wohin Griscelli persönlich sein Manuskript zum Druck gebracht hatte – fütterte in seiner Herzensfreude den Verfasser mit desto fettern Diners und Soupers ab, spickte ihm wohl auch zum Dessert den monetenbedürftigen Beutel.
Zu diesem Brüsseler Aufenthalt bemerkte Griscelli in seinen späterhin veröffentlichten (aber auch ebenso rasch konfiszierten) Memoiren:
»Auf besonderes Zuraten des zu Brüssel akkreditierten päpstlichen Legaten und nunmehrigen Bischofs zu Posen, Ludowiski, schickte mich das belgische Komitee mit einem Empfehlungsschreiben zu dem inzwischen verstorbenen Kardinal Wisemann in London.«
Dieser päpstliche Legat, dessen zungenbrecherischen Namen sich der Korsikaner zu der bequemern und mundgerechtern Aussprache »Ludowiski« zustutzt, ist aber, wie schon aus dem Beisatz »nunmehriger Bischof zu Posen« ersichtlich, kein anderer gewesen, als Ledochowski, der in den Tagen des sogenannten Kulturkampfes so bekannt gewordene ultramontane Staatsrebell. Uns Deutschen darf die Mitteilung Griscellis insofern ein spezielles Interesse bieten, als wir daraus entnehmen können, daß Ledochowski schon damals gern sich bereit finden ließ, gegen jede Regierung zu intriguieren, die sich nicht gehorsam der Autorität der römischen Kurie fügte und dem Nachfolger Petri nicht gutwillig Carte blanche gab.
Das Empfehlungsschreiben Ledochowskis erschloß denn auch dem Korsen Haus und Herz des Kardinals, der sich gleichzeitig beeilte, Griscellis Pamphlet ins Englische übersetzen, drucken und geeigneten Ortes verbreiten zu lassen. Hier zu London erntete Griscelli noch einen weitern Lohn von allerdings ziemlich problematischem Wert: der Exkönig Franz von Neapel, offenbar von Antonelli und dem Grafen von Trapani dazu veranlaßt, übersandte nämlich von Rom aus dem über Nacht zu einem so schwärmerischen Verteidiger der jesuitisch-bourbonischen Interessen gewordenen Exagenten Cavours einen – Adelsbrief, kraft dessen der neugebackene Rittersmann fortan als Baron von Rimini paradieren konnte …
Wie schon bemerkt – im Dienste des Kardinal Antonelli sahen wir Griscelli dem Abbé Calvati einen flüchtigen Besuch abstatten, um dann zur geheimen Überwachung Garibaldis mit dem Dampfer nach Sizilien weiterzureisen. Zur weitern Charakterisierung dieses unheimlichen Gesellen möge übrigens hier noch eine besonders bunt kolorierte Episode aus Griscellis Vorleben ihren Platz finden. Der Vorgang ist zu seiner Zeit mit allen Mitteln der allmächtigen napoleonischen Polizei todtgeschwiegen worden, und nur durch eine nicht näher zu bezeichnende Zwischenperson hat der Verfasser Kenntnis erhalten.
Zur Zeit, als Walewski kaiserlich französischer Botschafter in London war, erhielt Louis Napoleon eines Abends ein chiffriertes Telegramm, worin ihm Walewski die gemütliche Mitteilung machte, ein gewisser Kelch – aus der Strafkolonie zu Lambessa entflohen und derzeit im Solde des mazzinistischen Revolutions-Komitees stehend – habe sich Tags zuvor zu Dover eingeschifft, mit der offenbaren Absicht, den Kaiser zu ermorden. Begreiflicher Weise säumte Louis Napoleon keinen Augenblick, den Polizeipräfekt Pietri von dieser Depesche in Kenntnis zu setzen und gleichzeitig einen Sicherheitsbeamten zu verlangen, der sich zur speziellen Überwachung seiner bedrohten Person besonders qualifiziere. Die Wahl des Präfekten fiel auf Griscelli, den Pietri schon von Korsika her kannte und gleich nach dem Staatsstreich zum geheimen Agenten des Polizeikabinetts ernannt hatte. Der Kaiser äußerte den Wunsch, diesen Mann persönlich zu sprechen und so wurde ihm, seiner weitern Anordnung gemäß, noch am selben Abend Griscelli in der kaiserlichen Loge des Opernhauses während eines Zwischenaktes vorgestellt. Mit kurzen Worten teilte Louis Napoleon dem Korsen den Inhalt der Depesche mit, empfahl ihm die strengste Wachsamkeit und schloß seine Instruktionen mit dem Befehl, Griscelli solle zunächst den Aufenthalt Kelchs in Paris ausfindig machen, den Attentäter keinen Moment aus dem Auge verlieren, dabei aber die weitern Anweisungen des Kaisers abwarten, ohne irgendwie aus seiner observierenden Rolle herauszutreten, denn ein vorzeitiges Zugreifen könne die umfassenden Geständnisse, die man nach beweiskräftiger Überführung dem mazzinistischen Emissär zu entziehen gedenke, leicht vereiteln. Man darf hier den kalten Mut Louis Napoleons füglich bewundern, denn ganz gewiß ist es nicht jedermanns Sache, ruhig einen Burschen gewähren zu lassen, der unweit von seinem erkorenen Opfer seinen Mordplan ausbrütet und immerhin, trotz der schärfsten Überwachung, den günstigen Moment zur Ausführung seines meuchlerischen Projekts erlauern kann.
Mit einem einstweiligen Gnadengeschenk von tausend Francs entließ der Kaiser seinen polizeilichen Schutzengel. Von der Oper fuhr Griscelli in Begleitung Pietris direkt nach dem Zentralbureau, um sich hier zunächst das Signalement und das frühere Sündenregister Kelchs vorlegen zu lassen.
Das Dossier besagte, daß Kelch, von elsässischer Abkunft, ein äußerst gefährliches Individuum sei, nebenbei, als vormaliger Kürassier, von solcher Statur und Muskelkraft, daß es beim Barrikadenbau an der Porte Saint-Martin, wobei Kelch sich beteiligt, der vereinten Anstrengung von sechs Polizeisergeanten bedurft habe, um den rasenden, aus vielen Wunden blutenden Insurgenten niederzuwerfen und an Händen und Füßen zu binden, überhaupt – so war zur warnenden Notiz noch besonders beigefügt – sei der Geselle im Waffengebrauch, Ringkampf und Boxen geschult wie wenige …
» Ça so chauffra! Das wird eine heiße Affaire absetzen. bemerkte mit einem bedeutsamen Kopfnicken der Polizeipräfekt zu dem mit dem Fang dieses Raubtieres beauftragten Agenten.
Noch in der gleichen Nacht machte Griscelli ausfindig, daß Kelch richtig in Paris eingetroffen und höchst wahrscheinlich bei seinem Bruder in der Rue de Trancy heimlich abgestiegen sei. Am folgenden Morgen um sechs Uhr (es war im Monat Dezember) stationierte der korsische Spürhund bereits vor dem bezeichneten Hause. So fixierte er, selbstverständlich in bürgerlicher Kleidung und geeignetem Abstand, etwa eine Stunde lang à la Ritter Toggenburg die Bude, »bis das Fenster klang« – d. h. ein Mädchen heraustrat und einen oben an der Straßenecke postierten Dienstmann herbeiwinkte. Ohne den Verdacht des Mädchens zu erregen, wußte es Griscelli so einzurichten, daß er fast gleichzeitig mit dem aus entgegengesetzter Richtung nahenden Dienstmann vor der Haustür zusammentraf; mit halbleiser Stimme erteilte die junge Person dem Kommissionär einen Auftrag; das scharfe Ohr Griscellis erschnappte sozusagen im Flug die Worte »Kelch und Ménilmontant«, zugleich sah er, wie das Mädchen dem Boten einen Brief übergab. Mit der gleichgiltigsten Miene von der Welt schlenderte der Agent an den beiden vorüber, während sich doch all seine Fiebern straff spannten, wie bei einem Fox-Terrier, der hinter dem Getäfel eine Ratte wittert. Sofort kombinierte er, daß er seinen Mann in der Vorstadt Ménilmontant zu suchen habe und demgemäß folgte er dem Kommissionär nach. Seine Schlußfolgerung erwies sich denn auch als richtig: der Dienstmann trat in ein Haus und übergab seinen Brief, unbehelligt ließ Griscelli den ahnungslosen Boten auf seinen Posten zurückkehren, nur die Nummer seines Brustschildes merkte er sich für alle Fälle. Noch stand er überlegend vor dem Hause, als aus der Tür ein Individuum trat, in dem der Agent, auf Grund des Signalements, sofort den Gegenstand seiner Obliegenheit erkannte, obschon Kelch bedacht gewesen war, seine äußere Erscheinung möglichst umzumodeln.
Der Attentäter bummelte gemächlich die Rue Ménilmontant entlang bis zum Boulevard du Temple, dort bestieg er eine Droschke – Griscelli tat desgleichen, und so, in einem Abstand von etwa dreißig Schritten, kutschierten die beiden die Boulevards entlang zur Madeleine, von da nach dem Concorde-Platz, dem Boulevard des Invalides etc. etc. nach der Rue de Trancy, wo der Agent seinem Kutscher Halt gebot, ausstieg und gerade noch recht kam, um Kelch in das Haus seines Bruders eintreten zu sehen.
