Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die unglückliche Patriotin, deren Anzeige in der Sitzung des Pariser Zentral-Komitee's den schändlichen Mord ihres Verlobten an einem der Mitschuldigen gerächt hatte, und die mit aufrichtigem Bedauern ihrer von dem Oheim der so schmählich einer bloßen Verdächtigung und persönlichem Haß Geopferten ihr edelmütig vorgeschriebenen Ehrenpflicht durch die Aushändigung jenes Dokuments an die Äbtissin gefolgt war, hatte dies erst nach wiederholtem Kampf mit sich selbst getan, da die Familie des Grafen durch die freundliche Aufnahme, die sie in ihr während des ganzen Winters gefunden, ihr um so lieber geworden war. Obschon sie in dem fanatischen Charakter der Gräfin wenig mildere Sympathien für ihren Herzenskummer und nur Anstachelung ihrer politischen Begeisterung gefunden hatte, der selbst ihren Entschluß, wieder nach Warschau zu gehen, bestärkte, hatte die weibliche Teilnahme ihrer jüngeren Verwandten ihr zu wohl getan, um sich dieser so bald zu entreißen, und die Herzen der beiden Mädchen hatten sich innig aneinander geschlossen. So war in der Tat der größere Teil des Winters 1861 auf 1862 vergangen, welcher der persönlichen Begegnung mit ihren Verwandten folgte, ehe sie den zuletzt direkten Mahnungen von Warschau her nachgab und sich trotz aller Bitten des Grafen und seiner Tochter entschlossen hatte, das Asyl in Sulmercycn zu verlassen und sich wieder in all den politischen Haß und Kampf der Parteien in ihrem Vaterlande zu stürzen.
Dennoch war die ruhigere Pause auf dem bestrittenen Herrensitz des Magnaten nicht ohne Wirkung auf ihr Denken und Wesen geblieben. Wenn auch der rücksichtslose Fanatismus der Gräfin und ihrer Gesinnungsgenossen dafür gesorgt, ihr Nationalgefühl sich nicht vermindern zu lassen und mit reger Teilnahme nicht bloß den Ereignissen und Bestrebungen jenseits der Grenze selbst, sondern auch den Agitationen der national polnischen Partei in der Provinz Posen und Westpreußen zu folgen, so konnte sie sich der Erfahrung doch nicht verschließen, daß hier ein ganz anderer Geist herrschte und wenig Aussicht war, daß die preußischen Polen sich ebenso offen einer bewaffneten Erhebung im Königreich wie bei früheren Gelegenheiten anschließen würden. Zwar wiederholte die Gräfin ihr täglich, daß die Agitation auch hier immer mehr Boden gewonnen habe, und sie sah dieselbe durch die geheimen Bestrebungen der Geistlichkeit auch wirklich wachsen, aber im Ganzen konnte sie sich doch nicht verbergen, daß auch der national-polnische Adel nur zum Teil einer Erhebung wie 1848 und früher geneigt gewesen wäre, und daß die Landbevölkerung bereits zu sehr germanisiert war, als daß der Wunsch nach Ruhe nicht überwiegend sei. Die verständige Art und Weise, mit welcher der Graf selbst für die Vorteile der preußischen Herrschaft sprach und, ohne sein Nationalgefühl als Pole zu verleugnen, die preußische Regierung unterstützte, die Schwägerin und den unreifen Knaben in ihre Schranken zurückwies und jede offene Auflehnung gegen die Gesetze seinen Leuten streng verbot, endlich der Umgang mit vielen gebildeten deutschen Nachbarn beruhigte wenigstens ihren in dem russischen Polen fast mit der Muttermilch eingesogenen Haß auch gegen die Deutschen und ließ sie ruhiger über die Verhältnisse denken, obschon es nicht das Geringste in ihren polnischen Hoffnungen ändern konnte. Wenigstens hatten diese Anschauungen sie anders über die Neigung der Tochter des Hauses zu dem preußischen Offizier denken gelehrt, und Kazimira in ihr eine Stütze ihrer wenig hoffnungsreichen Liebe gewonnen, während die Tante sich bei jeder Gelegenheit als deren offene Feindin zeigte. Der unglückliche Zufall, der den preußischen Soldaten damals dem jungen Fanatiker gegenübergestellt und ihm den wohlverdienten Lohn hatte geben lassen, konnte ihr also nicht als ein berechtigter Grund zur unbedingten Trennung der beiden Herzen gelten. Schon die letzten Worte des Grafen, als er den beiden Mädchen am Abend des Einzugs in Berlin seinen Segen erteilte, hatte auf eine gleiche Meinung hingedeutet und sobald sich das künftige Familienhaupt, der ältere Sohn des Grafen Czatanowski, derselben Ansicht anschloß, war es eben nur noch der Unterschied der Konfessionen, welcher bei einer offenen Bewerbung des Premierleutnants von Möllhoff die junge Komteß hindern konnte, der Stimme ihres Herzens zu folgen.
Das mochte im Stillen wohl auch die Befürchtung der Gräfin sein, und sie suchte daher im Geheimen den Aufenthalt der jungen Polin in Sulmierzyce abzukürzen, ohne die Zwecke, die sie damit verband, zu offenbaren.
Das Vermögen, das der von dem Studenten bei der Demonstration in Warschau ermordete Graf in den Händen seines preußischen Verwandten deponiert und in seinem Testament seiner Verlobten hinterlassen hatte, reichte selbst nach der Teilung mit der Propaganda in Paris zum Ersatz der damals in Warschau in die Hände der russischen Polizei gefallenen Summe noch aus, um sie wenigstens für längere Jahre vor Entbehrungen zu schützen und ihren Lebensunterhalt zu sichern. Der Graf war klug und vorsichtig genug, dies kleine Vermögen durch eine vierteljährliche Rente zu sichern, statt die freie Disposition in ihren Händen zu lassen und es so der Ausbeutung für die revolutionäre Agitation in Warschau preiszugeben, und das junge Mädchen hatte Einsicht genug, zu erkennen, welche Wichtigkeit diese Anordnung für sie haben mußte, obschon sie fest bei ihrem Entschluß blieb, mit ihrer Person der Sache ihres Vaterlandes zu dienen. Unter solchen Verhältnissen war es ihr gelungen, im Mai des Jahres 1862 die Grenze, ohne besonderen Verdacht zu erregen, wieder zu überschreiten und nach Warschau zu gelangen, wo sie sich in dem großen Krankenhause unter dem Vorwande als freiwillige Pflegerin meldete, daß sie sich während ihrer Abwesenheit bei Verwandten im Großherzogtum aufgehalten hätte. Der Direktor der großen Anstalt erinnerte sich sehr wohl, daß die Verstümmelte unter dem Schutz des Kommissars Drosdowicz gestanden hatte, und so fand ihre Aufnahme in der gewünschten Stellung keinen Widerspruch, um so weniger, als sie sich bemühte, jeden Verdacht zu vermeiden und sich von den nationalen Demonstrationen ganz fern hielt. Selbst die Äbtissin, welche die gleiche Vorsicht beobachtete und sich nur dem offen betriebenen Prozeß zur Wiedererlangung der Familiengüter zu widmen schien, besuchte sie nur selten, schien sie vielmehr möglichst zu meiden.
Der Aufenthalt der Äbtissin in Warschau ward um so weniger beanstandet, als sie fortfuhr, in den vornehmsten Kreisen beider Parteien zu verkehren, und auch, weil die Vorlegung des Familiendokuments aus dem Nachlaß des alten Soldaten ihr das juristische Interesse des Rats Krautowski gewonnen und ihr in den engeren Kreis seines Hauses Eintritt verschafft hatte. Selbst der am 6. Januar neu ernannte und bestätigte Erzbischof Felinski schien ihrer Angelegenheit und Person seinen Schutz zu gewähren. So genoß die Äbtissin weiter ein gewisses Vertrauen beider Teile, der Patrioten wie der Regierungskreise, und die geschickte Maßnahme, daß sie fortfuhr, ihre Wohnung in dem Hotel zu behalten, wo fast alle ihre Schritte und Besuche von der Polizei leicht zu kontrollieren waren, beseitigte jeden Verdacht.
Obgleich die russische Regierung offenbar bemüht war, der Instruktion von Petersburg gemäß jeden Konflikt mit der nationalen Partei durch Maßregeln der Versöhnung und Nachsicht zu vermeiden, konnte man sich doch auf keiner Seite der Überzeugung verschließen, daß dies nicht lange mehr fortdauern könne und es zu einem offenen Bruch kommen müsse.
Am 27. Oktober waren die damaligen weltlichen und geistlichen Häupter der polnischen Bewegung verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt worden; die bereits erwähnte Ernennung des Priesters Felinski zum Erzbischof durch Papst Pius IX. war auf den Wunsch der russischen Regierung geschehen, und es sollte als Akt der Versöhnung mit der Kurie die Wiederherstellung der päpstlichen Nuntiatur in Petersburg folgen. Der Papst verzichtete jedoch am 28. März darauf. General Lüders war in der Tat zum Statthalter in Polen ernannt worden, und seine Energie hatte noch einmal den Ausbruch der Empörung vertagt. Graf Wielopolski als Chef der Zivil-Verwaltung bemühte sich ehrlich, der übernommenen Verpflichtung der Ruhe und des Ausgleichs der Gemüter zu genügen und General Chrulew als Militär-Kommandant von Warschau hielt mit eiserner Hand den äußeren Frieden aufrecht.
Wie wenig dieser Zustand den Leitern der geheimen Agitation paßte, sollten jedoch schon die letzten Tage des Juni zeigen.
Die Äbtissin hatte das Personal ihres Hotels an tägliche Gänge am Morgen und Abend zum Gottesdienste bald in dieser bald in jener Kirche in Gemeinschaft ihrer geistlichen Begleiterin gewöhnt und die letztere ging so offen und ungeniert aus und ein, daß die Wachsamkeit der sonst so mißtrauischen geheimen Polizei zuletzt unterließ, den Wegen der beiden Frauen zu folgen.
Es war am Abend des 26. Juni, als die Äbtissin zur Vesperandacht in der Bernhardiner Kirche das Hotel verließ, nachdem sie bereits am Nachmittag in unverdächtiger Weise in Gegenwart des Wirts angedeutet, daß sie am späteren Abend einer Einladung der Frau von Krautowska folgen und deren Gesellschaft besuchen werde. Am Nachmittag hatte sie den Besuch des Fräuleins von Marowska empfangen, deren Dienst im großen Krankenhause wie ihr eigener Wille ihr nur selten einen Besuch bei ihrer Verwandten gestatteten, und es konnte daher nicht auffallen, die drei Frauen bei der schönen Witterung zusammen das Haus verlassen und ihren Weg zur Kirche nehmen zu sehen. Trotz des schönen und warmen Abends, der das Publikum ins Freie lockte, war die Kirche zahlreich besucht, da der Namenstag eines Heiligen besonderen Gottesdienst veranlaßte.
»Sie werden mich zur Krautowska begleiten, liebe Nichte,« sagte die Äbtissin, als sich beide von den Knieen erhoben, »der Rat wünscht Sie zu sprechen.«
»Muß es sein?« fragte das Mädchen, »Sie wissen, daß ich mich stets nach dem Besuch der Bernhardiner Kirche der Einsamkeit überlasse.«
»Torheit – die Erinnerung an Ihren Verlobten muß endlich ein Ende nehmen, die Forderungen der Gegenwart haben ihre Rechte über die Toten hinaus und es erwartet Sie dort eine Person.«
»Wer?«
»Pater Hilarius! Er verlangt ausdrücklich. Sie zu sehen.«
»So ist er wieder zurückgekehrt von Krakau?« fragte das Mädchen leise erschaudernd.
»Seit zwei Tagen – mit wichtigen Nachrichten, wie er mich wissen ließ.«
»Aber man wird mich im Krankenhause vermissen.«
»Es wird sich ein Grund der Entschuldigung finden. In der Tat, liebe Wanda, die Gutgesinnten beginnen an Ihrem Eifer zu zweifeln. Seit Ihrer Rückkehr aus Sulmyerzyce haben Sie unter verschiedenen Vorwänden den Besuch der Versammlungen hinausgeschoben und selbst den Befehlen der Nationalregierung Ungehorsam gezeigt. Der russische Agent, der speziell Ihrer Pflege im Krankenhause anvertraut wurde, lebt immer noch und soll sich sogar auf dem Wege der Besserung befinden. Es wäre dies unmöglich, wenn Sie dem Befehl gehorcht und die Tropfen unter seine Medizin gemischt hätten.«
»Ich bin keine Giftmischerin!« sagte das Mädchen leise aber unwillig: »Man fordere mein Leben für das Vaterland, und ich werde es so willig opfern, wie ich den Arm geopfert, aber ich werde nicht durch ein niederes Verbrechen mein Seelenheil gefährden, – und das Andenken Hippolyts, der die arme Wanda Marowska noch seines Namens würdig hielt, soll durch mich nicht befleckt werden.«
»Eben deshalb sprechen Sie mit Pater Hilarius; die Kirche allein ist unfehlbar in ihrem Urteil und kann alles vergeben, nur nicht Ungehorsam und Abtrünnigkeit. Aber was reden Sie von Vergiftung, wer hat diese Ihnen zugemutet? Nur die Genesung des russischen Spions wollte man verhindern und verzögern, damit er, einer der tätigsten und gefährlichsten Helfershelfer unseres Todfeindes Drosdowicz, dieses Hauptwerkzeugs der russischen Polizei, grade in dieser gefährlichen Zeit der Sache der Nation nicht schaden möge. Wenn man nicht wüßte, wie viel Polen Ihnen verdankt, wie Sie Ihren Patriotismus noch durch die Entlarvung des Verräters Asnik und seine offene Anklage vor dem Nationalkomitee in Paris bewiesen, hätte man irre werden können an Ihrem Eifer.«
»Eben deshalb,« sagte leise das Mädchen, »setzen Sie ihn nicht unnütz auf die Probe.«
Die Äbtissin warf dem Mädchen einen falschen Blick zu, aber sie kannte zu genau und vollkommen die Aufrichtigkeit ihres politischen Fanatismus, um an die Möglichkeit einer Abtrünnigkeit auch nur zu denken und es lag zu sehr in ihrem Interesse, das Mädchen nicht mißtrauisch zu machen, um weiter auf ihrer jesuitischen Moral bestehen zu können. »Es wird Sache der Kirche und des Beichtstuhls sein, liebe Wanda,« sagte sie, »Ihre Skrupel zu lösen. Vielleicht tut es schon die nächste Stunde. Was man für das Recht und den Sieg der heiligen Kirche und Polens tut, kann vor Gott keine Sünde sein, das bedenken Sie; wir haben kein Recht, an den Lehren frommer Männer zu zweifeln. Doch hier sind wir am Hause des Geheimrats, lassen Sie uns eintreten.«
Die Pflegerin sah sich um. »Unsere Begleiterin hat uns verlassen!«
»Ich gab ihr schon vor der Kirche Urlaub; zu der Rätin hätte sie uns ohnehin nicht folgen können, ich bringe Sie selbst zu Wagen bis vor das Spital – wenn wir spät die Gesellschaft verlassen müßten.« –
In dem Salon der Rätin waren außer dem Bernhardiner Pater nur Damen versammelt. Eine der jugendlichen Töchter hatte die Eintretenden im Vorzimmer empfangen und schien dort bereits auf sie gewartet zu haben.
»Gut, daß sie endlich da sind, Hochwürdigste, sagte die Rätin, »und in solcher Gesellschaft. Haben Sie Fräulein Morawska bereits in Kenntnis gesetzt, um was es sich bei unserer Zusammenkunft handelt?«
»Das gute Kind,« sagte jene mit spöttischem Lächeln zu dem Priester, »fühlt noch immer Skrupel und glaubte es vor ihrem Gewissen nicht verantworten zu können, dem Schurken Mardiewicz eine andere Medizin mischen zu dürfen, als ihm von dem Arzt des Hauses verordnet war. Es kostete fast Mühe, sie zu überreden, mich hierher zu begleiten. Sie behauptet, ihr Seelenheil nicht gefährden zu dürfen mit einer Todsünde, wie es die Vernichtung eines russischen Spions gewesen wäre. Als ob es eine Sünde wäre, ein Gewürm zu zertreten, das uns bedroht.«
Der Priester winkte ihr zu: »Ich ehre und achte die Bedenken des Fräulein von Marowska,« sagte er gleißend, »aber sie vergißt, welche Macht die Kirche zur Vergebung jeder Sünde hat. Wenn diese zu ihrem Zwecke befiehlt, Seele und Leib zu opfern, obschon das erstere eben nur scheinbar geschieht, würden wir gehorchen müssen. Der wahre Glaube scheint unserer jungen Freundin noch nicht gekommen, sonst könnte sie nicht gezögert haben. Zum Glück hat unsere Sorge ihr Gelegenheit geboten, ihren Gehorsam und Patriotismus nächstens in würdigerer Weise zu bekunden, und ich hoffe, bis dahin ihre unbegründeten Bedenken vollständig zu zerstreuen.«
Das Mädchen sah ihn erschrocken und erstaunt an.
»Wie meinen Euer Hochwürden dies?«
»Sie wissen, daß die Krankenpflegerinnen des Spitals die Erlaubnis und Pflicht haben, auch außerhalb der wohltätigen Anstalt ihr so segensvolles Amt auf den Wunsch der betroffenen Familie üben zu dürfen.«
»Aber ich habe dies Amt nicht – diese Krankenpflege ist andern Frauen übertragen.«
»Der Direktor hat in Anerkennung Ihres Eifers und des guten Zeugnisses, das Ihnen der Oberarzt des Hauses erteilt, die Erlaubnis zur Ausübung dieses Amtes auf Sie ausgedehnt. Sie werden diese ehrende und wichtige Bestimmung bereits bei Ihrer Rückkehr vorfinden. Es ist ein hohes Vertrauen, das man Ihnen beweist, und das Sie hoffentlich zu würdigen wissen werden. Um Sie darauf vorzubereiten, wünschte ich Sie zu sprechen.«
Die junge Polin schien von diesem Vertrauen gerade nicht besonders erbaut, aber sie begnügte sich, ein Zeichen der Zustimmung zu geben. »Ich kenne die Aufgabe, die ich übernommen,« sagte sie, »und gedenke, treu meine Pflichten gegen Gott und meine leidenden Mitmenschen zu erfüllen.«
»Und gegen Polen!«
Ihre Lippen bebten, der Blick, den sie auf den Priester heftete, war ein ernster, bedeutungsvoller.
»Ich bin eine Polin, hochwürdiger Herr,« sagte sie feierlich, »zweifeln Sie niemals daran.«
»Ich habe es nie getan und freue mich, die Bestätigung meiner guten Meinung nochmals aus Ihrem Munde zu erhalten. Ich bin überzeugt, daß die Frauen Polens dem Enthusiasmus der Männer für die heilige Sache des Vaterlandes nichts nachgeben.«
»Mein Blut, meine Seele, mein teuerstes Gut, das ich habe, meine Kinder, würde ich keinen Augenblick anstehen, auf dem heiligen Altar des Vaterlandes zu opfern,« rief die Rätin.
»Ich kenne Sie, gnädige Frau, und deshalb sucht die Sache der Freiheit ihre beste Stütze in dem Patriotismus der Töchter Polens. Ohne sie wäre unsre Sache eine verlorene, eine hoffnungslose. Doch wir müssen die Zeit nützen, denn der Argwohn unserer Tyrannen gönnt uns nur selten den Trost einer unbeargwohnten Beratung für die Interessen des Vaterlandes. Selbst die Augenblicke dieser Zusammenkunft unter Ihrem Schutz, gnädige Frau, sind gezählt und müssen mit Vorsicht benutzt werden, um nicht Verdacht zu erregen.«
»Wir sind hier sicher,« erklärte die Rätin, »mein Mann wohnt in diesem Augenblick der Sitzung des Geheimen Rats bei, meine Dienerschaft ist treu und zuverlässig, meine eigenen Töchter sichern uns vor jedem unwillkommenen Besuch. Nur geschworene Patriotinnen und treue Anhängerinnen der Sache Polens sind hier versammelt. Sprechen Sie ungescheut, hochwürdiger Herr: welche Nachrichten bringen Sie von Krakau? Was hat die Nationalregierung beschlossen? Was ist unsere Aufgabe?«
»Die Zeit drängt immer mehr, die Gefahr wächst mit jedem Tage,« erklärte der Priester. »Sind Ihnen die neuesten Beschlüsse des Kaisers bereits bekannt?«
»Was meinen Sie, die neuen Vollmachten an Lüders und den Verräter Wielopolski?«
»Ich meine Wichtigeres. Die Ernennung eines neuen Vizekönigs von Polen?«
»Eines Vizekönigs – und wer ist dies?«
»Der Großfürst Konstantin, er soll bereits im nächsten Monat sein Hoflager nach Warschau verlegen!«
»Aber die Großfürstin befindet sich im letzten Monat ihrer Schwangerschaft!« bemerkte eine der Damen. »Sie wird Petersburg unter diesen Umständen nicht verlassen wollen, oder vielmehr Zarskoje Sselo – denn Petersburg selbst scheint bei der Tätigkeit unserer dortigen Freunde bereits ein gefährlicher Aufenthalt.«
»Sie ist eine Deutsche und soll einen entschlossenen Charakter haben, wie ihre Schwester, die Königin von Hannover, die mehr König ist, als ihr Gemahl, wenigstens den bedeutendsten Einfluß auf diesen übt. Die Wiederernennung des Vizekönigtums ist offenbar nur ein Vorwand, um die russischen Truppen in Polen zu verstärken. – Die Lektion, die sein Namensvetter bei unserer großen Revolution von 1830 empfing, scheint bereits vergessen zu sein.«
»So muß sie erneuert werden,« sagte energisch eine der Frauen, eine große stattliche Gestalt von etwa 45 Jahren. »Das National-Komitee versprach uns den Schlag gegen Lüders. Wie weit sind die Vorbereitungen getroffen? Wenn keiner der Männer den Mut zur Tat hat, werden ihn die Frauen haben; ich selbst erbiete mich zur Ausführung.«
»Das Opfer ist unnötig! Der russische Statthalter wird morgen früh auf der Brunnenpromenade im sächsischen Garten den verdienten Lohn seiner Tyrannei erhalten.«
»Endlich! Eine solche Tat wird hoffentlich dem neuen Vizekönig zeigen, was er hier zu erwarten hat, und ihn unsern Grenzen fern halten. Ich will Sie nicht fragen, wer die Tat ausführen und wie sie erfolgen soll, aber sagen Sie ungescheut, was können wir dabei tun, wie Beistand leisten?«
»Vorsichtigstes Schweigen zunächst! Das Komitee der schwarzen Brüderschaft wünscht nur, daß der Besuch des Brunnengartens durch die vornehme Gesellschaft morgen ein möglichst zahlreicher sei. Je größer das Publikum und das Gedränge am Ort, desto günstiger sind die Chancen für die Sicherheit des sich dem Vaterland Opfernden.«
»Halten Sie sich in der Nähe des Kaffeehauses und des eisernen Tors. Einem entschlossenen Mann kann es nicht schwer werden, in dem unerwarteten Schrecken und dem Gedränge selbst für seine persönliche Sicherheit Sorge zu tragen. Doch ist es wünschenswert, daß im Publikum sich keine zu verdächtigende Persönlichkeit der nationalen Partei, kein hervorragender Patriot befindet. Man darf nicht entfernt Veranlassung haben, die Tat uns in die Schuhe zu schieben, der Verdacht muß sich klar und bestimmt nach einer andern Richtung wenden können.«
»Aber nach welcher?«
»Auf das russische Militär selbst!«
»Aber wie wäre das möglich? Der Gedanke ist allerdings vortrefflich.«
»Sie scheinen das Urteil des Kriegsgerichts in Modlin vergessen zu haben.«
»Ah, – jetzt begreife ich.«
»Aber,« sagte die Rätin, »das Urteil bedarf so viel ich weiß noch der kaiserlichen Bestätigung.«
»Es ist heute Morgen an allen Delinquenten vollstreckt worden,« erwiderte der Priester kalt.