Wir wollen den jetzt beginnenden Peripetien dieser stillen, aber ebenso rastlosen Menschenjagd nicht auf Schritt und Tritt nachfolgen. Es genüge zu bemerken, daß fortan Kelch, sobald er sein Domizil verließ, den erbarmungslosen Korsen hinter sich hatte wie seinen Schatten; in den kurzen Stunden der Nacht, wo Griscelli, nachdem er seinen Schützling liebevoll bis an die Haustür heimgeleitet hatte, seinem Körper in dem nächstgelegenen Polizeibureau eine karge Ruhe gönnte, übernahmen zwei andere zuverlässige, für alle Fälle instruierte Geheimagenten die Wache.
So sehen wir Griscelli, in stets wechselnder Kleidung und Gesichtsveränderung, mit seinem Pflegebefohlenen in die verschiedensten Restaurants und Cafés eintreten und gemütlich ein Kotelette verzehren, oder eine Tasse schlürfen, während am nächsten Tische Kelch über einem Beefsteak seinen Mordplan ausgrübelt. Der Bravo macht Spritzfahrten in die Umgegend, er besucht Konzerte, Bälle, Freudenhäuser – er kommt, er geht: immer hat er, natürlich ohne es zu ahnen, seinen Argus hinter sich.
Als vormaliger Kavallerist war Kelch ein sattelfester Reiter, fast täglich mietete er sich in der Manége Crémieux, unweit der Champs-Elysées, ein Pferd, um in dem Boulogner Gehölz einen Spazierritt zu machen. Auf Louis Napoleons Befehl mußten in den kaiserlichen Stallungen in der Rue Montaigne stets einige Pferde zur Disposition Griscellis bereit gehalten werden. So oft sich also Kelch mit Sporen und Reitpeitsche nach den elysäischen Feldern begab, entsandte Griscelli einen der ihm zugewiesenen, stets in Sehweite sich haltenden zwei Unteragenten nach dem kaiserlichen Marstall. Ein Stallwärter, der natürlich von dem Sachverhalt keine Ahnung hatte, brachte sofort ein Pferd nach dem Concorde-Platz, und bis Kelch bei Crémieux seine Wahl getroffen und sich in den Sattel geschwungen hatte, erwartete ihn auch schon sein ungebetener Gesellschafter, der, als vormaliger Chasseur à cheval, ein nicht minder geübter Reiter war …
Die Spazierritte Kelchs waren überdies keineswegs nur dem Vergnügen gewidmet, denn offenbar behielt er dabei sein mörderisches Projekt stets im Auge. Es war ihm inzwischen klar geworden, daß die Ausfahrten des Kaisers die beste Chance für das Gelingen böten, und ferner mochte er sich sagen, daß er, wenn er seinen Coup hoch zu Roß ausführte, leichter entkommen könne. Was diese Mutmaßung unterstützt, ist, daß sich Kelch, wie Griscelli in Erfahrung gebracht hatte. Bei den Stallleuten angelegentlichst nach Temperament und Qualität der einzelnen Pferde erkundigte und stets seine Wahl auf die flinksten Tiere lenkte.
Auch hier kann man dem kalten Blut Louis Napoleons unsern Respekt nicht versagen, denn unbeirrt von der Nähe des unheimlichen Reiters, dessen Anwesenheit ihm Griscelli stets durch ein vereinbartes Zeichen signalisieren mußte, machte der Monarch nach wie vor seine gewohnten Wege zu Pferd wie zu Wagen. Eines Tags folgte Kelch dem mit seinen beiden Adjutanten durch das Boulogner Gehölz galoppierenden Kaiser auf nur wenige Pferdslängen nach – – aber auch Griscelli, die Hand am vielerprobten korsischen Stilet, stürmte auf keuchendem Rappen dicht hinter dem Mörder drein wie eine Wetterwolke. Die furchtbare Katastrophe schien herangekommen zu sein – da, mit einem Mal, schwenkt der Attentäter in eine Seitenallee ab. Man hat niemals erfahren, welches Motiv seinen Plan so plötzlich durchkreuzte. Ob er instinktiv in dem dicht hinter ihm drein jagenden Agenten den Polizeimann witterte, oder sonst irgend ein unerwartetes Hemmnis entdeckte – wie gesagt, es bleibt für immer eine offene Frage. Für diesen Tag durfte Louis Napoleon sagen, wie einst sein Oheim an der Brücke von Arcole: »Die Kugel, die mich treffen soll, ist noch nicht gegossen!« …
Schon vierzehn Tage und ebensoviele Nächte hatte die anstrengende Überwachung des Attentäters gewährt, als Griscelli eines Morgens zur näheren Berichterstattung nach den Tuilerien beschieden wurde. In kurzen Worten erteilte er den ihm beigegebenen Reserve-Agenten, die natürlich selber zu den gewiegtesten Leuten der Geheimbrigade gehörten, seine Instruktionen, dann bestieg er eine Droschke und fuhr nach dem Schlosse, wo ihn ein Kammerdiener, der bereits auf dem Posten stand, über verschiedene Hintertreppen in das kaiserliche Kabinett geleitete. Die gewohnte Zigarette zwischen den Lippen, empfing Louis Napoleon mit der ihm im persönlichen Verkehr eigenen Liebenswürdigkeit seinen polizeilichen Schutzengel, dessen fieberisch glühende Augen die ganze nervöse Erregung verrieten, die ihn jetzt schon seit zwei Wochen verzehrte.
»Setzen Sie sich, lieber Griscelli,« sagte der Kaiser und deutete nach einem Fauteuil. »Nun, was macht unser Mann?«
Eben wollte der Agent seinen Rapport beginnen, als drei leise Schläge an die Türe ertönten: die zwei ersten rasch hintereinander, den dritten nach einer kleinen Pause.
»Ah, Pietri!« sagte der Kaiser und wandte den Kopf nach der Türe, auf deren Schwelle sich im selben Moment die Figur des Polizeipräfekten zeigte. Die sonst so glatten, kalten Gesichtszüge des allmächtigen Polizeimannes trugen den Stempel einer gewissen Verstörung. Mit einer stummen Verbeugung überreichte er dem Kaiser einen Bogen Papier. Es war die Abschrift eines Briefes, den Kelch an das mazzinistische Revolutions-Komitee in London gerichtet und worin er die bestimmte Versicherung gab, binnen zwei Tagen müsse »der Tyrann hin sein«.
Es soll hier bemerkt sein, daß, dank dem konsequenten und präzisen Überwachungssystem, Kelch weder einen Brief abschicken noch erhalten konnte, der nicht auf dem Pariser Postamt abgefaßt, von dem Bureauchef Tibery, einem Virtuosen in derlei Dingen, kunstgerecht erbrochen, kopiert, dann wieder sorgsam geschlossen und, um bei dem Mordgesellen jeden Argwohn fernzuhalten, an seine Adresse weiterbefördert wurde.
Der Kaiser war an ein Fenster getreten, um das unheimliche Schriftstück zu lesen. Als er sich zu seinen Gästen hinwandte, war, trotz der wunderbaren Selbstbeherrschung, die er besaß, die Farbe seines Gesichts merklich bleicher geworden.
»Dem Herrn Attentäter scheint die Geduld auszugehen,« bemerkte er mit einem erzwungenen Lächeln, »die zwei Tage, die er mir noch schenkt, sind eine kurze Galgenfrist und ich werde mich zu tummeln haben, um bis dahin mein Haus zu bestellen und meinem Nachfolger – wahrscheinlich wird es der Herr Kelch, als Präsident einer arkadischen Schäferrepublik, sein – den Platz zu räumen.« Sein Blick überflog nochmals den inhaltsschweren Brief.
Der Polizeipräfekt trat einen Schritt vor. »Sire,« begann er im nachdrücklichsten Ton, »seitdem sich der Mordgeselle zu Paris befindet, ist das Menschenmöglichste geschehen, um ihn zu überwachen und die Person Eurer Majestät sicher zu stellen. Die beste Polizei aber kann nicht für alle Fälle garantieren, und Sie, Sire, schulden es nicht nur Ihrer hohen Gemahlin und dem Erben Ihrer Dynastie, sondern zugleich auch der Wohlfahrt Frankreichs und dem Frieden Europas, daß Sie Ihr kostbares Leben nicht nutzlos dem Dolch oder Revolver eines Meuchelmörders blosstellen.«
Die ernsten Worte des Präfekten schienen ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben, denn sinnend blickte der Kaiser vor sich hin. Mit einem Mal hob er rasch das Haupt. »Sie vergessen aber, lieber Pietri, daß uns durch ein vorzeitiges Eingreifen leicht die wertvollen Geständnisse des Mannes verloren gehen können.«
»Sire, es ist dies das kleinere der beiden Übel«, entgegnete der Präfekt: »Wir haben es hier mit einem Menschen zu tun, von dessen Kraft, Gewandtheit und Verwegenheit das Äußerste zu gewärtigen ist. Ich spreche es offen aus, Sire: die Polizei wird nach wie vor ihre Pflicht tun, aber ich bin nicht in der Lage, für Eurer Majestät Person und Leben länger bürgen zu können, wenn mir auch auf diesen Brief hin die Hände noch gebunden bleiben sollten.«
»Sie wollen also« – – –
»Den Burschen heute noch festpacken!« unterbrach der Präfekt den Kaiser, »es ist die allerhöchste Zeit und ich beschwöre Eure Majestät, mich und meine Untergebenen aus unserer aufreibenden Situation zu erlösen.«
Des Kaisers Auge schweifte nach dem Agenten hin, der sich bescheiden in den Hintergrund des Kabinetts zurückgezogen hatte und in militärischer Positur seines weitern Bescheides harrte. Mit offenbarer Teilnahme musterte der Monarch den pflichtgetreuen Sicherheitsbeamten, der bei all' seiner strammen Haltung die innere Erschöpfung doch nicht verbergen konnte. Freundlich nickte er seinem polizeilichen Schutzgeiste zu, dann winkte er mit der Hand zum Abtreten. Mit einem militärischen »Kehrt Euch« verschwand der Agent.