»Ich muß Sie bitten, die Sache noch einmal uns kurz zu rekapitulieren; da es sich nicht um Polen, sondern nur um Schergen der russischen Tyrannei handelte, habe ich mich weniger darum bekümmert, obschon die Sache großes Aufsehen in der Armee gemacht haben und die Meinung über den Ausgang geteilt gewesen sein soll; ich erinnere mich nur, daß ich den Fürsten Barinsky und Herrn von Atschikoff neulich in der Soirée des Markgrafen darüber streiten hörte. Und vielleicht geht es anderen unserer Freundinnen wie uns. Ich weiß nur, daß es sich um ein Disziplinarvergehen gegen unseren Feind, den General Chrulew handelte. Aber dann Pflegen unsere Tyrannen gewöhnlich die Schuldigen nach dem Kaukasus zu schicken, wo so viele unserer Angehörigen schmachten.«
»Bitte, hochwürdiger Herr, erzählen Sie!«
Die Frauennatur verleugnete sich selbst in diesem Kreise nicht.
»Die Sache liegt tiefer, als in einem bloßen Disziplinarvergehen,« berichtete der Priester »und ich bitte Sie, genau auf diese wichtige Chance für unser Vaterland, den Geist zu achten, der sich auch in der russischen Armee zeigt und dessen Förderung und Verbreitung wir mit allen Mitteln zu vermehren haben. Sie kennen den heftigen und rohen Charakter Chrulews.«
»Der Barbar! Er benimmt sich oft wie ein Troßbube, selbst gegen Damen.«
»Der General hatte vor kurzem das untergebene Offizierkorps seiner Division zu sich berufen und die Offiziere wie die Schulbuben über die Sympathien ausgescholten, die, wie wir wissen, sich offen unter ihnen für die Sache Polens zeigen. Er soll sie sogar Einfaltspinsel genannt haben, was ihm wohl zuzutrauen ist.«
»Als ob sie etwas anderes wären?«
»Diesmal aber war die Beleidigung auch für die Knechtsseelen russischer Schergen zu stark, oder die Verhöhnung aller anständigen Leute, wo sie sich blicken ließen, zu öffentlich und begründet. Kurz sie haben wirklich den Mut gefaßt, sich über die angetane Schmach zu beschweren und eine Deputation, bestehend aus zwei Offizieren, zwei Unteroffizieren und zwei Gemeinen zu wählen, die nach langem Zögern sich zu Chrulew begab, wie sie sagen, um Widerruf und Ehrenerklärung zu verlangen, wie andere behaupten, um den General direkt zu fordern. Gewiß ist nur, daß der Tyrann die ganze Deputation verhaften ließ und sie wegen Insubordination vor ein Kriegsgericht stellte. Dies hat sie zum Tode verurteilt, indes ist in den Verhandlungen doch so viel zur Sprache gekommen, daß es der Kaiser vorzog, nicht selbst das Urteil zu bestätigen, sondern es Lüders als dem Kommandierenden der Ersten Armee überließ. Da dieser selbst nicht viel Lust dazu zu haben schien, haben wir dafür gesorgt, daß er durch verschiedene anonyme Drohbriefe, die ihm bei einer Vollstreckung mit dem Tode drohten, in seiner Ehre gekränkt wurde. Heute Morgen ist, wie gesagt, das Urteil in der Zitadelle vollstreckt worden.
»Er hat also gewagt, es dennoch zu bestätigen? – Wer war es, der dem Gericht präsidierte und das Urteil fällte?«
»Oberst Miaskowski. Wir leben unterm Kriegszustand, das vergessen Sie nicht.«
»Wir werden uns des Namens erinnern. Der Oberst wurde als eins der ersten Opfer des Systems der Morde vor der Citadelle selbst am 19. Juli erschossen, ohne daß es gelang, des Mörders habhaft zu werden. Kennen Sie die Namen der Opfer?«
»Es sind unbedeutende Personen – durch das Los gewählt, keine Polen darunter. Dagegen sind zwei der Unseren unter den Offizieren, die nach dem Urteil des Kriegsgerichts wegen Verbreitung der in Heidelberg gedruckten Herzen'schen Aufrufe in den Kasernen morgen erschossen werden sollen. Wir müssen Mittel finden, unsere Druckereien zu erweitern, die Nihilisten in Petersburg sind darin weiter wie wir, und ihre Sprache übertrifft die unsere; der Plan, das Volk durch Erhöhung der materiellen Not aufzuregen, indem die Krämer und kleinen Händler mit ihren dringendsten Bedürfnissen ihres Obdachs und ihrer Vorräte durch das Feuer beraubt werden, wie diese Instruktion Herzens hier anrät, war sehr geschickt. Es sind in Petersburg allein im vorigen Monat über zehntausend Personen durch die Brandstiftungen der Nihilisten ihres Obdachs beraubt worden. Das System muß von der Nationalregierung auch bei uns eingeführt werden.«
»Nicht, solange wir andere Mittel haben – das Blut ist billiger und trifft nur die Schuldigen,« erklärte die Rätin. »Ich muß offen gestehen, ich wünsche nicht, daß der Haß des Pöbels sich gegen uns kehrt; ich bin keine Anhängerin der Lehren der Sozialdemokratie und der Phantasien des Herrn Bakunin von einer großen panslavistischen Republik. Das niedere Volk darf nur das Mittel für den Adel und die Kirche sein, ihre Zwecke nämlich, die Wiederaufrichtung Polens zu erreichen durch die Vertreibung unserer Tyrannen, überdies – was haben die Brandstiftungen in Warschau erzielt? Das gemeine Volk in die Hände der Regierung getrieben, als der Kaiser und die Kaiserin endlich den Mut gewannen, die Gefahr nicht länger zu scheuen und sich selbst auf die Brandstätten und auf die Lagerplätze der Obdachlosen zu begeben und für sie zu sorgen. – Das System taugte nichts und hat nur materiell geschädigt, Kirche und Adel dürfen ihre Rechte und ihre Macht nicht durch eine Herrschaft des Pöbels gefährdet sehen.«
Der Pater tauschte einen raschen Blick mit der Äbtissin und lenkte geschickt ein, die Äbtissin hatte sich bisher fast schweigend verhalten.
»Der heilige Vater weiß es, gnädige Frau, daß der polnische Adel treu zur Kirche hält, deshalb unterstützt er auch die Sache der polnischen Nationalität gegen ihre Unterdrücker. Der Empfang des Posener Erzbischofs von Przyluski in Rom als Primas von Polen beweist dies und wird auch im Großherzogtum und den andern preußischen Landesteilen von großer Wirkung sein. Ich hoffe, daß der polnische Adel es niemals vergessen wird, daß er ohne die Stütze der Kirche keine Aussicht gegen Rußland und Preußen hätte.«
»So möge man die Wiedererhaltung Polens offen als Forderung der katholischen Kirche proklamieren, so gut wie die weltliche Herrschaft des Papstes in Italien.«
»Schon die Andeutung einer solchen Forderung durch Kardinal Antonelli hat die Anerkennung des italienischen Königtums durch Preußen und Rußland zur Folge gehabt, – soll sie auch noch den Schutz Österreichs dem heiligen Stuhl entziehen? Sie kennen die Zahl seiner Gegner. Nur im letzten Augenblick, wenn andere Mittel nicht helfen, darf die Kirche drohen, sich mit der Revolution zu verbünden. Bis dahin brauchen wir die Regierungen und ist der Nimbus eines Märtyrertums der Kirche von größerer Macht, als selbst ein offener Religionskrieg. Unsere Gegner sind bei dem wachsenden Unglauben der Zeit schlau genug, einen solchen nicht zu fürchten. Die Weisheit der Kirche fordert deshalb blinden Gehorsam und Selbstverleugnung.«
»So muß es bei dem Entschluß des National-Komitees bleiben, einstweilen jede Maßregel der Tyrannen nur mit persönlicher Rache zu vergelten und dadurch ihre Energie zu lähmen. Wir sind zu jeder persönlichen Aufopferung bereit. Wenn es an Männern fehlt, werden Knaben und Frauen bereit sein.«
»Die Kirche verlangt wie gesagt nur Gehorsam; noch bedarf es Ihres persönlichen Opfers nicht, obschon der Augenblick kommen kann. Darf ich Sie fragen, wie es mit dem Prozeß unserer Freundin, der Frau Äbtissin, steht? Man verlangt in Rom Näheres darüber zu wissen.«
»Ich liege meinem Mann deswegen täglich in den Ohren, aber er behauptet, daß die preußischen Gerichte infolge eines Gutachtens der Advokaten des Grafen Czatanowski Schwierigkeiten machen, der Gegner stützt seine Ablehnung des Anspruchs auf ein zweifelhaftes Datum jenes beigebrachten Dokuments, das uns die liebe Marowska übergab, und mein Mann rät selbst zu einem Vergleich infolge der angeregten Zweifel der Zeitgiltigkeit.«
»So müßte der Graf das Original in Händen gehabt haben?« fragte die Äbtissin mit einem bösen Blick auf das Mädchen.
»Graf Czatanowski,« sagte dieses, »hat mit meiner Einwilligung eine beglaubigte Abschrift des von meinem Bräutigam mir vererbten Dokuments genommen. Es war meine Pflicht, ihm diese nicht zu weigern, wie er selbst es für meine Pflicht erklärte, das Dokument in die Hand der Frau Äbtissin niederzulegen.«
»Davon sagten Sie mir bisher nichts,« bemerkte diese mit einer gewissen Heftigkeit. »Also hat Graf Czatanowski eher den Schuldschein in den Händen gehabt, als ich?«
»Der Graf ist ein Ehrenmann; ich zeigte ihm das Papier im Oktober bei meinem Zusammentreffen mit ihm in Berlin, und bat um seinen Rat, welchen Gebrauch ich davon machen müsse?«
»Und er hat diesen Verwandtschaftsdienst klug genug benutzt. Warum sagten Sie mir dies nicht eher – es kann meiner Sache, oder vielmehr den Interessen der Kirche – denn als Klosterfrau habe ich keine persönlichen Güter – unendlichen Schaden bringen!«
»Ich tat nur meinem Gewissen genüge,« erwiderte die Marowska.
»Sie handelten nicht weise, mein Kind,« erklärte der Pater, »in zweifelhaften Fällen ist es immer die Kirche, bei der man sich Rat holen soll. Hätten Sie dies getan, so hätten Sie eine Pflicht gegen Ihre würdige Tante erfüllt, die Ihnen näher stand, als jene Familie, die Sie zum ersten Mal sahen. Wir sind unzufrieden mit Ihnen.«
Die Krankenpflegerin verneigte sich bescheiden, aber es lag in ihrer Haltung doch ein gewisser Stolz und Trotz. »Wenn ich gefehlt,« sagte sie ernst, »werde ich die Folgen meines Fehlers tragen, doch nie vergessen, daß ich die Verlobte eines braven Mannes und wahren Patrioten war. Graf Hippolyt Oginski, mein edler Freund, starb den Opfertod für das Vaterland!«
Eine ältere Dame, die mit einer jüngeren, ihrer Tochter, voll reger Aufmerksamkeit in dem Kreise gesessen, erhob sich und reichte dem jungen Mädchen die Hand: »Ich begreife Ihre Gefühle, Fräulein von Marowska,« sagte sie, »und billige sie. Ich kenne den Grafen Czatanowski als einen Ehrenmann, wenn er auch zu den lauen Patrioten gehört, wie ich Ihren Verlobten als Knaben gekannt habe und jeden Zweifel an seiner echten Vaterlandsliebe hätte zurückweisen müssen. Ich denke, an der Gesinnung der Gräfin Dembinska wird niemand zweifeln, und meine Töchter werden es sich zur Ehre rechnen, wenn Sie dieselben Ihres nähern Umgangs würdigen, so lange und so oft wir in Warschau verweilen.«
Die junge Dame war an die Seite ihrer Mutter getreten. Sie sah etwas bleich und angegriffen aus, als litte sie noch an den Nachwehen einer schweren Krankheit. »Ich bitte Sie um die Erlaubnis, Sie in dem Krankenhause besuchen zu dürfen, ich wünschte sehr, Ihren schweren Beruf teilen zu können. Ich kannte Hippolyt als Knaben, das Gut seines Vaters grenzte an das unsere, und er war unser Spielgefährte und Schützer, ehe die Verbannung ihn traf.« Sie wagte es nicht, in diesem Kreise zu sagen, daß sie ihn noch einmal wiedergesehen, in der schwersten Stunde ihres Lebens, damals auf dem Rückweg von dem Schalter des Findelhauses, als ihre Kraft sie verließ und sie den edelmütigen Beistand des Genossen ihrer Jugend fand, aber sie war glücklich, auf diese Erlaubnis hin, das Krankenhaus besuchen zu dürfen und dort vielleicht Gelegenheit zu erhalten, in der damit verbundenen Anstalt das weitere Geschick des kleinen Wesens zu überwachen, über dessen Ergehen ihre strenge Schwester ihr jede Auskunft verweigert hatte und an das sie Tag und Nacht dachte.
Sowohl der Geistliche als die Äbtissin hatten begriffen, daß jeder weitere Angriff auf die Marowska ihnen selbst nur schaden könne, und der erstere begnügte sich, ihr zu sagen, daß das Interesse, das eine so wohl bekannte Patriotin, wie die Gräfin Dembinska ihr eben bewiesen, ihr ein neuer Sporn sein müsse, der Sache Polens alle Kräfte zu widmen. Er behalte sich vor, sie über Fragen des Gewissens bei der nächsten Beichte zu belehren, zeigte sich auch nicht empfindlich, als die Marowska durch die Teilnahme, die sie gefunden ermutigt, erklärte, ihr Beichtiger sei derselbe Geistliche, der damals ihrem verstorbenen Verlobten die Sterbesakramente gereicht habe.
»Ich erwarte die Nachricht unseres Freundes Chmelenski,« erklärte der Pater, »ob es dem National-Komitee gelungen ist, für einen Patrioten zu sorgen, der bereit ist, morgen den Befehl zu vollziehen, da Oberst Dombrowski verlangt, daß nicht länger gezaudert werde. Er will verschiedene Anzeichen haben, daß er nicht mehr das ganze Vertrauen des Generals besitzt und dieser damit umgeht, ihn zu entfernen.«
»Das wäre allerdings schlimm – der zweite Adjutant, Kapitän Atschikoff, ist ein starrer Russe. Er hat ja wohl Eingang bei Ihnen gesucht, gnädige Frau?«
Diese Frage war an die Dame des Hauses gerichtet.
»Fürst Barinski hatte Gelegenheit genommen, ihn mir zur Zeit Gortschakoffs vorzustellen, im Februar vorigen Jahres, aber da er wenig Sympathisches für uns hatte, begnügte ich mich, ihn zu empfangen und lud ihn nicht ein, seinen Besuch zu wiederholen. Er soll ein frecher Wüstling sein, und ich habe die Ehre meiner Töchter zu wahren.«
»Eben deshalb möchte ich Sie bitten, ihm Zutritt zu gewähren. Bei der Gefahr mit Dombrowski dürfen wir uns nicht alle Wege zu ihm abschneiden. Der bisherige Weg in sein Bureau ist uns versperrt. Selbst Graf Zamoyski empfängt ihn.«
»Ich werde meinem Mann aufgeben, die Verbindung zu erneuern. Er mag ihn zu unserer nächsten Soiree einladen.«
»Auch die Fürsten Barinsky und Ilinski, wenn der letztere den Großfürsten begleiten sollte. Man spricht davon, daß er wieder in aktiven Dienst getreten ist. Es war wohl nur eine Laune, daß er mit Gortschakoffs Tod seinen Abschied forderte und sich auf seine Güter zurückziehen wollte.«
»Er war während eines Jahres in Paris,« bemerkte die Gräfin Dembinska. »Was ist Dir, Josefa? Ist Dir unwohl? Die Folgen ihrer langen Krankheit machen sich noch immer bemerklich. Sie hätte in der Tat einer Badekur in Deutschland bedurft, aber Sie wissen, unter welchen nichtigen Vorwänden das Mißtrauen unserer Tyrannen uns die Pässe ins Ausland erschwert.«
Die junge Komteß war in der Tat in ihren Stuhl zurückgesunken, die Marowska hatte sich mit ihr beschäftigt und sie mit einem flüchtigen Salz wieder aus der leichten Ohnmacht zum Bewußtsein zurückgerufen; dankend preßte sie die Hand der Pflegerin, ohne zu bemerken, daß die Augen der Äbtissin forschend auf ihr ruhten.
»Bitte – es ist bereits vorüber, ein augenblicklicher Schwindel, dem ich zuweilen seit meiner Krankheit unterliege, er geht zum Glück rasch vorüber und kommt nur noch selten. Dank für Ihren Beistand! Sie erlauben doch, daß ich Sie in den nächsten Tagen aufsuche?«
Der Anfall der jungen Komteß schien in der Tat ihrer Mutter wenig Besorgnis eingeflößt zu haben und ihr ganzes Interesse sich nur in den politischen Angelegenheiten und in der Verschwörung gegen die russische Regierung, zu konzentrieren. Die Gräfin hatte ihre nächsten Besitzungen auf dem rechten Ufer der Weichsel in der Enklave, welche die Dluga mit dieser und dem Pruth bildet und die in dem ziemlich unwirtlichen Terrain zwischen den waldigen und sumpfigen Höhenzügen liegt, welche die drei Flüsse begleiten. Die Lage und spärliche Bevölkerung machten diese Gegend für die Agitation wichtig, da sie zugleich die Eisenbahn von Petersburg und Krakau in kurzer Zeit zu erreichen erlaubte, die Verbindung mit Modlin, diesem damals stärksten militärischen Halt der russischen Herrschaft, gewissermaßen beherrschte und eine rasche Flucht nach den verschiedenen Richtungen zu Wasser und zu Lande gestattete. Ihr Haus in der Stadt unfern des sächsischen Platzes wurde von ihr häufig bewohnt, aber klüglich von jeder Benutzung, die Mißtrauen erregen konnte, freigehalten. Die Gräfin galt daher dem nationalen Komitee für eine wichtige Persönlichkeit und ihr leidenschaftlicher Patriotismus hatte sie an die Spitze der geheimen Frauen-Komitees gestellt, sodaß ihr wenig von den Plänen und Absichten der Verschworenen verborgen blieb.
Wir haben bei einer früheren Gelegenheit bereits erwähnt, daß ihre jüngere Tochter Lodoiska, die sich der Kirche gewidmet, die fanatische Gesinnung der Mutter teilte und nur ihre fast kindliche Liebe und Sorge für die ältere Schwester derselben die Verheimlichung des Fehltritts ermöglicht hatte. Zwei Söhne der Gräfin bewohnten, bereits selbständig, ihre Güter im Radomschen Kreise und in der Gegend von Sandomierz an der oberen Weichsel. Man wollte in der Warschauer Gesellschaft wissen, daß ihre Verlobung mit den Zwillingsschwestern des Hauses eine bereits beschlossene Sache sei, bei der jedenfalls die Freundschaft der beiden Mütter den Ausschlag gegeben, da der Rat Krautowski keineswegs zu der enragierten Partei gehörte und auch nur mäßig begütert war. Der Gemahl der Gräfin war bejahrt, von einem Schlagfluß gelähmt und stand vollständig unter dem Einfluß seiner Gemahlin.
»Gedenken Sie, hochwürdiger Herr,« fragte die Hausfrau, »noch während unseres Verweilens hier eine bestimmte Nachricht über die Beschlüsse der Nationalregierung zu erhalten?«
»Gewiß, es wird auf die unverdächtigste Weise geschehen – ich erwarte sie jeden Augenblick. Lassen Sie uns aber deshalb unsere Zeit nicht unbenutzt vergehen. Der Tod des General-Gouverneurs wird eine neue Verschärfung des Kriegszustands zur Folge haben. Sind die Listen der Zehner auch in Warschau gesichert?«
Die Rätin lächelte hochmütig. »Sie sahen sie selbst, als Sie hierher kamen!«
»Wieso?«
»Jede vierte Wärterbude der Krakauer Bahn ist von Grodzisk aus von vertrauten Leuten besetzt. Sie wissen freilich nicht, was sie bewachen, aber es wäre zu gefährlich, die Verzeichnisse in Warschau selbst zu verwahren. So kann im Fall eines zufälligen Unglücks oder Verrats immer nur eine Kreisorganisation gefunden werden, und die Warnung würde sich auf der Eisenbahn selbst mit telegraphischer Eile verbreiten. Jeden Zug begleitet bereits ein Eingeweihter. Die Signale der Erkennung sind verabredet. Die Erhebungslisten gehen auf der Südbahn mit den Frachtscheinen selbst.«
»Und die Verbreitung im platten Lande, auf den Gütern?«
»Sie ist die Erfindung der Frau Gräfin. Das System der Steuerlisten der Regierung mit der Abschätzung der jüdischen Taxatoren hat sich trefflich bewährt! Bis jetzt ist mit Ausnahme von sieben Fällen überall williger Gehorsam geleistet.«
»Und in diesen Fällen?«
»Ist die angedrohte Strafe sofort vollzogen worden!«
»Aber in den Städten?«
»Die Hausbesitzer sind die besten Steuererheber!«
»Das Resultat?«
»Bis jetzt in fünf Bezirken nach Abzug des Dezem für die Erheber und des gleichen Betrages für die Kirchen und Klöster 545 000 Gulden.«
»Das ist wenig genug, noch nicht eine halbe Million Franken; wenn uns nicht englisches oder französisches Gold zu Hilfe kommt, werden wir es kaum wagen können, die neuen Waffenbestellungen zu machen.«
»Wir rechnen auf die Geldsteuer aus dem Großherzogtum. Die Bauern werden schwierig, der Schlag der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland macht sie trotzig. Es wäre Sache der Kirche, die Gemüter zu schärfen. Aber offen gesprochen, sie braucht zu viel für sich selbst.«
»Und doch ist es nur ein kleiner Teil, den man ihr widmet. Die freiwillige Steuer des Peterspfennigs reicht kaum hin, die Pensionen des Vatikans zu bezahlen.«
»So möge man sie einschränken. Mit dem Dezem, den die Geistlichkeit von der Nationalsteuer fordert, würde man die große Ausgabe für die Kundschafter in Warschau bezahlen können.«
»Sie sind uns gerade am Sitz der Regierung unentbehrlich. Erinnern Sie sich, daß unsere Feinde jede Nachricht mit Gold aufwiegen müssen, während die Unseren aus Patriotismus Kundschafterdienste leisten. Aber dort kommt die Nachricht.«
»Wo? wo?«
Der Pater lächelte. »Hörten Sie nicht?«
»Was meinen Euer Hochwürden?«
»Bitte, trete eine der Damen an das Fenster. Wen sehen Sie dort unten?«
Die Rätin war selbst an das Fenster geeilt. »Nichts als einen der gewöhnlichen Leierkästner – einen Invaliden, von einem Kinde, einem Mädchen begleitet.«
»Und das Lied, das sie eben sang?«
»Einer der gewöhnlichsten Gassenhauer, nicht einmal einer der von der Polizei verbotenen. Euer Hochwürden kennen ihn nicht.«
»Ich bitte Sie, suchen Sie die Worte, die das Mädchen singt, zu verstehen.«
»So viel ich höre, lauten sie,« und sie wiederholte eine Zeile aus einem bekannten polnischen Volkslied: »Der Jäger ist fertig und er wartet auf das Wild.«
»Das ist das Zeichen. Halten Sie sich bereit, morgen früh in dem Sächsischen Garten zu sein, meine Freundinnen – ich denke, um diese Zeit morgen werden wir die Hierherkunft des Großfürsten kaum noch zu besorgen haben.«
Man hatte ihn von allen Seiten umringt. »Ist der richtige Mann gefunden, der sein Leben der Sache der Nation weihen will? Wer ist es?«
»Ich kenne den Namen nicht; jedenfalls wird es nicht an dem rechten Manne fehlen. Doch wird es gut sein, wenn wir unsere heutige Versammlung nicht länger dauern lassen. Es wird besser sein, daß wir uns trennen. Die hochwürdige Äbtissin mag Fräulein von Marowska mit mir bis zum Spitalplatz begleiten.«
Es schien dem jungen Mädchen wenig an dieser Begleitung gelegen, doch ließ sie sich nicht ablehnen, ohne Verdacht zu erregen; bereits hatte auch die Äbtissin ihre Zustimmung ausgesprochen und auf ihre Einladung folgte Wanda ihr zu dem harrenden Fiakre, wo sie auf dem Rücksitz Platz nahm, während der Pater sich neben die Äbtissin setzte. Der Kutscher – die Warschauer Fiakres, fahren gleich den Wienern sehr rasch – hatte den Wagen kaum in Bewegung gesetzt, als die Äbtissin sich zu dem Mädchen wandte. »Ich hätte in der Tat gewünscht, mein Kind, daß Sie den Umstand, den ich heute durch Zufall erfahren mußte, mir früher mitgeteilt hätten, denn ich kann unmöglich annehmen, daß Sie absichtlich mein oder vielmehr der heiligen Kirche Interesse schädigen wollten. Es ist die Sache Polens, für die jenes Vermögen bestimmt ist. Wenn Graf Czatanowski keine Kenntnis von jener Urkunde gehabt hätte, wäre es leicht möglich gewesen, mit einer kleinen Änderung des Datums jeden Zweifel über die Berechtigung unseres Anspruchs zu vermeiden. Ich fürchte, daß er sich auf die Verjährung und den versäumten Rückkauf stützen wird. Hat er Ihnen in dieser Hinsicht Andeutungen gemacht? Ich verlange jetzt ein rückhaltloses Geständnis, Ihre Unvorsichtigkeit hat uns, wie ich Ihnen andeutete, bereits Schaden genug gebracht.«
»Zweifeln Sie an meinem Recht, meinen Verwandten das Dokument vorzulegen?« fragte die junge Polin stolz.