Der Präfekt blieb noch zurück. – – –
Kaum eine Stunde darauf empfing Griscelli, der direkt auf seinen Lauerposten zurückgekehrt war, die von Pietri eigenhändig ausgestellte Anweisung, sich in der kommenden Nacht präzis um zwölf Uhr auf der Präfektur einzufinden. Bei seiner Ankunft traf Griscelli nicht weniger als vierzig Polizeisergeanten, die ihm zur Verhaftung Kelchs, resp. zur Umzingelung von dessen Domizil beigegeben werden sollten. Griscelli erachtete diese pompöse Machtentfaltung nicht nur für lächerlich, sondern auch für direkt schädlich für das moralische und autoritative Selbstbewußtsein des Polizeipersonals, er stellte dies dem Präfekten unumwunden vor und erbat sich, unter vollster Garantie des Gelingens, die einfache Begleitung zweier namentlich von ihm bezeichneter Geheimagenten. Nach längerem Zögern willigte der Präfekt endlich ein, und mit Tagesanbruch machte sich das Trio auf den Weg, um, wie die ausdrückliche Ordre lautete, Kelch tot oder lebendig einzuliefern.
Dieser pflegte, wie Griscelli hatte beobachten können, jeden Morgen in einer unweit seiner Wohnung belegenen Restauration einen Absynth als erstes Frühstück hinter die Binde zu gießen und bei dieser Gelegenheit wollte der Korse die Verhaftung vollziehen. Natürlich war er darauf bedacht, seinen Mann womöglich lebend abzufassen, denn in diesem Fall konnten ja dem Verbrecher durch die mancherlei zungenlösenden Mittelchen, die die napoleonische Polizei in ihrer disziplinären Apotheke hatte und hinter den stillen Gefängnismauern auch ungescheut anwandte, die wünschenswerten Geständnisse schon noch erpreßt werden. Dadurch erklärt es sich auch, daß Griscelli mit seinen beiden Begleitern nicht direkt nach der Wohnung Kelchs ging, um ihn kurzweg aus den Federn zu holen. Es stand ja zu befürchten, der Kerl könne durch einen raschen Selbstmord einer gewaltsamen Ergreifung zuvorkommen, oder doch mindestens durch eine verzweifelte Selbstwehr allerlei unnütze und gefährliche Hindernisse entgegensetzen.
Allerdings dürfte auch noch ein anderes Motiv den Korsen geleitet haben. Vielleicht wollte – die Effekthascherei ist ja ein hervorstechender Charakterzug des Südländers – Griscelli mit der ostensibeln Verhaftung des Attentäters in einem öffentlichen Lokal ein echt französisches Spektakelstück aufführen und gewissermaßen unter bengalischer Beleuchtung den Vorhang über das Melodrama herabfallen lassen.
Item – um die achte Morgenstunde saß der Korse mit seinen beiden Begleitern, den Agenten Hébert und Letourneur, in der Restauration Desmaret, der Dinge harrend, die da kommen sollten.
Selbstverständlich waren die drei en bourgeois gekleidet.
Etwa eine Viertelstunde mochten sie so da sitzen, als ein Gast das Lokal betrat, sich umsah und dann an den Garçon eine Frage richtete.
»Er kommt um neun Uhr,« lautete die Antwort.
Der Gast, seiner ganzen Art und Erscheinung nach ein Italiener, ließ sich eine Tasse Schokolade reichen und griff zu einer auf dem Tische liegenden Zeitung, die er aber nur als Schirm benützte, um das seitwärts sitzende Kleeblatt einer kritischen Musterung zu unterziehen. Offenbar gefielen ihm die Drei nicht ganz, ohne daß er doch gleich wußte, was er aus ihnen machen solle. Sein instinktives Mißtrauen war den drei routinierten Polizei-Agenten natürlich nicht entgangen, und nun galt es zunächst, den Argwohn des Italieners wieder einzulullen.
Um ihre Rolle als müßige Morgengäste möglichst korrekt zu spielen, hatten die Drei, schon vor Ankunft des Italieners, sich von dem Kellner Karten bringen lassen und schienen nun in ihre Partie Biribi vertieft, als sei dies ihr einziger Lebensberuf. Die Finte ward von den drei Agenten auch so meisterhaft durchgeführt, daß ihr Beobachter sich täuschen ließ. Er wandte sich seiner Zeitung zu, und, da er eine Stelle darin gefunden haben mochte, die ihn interessierte, ließ er sich desto williger ablenken. Diesen Moment benutzte Griscelli, um in kurzen, mitten in die Schlag- und Stichworte des Kartenspiels hineingemischten Randbemerkungen seinen beiden Gehilfen mitzuteilen, daß der Gast da drüben ebenfalls festzupacken sei. Wie der Korse seinen zwei Genossen des weitern zuraunte, hieß der Mann Morelli und war dessen Anwesenheit in Paris dem Polizeipräfekten schon tags zuvor signalisiert worden. Der Italiener war, wie vor ihm Kelch, von London herübergekommen, um, offenbar als Sendbote des mazzinischen Komitees, der – wie Griscelli sich ausdrückte – »Kaiserlichen Metzelsuppe« beizuwohnen, eventuell seinem Kollegen Kelch hilfreiche Hand zu leisten.
»Höchst bösartiger, jedenfalls wohlbewaffneter Geselle,« warf Griscelli hin, indem er eifrig die Karten zu einem neuen Spiel mischte. Ein flinker Wink mit dem Finger ergänzte den Rest: Im gegebenen Moment sollte sich Letourneur auf den Italiener werfen – Griscelli selber sich mit Hébert über den ungleich kräftigeren Kelch hermachen …
Der ersten Flasche Bordeaux war die zweite gefolgt, zur dritten und vierten Partie waren die Karten gemischt worden, und näher, immer näher rückte der Uhrzeiger der verhängnisvollen neunten Morgenstunde. Der Italiener ward ungeduldig, er warf einen Blick nach der Uhr, dann legte er das Zeitungsblatt hin und rückte auf seinem Stuhle unschlüssig hin und her. Offenbar überlegte er, ob er hier bleiben, oder seinen Komplizen sonst wo aufsuchen wolle. Die letztere Eventualität paßte aber ganz und gar nicht in Griscellis Plan. Hier an Ort und Stelle sollte die Hetzjagd zu ihrem Abschluß kommen, und um jeden Preis mußte also der Italiener zurückgehalten werden.
Über seine Karten gebeugt, sann Griscelli auf ein geeignetes Mittel. Äußerlich blieb er ruhig, und doch klopfte ihm das Herz vor Besorgnis, der Italiener könne gehen und dadurch einen Strich durch die ganze Rechnung machen. Gewaltsam aber durfte er den Burschen nicht zurückhalten, indem ja in diesem Falle ein Tumult und dadurch die Verscheuchung Kelchs zu gewärtigen war. Noch arbeitete das grübelnde Gehirn des Korsen in steigender Erregung, denn mechanisch hatte schon der Italiener seinen Rock zugeknöpft – – da, mit einem Mal und ohne es zu wissen oder wollen, schleuderte Hébert einen erleuchtenden Gedankenblitz in den Kopf Griscellis. Wie schon bemerkt, spielte das Polizeidrama im Monat Dezember, und gerade an diesem Morgen herrschte eine, wenigstens für französische Nasen und Ohren recht empfindliche Kälte. Nun saß Hébert so, daß er mit seinem Blick die Straße bestreichen konnte. Plötzlich deutet er laut lachend nach einem bestimmten Punkte hin. Unwillkürlich folgten Griscelli und Letourneur der Richtung des Fingers – auch der Italiener reckt neugierig den Hals. Drüben auf dem Trottoir kam ein etwa zwölfjähriger Junge hergetrottelt, den man auf den ersten Blick für irgend ein fabelhaftes Ungetüm halten konnte. Der Gamin stak nämlich in einem riesigen Schafspelz, der fast eine Elle lang auf dem Boden nachschleifte und seinen Träger zu einem formlosen Klumpen gestaltete. Offenbar sollte der Junge den Pelz seinem wirklichen Besitzer, einem Fuhrmann, Eisenbahnbediensteten oder dergl., überbringen; um sich nun selber gegen die Kälte zu schützen, war der Bengel in den faltigen Balg gekrochen. Das Bild des daher watschelnden, mit jedem Schritt über den Pelz stolpernden Jungen war wirklich so komisch, daß Griscelli und Letourneur, trotz des ernsten Momentes, unwillkürlich in das Lachen ihres Kollegen einstimmen mußten. Auch der Italiener verzog sein finsteres Gesicht zu einem flüchtigen Schmunzeln. Just in dieser Sekunde flog ein Gedanke durch den Kopf Griscellis. Schnell wie der Blitz zwinkerte er mit den Augen seinen beiden Kameraden zu, dann deutete er nach dem so grotesk ausstaffierten Jungen hinüber und sagte mit einer urkomischen Miene des Zweifels: »Ob das nicht am Ende der Pelz des Monsieur Prosper Merimée ist?!«
Allerdings war es für Hébert und Letourneur nicht klar, wie ihr Kamerad so mit einem Mal auf den bekannten, am Hofe des Kaisers so wohlgelittenen Schriftsteller Merimée kam, aber auch sie hatten bei dem Italiener die Zeichen seiner Ungeduld beobachtet und mit dem indianischen Scharfsinn des gewiegten Polizeimannes das Augenzwinkern Griscellis sofort dahin aufgefaßt, daß es gelte, den Sohn des schönen Italiens auf seinen Stuhl festzubannen.