»Ich will dies Recht nicht gerade bestreiten, aber ich wiederhole Ihnen, es war unvorsichtig, es zu tun, ich habe Ihnen bereits gesagt, wie leicht sich jeder Einwand hätte vermeiden lassen. Sie wissen recht gut, daß das hundertjährige Recht des Rückkaufs gerade mit dem vorigen Jahr abgelaufen ist. Was hätte es geschadet, dies Recht um eine kurze Zeit hinauszuschieben?«
»Was Sie da andeuten, wäre ein Fälschung gewesen, zu der ich niemals meine Hand geboten hätte. Auch dann noch wäre, wie ich annehmen darf, der Anspruch ein zweifelhafter gewesen, da die Konfiskation von den damaligen Machthabern nicht zurückgenommen wurde.«
»Das alles sind Erwägungen, die nicht Sie, sondern die heilige Kirche zu entscheiden hatte,« sagte die Äbtissin streng. »Nur in dem unbedingten Gehorsam gegen die Anordnungen des Pater Hilarius können Sie das Versehen wieder gut machen und wir Sie ferner als eine treue Tochter der Kirche und gute Patriotin anerkennen; – ich weiß, daß Graf Hippolyt Ihnen ein nicht unbedeutendes Vermögen hinterlassen hat; wie hoch ist der Betrag nach der Summe, die Sie dem National-Komitee in Paris als Ersatz schuldig zu sein glaubten?«
»Diese hat die Hälfte des Nachlasses betragen, es sind mir 30 000 Gulden geblieben.«
»Und dieses Geld?«
»Mein Oheim, der Graf Czatanowski hat die ganze Summe vor meiner Abreise auf ein neugekauftes Grundeigentum bei Slawice hypothekarisch eintragen lassen und wird mir vierteljährlich die Zinsen senden.«
»So haben Sie, wenn ich recht verstehe, sich der freien Disposition darüber begeben?«
»Auf die nächsten fünf Jahre.«
»Sie besitzen doch das Dokument darüber?« sagte, zum ersten Mal sich in das Gespräch der beiden Frauen einmischend, der Pater.
»Das Dokument blieb in Slawice zurück. Die Hypothek ist wie ich Ihnen sagte auf die nächsten fünf Jahre unkündbar.«
»Aber Sie haben das Eigentumsrecht behalten, und es wird sich ein Weg finden, wenn auch mit Verlust, das Kapital an zuverlässige Personen übertragen zu lassen, und es so den deutschen Feinden aus den Klauen zu reißen. Ich werde mich als Ihren Vormund betrachten und für Ihr bestes sorgen.«
»Ich sehe keinen Grund zu dieser Änderung,« sagte das Mädchen entschlossen. »Graf Czatanowski ist mein nächster männlicher Verwandter und durch eigene Wahl für die kurze Zeit bis zu meiner Mündigkeit mein Vormund geworden.«
»Hüten Sie sich,« bemerkte der Pater finster, »durch Ihren versteckten Trotz den Argwohn herauszufordern, absichtlich und wohl überlegt in dieser Weise gehandelt zu haben und eine versteckte Feindin Polens zu sein. Man würde Sie bei der Nationalregierung anklagen, ich würde gegen Sie zeugen müssen.«
»Auch hiergegen? – – – – – – – – –«
Sie hob den verstümmelten Arm gegen den Priester.
»Auch gegen dieses Zeugnis! Ihr Patriotismus kann Sie damals richtig geführt, aber seitdem eine Änderung erfahren haben. Sie haben noch vor einer Stunde in der Versammlung wahrer Patriotinnen gehört, daß einer guten Tochter des Vaterlandes kein Opfer zu groß sein darf. An die Stelle der Kirche, deren Rat und alleinige Entscheidung Sie zu verschmähen scheinen, wird das Tribunal der Nationalregierung treten und Ihr künftiges Verhalten bestimmen.«
»Und wer würde mich bei diesem anklagen?«
»Ich selbst, wenn es sein muß.«
Die junge Polin sah ihn finster an, während sie zugleich die Schnur an dem Arm des Kutschers zog, denn der Wagen war in der Nähe des großen Spitals angekommen.
»Wie meinen ermordeten Verlobten,« sagte sie streng, »der Verräter Prot Asnik war nicht der einzige, den die wohlverdiente Strafe traf. Ich weiß, wer das Urteil fällte, dessen Vollstrecker nur er war. Wenn die Oberen der Brüderschaft es für nötig halten, daß eine verstümmelte Waise auch die geringen Zinsen jenes Vermögens auf dem Altar des Vaterlandes niederlegt, wird Wanda Marowska ihre wenigen Bedürfnisse gern noch mehr einschränken, aber die Gabe soll eine freiwillige sein, wie es mein Blut gewesen ist. Ich bin jeden Augenblick bereit, mich dem Tribunal vom Kreuz zu stellen, wie ich bereit war, vor dem Zentral-Komitee meine Anklage zu erheben. Bis dahin lassen Sie eine unglückliche aber treue Tochter unseres unglücklichen Vaterlandes nur der Stimme ihres Gewissens folgen. Wenn Sie meiner bedürfen, hochwürdige Frau, Sie werden mich stets bereit finden – im Spital!«
Sie hatte ohne Beistand des Fiakerkutschers oder des Geistlichen den Wagen verlassen, ja, den letztern mit einer Handbewegung zurückgewiesen. Der Pater Hilarius stieg nach ihr aus, da es trotz seines kirchlichen Charakters unpassend gewesen wäre, bei der Äbtissin zurückzubleiben, aber während er dem armen Mädchen einen finstern gehässigen Blick nach dem Eingang des Spitals nachsandte, bog er sich noch einen Augenblick zurück in das Innere des Wagens.
»Fahren Sie zum Hotel zurück, und wechseln Sie rasch das Kleid – ich erwarte Sie am Kloster, es ist nötig, daß wir uns noch diesen Abend sprechen,« sagte er auf Italienisch.
Die Äbtissin nickte Zustimmung, und der Pater ging in der Richtung des Bernhardiner Klosters mit dem gewöhnlichen Schritt der Religiösen weiter, hin und wieder einem demütig sich beugenden Frommen seinen Segen erteilend, aber ohne sich aufzuhalten, nur mit dem fromm gesenkten Blick sorgsam umherspähend, daß auch von den ihm wohlbekannten Polizeidienern an den Straßenecken sein Eintritt in das Kloster bemerkt werde.
Die Pforte des Klosters stand offen. Auf seiner Schwelle lagerten jene widerwärtigen Gestalten der Bettler umher, die, wie in Italien so auch in Polen die Zugänge der Klöster und Kirchen zu belagern pflegen. Der Pater schien die stehenden Figuren wohl zu kennen, denn er musterte sie mit scharfem Blick, schien unter ihnen die Verdächtigen und Zweifelhaften wohl zu unterscheiden, denn er wußte sehr wohl, daß die russische Polizei grade unter diesen Leuten ihre besten Spione hat, und begnügte sich mit der Erteilung seines Segens. Nur als an einem der Krüppel, einem Lahmen auf zwei Krücken, wie zufällig sein Auge haftete und er den halbblödsinnigen Ausdruck seines Auges auf sich gerichtet sah, zuckte es wie leichter Spott über sein frommes und ernstes Gesicht.
»Pan Drosdowicz,« murmelte er unter dem Segen, den er der lungernden Gesellschaft erteilte, »wird noch diesen Abend seine vollständigen Berichte erhalten und ruhig zu Bette gehen können.
Ob sein erster Rapport morgen so willkommen sein wird, steht sehr zu bezweifeln. Wir müssen sehen, wie wir ihn überlisten – das Mädchen macht mir in der Tat Besorgnis – ich fürchte, Mutter Mathildis hat heute ihren gehässigen und habsüchtigen Charakter etwas zu unvorsichtig exponiert. Die Andeutung mit der Verurteilung des törichten Schwärmers, die auf ihren Betrieb erfolgte, drängt, – in einer Stunde darf ich sie erwarten.«
Als er in den nächsten Korridor trat und an der Loge des Bruder Pförtners vorüberging, blieb er an dieser stehen und wechselte mit dem Mann einige Worte.
»Ist der Pater Nepomuk zu Hause?«
»Er hat das Kloster nicht verlassen.«
»Laß ihn wissen, daß ich noch diesen Abend mit ihm sprechen werde. Ich bin für jede Nachfrage mit der Predigt für übermorgen in meiner Zelle beschäftigt. Liegen die Kleider bereit?«
»Sie sind es, Bruder Hilarius.«
»Dann gib das Zeichen, den Ausgang zu öffnen. Ich kann erst um die Mitternachtsmesse zurückkehren, triff Deine Anstalten. Es ist sehr möglich, daß morgen im Kloster eine neue Haussuchung stattfindet.«
»Ist Gefahr?«
»Nicht für uns! Laß auf das Bereitwilligste und ohne Widerstand die vorderen Keller öffnen.«
»Und wenn Seine Hochwürden nach der Ursache fragen?«
»So weiß sie niemand! Es ist besser, daß der Herr Prior mit Recht alles leugnen kann und volle Unkenntnis behaupten darf. Du weißt, Bruder, es sind einige Unzuverlässige unter uns. Doch – ich muß eilen – also Vorsicht und Entschiedenheit!«
Er hatte die Zelle des Pförtners verlassen und ging in das Innere des weitläuftigen Klosters ohne sich mit den wenig Begegnenden mehr aufzuhalten als durch kurze Worte. Es war offenbar, daß Pater Hilarius im Kloster großen Einfluß übte, obschon er keine der offen anerkannten obern Würden bekleidete. Die Zahl der ordinierten Mönche war nicht groß, aber wie streng und einfach eigentlich auch die Ordensregel der Bernhardiner ist, die ihnen selbst die Kirchenpracht sehr beschränkt und ihnen strenge und einfache Zucht auferlegt; die Zisterzienser, von denen die Bernhardiner, die ihren Namen nach dem berühmten heiligen Bernhard von Clairvaux führen, abgezweigt sind, haben überall verstanden, durch zweckmäßige Wahl ihrer Klöster und Abteien auf ihre Umgebungen großen Einfluß zu üben, sei es durch die ländliche Lage, durch die Weitläufigkeit und die Großartigkeit ihrer Bauten, sei es durch Gelehrsamkeit und allerlei Industrien. Dasselbe war einst auch bei dem Bernhardiner Kloster in Warschau der Fall. Das Kloster verstand auch bei den neu beginnenden Unruhen seine Lage, seine Räume und seine Vorrechte sehr wohl zu Gunsten der nationalen revolutionären Agitation auszubeuten und galt mit dem auf der andern Seite der Krakowski belegenen Kreuzkloster unter den Eingeweihten für einen der Hauptheerde der Verschwörung.
Der Pater Hilarius betrat nur kurze Zeit seine in einem der hinteren Flügel gelegene, geräumige aber klösterlich eingerichtete Zelle, legte hier Skapulier und weißes Ordensgewand ab, und verließ sie in dem einfachen Chorrock der Mönche. Dann wandte er sich nach den Räumen des Laboratoriums, dessen Leitung er führte. Hier verschwand er in einer anstoßenden Zelle, und als er aus dieser wieder zum Vorschein kam, und seinen Weg durch einen andern Kreuzgang fortsetzte, war jede Spur eines geistlichen Abzeichens aus seinem Äußeren verschwunden. Er trug die einfache bürgerliche Kleidung eines Handwerkers mit den gewöhnlichen Abzeichen eines Maurers, der von seiner Arbeit kommt, ja verschiedene Geräte, die auf diese Arbeit deuteten, auf den Schultern. In dieser Verkleidung wandte er sich zu einem hintern Ausgang des Klosters, verließ es und ging dreist über die Straße. Er war noch nicht weit gekommen, als eine Frau in der ärmlichen und unsaubern Kleidung der untersten Arbeiterklassen sich zu ihm gesellte und seinem Weg nach dem Stromufer folgte, ihm einen Teil der Gerätschaften hilfreich tragend.