»Der Pelz des Monsieur Merimée – was soll das sein?« wandte sich Hébert mit virtuos geheucheltem Staunen an Griscelli.
Der wollte sich vor Lachen fast ausschütten. »Urdrollige Geschichte! … Hi! hi! hi! … Noch nie dagewesen! … Hi! hi! hi!«
Und von neuem hielt er sich den Bauch mit beiden Händen, während er zugleich seinen beiden Kameraden mit den Füßen unter'm Tisch einen bedeutsamen Stoß gab.
»Na,« machte Letourneur im nicht minder naturgetreuen Ton des Ärgers, »so laß' uns doch nicht sterben vor lauter Neugierde! Heraus aus dem Sack mit Deiner wunderbaren Pelzgeschichte!«
»Noch nie dagewesen, hi! hi! hi!« gluckste Griscelli unter neuen Lachkrämpfen, »o, ich geh' aus!« Und wie ein Erstickender schnappte er nach Luft.
Der Italiener mußte einfach einem Gesetz der Menschennatur gehorchen, indem er mit unwillkürlicher Neugierde den simpelhaft lachenden Gast und dessen beide immer ärgerlicher werdende Freunde betrachtete. Auch der Kellner war mit gespitzten Ohren herangetreten.
Hébert gab dem immer noch Lachenden und Schnappenden einen Puff in die Seite. » Jarnidieu,« fluchte er erbost: »so komm' doch endlich einmal zu Dir und lass' Dein Roßgelächter!« Er wandte sich zu dem Italiener hin. »Haben Sie wohl, mein Herr, jemals in Ihrem Leben eine solch' tolle Heiterkeit gesehen?«
Durch die plötzliche Anrede überrascht, murmelte Morelli irgend eine Phrase, der schlaue Polizeimann aber hatte seinen Zweck erreicht: mit dieser Frage war der Italiener in den Kreis hineingezogen und sozusagen zum Mitgesellschafter erklärt worden. Seine ganze Haltung verriet, daß er nicht mehr ans Fortgehen dachte, sondern gewillt war, die noch nie dagewesene Geschichte vom Pelz des Monsieur Merimée mit anzuhören. Der Puff Héberts schien übrigens eine heilsame Wirkung erzielt zu haben, denn sein Tischnachbar war inzwischen von seinem Lachkrampf soweit kuriert, daß man endlich einen vernünftigen Aufschluß erwarten durfte.
Mit beiden Händen sich die tränenfeuchten Augen ausreibend, begann denn auch Griscelli: »Habt Ihr die gestrige Nummer des – –«
»Papperlapapp!« schnitt Letourneur kurz ab: »keine weitere Einleitung, die Dich am Ende nur von neuem in Dein verrücktes Lachen zurückwirft! Also vorwärts – –«
» In medias res,« wie unser seliger Magister zu sagen pflegte,« ergänzte Hébert, indem er die Gläser frisch füllte.
»Ihr kennt doch wohl, wenn nicht seinen Büchern, so doch seinem Namen nach, den Schriftsteller Prosper Merimée?« begann Griscelli, indem er, den Mund schon wieder zu einem Lachen verziehend, seine beiden Genossen fragend anblickte.
»Er ist wohl der Verfasser des gestiefelten Katers,« bemerkte Hébert.
»Nein,« berichtigte Letourneur salbungsvoll: » die Jungfrau von Orléans oder der Rückzug über die Beresina.«
»Na, einerlei,« kicherte Griscelli weiter: »Monsieur Merimée ist ein hochberühmter Romanschreiber und Gedichtemacher und als solcher hat er nicht nur in den Tuilerien einen Stein im Brett, sondern auch beim Sultan, beim Großmogul und den sonstigen Potentaten darf er ein Wort mit dreinreden.«
Seine Zeitung zum Schein vor sich hinhaltend, horchte der Italiener gespannt auf das burleske Hin und Her des Trios.
»Auch nach Rußland ist der Ruf des Monsieur Merimée gedrungen,« plauderte Griscelli weiter und drehte sich dabei eine Zigarette, »von seinen Schriften ward ein reicher Bojar dergestalt gerührt und ergriffen, daß er zum Dank sofort einen prachtvollen Zobelpelz einpackte und hierher an die Adresse des Poeten überschickte.«
»Aha!« bemerkte Hébert, »der Pelz, den soeben der Junge vorüberschleifte.«
Im Ton des Agenten lag eine solch' trockene Komik, daß der Italiener unbewußt halblaut auflachen mußte.
»Der Pelz,« erzählte Griscelli weiter, »langte vor etwa vier Wochen in Paris an und erregte, wie leicht zu begreifen, das Entzücken Merimées. Mit Ungeduld erwartete er den vollen Einbruch der Wintersaison; der Tag kam und seitdem wurde der glückliche Besitzer nicht müde, Tag für Tag seinen kostbaren Zobelpelz auf den Boulevards spazieren zu tragen und ihn von Groß und Klein bewundern zu lassen.«
Der Erzähler schlürfte einen Schluck Wein.
»Da, eines schönen Nachmittags«, fuhr er nach einer Pause fort, »als Prosper Merimée eben wieder von einer derartigen Pelzparade nach Hause kam, findet er unter den eingelaufenen Briefen auch ein zierliches, nach Ylang-ylang Ein, sozusagen, die sinnliche Glut der Tropenwelt ausatmendes äterisches Oel, das, von den Philippinischen Inseln herüber gebracht, gerade damals in den eleganten Pariser Damenkreisen Furore machte. duftendes Billet, dessen Aufschrift sofort die Damenhand verriet. Es war nicht das erste Mal, daß er mit ähnlichen Briefchen beglückt wurde, denn unsere schönen Pariserinnen haben ja von jeher eine Faible für alles, was eine Künstlermähne trägt und machen daraus auch kein besonderes Hehl. Parbleu, dafür lebt man ja in Paris, dem modernen Babel! Man huldigt in der Dachstube wie im Salon dem unbeschränkten Genußprinzip und verbannt jede falsche Scham« …
Neun helle Schläge der über dem Büffet angebrachten Wanduhr unterbrachen den Erzähler. Der Italiener zog seine Taschenuhr und warf einen vergleichenden Blick darauf. Wie der Kellner gesagt hatte und wie Griscelli infolge seiner täglichen Beobachtungen selber wußte, mußte jetzt Kelch bald erscheinen. Die dunkelglühenden Augen Morellis waren lauernd auf die Eingangstüre gerichtet … Um seine eigene nervöse Aufregung gewissermaßen zu übertäuben, erzählte der Korse in rascherm Tempo weiter: »Derartige parfümierte Billets, waren, wie ich soeben bemerkt habe, also für unsern Monsieur Merimée durchaus nichts neues, trotzdem aber hatten sie bei ihm keineswegs ihren Reiz verloren, denn erstens geht er als Franzose einem leckern Weiberbraten niemals aus dem Wege, und zweitens braucht er als Poet die Bewunderung des schönen Geschlechts, wie der Fisch das Wasser. So läßt er denn auch diesmal die andern Briefe liegen und greift zuerst nach der Ylang-ylang-Epistel. Mit Kennerblicken prüft er das Siegel … »Feinster Lack!« murmelte er. »Eine verschlungene Chiffre und darüber – Sapristi! eine Fürstenkrone! … Teufel! das wird interessant« … Sorgsam schneidet er das Kuvert auf und entfaltet den kleinen Briefbogen. Er liest:
»Mein Herr!
Eine glühende Verehrerin Ihrer Muse, bin ich eigens von Monaco nach Paris gekommen, um den unvergleichlichen Dichter persönlich kennen zu lernen, dessen Werke mir schon so viele erhebende Stunden bereitet haben. Ich bitte Sie, sich heute abend gegen neun Uhr in meiner Wohnung einzufinden und eine Tasse Tee bei mir zu nehmen, damit ich Ihnen mündlich meine Huldigung aussprechen kann.
Prinzessin Dimilowsky.«
» Diable, das gibt eine pikante Sauce!« lachte Hébert und rückte wie in gespanntester Neugierde näher. Auch der Italiener schien wieder erwartungsvoll aufzuhorchen. Die Uhr zeigte sieben Minuten nach neun.
Griscelli fuhr fort: »Selbstverständlich war dem Billet die genaue Bezeichnung von Straße und Hausnummer beigefügt – um es nebenbei kurz zu bemerken: die eleganteste Gegend von Paris … Unser Held plätscherte in einem Weltmeer von Entzücken herum. Eine Prinzessin, eine echte, keine bloße Theaterprinzessin, noch dazu expreß von Monaco hergekommen, wie weiland die Königin von Saba zum König Salomo – es war ein Märchen aus Tausend und Eine Nacht und wer will es unserm Poeten verargen, wenn er, in Erwartung des pikanten Bissens, jetzt schon die Zähne scharf machte!! Daß die fürstliche Tochter des Nordens jung und schön war, bezweifelte er keinen Augenblick, denn wie hätte sie sonst so zierlich schreiben können?
Wie ein Bleiklotz kroch für ihn der Uhrzeiger herum – endlich aber kam doch die Stunde herbei und geschniegelt und gebügelt, selbstverständlich in seinen historischen Zobelpelz eingeknöpft, fuhr er nach der Wohnung seiner Prinzessin. Im Vorzimmer trat ihm ein alter Kammerdiener in pompöser Livree entgegen. Als Merimée seinen Namen nannte, erhellten sich die würdevoll ernsten Züge des greisen Camarero zur unterwürfigsten Freundlichkeit. Er nahm dem Gaste den Pelz ab und half ihm beim Ordnen der Toilette.
»Melden Sie mich Ihrer Gebieterin,« sagte der Dichter.
»Das ist unnötig, gnädiger Herr,« erklärte der Alte, »Hoheit erwartet Sie.« » Ventrebleu!« lachte Letourneur, »jetzt beginnt das eigentliche Abenteuer.« Hébert sagte nichts, schnalzte aber mit der Zunge.
Den Kopf in die beide Hände gestützt, lauschte der Italiener der Erzählung, die ja allerdings mehr und mehr eine pikante Wendung zu nehmen schien.
Griscelli ließ einen flüchtigen Blick nach der Wanduhr hinüberschweifen: im Moment mußte sie ein Viertel nach Neun schlagen. Die Tage zuvor war Kelch um diese Zeit schon dagewesen. Hatte er sich heute verspätet, oder gar am Ende, Gott weiß wie, Lunte gerochen? Griscelli fühlte, wie trotz aller Selbstbeherrschung seine innere Unruhe wuchs! Allerdings war, während er hier in der Restauration saß, Kelch von andern zuverlässigen Agenten überwacht – immerhin aber nagte an Griscelli die unerquickliche Frage: Warum ist der Mann noch nicht hier? …
Und dennoch durfte er, um den Italiener nicht vorzeitig zu alarmieren, nicht aus seiner Rolle fallen. So erzählte er denn mit lachender Miene weiter:
» Ma foi, der Tee scheint dem Dichter geschmeckt zu haben, denn erst lange nach Mitternacht verließ er den nordischen Engel. Ins Vorzimmer heraustretend, fand er statt des alten Kammerdieners einen andern Lakaien.
»Wollen Sie mir meinen Pelz geben,« sagte Merimée.
»Ich bitte tausendmal um Vergebung, gnädiger Herr,« lautete die verlegene Antwort: »Monsieur Iwan, der Kammerdiener, ist, im Glauben Ihr Besuch daure länger, ausgegangen.«
»Nun,« bemerkte der Gast, »das Unglück ist nicht so groß! So geben Sie mir meinen Pelz.«
Noch verlegener wie zuvor deutete der Lakai nach einem Wandschrank.
»Monsieur Iwan hat aus Vorsicht den kostbaren Pelz eingeschlossen und den Schlüssel mitgenommen.«
»Fatal!« brummte der Dichter. Was sollte er tun? Bei der Prinzessin, von der er sich feierlichst verabschiedet hatte, wollte er nicht wieder eintreten und ohne seinen Pelz wollte er nicht gehen. So bequemte er sich in Teufels Namen zum einstweiligen Abwarten und spazierte mißmutig im Korridor auf und ab.
»Ob dieser Herr Iwan wohl noch lange ausbleiben wird?« wandte er sich nach einer Weile an den umherlungernden Lakaien.
»Monsieur Iwan wird kommen, gnädiger Herr,« versicherte der Mann mit einer respektvollen Verbeugung.
Wiederum begann die Promenade im Korridor, und wiederum winkte der verstimmte Poet den Burschen herbei. »Zum Henker, wird denn Euer Monsieur Iwan die ganze Nacht ausbleiben?«
»O, nein, gnädiger Herr!« lächelte der Galonnierte trostsam, »in längstens einem Stündchen wird wohl Monsieur Iwan hier sein.«
»Ein Stündchen?« polterte der ergrimmte Musenjünger, »zum Kuckuck! Wie soll ich mir denn dieses Stündchen vertreiben hier in diesem langweiligen Korridor, wo es an den Wänden nicht einmal eine Fliege zu zählen gibt!«
Der dienstbare Geist zuckte höflichst die Achseln. »Wenn sich der gnädige Herr entschließen könnten, ohne Pelz nach Hause zu fahren – – ich würde denselben morgen in aller Frühe in Ihre Wohnung bringen.«
Griscelli schnellte einen beobachtenden Blick nach dem Italiener hinüber, der sich soeben eine Zigarette anbrannte. Breitspurig, wie ein arabischer Märchenerzähler in einem Kaffeehaus zu Konstantinopel, führ der Korse in seiner Geschichte weiter: »Merimée überlegte sich den Vorschlag des Lakaien. Den Staatspelz, der unter Brüdern mindestens seine zweitausend Rubel wert war, in den Händen wildfremder Diener belassen, das war so eine Sache. Andererseits aber waren es die Diener einer Prinzessin, und die ängstliche Sorge, womit Monsieur Iwan den kostbaren Pelz hinter Schloß und Riegel gebracht hatte, bürgte am besten für die Sicherheit des anvertrauten Kleinods. Und dann die fernere Erwägung: wann kommt Monsieur Iwan heim? Können aus dem einen Stündchen nicht zwei Stündchen werden?
Der Dichter war müde und schläfrig, ein längeres Umhertreiben in dem Korridor und in Gesellschaft eines Lakaien erschien ihm unwürdig, auch begann ihn zu frieren. Kurz, das Ende seiner Reflexionen war, daß er ohne Pelz ärgerlich das Hotel verließ, nachdem er nochmals dem katzbuckelnden Diener das heilige Versprechen abgenommen hatte, daß er den Pelz in aller Frühe bringen würde. Morgens beim Augenaufmachen ist des Dichters erste Frage nach seinem Zobel. Es wird Mittag – immer noch will der Pelz nicht kommen. Die Lakaien aller fünf Erdteile und insonderheit den Monsieur Iwan in die tiefste Hölle verwünschend, schlüpft der Sohn Apollos in einen ungleich schmucklosern Winterpaletot, springt in eine Droschke und ruft dem Kutscher zu: »Hotel so und so.«
Am Torpfeiler lehnt der Portier. »Sie wünschen, mein Herr?« redet er höflich den auf ihn losstürmenden Fremdling an.
»Ich will zur Prinzessin,« erklärt der aufgeregte Dichtersmann.
Des Hauses redlicher Hüter zieht die Augenbrauen in die Höhe. »Zu welcher Prinzessin, mein Herr?«
» Sapristi, zu Ihrer Hoheit der Prinzessin Dimilowsky!«
»Hier wohnt keine Prinzessin Dimilowsky, mein Herr.«
»Nicht? Zum Teufel, sie wohnte doch gestern hier.«
»Wie soll sie denn aussehen?« inquirierte der Portier.
»Na,« sprudelte der Poet in wachsendem Eifer, »groß, schlank, majestätisch, goldblond, circa vierundzwanzig Jahre alt.«
»Oooh!« dehnte der Portier hervor, »Sie meinen wohl die Dame, die gestern früh einen Salon und ein Kabinet in der Bel-Etage bezogen hat und zwar in Begleitung eines ernsten ältlichen Herrn?«
Ohne eine Antwort zu geben, starrte der Dichter den Portier an.
»Ja, lieber Herr,« erklärte ruhig der Mann, »die beiden haben heute morgen schon um sieben Uhr das Hotel verlassen. Das Logis war nur auf einen Tag gemietet.«
Der Poet hatte das Gefühl, als schlage ihm ein Schmiedehammer Eines vor den Kopf. Nach Luft schnappend, stieß er die Frage hervor: »Unter welchem Namen haben sich denn die beiden in das Fremdenbuch eingeschrieben?«
»Als das Ehepaar Dubois,« lautete die zermalmende Antwort.