Auf einem der dort befindlichen Bauholzhöfe verschwand das Paar zwischen den aufgestapelten Holzstößen.
»Laß uns hier niedersitzen – von der Weichsel her beobachten die Flißaken jede verdächtige Annäherung, drüben stehen die gewöhnlichen Wächter; es ist nötig, daß wir uns über einige Punkte verständigen, ehe ich die Zusammenkunft besuche. Du bist also einverstanden mit dem Beschluß?«
Wir haben wenig Vorteil davon, ihn zu verhindern; bei dem Großfürsten selbst wäre es etwas anderes. – Der General weist jede Warnung einer persönlichen Gefahr zurück. Er mag immerhin das Opfer seiner Torheit werden.«
»Gut – nur …«
»Du mißtraust der Marowska?«
»Nicht ihrer Aufrichtigkeit, aber ihrer Selbstständigkeit!«
»Ich verspreche Dir, von dem Augenblick an, wo sie die Erbschaft auf mich übertragen hat. Dir ihr Leben preiszugeben – – mag sie fallen wie ihr angeblicher Bräutigam fallen mußte, der unser Geheimnis verraten konnte.«
»Durch Deine Unvorsichtigkeit!«
»Mag sein; jetzt sind wir die Besorgnis los. Die Marowska kann keine Ahnung davon haben. Hast Du keine andere Beobachtung unter jenen albernen Weibern gemacht?«
Der verkappte Priester sah sie fragend an. »Was meinst Du?«
»Die Dembinska!«
»Torheit! Ihr Fanatismus steht über allem Zweifel! Sie ist der polnischen Sache noch mehr ergeben, als die Marowska.«
»Ich meine nicht die Mutter – die jüngere! Sie verbirgt ein Geheimnis, das wahrscheinlich ihre Mutter selbst nicht ahnt. Euer Beichtstuhl, Priester, ist eine Jammeranstalt! Ich sage Dir, Hilarius, nicht Männer sollten im Beichtstuhl sitzen, sondern Weiber. Sie allein verstehen es, das Verborgenste zu ergründen.«
»Du bist und bleibst ein Satan. Es ist wahr, es gibt noch sogenannte Gewissen, deren Bekämpfung uns Schwierigkeiten genug bereitet. Welchen Verdacht hast Du gegen die Dembinska?«
»Sie hat Sympathieen für die Russen!«
»Woraus schließest Du das?«
»Hat Dir ihre Ohnmacht nicht zu denken gegeben?«
»Du hast gehört, daß sie eine schwere Krankheit überstanden hat. Weibernerven sind empfindlich und schwach.«
»Nur in einem Punkt, glaube mir. Erinnere Dich, daß ihre Ohnmacht mit der Erwähnung eines Russen, des Fürsten Ilinski, zusammenfiel. Kennst Du ihn?«
»Nur flüchtig – ein echter Moskowit und Aristokrat, aber ein schöner Mann. Er stand früher in Modlin in der Nähe der Dembinskischen Besitzung,« sagte der Pater nachdenkend.
»So verlaß Dich darauf, die kleine Dembinska kennt ihn genauer, als wir ahnen. Nur die plötzliche Erwähnung seines Namens hat ihre Ohnmacht veranlaßt. Dieser Fürst ist reich?«
»Nach dem Tode seines Oheims, einer der reichsten Grundbesitzer Rußlands, selbst nach der Aufhebung der Leibeigenschaft. Man wunderte sich längst, daß seine Familie ihm gestattete, so lange in Polen zu dienen, und wird sich noch mehr wundern, daß er jetzt sein Abschiedsgesuch zurückgenommen hat.«
»Man hat niemals von einem Verhältnis des Fürsten zu der Komtesse Dembinska gehört?«
»Niemals! Mutter und Schwester sind enragierte Polinnen und hätten jede Annäherung eines Russen verhindert, obschon der Vater schwach genug gewesen wäre, denn er war ein Lauer und die ältere Komteß sein Liebling. Ihr Haus konnte den Offizieren von der Garnison allerdings nicht verschlossen bleiben, so wenig, wie eine Begegnung in den Gesellschaften des Statthalters.«
»So verlaß Dich darauf, Hilarius, es bestand oder besteht noch ein Band zwischen dem Fürsten und der Komteß, sei es auch nur, daß sie ihn im Stillen liebt, obschon ich an die Schwärmerei einer sogenannten unerwiderten Liebe wenig glaube.«
»Meinetwegen, aber warum erzählst Du mir dies Alles? Was kümmert das uns, die wir Wichtigeres zu bedenken haben.«
»Ein Geheimnis darf sich kein kluges Weib entgehen lassen, nur im Wissen und Haben liegt die Macht. Wenn Ilinski in der Tat reich ist, könnte es wohl der Mühe lohnen, die Spur, die ich Dir andeutete, zu verfolgen. Laß das meine Sache sein, mir ist es, als könnte die Marowska dazu helfen, denn die Bitte der Komteß, sie besuchen zu dürfen, schien mir nicht ohne Bedeutung und Absicht. Vielleicht kann sie doch noch unserem Hauptzweck dienen, nachdem ihre albernen Bedenken ihn so schwer geschädigt haben.«
»Handle, wie Du willst! Ich mag Dir nicht verbergen, daß mir die Marowska immer wie ein böser Geist all' unserer Pläne vorkommt, und daß ich nicht eher Ruhe haben werde, bis das bleiche Gespenst nicht mehr schaden kann. Es ist eine Ahnung, die uns warnt. Ehe nicht der Ozean oder wenigstens der Kanal zwischen uns liegt, werde ich keine Ruhe haben. Was sagst Du zu der Einbildung dieser hochmütigen Weiber, daß all' das Blut, das wir säen, nur für Euch Aristokraten fließen soll?«
»Oder für die Zwecke Roms? Es wäre eben so albern. Laß uns an uns allein denken. Hast Du auf Mittel gesonnen, uns ohne Gefahr unsern persönlichen Anteil an dieser angeblichen National-Besteuerung zu sichern? Wieviel sagte die Gräfin – – fünfmalhunderttausend Gulden?«
»Noch immer keine Million und wir bedürfen dieser, um uns unsere Freiheit damit zu erkaufen. Bedenke, Mathildis, daß die Hand Roms über den ganzen Erdball reicht!«
»Darum eben Kampf gegen Rom! Ich hasse seine Fesseln und es muß sich ein Mittel finden, seiner Macht zu entgehen, ohne daß unser Witz ihm mehr als einen Brocken von unserem Raube steuern muß. Laß erst Rom selbst fallen, und der Unglaube allein wird die Weltherrschaft haben. Lieber will ich in das Nichts versinken, als Rom die Beute gönnen. Vor der Hand laß uns kämpfen! Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir frei sein – bis dahin lebe die Macht und der Genuß!«
»Bedenke, daß wir grade durch die Kirche herrschen könnten!«
»Über die Dummheit, nicht über die Geister! Laß uns das Thema nicht noch einmal berühren, alles Erschaffene hat seine Grenzen. Was kümmert es uns, was dahinter kommt. Bist Du ein freier Geist, daß Dich ein Weib beschämen soll?! In der Macht, zu vernichten, liegt ein höherer Reiz, als selbst in der Macht zu herrschen und zu genießen. Die Welt ist dazu da, beides zu prüfen. Bis dahin warte und räche Dich und mich!«
Der Priester schüttelte den Kopf über diese furchtbare Philosophie. »Du bist schlimmer als Bakunin; Dein Glaube ist schlimmer als der Nihilismus, der wenigstens an das Recht des Genusses glaubt!«
»Diesseits des Grabes! – Hättest Du, wie ich, in den Kerkern der heiligen Rosalie fünf Jahre zugebracht, würdest Du anders denken über die Ewigkeit. Laß uns vorwärtsgehen auf dem Wege, den wir uns vorgezeichnet, bis zur Vernichtung. Daß wir ihr aber nicht trotzen können, das ist ja eben der Fluch der Geister. Sieh die Veronika an, sie ist älter als ich und macht sich das Herz nicht schwer mit Grillen, sondern genießt und – haßt, wie es der Augenblick bringt! Ich weiß, sie hat die Aufgabe erfüllt, die ich ihr stellte und erwartet mich, stolz darauf!«
»Und willst Du, daß wir sie mit uns nehmen auf unserer Flucht?«
»Tor! Wer denkt daran? Was kann sie uns nützen, wenn ich hier meine Aufgabe erfüllt habe. Sie mag die Barbara Ubryll weiter bewachen, damit ihr Geheimnis nicht vor der Zeit ans Tageslicht kommt, oder« – und über die Züge des teuflischen Geschöpfes flog etwas Lichteres, Besseres als die furchtbaren Gedanken – »hoffst Du noch auf Barbaras Geständnis? Du warst lange genug in Krakau, um Dir zum letztenmal Überzeugung zu verschaffen?«
»Man hält sie für unheilbar blödsinnig! Gib es auf!«
Die Äbtissin hatte die Hände verschränkt, als sie der Antwort des Paters lauschte. »Es war Torheit von uns, auch nur zu hoffen auf das einzige, was meine Seele als menschliches Gefühl hätte erheben und retten können. Fortan sei es Nacht! Das Nichts, also die Vernichtung!« flüsterte sie. Dann wandte sie sich wieder zu ihrem Gefährten. »Höre nicht auf mich, Hilarius! habe Dank dafür, daß Du mir den Weg nach Krakau ersparst – es wäre doch gefährlich für mich gewesen, das Beispiel Veronikas hat mir bewiesen, daß mich auch noch andere hätten erkennen mögen. Es ist besser für mich, das Grab der Jagellonen nicht wieder zu sehen. Sagtest Du nicht, daß unsere Sache hier gefährdet sei?«
»Hauptmann Dombrowski fürchtet versetzt zu werden!«
»So laß uns eilen – wenn wir von seiner Denunziation einen Vorteil haben können. Desto rascher wird sich dann die National-Regierung entschließen müssen, loszuschlagen. Es ist Zeit, daß das Blutbad beginnt. Bedenke, daß ein Zufall uns das Ziel aus der Hand reißen kann. Auf was wartest Du noch?«
»So willst Du Dich wirklich von der Kirche losreißen? Du glaubst nicht an sie?«
»Nur so lange der Wahnglaube an sie meinen eigenen Zwecken dient und uns nutzbar ist. Du selbst legtest die ersten Zweifel in meine Seele.«
»Es war vielleicht töricht genug, daß ichs tat, die Saat ist dem Sämann über den Kopf gewachsen – ich kann Dir nicht verhehlen, daß mich schon bei Deinen ersten Bekenntnissen Grauen erfaßte.«
»Und glaubst Du selbst an die Lehren Roms?«
»An etwas muß der Mensch sich halten; so ist es Dir mit der Befreiung Polens, mit der Herstellung seiner alten Größe ernst? Du hassest seine Unterdrücker?«
»Stehst Du noch in den Kinderschuhen, Hilarius? Was kümmern mich Polen, Preußen, Rußland – ich hasse alle Fesseln des Ich. Ich würde Rom ebenso gern brennen und vernichten sehen, wie Petersburg oder Paris. Ich wiederhole Dir zum letzten Mal, die Hoffnung zu vernichten ist mein Zweck, meine Religion, die Macht dazu das Ziel, nach dem ich strebe. Solange mir Rom und der polnische Aufstand den Weg dazu zeigen und die Mittel bieten, unterstütze ich sie mit all meiner Schlauheit. Wer ist hier von den Führern der Erhebung?«
»Du hörtest es bereits – Chmelenski!«
»Ein Phantast für die Wiederherstellung Polens wie die Marowska! Ein Wegebahner – kein selbständiger Geist.«
»Ludwig Okuliarnik, der Brillen-Ludwig?«
»Schon besser – glaubte ich an Tugend und Wahrheit, so würde ich sagen nach dem Wenigen, was ich von ihm sah, es läge eine Römernatur in ihm, und er wäre ein wirklicher Republikaner, der um die Volksfreiheit und Gerechtigkeit kämpfen könne. Er wird erliegen, wie die andern, aber er wird als freier Geist für seine Ideale zu sterben wissen. Aber noch nanntest Du den nicht, auf den ich hoffe, – den Litthauer!«
»Traugut?«
»Ja, der ist es, auf den ich vertraue, der mir gleicht, der denselben Zweck hat wie ich, das Vernichten! Ich sage Dir, Hilarius, da Du doch nicht groß genug denkst, um mich zu begreifen, erst, wenn dieser Mann an der Spitze der Revolution steht, dann bin ich zufrieden und bin bereit, in das nichts zu gehen, oder in Amerika ein neues Leben zu suchen, denn ich werde dann gerächt sein an den Menschen.«
Der Priester sah sie spöttisch an. »Schade, daß Du nicht mehr jung genug bist, Dich ihm zur Geliebten anzubieten.«
»Ich war die Deine, und das genügte, mich zu der zu machen, die ich bin. Doch da kommt das Signal, das Dir gilt, wie ich glaube. Also Eure Zusammenkunft ist auf den Flößen?«
»Ja, gerade die Rohheit, der fast tierische Bildungsgrad dieses Volkes ist die beste Bürgschaft für seine Treue und Verschwiegenheit. Sie wissen, daß ich ein Priester bin und gehorchen deshalb blindlings. Dazu fehlt es ihnen keineswegs an Schlauheit, wo es solcher für unsere Sicherheit bedarf. Und wohin gehst Du?«
»Zur Apotheke; dort treffe ich die Veronika wieder, – sie hat dem törichten Knaben seine Instruktion gebracht das Spiel mit ihm mag zusammen mit dem mit der Marowska enden, ich bin seiner müde. Sobald Langiewicz oder Mieroslawski die Grenze überschritten haben und die Bewaffnung organisieren, sende ich ihn zu diesen.«
»Es ist das einzige Kind Deiner Schwester?«
»Ist er besser als andere? War sie es nicht, die dazu beitrug, daß man mich für das Kloster bestimmte? Glaubst Du, daß der Tod seines Vaters allein genügende Sühne gewesen ist für die mir gestohlenen Jahre?«
Der Priester hatte sich von ihr gewendet; welcher Verbrechen er sich auch anzuklagen haben mochte, diesem mehr als teuflischen Haß gegenüber fühlte er doch Teilnahme für den ahnungslosen hochherzigen Knaben und Abscheu gegen das Spiel, das man mit ihm trieb.
Das Signal vom Flusse her mahnte zum zweiten Male – er begnügte sich, der Frau die Hand zu reichen. »Bleibe morgen im Hotel« sagte er, – »es wird genügen, wenn Du die Veronika zur Vesper sendest. Die Nachricht von dem Erfolge wirst Du schon im Hotel vor Mittag erhalten haben. Man kann nicht voraus wissen, was geschieht, und welche Maßregeln ergriffen sind. Laß die Geräte hier, – der Maurer, dem sie gehören, holt sie morgen früh wieder ab.«
Er ging durch die Holzstöße zum Ufer des Flusses, wo einer der Flößer mit einem Boot seiner harrte.
Es ist ein seltsames Völkchen, diese Flißaken. Aus der holzreichen Ebene Masoviens ziehen alljährlich tausende armer, aber fleißiger Holzhauer, teils auf eigene Hand, teils von reichen Holzhändlern gedungen, zum Fällen der Wälder am Bug, der Narew und Weichsel während der Winterzeit und zum Transport der gefällten Stämme auf dem Wasser aus den Karpathen bis zur Küste der Ostsee, namentlich nach Danzig. Ihr Floß, oder das leichte Schiff, das sie selbst gezimmert, ist nach der Erdhütte ihrer Heimat ihr Wohnort. Hier hausen sie, oft mit Weib und Kind, bilden eine förmliche Gilde, führen ihre geringen Bedürfnisse mit sich oder kaufen sie billig in den Uferdörfern ein und verbringen ihre Zeit mit der schweren Arbeit des Steuerns der Flöße durch die Windungen des inselreichen Flusses, mit Musik und Tanz, dessen leidenschaftliche Liebhaber sie sind, mit Gesang und Trinkgelagen, sind sonst äußerst sparsam und genügsam, bis sie am Bestimmungsort, oder wo sie sonst ihre Holzvorräte losschlagen können, die Flöße und Schiffe verkaufen, ihre alten Kleider verbrennen, und sich neu versorgen. Dann wandern sie getrost in lustigem, munterm Zuge, die Pfeife und Fiedel voran, den Spahnkober auf den Rücken gehängt, stromaufwärts wieder zu den Wäldern ihrer Heimat zurück, um von dem mühsam ersparten Verdienst einen neuen Holzschlag zu erwerben, oder sich aufs Neue an einen wohlhabenderen Unternehmer zu verdingen, den Bau ihrer Flöße und Kähne wieder zu beginnen, und die alte Fahrt aufs neue zu wiederholen. Erst im hohen Alter, oder wenn sie irgend ein Unfall erwerbsunfähig gemacht, bleiben sie in den Erdhütten der Heimat, bauen Hafer und Grütze und beschäftigen sich mit ländlichen Arbeiten ihrer Nomadenbrüder, der Slovaken.
Die österreichische und russische Regierung stellen dem fleißigen, tätigen Völkchen möglichst wenige Hindernisse in den Weg – von Zeit zu Zeit findet eine sehr nachsichtige Rekrutierung aus seinen Reihen statt, und da die Erfahrung lehrt, daß das Völkchen nur sehr selten an den politischen Agitationen und Bestrebungen Teil nimmt oder wenigstens aus eigener Neigung bald wieder zur gewohnten Beschäftigung zurückkehrt, unterliegt es auch in dieser Beziehung weniger der Kontrolle als die andere Bevölkerung.
Dennoch lieben die Flößer nicht weniger ihr Vaterland, sind zu heroischen Taten, zu aufopferndem Patriotismus fähig, voll Herz und Mut, vor allem aber eifrige Katholiken. Das Wort des Priesters, der kaum auf einer höheren Stufe der Bildung steht, und den sie höchstens im Jahr drei oder vier Mal zu sehen bekommen, wenn es nicht in einer Uferstadt geschieht, deren Kirchen sie eifrig besuchen, gilt ihnen als unverbrüchlicher Befehl, die schwarze Jungfrau von Czenstochau als ihre höchste Heilige.
Als der Pater Hilarius zu dem Mann am Ufer kam, machte er das Zeichen des Kreuzes, zog unter der unscheinbaren Jacke einen Rosenkranz hervor, der neben dem Kruzifix eine silberne Medaille mit dem Konterfei der genannten Muttergottes trug und reichte ihm Kranz und Medaille zum Kuß. Der Mann prüfte die Medaille genau, was wegen der Dämmerung mehr durch das Gefühl als das Gesicht geschah, und machte eilig das Pademdonec.
»Und die heilige unbefleckte Jungfrau – in Ewigkeit Amen! Hast Du das Floß auf die Stelle gelegt, die Dir bezeichnet wurde?«
»Wie befohlen. Man sieht und hört die Schildwachen auf dem äußeren Wall der Zitadelle, Hochwürden, und mit zehn Ruderschlägen sind wir an der Sandinsel.«
»Dobre. Wenn alles gut geht und Ihr aufpaßt, sollst Du Absolution für das ganze Jahr haben – wie viele hast Du übergeholt?«
»Sieben, Herr, wie es befohlen – Ihr seid der letzte.«
»So fahre über – und Vorsicht an der Brücke, daß wir aus dem Lichtschein bleiben!«
»Tak tak, Herr, der Wenzel ist kein Dummkopf! Die schlitzäugigen Schufte müßten bessere Augen und Ohren haben, wenn sie etwas merken sollten. Sie haben den ganzen Tag Maulaffen feil gehabt und hätten gewiß gern mitgetanzt, wenn sie nur hätten ans Ufer kommen dürfen. So tranken sie uns wenigstens zu. Morgen mit Anbruch des Tages lassen wir uns treiben, und bei der zweiten Ablösung sind wir über die Rogatke hinaus.«
Er hatte das Boot gelöst und trieb den Strom hinab, an dem ersten Schlachthaus vorüber, der Zitadelle zu.
Obschon es streng untersagt war, hier anzulegen, kümmerten sich doch die Flößer sehr wenig um das Verbot und wurden auch wenig belästigt, wenn sie sich nur in der gehörigen Entfernung hielten. Grade die Öffentlichkeit ihres Treibens beseitigte jeden Verdacht, und die sonst ziemlich strenge Strompolizei begnügte sich, von ihren Booten aus dem nächtlichen Tanz zuzuschauen, nachdem sie einmal den vorgeschriebenen Besuch abgestattet und sich überzeugt hatte, daß der Oktroi nicht um seinen Zoll betrogen war. Ja, in den schönen Sommernächten erhielt das Volk häufig Besuch von Gesellschaften aus den höheren Kreisen, die auf stattlichen Barken und Gondeln eine Spazierfahrt machten und sich an dem Treiben auf den Flößen ergötzten. Der Gedanke, unter dem Schirm der Öffentlichkeit eine hochverräterische Versammlung zu halten, war demnach ebenso kühn als schlau. Um 11 Uhr mußte, den Vorschriften des Belagerungszustandes entsprechend, ohnehin der Verkehr auf dem Fluß wie auf den Straßen aufhören; jetzt aber hatte es eben erst 9 Uhr von den Türmen geschlagen.
Das Boot stieß an die breite Seite des ziemlich langen, aus großen Fichtenstämmen bestehenden Floßes, das an der Spitze wie auf dem hintern Teil die breiten langen Ruder führte, mit denen man seinen Lauf regiert. In der Mitte des Floßes vor der zum Unterkriechen während der Nacht oder bei schlechtem Wetter aufgeschlagenen, dachartigen Kajüte war der Herd und Tanzplatz. Zwei sehr urwüchsige Fiedeln und eine Schilfpfeife bildeten das Orchester und hatten eben einen Krakowiak begonnen, nach dessen wilden aber taktvollen Melodien Männer, Frauen und Kinder umher wirbelten und stampften.
Der Flößer half dem Pater aus dem Kahn, aber er preßte dabei bedeutsam seinen Arm, und zugleich vernahm er eine heitere Unterhaltung in französischer Sprache, der sich russische Ausrufe beimischten. Um das Herdfeuer, von dessen Schein gerötet sich Tänzer und Tänzerinnen in grotesken Figuren bewegten, hoben sich auch andere dunkle Schatten ab: russische Uniformen und elegante Frauen-Toiletten. Es war offenbar eine Gesellschaft von Offizieren mit ihren Damen, die auf ihrer Wasserfahrt von der Zitadelle her hier angelegt hatte, um eine Weile dem Tanz und Spiel zuzusehen.