»Du–bo–is!!!« lallte der in die nüchternste Prosa zurückgeschleuderte Liebling der Camönen, »Du–bo–is!!!«
Mit einem Tigersprung stürzte er sich in die Droschke. »Galopp, zum nächsten Polizeibureau!« brüllte er dem Kutscher zu. Er hätte ebensowohl im Schneckentempo fahren können, und immer noch wäre er frühe genug nach dem Polizeibureau gekommen, um hier die niederschmetternde Bestätigung zu erhalten, daß er und sein Zweitausend-Rubel-Pelz einer schlauen Betrügerin und deren Helfershelfern nur allzu willig ins Garn gegangen waren! Seinen Zobel sucht er heute noch – von Ylang-ylang-Briefchen und Teevisiten bei russischen Prinzessinnen will er aber nichts mehr wissen …«
Damit schloß Griscelli. Auch bei dem finstern Italiener hatte die Komik nicht vergebens angepocht, und mit dem Kellner teilte er die Heiterkeit seiner Tischnachbarn.
Mitten in das Lachen der Gesellschaft hinein schnarrte die Wanduhr zehn gemessene Schläge. Eine volle Stunde über die gewohnte Zeit, und – immer noch wollte Kelch nicht erscheinen! …
Was machen? Griscelli fragte es sich in fieberhafter Erregung. Bleiben oder gehen? Und als wolle der Teufel so recht sein Spiel treiben – – im selben Moment langte der Italiener seinen Hut vom Nagel herunter und fuhr langsam, offenbar einen Gedanken erwägend, mit seinem Rockärmel glättend über den Deckel hin. Kein Zweifel: mit Abschluß der Pelz-Geschichte war ihm seine wichtigere Aufgabe wieder in den Sinn gekommen, und, da sich Kelch immer noch nicht zeigen wollte, so gedachte Morelli, seinen Komplizen anderswo aufzusuchen. Und gerade das, wie schon bemerkt, konnte Griscellis ganzen Plan umstoßen. Auch seine beiden Kameraden hatten die unzeitige Zurüstung des Italieners natürlich beobachtet und ebenso richtig im Blicke ihres Vorgesetzten die Unruhe gelesen, die ihn verzehrte. Auf alle Fälle mußte der letzte Versuch gemacht werden, den Italiener nochmals zum Dableiben zu bewegen. Vielleicht kam unterdessen doch noch der von zwei Seiten so sehnsüchtig erwartete Gast, oder aber der Polizeipräfekt schickte weitere Ordre …
Mit einem hellen Lachen begann Hébert: » Pardieu! er dauert mich, der arme Merimée – immerhin aber darf er den Schelmenstreich der Madame Dimilowsky-Dubois als eine gerechte Sühne betrachten für eine Missetat, die er mit satanischem Bedacht verübt hat und die ihm höchst wahrscheinlich sauer aufgestoßen wäre, wenn nicht eine sehr hochstehende Person dem Malefikanten Amnestie erwirkt hätte.«
Der Italiener hielt in seinem Glättungswerke ein und blickte unschlüssig zu dem Trio herüber. Jedenfalls war es eine nicht minder amüsante Schnurre, die soeben aufs Tapet gebracht werden sollte. Konnte er sie füglich nicht auch noch mit auf den Weg nehmen? Er blieb sitzen.
»Los mit Deiner Geschichte, wenn sie auch nicht wahr ist!« lachte Griscelli.
»Hoho!« polterte Hébert im Ton sittlicher Entrüstung, »in meiner Familie wird nie gelogen.«
»Das kann ich bezeugen!« bestätigte Letourneur salbungsvoll, »sein seliger Vater war so wahrheitsliebend, daß er an einer Zeitungslüge, die er unbedachtsam verschluckte, erstickt ist.«
Mit komischem Trotz seinem Beleidiger den Rücken zuwendend, begann Hebert: »Ein hoher Würdenträger unserer Staatsregierung hatte einen Maskenball veranstaltet und Merimée, als gefeierter Dichter und spezieller Günstling des Kaisers, war auch dazu eingeladen worden. Das Fest war im schönsten Gange, die Säle wimmelten von den glänzendsten und originellsten Masken und immer noch gesellten sich neue fort und fort dazu – natürlich lauter Herren und Damen vom Hof und aus den distinguiertesten Gesellschaftskreisen. Auch die kaiserlichen Majestäten erschienen als Zuschauer. Mit einem Mal geht ein heiteres Gelächter durch den bunten Ring: gravitätisch und feierlich mitten in dem Maskenkreis war eine lange Gestalt aufgetaucht, deren schlichte Vermummung in einem gelben Domino bestand, der aber hinten und vorn, über und über mit dem leckersten Bonbons und Konfiserien behängt war. Das weitere läßt sich denken! Im Handumdrehen war der unglückliche Domino leer geplündert, und in toller Flucht, von einem Rudel schmausender Dämchen verfolgt, verschwand er wieder aus dem Saal. Sehr bald aber sollten die Räuber und Räuberinnen des Bonbonsschmuckes die minder lustige Rückseite der Medaille kennen lernen, denn – mit Respekt zu melden – der perfide Domino hatte seinem süßen Köder einen eigentümlichen Beisatz gegeben, über dessen ebenso rapide als energische Wirkung des Sängers Höflichkeit schweigt. Zunächst sah man hier und da eine Maske in eilfertiger Hast der Türe entgegen steuern und auf längere Zeit verschwinden – dann entwichen die Deserteure gruppenweise – zuletzt gabs eine förmliche Völkerwanderung und Merimée, der tückische Urheber dieses dramatischen Intermezzos, beobachtete von sicherm Versteck aus die Folgen seines diabolischen Werkes. Der Kaiser und die Kaiserin, höchlichst erstaunt über dieses Ausreißen en masse« – – –
Mit einem Mal verstummte Hébert.
Die Türe hatte sich geöffnet, und auf der Schwelle zeigte sich ein neuer Gast. Die Türklinke noch in der Hand haltend, blieb er stehen und ließ einen forschenden Blick durch das Wirtszimmer schweifen, in dem sich, außer den drei Agenten und dem Italiener, noch andere Gäste eingefunden hatten. Ein Mann von etwa vierzig Jahren mochte er sein, und war volle sechs Fuß hoch. Ein schwarzes Sammetjackett, das er trotz der empfindlichen Kälte offen trug, eine hellgraue, knapp anliegende Hose und blankgewichste Kappenstiefel bildeten die wirksamste Folie für den herkulischen und doch so wohl proportionierten Gliederbau dieses Mannes. Seine Gesichtsbildung war keine französische, vielmehr eine germanische. Ein rotblonder, mächtig langer Schnurrbart überschattete den energisch geschnittenen Mund, und unter dem breiten Rand des Filzhutes blitzten ein Paar blaue Augen hervor, die den verwegensten Mut kündeten. In der Hand, die kokett mit einem perlgrauen Glacé bekleidet war, trug er ein Bambusrohr, das, wie der kundige Blick der drei Polizei-Agenten sofort erriet, jedenfalls einen Stockdegen barg.
Es war Kelch …
Die plötzliche Erscheinung dieses Riesen in seiner Fülle von Kraft und Schönheit hatte etwas so Imponierendes, daß die drei Sendboten des Gesetzes für den ersten Moment ganz ihre ernste Mission vergaßen und in rein menschlicher Bewunderung die Hünengestalt musterten, mit der sie sich im nächsten Moment auf Tod und Leben messen sollten.
Wahrlich, wie später Griscelli humoristisch bemerkte, ein Kaiser konnte sich keinen prächtigern Attentäter wünschen …
Mit dem ersten Schritt, den Kelch vorwärts tat, war natürlich auch der Bann gefallen, der die drei Agenten sekundenlang bestrickt hatte. Jetzt war dieser martialische Goliath nichts weiter als eine dienstliche Ordre, die um jeden Preis erledigt werden mußte. Jede Muskel und Sehne spannte sich bei dem Trio straff: die Katastrophe war da!!! – – –
Die Agenten hatten sich gleich von vornherein so gesetzt, daß sie mit ihrem Blick bequem die Türe bestreichen konnten, während ein Pfeiler sie dem Eintretenden halb entzog. Mit seinem scharfen Auge hatte Kelch sofort den Italiener bemerkt, dem Spießgesellen kurz zunickend, wandte er sich nach dem Büffet hin, offenbar, um bei dem Garcon etwas zu bestellen. Der Italiener seinerseits erhob sich von seinem Stuhl, um dem so ungeduldig erwarteten Kumpan entgegen zu gehen. Ein blitzschneller Blick Griscellis war das stille Signal – mit einem gleichen Blick antworteten seine beiden Kampfgenossen. Schon im selben Moment stürzten sich, ihrer Rollenverteilung gemäß, die drei Agenten auf ihre ahnungslose Beute.
Ein furchtbares Bild.
Letourneur, vormals Wachtmeister bei den Centgardes, dieser aus lauter Riesen formierten Leibschwadron des Kaisers, quetscht den Italiener wie eine Zitrone zusammen – Griscelli und Hébert ihrerseits halten Kelch mit eisernen Griffen umklammert. Einen Moment lang steht die mächtige Gestalt wie gelähmt, dann aber rühren sich die athletischen Arme und rütteln mit einem kurzen Ruck die beiden Gegner los. Im nächsten Augenblick schon stürmt, des Lokales kundig – selbstverständlich zum nicht geringen Schrecken der anwesenden Gäste – Kelch durch den Saal und die angrenzenden Zimmer, hinterdrein Griscelli, Hébert und die weitern zwei Geheimagenten, die bisher die Wohnung des Attentäters überwacht und ihn auch von dort zur Restauration begleitet hatten. Es scheint wunderbar, daß ein Mann von solch kolossaler Kraft und wilder Verwegenheit, wie Kelch sie besaß, Hals über Kopf das Hasenpanier ergriff, statt sich, wohlbewaffnet, wie er es jedenfalls ja war, grimmig seiner Haut zu wehren. Man darf aber dabei zweierlei nicht außer Acht lassen: zunächst der moralische Effekt, den das Erscheinen der Polizei selbst auf den kühnsten Verbrecher ausübt und dann der blitzartige Zugriff der Agenten. Auch muß man bedenken, daß Kelch bisher des festen Glaubens gewesen war, die Polizei habe überhaupt gar keine Kenntnis von seiner Anwesenheit in Paris. Desto verblüffender war also die jähe Enttäuschung und desto erklärlicher wird der erste Impuls, in der Flucht die Rettung zu suchen …
Stühle, Tische und Gäste umwerfend, war der Flüchtling im letzten Zimmer angelangt; durch das Getümmel der angstvoll hin und her rennenden Gäste hatten die verfolgenden Agenten einige Minuten verloren, die der Häftling dazu benutzte, ein Fenster aufzureißen und mit einem wilden Satz in den Hof hinabzuspringen. War dessen Tor offen, so winkte, wenigstens für den Augenblick, dem Flüchtling die Rettung. Doch sein Schicksal war besiegelt!
Kaum fünf Minuten zuvor hatte, wie sich später herausstellte, der Hausknecht ahnungslos das bis dahin weitoffene Hoftor geschlossen, und jetzt saß Kelch in der Falle wie ein gefangener Wolf. Wie weiland Simson an den Marmorsäulen, so rüttelte und schüttelte der Verfolgte mit seiner ganzen Riesenkraft an den Torflügeln, die seiner Anstrengung spotteten.
Er blickte nach dem Fenster hin – – soeben schwang sich einer seiner erbarmungslosen Jäger auf die Brüstung, um gleichfalls in den Hof hinabzuspringen. Es war Griscelli. Hinter dem Korsen zeigen sich die Köpfe der übrigen Polizisten. Alles ist verloren, aber gerade in diesem Bewußtsein findet Kelch sich wieder. Ein Pistol aus der Tasche reißend, schlägt er mit eisenfester Hand auf Griscelli an; doch auch der hatte schon seinen Revolver schußfertig und gleichzeitig, wie auf Kommando, geben beide Feuer. Es ist bereits gesagt worden, daß Kelch eine ungemeine Übung in der Handhabung der verschiedensten Waffen besaß, und auch hier sollte es sich zeigen, wieviel wohl das Leben Louis Napoleons wert gewesen wäre, wenn ihn ein solcher Schütze in voller Ruhe aufs Korn genommen hätte! Trotz all seiner Aufregung hatte Kelch so präzis gezielt, daß seine Kugel dicht an Griscellis Ohr vorüberzischte und sich in den Fensterrahmen eingrub. Pulverdampf umschleiert das grausige Bild: mitten im wogenden Rauch sinkt die Hünengestalt des revolutionären Bravos zu Boden wie eine blitzgeknickte Eiche!!
Das tötliche Blei aus des Korsen sicherm Rohr hatte sich mitten in den Schädel eingebohrt und mit einem Schlag den Lebensfaden des Banditen durchschnitten.
Eine halbe Stunde später lieferte Griscelli den Italiener und die blutige Leiche Kelchs an den Polizeipräfekten Pietri ab. Pietri fuhr seinerseits nach den Tuilerien, um dem Kaiser Meldung zu erstatten. An maßgebender Stelle würde es als opportun erachtet, über den ganzen Vorfall einen Schleier zu werfen, und so erhielten noch am selben Tage die Redakteure sämtlicher Pariser Blätter von der Polizeipräfektur aus ein Communiqué, worin Kelch und Morelli ganz munter als Falschmünzer figurierten! Mit gewohntem Gehorsam druckten die so wohlgedrillten Blätter die polizeiliche Notiz ab, und abends hatte der ehrsame Philister an seinem Stammtisch ein Langes und Breites zu plaudern über den gottlosen Falschmünzer, der aus Messing hatte Napoleond'ors fabrizieren wollen, dem aber die hochwohllöbliche Polizei so prompt auf die Bude gestiegen war.
Auch der Restaurateur Desmaret, in dessen Lokal sich der blutige Schlußakt abgespielt hatte, erhielt den vertraulichen Wink, über den ganzen Auftritt keine weitern Worte zu verlieren und der wackere Mann verstand sofort die zarte Andeutung, in deren Falten sich ja das drohende Schreckgespenst polizeilicher Chikanen aller Art und schließlicher Konzessionsentziehung barg. Allerdings konnte Pietri mit all' seinen Beschwichtigungsmitteln nicht verhindern, daß von London der wahre Sachverhalt herüberdrang, dennoch hütete sich die Presse, durch bittere Erfahrung gewitzigt, den »Falschmünzer« Kelch nochmals aufs Tapet zu bringen. Andere Ereignisse der bewegten Zeit schoben sich in den Vordergrund, und so kam es, daß nicht einmal zu Paris, viel weniger draußen in der Provinz, das große Publikum einen vollen und klaren Einblick in die »Affäre Kelch« erhielt.
Um den Leser auch über das fernere Schicksal Morellis zu unterrichten, sei bemerkt, daß man den Italiener zunächst nach dem Zellengefängnis Mazas brachte. Hier ward er weidlich ins Gebet genommen, und nichts blieb unversucht, dem verstockten Sünder die Zunge zu lösen. In zähem Trotz aber setzte er seinen Richtern und Wärtern finsteres Schweigen entgegen, er ließ sich absolut nicht mürbe machen und vereitelte demzufolge die Erwartung, durch seine Geständnisse einen tieferen Einblick in das Mazzinistische Verschwörungsgewebe gewinnen zu können. Um den gefährlichen Burschen wenigstens unschädlich zu machen, schaffte man ihn mit dem nächsten Transport nach der Strafkolonie Cayenne. Kaum war er hier angelangt und der Disziplinar-Kompagnie A zugeteilt worden, als er am hellen Tag einen Fluchtversuch unternahm. Die Aufseher und Schildwachen bemerkten es noch rechtzeitig und verfolgten den Ausreißer. Morelli war aber ein ganz ungemein flinker Läufer und der Drang nach Freiheit beflügelte seine Füße nur noch mehr. In wenigen Minuten hatte er schon einen bedeutenden Vorsprung gewonnen, keine der ihm nachgeschickten Flinten- und Pistolenkugeln traf, und unbehelligt erreichte er das Ufer des die Station begrenzenden Maroni. Einen Moment schöpfte der Flüchtling Atem und sah sich nach seinen Verfolgern um, dann stürzte er sich mit einem wilden Sprung in die trüben Wellen des hier sehr tiefen und breiten Stromes. Die Möglichkeit einer Flucht nach dieser Richtung hin war von dem Gouvernement der Strafkolonie schon längst ins Auge gefaßt worden, und demgemäß lagen an verschiedenen Uferstellen unter der Obhut von Schildwachen Kähne bereit, um dem den Wasserweg wählenden Deserteur den Paß abschneiden zu können. Während also die Schar von Wächtern und Soldaten dem flüchtigen Italiener nachlief, zweigten sich drei oder vier ab, um den nächstliegenden Kahn zu erreichen. Als die übrigen keuchend den Uferrand betraten, sahen sie den Schwimmer schon ziemlich weit im Wasser treiben und mit nervigen Armen die Flut zerteilen. Im Nu senkten sich ein paar Musketenläufe, um auf den Flüchtling Feuer zu geben – – da machte mit einem Mal einer der Wächter, ein im Kolonialdienste ergrauter Schnauzbart, ein Halt gebietendes Zeichen: mit seinem Finger deutete er nach einer Stelle im Strome. In einer breitgespaltenen, zu Schaum gepeitschten Wellenfurche kam quer über den Wasserspiegel hin eine dunkle Masse herangeschossen, die sich offenbar den Schwimmer zum Ziel erkoren hatte.
Regungslos, von einem unwillkürlichen Schauer gepackt, verfolgten am Ufer die Männer die unheimliche Jagd. Aber auch der Flüchtling hatte bereits den nahenden Feind bemerkt: einen Moment lang trieb er, wie an allen Gliedern gelähmt, mit der Strömung dahin – im nächsten Augenblick griff er mit Armen und Beinen aus, als wolle er mit einem einzigen Stoß den Raum durchfliegen, der ihn von dem rettenden Ufer trennte. Und näher, immer näher rauschte, von seinem Blutdurst beflügelt, das Ungeheuer der feuchten Tiefe heran! Im Sonnenlicht sah man aus dem weitgesperrten Rachen die weißen furchtbaren Zähne hervorblinken. Zwei oder drei Ellen von seiner Beute entfernt, sank das Ungetüm mit einem Mal in den Strudel hinab wie ein Bleiklotz … Der alte Stationswächter, der in seinem langjährigen Dienste dieses gräßliche Schauspiel schon mehr als einmal angesehen und bisher in kalter Ruhe den wilden Schwimmkampf zwischen Mensch und Tier beobachtet hatte, machte jetzt bei dem jähen Versinken des Ungetüms eine unwillkürliche Handbewegung nach seinem Gürtel hin, in welchem der Revolver stak. Sein von der südamerikanischen Glutsonne zu einem dunkeln Mahagonibraun gegerbtes Gesicht spiegelte den Ausdruck momentanen Mitleides.
» Eh, la canaille!« stieß er zwischen den fest zusammengepreßten Zähnen hervor und machte mechanisch einen Schritt vorwärts.
Und horch! Vom Strome her gellt ein Todesschrei, Mark und Bein durchdringend – mit einem krampfigen Ruck schnellt der Schwimmer bis zum halben Leibe aus dem Wasser empor – – dann reißt es ihn mit unsichtbarer Gewalt in die gespenstische Tiefe hinab. Ein Blutfleck rötet den wirbelnden Strudel, dann glätten sich wieder die Wellenringe, und über Wasser und Land brütet wieder die Geisterruhe der Tropennatur.
Im Magen eines Krokodils hatte der Italiener sein Grab gefunden.
Wie schon bemerkt, hatte Griscelli die Leiche Kelchs sofort an den Polizeipräfekten abgeliefert und letzterer hatte sich ebenso ungesäumt nach den Tuilerien begeben, um dem Kaiser Rapport zu erstatten. Noch im Laufe des Nachmittags ward der Korse zu dem Präfekten beschieden, der ihm eröffnete, er habe sich abends präzis um zehn Uhr im Schlosse einzufinden, da der Kaiser sich gedrängt fühle, dem pflichtgetreuen Sicherheitsbeamten seine persönliche Anerkennung auszusprechen. Mit einigen näheren Instruktionen über die Toilette zu dieser Privataudienz entließ der Präfekt den Agenten, der sich nach dem Palais-Royal wandte, um nach all' der wochenlangen Aufregung und Hetzerei wieder einmal in ungestörter Behaglichkeit zu dinieren. Abends mit dem Glockenschlage zehn meldete sich, seiner Anweisung gemäß, Griscelli in einfacher schwarzer Kleidung bei Monsieur Broc, dem damaligen ersten Kammerdiener des Kaisers. Auf der Geheimtreppe, die von dem Pavillon de l'Horloge bis zu den auf der Südseite des Schlosses belesenen kaiserlichen Gemächern hinüberführte, geleitete der Kammerdiener den nächtlichen Gast nach dem Empfangskabinett, das der Monarch für derartige Besuche und Audienzen bestimmt hatte.
Pünktlichkeit gehörte zu den Haupttugenden des Imperators und auch diesmal war er bereits an Ort und Stelle. Mit katzenleisem Schritt hatte sich der diskrete Kammerdiener nach der Anmeldung zurückgezogen. Um die Begegnung mit dem Geheimagenten als eine rein private zu charakterisieren, trug Louis Napoleon die bequeme Hauskleidung, die er in nichtoffiziellen Momenten so gern mit der steifen Uniform und dem pedantischen Staatsfrack vertauschte. Mit dem gewinnenden Lächeln, das so unverkennbar von der persönlichen Gemütlichkeit des blutigen Dezembermannes zeugte, ging er dem schlichten Polizeiagenten entgegen und schüttelte ihm kordial die Hand. »Setzen Sie sich, mein Lieber,« sagte er, nach einem Fauteuil hindeutend. Der Korse zögerte, der huldvollen Aufforderung nachzukommen.
»Nur nicht blöde!« scherzte der Kaiser, »Sie haben für Mich lange genug Posten gestanden, um jetzt auch von Mir einen Sitz beanspruchen zu dürfen.« Seine Hand auf die Schulter des Agenten legend, drückte er ihn in den Sessel nieder, dann wandte auch er sich seinem Platze wieder zu.
» Bien, lieber Griscelli,« begann er nach kurzem Schweigen, »jetzt erzählen Sie mir nochmals ganz ausführlich den Hergang Ihres Frühbesuches in der Restauration Desmaret.«
Der Agent berichtete. Schweigend seine Zigarette rauchend, folgte Louis Napoleon dem für ihn doppelt und dreifach interessanten Rapport. Von Zeit zu Zeit drehte er sinnend die Spitzen seines Schnurrbartes. Mitten in dem Bericht Griscellis erhob sich der Kaiser von seinem Sessel und schritt langsam, mit einer gewissen Schwerfälligkeit, die schon damals seine Bewegungen charakterisierte, in dem Kabinet auf und nieder.
In seinem Gesichte lag der Ausdruck tiefen Ernstes und schon seit einer Weile hatte der Agent seinen Rapport beendigt, ohne daß sein hoher Zuhörer es zu beachten schien. Mit einem Mal aber kehrte sich Louis Napoleon seinem nächtlichen Gaste zu, und ein spöttisches Lächeln zuckte über seine starren Züge hin. »Die Tollköpfe zu London – glauben sie wohl mit einer Revolverkugel oder einem Messerstich ihr Programm durchsetzen zu können? Sie mögen Gott dafür danken, daß es diesem Taugenichts von Kelch nicht geglückt ist, meinen Kopf zu durchlöchern, der für das Wohl Italiens denkt und wacht, während tausend andere schlafen.«
Sein Blick richtete sich nach der Stutzuhr, die auf dem marmornen Kaminsims ihr leises Tiktak hören ließ. »Die Leiche wird heute nacht noch beerdigt?« wandte er sich an den Agenten.
Griscelli machte eine bejahende Verbeugung; »Heute nacht um ein Uhr auf dem Leichenacker für die Hingerichteten.«
»Der Mann hat es so gewollt,« sprach der Kaiser vor sich hin, »mit seinem Mut und seiner Kraft hätte er für einen besseren Zweck auf dem Feld der Ehre fallen können!« Er ergriff mit Wärme die Hand des Agenten. »Nochmals meinen Dank, lieber Griscelli! Das weitere wird folgen.« Er las in dem Auge des Korsen offenbar einen stillen Gedankengang, denn er sagte: »Sie haben wohl noch etwas auf dem Herzen?«
»Sire,« antwortete der Sicherheitsbeamte zögernd, »eine Kugel oder ein Dolchstoß kann unter Umständen rascher sein, als die Hand des wachsamsten Agenten! Wenn ich mir in aller Ehrfurcht eine Bemerkung gestatten dürfte, so möchte ich Eure Majestät ergebenst – –«
»Aha!« lächelte der Kaiser, »ich weiß schon was Sie meinen … Sehen Sie her!« Er schob vorn auf der Brust sein Hemd leicht auseinander: im Lichtschein glitzerten die Drahtmaschen eines geschmeidigen Panzergewebes. »Ich für meine Person,« sagte er leichthin, »verschmähe alle derartigen Schutzmittel, denn ich habe mein Leben in Gottes Hand gestellt, ich bin nur als gehorsamer Ehemann den flehentlichen Bitten der Kaiserin nachgekommen … Jetzt gute Nacht, mein lieber Griscelli!« Mit einer graziösen Handbewegung deutete der Monarch den Abschluß der Audienz an, und in militärischer Haltung trat der Agent ab, um von dem draußen postierten Kammerdiener in gleich diskreter Weise zurückgeleitet zu werden …
Gleich am nächsten Morgen empfing Griscelli durch das kaiserliche Geheimsekretariat eine Gratifikation von zwanzigtausend Francs, in lauter funkelnagelneuen Tausendfrancs-Billets der Staatsbank. Aus der Handkasse des Polizeipräfekten kamen noch weitere zweitausend Francs dazu. Die Kaiserin Eugenie ihrerseits übernahm bei dem Töchterchen des Agenten die Erziehungskosten bis zum achtzehnten Lebensjahr des Kindes. Der Glückstag schloß mit diesen Bescherungen noch nicht ab: durch den Generaladjutanten Graf von Montebello erhielt Griscelli ein Brevet zugestellt, das ihn auch für fernerhin mit der persönlichen Schirmvogtei des Kaisers betraute; bei den Reisen des Monarchen innerhalb Frankreichs sollten die betreffenden Polizei- und Gendarmerie-Mannschaften seiner jeweiligen Autorität unterstellt und die Präfekten der in die kaiserliche Reiseroute fallenden Departements darnach instruiert werden. – –
Also geschah es, daß ein gut gezielter Revolverschuß den einstigen halbnackten korsischen Ziegenhirten zum nächsten Begleiter eines Kaisers erhob!
In den Tuilerien, in den kaiserlichen Sommer-Residenzen, auf den Reisen nach Biarritz, nach Marseille, Bordeaux, Lyon, Havre, Lille etc. etc. schlug Griscelli, der Rustan des Neffen, sein Feldbett neben dem Schlafgemach des Imperators auf. Unter dem Schutze des blanken korsischen Stilets träumte der gekrönte Dezembermann von zukünftigen Siegen: das dunkle Wölkchen aber, das manchmal schwül über die so rosenfarbigen Phantasmagorien seiner Seele hinwegzog, war vielleicht schon der gespenstische Nachtschatten des blutigen Gerichtstages von – Sedan! …
( Schluß des fünften Bandes.)
Herrose & Zientsen, G. m. d. H. Wittenberg.