»Hab' ich Sie doch gesagt, Kapitän Durchlaucht, werden sich kein größeres Vergnügen haben, als Damen zu führen hierher, is sich hier schöner als in die Ballet und alles Natur, veritable Natur. Sehen Sie Dirne da drüben, mit die rote Rock und die zerrissene Hemd. Hätten lange suchen können in die große Oper oder auf die Mabille, ehe Sie gefunden hätten ein Paar Waden, wie sie hat Dirne dort. Kamerad Atschikoff muß wissen, da er verstehn sich auf Artikel diejenigten.«
»Ich sehe Fürst, Sie beide scheinen noch immer die alten Sünder. Aber erinnern Sie sich wenigstens, daß wir auch andere Gesellschaft bei uns haben und schweigen Sie.«
Der kleine Tatar lachte, »Tut nix, sind sich Petersburger Damen nicht so prüde, verstehen sich Spaß, wenn es sich handelt um Volk niedriges. Wenn Sie geben wollen zwei Rubel zu Wutki für die Gesellschaft, – sollen Sie sehen noch ganz andere Dinge, is sich jetzt ohnehin langweilig in Warschau, hoffen, daß bald wiederum eröffnet wird Theater, wenn Kaiserliche Hoheit kommen nach Warschau.«
»Sie sind doch ein unverbesserlicher Schwätzer, Durchlaucht, die Sache soll ja vorläufig noch Geheimnis sein.«
» Sapristi, wird sich nicht lange Geheimnis sein, wenn mans schreibt von Petersburg her. Versteht das Volk hier kaum seine eigene Sprake und hab ik doch gesprochen in die französische Konversation. Schauen Sie noch einmal auf die Dirn, die gezeigt ihre Waden so hoch, – muß sich sputen, zu maken ein Vergnügen ihr junges Leben.«
»Und warum sich sputen? – Man hat mir gesagt, daß dies Volk alle Tage und Nächte tanzt, die ganze Weichsel hinab bis Danzig!«
»Wird sich nix kommen nach Danzig; ist Wasser schlimm, wird liegen bald auf die Grund, wo sein sehr naß; tut mir auf Ehre leid um so hübsche Dirne, sehre leid!«
»Hol Sie der Teufel!« wandte sich einer der Offiziere zu ihm, »können Sie denn diese Manier, Gespenster zu sehn, gar nicht lassen, Fürst? Es heißt Ihren Freunden jedes Vergnügen verderben. Der Kriegsminister sollte sie wirklich wieder zum Kaukasus schicken!«
Der Fürst rieb sich vergnügt die Hände, »wer wird immer sein so heftik, Freund Atschikoff. Ist mir blos eingefallen heute abend, weil ik gesehen Dirne da so lustik, und muß doch versaufen, noch ehe sein aufgegangen vielmal die Mond.«
»Pah – Sie haben mir es auch prophezeit und ich lebe noch, habe auch gar keine Lust, Ihren Unkenrufen zu folgen. Nehmen Sie sich in Acht, daß General Lüders nicht hinter ihre Tollheiten kommt, er ist nicht so nachsichtig wie Gortschakoff, der Ihnen die Manie zu Gute hielt von Sebastopol her.«
»Ist sich gewesen, Freund, General Gortschakoff ein kluger Mann, der sich nicht gefürchtet vor Tod, so wenig wie Generalgouverneur unser jetzigter, obschon ich wünschen möchte, daß er sich nicht so exponierte unter Volk hiesigtes.«
»Wie? Sie glauben doch nicht, daß die albernen Drohbriefe, die er erhielt, wegen der Exekution auch nur die geringste Bedeutung haben könnten? Ich glaube, der General hat sehr wohl getan, dies durch verdoppelte Sorglosigkeit zu zeigen!«
»Ist sich Exzellenz ein sehr kluger Herr und muß sich das verstehn. Braucht auch nicht so am Leben zu hängen, wie Freund Atschikoff, der liebt so sehre die Weiber und den Wein, da er ist sich ein alter Mann, oder Durchlaucht Kamerad, der gehen soll auf Freiers Füßen, was betrüben würden kewiß sehr kleine Komteß Dembinska, die Sie ankesehn immer so schmachtend.«
»Unsinn«, sagte ärgerlich der junge Fürst, »Salon-Geschwätz! Sie werden mich verbinden, Herr Kamerad, wenn Sie ihm in beiden Richtungen hin bei jeder Gelegenheit sehr ernstlich widersprechen. Ich habe weder daran gedacht, mich zu verloben, noch hat mir die Komteß Dembinska je Avancen gemacht. Ich halte es vorläufig mit Freund Atschikoff und liebe meine Freiheit. Seine kaiserliche Hoheit der Großfürst könnte ohnehin keinen verheirateten Adjutanten brauchen. Ich werde übrigens morgen die Gelegenheit wahrnehmen, da ich nach der Parade zum Generalgouverneur beschieden bin, ihm die Warnungen vor Komplotten zu wiederholen, die mir in Paris geworden sind. Meuchelmord liegt zwar nicht im polnischen Charakter, indes die politische Agitation wächst überall und treibt ihre Blasen selbst in dem sonst so ruhigen Deutschland, wie im vorigen Jahr das Attentat gegen den König von Preußen bewies.«
»Sollte mir leid tun um Exzellenz,« sagte der tatarische Fürst, »würde ich aber sehen ihn sicher vorher tot, wie ich gewußt hab' vorher, daß sterben wird General Gortschakoff, was kewesen mein Gönner und Freund. Wird sich sicher sterben in seinem Bett wie er.«
Fürst Ilinski wandte sich rasch zu ihm. »So erstreckt sich also Ihre Gabe des zweiten Gesichts vielleicht nur auf gewaltsame Todesarten?«
»Ist sich Gabe von meiner Großmutter seligten, die gewesen berühmt dafür; zeigen mir, wenn jedermann sterben wird in Jahresfrist, gleichviel wie.«
»Das Geschenk ist jedenfalls unheimlich genug und wenn ich Lust habe, ein Testament zu machen, werde ich Sie zu Rate ziehen, obs lohnt oder nicht. Ich glaube wahrhaftig, Atschikoff hat an den schmutzigen Waden der masurischen Dirne Gefallen gefunden, er bringt das Lorgnon nicht von ihr weg.«
»Ist sich Kenner von Formen, Atschikoff, lieben sehr das Reelle. Was will sich die Kerl, kann er sich nicht nehmen in Obacht, oder ik werden ihm lassen zählen fünfundzwanzig auf den Hintern, vor den Respekt!«
Die Drohung galt einem Mann in Arbeiterkleidung, der von dem wirbelnden Tanz gedrängt, wahrscheinlich nur zufällig an den alten Oberst gestoßen hatte, jetzt aber eilig zurücktrat, eine Entschuldigung murmelnd. Der alte Flißak, der ihn hierhergeführt, stieß zugleich einen gellenden Ruf aus, der die Aufmerksamkeit seiner Kameraden auf ihn oder vielmehr auf die gefüllte Branntweinflasche lenkte, die er lustig schwang. Ohne sich viel um die vornehme Gesellschaft zu kümmern, war bald der ganze Schwarm um ihn versammelt und ließ die Flasche von Mund zu Munde gehen.
»Geseg'ns Dir die heilige Jungfrau von Czenstochau, guter Wenzel. Es war Zeit, daß Du kamst, denn wir hatten keinen Tropfen mehr, und die Kehlen waren so trocken, als hätten wir sechs Stunden hintereinander gerudert.«
»Schwämme, die Ihr seid, laßt dem Fiedler auch einen Schluck und dann mögt ihr die Lust aufs Neue beginnen. Der gnädige Herr dort will uns gewiß zwei Silberrubel zu einem frischen Krug schenken, ich habs mit meinen Ohren gehört. Laßt die Minka ihn an das Versprechen erinnern, sie hat ohnehin Gefallen gefunden vor seinen Augen!« Er trieb das Mädchen vorwärts nach der vornehmen Gesellschaft, der sie verschämt knixend einen Teller von Birkenrinde entgegenhielt: »Für arme Flißakenleute eine milde Gabe! Gott und die Heiligen werdens Euch tausendfach vergelten!« Die Offiziere betrachteten mit frechen Augen die jugendlich frische Dirne, dieselbe, deren wilder Tanz und deren üppige Formen vorhin bereits die Aufmerksamkeit auf sie gezogen, und die nur eines Schwamms und Kamms bedurft hätte, um sich mit den vornehmen Schönheiten vor ihnen erfolgreich messen zu können. Kenner, wie der Kapitän, hätten ihr auch so den Preis gegeben und bedauerten offenbar nur, daß die Anwesenheit der vornehmen Offiziersdamen sie hinderte, der Dirne unzweideutigere Zeichen ihrer Anerkennung zu geben, als die Silbermünzen, die sie ihr auf den Holzteller warfen. Der Beifall und Lohn, den das schwarzäugige Flißakenmädchen gefunden, hatte auch ihre Gefährtinnen ermutigt, ihr Heil im Anbetteln zu versuchen, und die Gesellschaft war bald so umlagert, daß die Damen es für geboten hielten, nach den von Pontonieren aus der Zitadelle geruderten Gondeln zu rufen und ihre Kavaliere an den Aufbruch zu mahnen.
Nur der Kapitän Atschikoff zögerte absichtlich, er hatte dem Mädchen zugeflüstert, sie möge noch einmal zu ihm zurückkehren, als der alte Flißak sie zur Seite zog.
»Wo sind die Pans?«
»Im Dunkel bei den Rudern!«
»So spül den Fiedlern die Gurgel aus, und laßt die Beine nicht steif werden. Stimmt ein Lied an, und drauf los. Du verstehst es, Kind, und sollst eine neue Schürze haben, wenn erst die Grenze hinter uns ist; will's auch nicht bemerkt haben, daß Du den Jaref neulich im Weidengebüsch mit dem Jäger betrogen hast, und der Moskowiter Offizier da drüben Dir nochmals winkte!«
Die Dirne war blutrot geworden, half sich aber mit gellendem Juchzer, der aufs neue zum Tanz rief.
»Du willst mich dem Jaref nicht verraten, wenn ich ans Ufer schwimme?«
»Was gehts mich an, wenn Du Dir Rubel holst, Ihr seid noch nicht Mann und Weib, und er mag die andern da zur Stadt zurückrudern. Doch nimm Dich in Acht, daß ers nicht argwöhnt, denn er ist eifersüchtig und will Dich wirklich heiraten vor dem Priester, wenn wir wiederkommen.«
»Ich mag ihn nicht, und hab' ihm bereits gesagt, daß ich mich verdingen will vorher auf zwei Jahr, um mir den Brautschatz zu verdienen.«
Der Alte zuckte die Achseln. Unter dem Stampfen und Singen der Tanzlustigen und während die Flißakendirne zu dem zögernden Offizier trat und ihm nochmals den Rindenteller entgegenhielt, hatte jener den Geistlichen zu dem entferntern Teile des Floßes geführt und deutete hier auf eine Anzahl Männer, die in der unscheinbaren Tracht der rauhen Holzarbeiter zwischen den langen Schlagrudern auf den Stämmen lagen oder an die Ruder lehnten. Einer von ihnen trat ihnen entgegen, im Schein des entfernten Feuers schien er den verkleideten Priester genau zu prüfen und zu erkennen; dann erst zog er die Hand von dem Revolvergriff zurück, den er unter der rauhen Bluse gefaßt hatte.
»Endlich, Pater! Wir warten seit fast einer Stunde auf Sie, unter den Mündungen der Kanonen unserer Feinde. Machen Sie es wie wir und legen Sie sich zu uns auf die Balken, damit die Schildwachen auf den Wällen keinen Argwohn schöpfen und eine Kugel herüber schicken. Wenn jene moskowitischen Hunde fort sind, werden wir ziemlich sicher sein und brauchen andern Besuch nicht zu fürchten. Der Wenzel ist treu und ein guter Sohn der Kirche. Es ist nicht das erste Mal, daß wir bei ihm und seinen Kameraden unsere Zusammenkunft haben, den russischen Hunden vor der Nase. Doch mag er den Spiegel des Flusses im Auge und das Tau in der Hand behalten, um uns bei dem geringsten Anschein von Gefahr hinüber zum Praga-Ufer treiben zu lassen.«
Der alte Flißak folgte der Weisung und warf sich unter der Seitenplanke der Flößer nieder, die gleichsam den Bord und Wasserschutz des primitiven Fahrzeugs bildete.
Drüben vor dem Herdfeuer tanzte die wilde Gesellschaft weiter.
Der Mann, der sie empfangen, gab dem Pater das Beispiel und ließ sich in dem Kreise der Polen auf die nächste Planke nieder. Der Schein des Feuers reichte nicht bis hierher, um die einzelnen Physiognomien erkennen zu lassen, als der Priester ihm folgte; sie alle rückten jetzt näher zusammen, auch, die an den langen Rudern kauerten.
»Ich sehe aus Deiner Anwesenheit, Bruder Hilarius,« sagte der Unbekannte, »daß Du meine Botschaft über den Ort der Versammlung erhalten hast.«
»Ich fand sie im Kloster an der gewöhnlichen Stelle vor einer Stunde, auch die Nachricht, daß der Versuch gemacht werden soll und die Hand dazu gefunden ist. Ich bringe die Zustimmung des Frauen-Komitees. Sie werden dafür sorgen, daß es an unverdächtigem Publikum nicht fehlen wird, durch das unser Freund entkommen kann, obschon sie gern gewußt hätten, wem wir das Gelingen des Beschlossenen zu verdanken haben.«
»Weiberart, – es ist besser, daß die Hand vorläufig noch unbekannt bleibt.«
»Auch mir?«
»Auch Dir und der Äbtissin – nicht aus Mißtrauen, denn wir kennen Euch. An dem Schneider und den beiden Lithographen wäre wenig gelegen, aber wir brauchen ihren Patriotismus und Eid für den Großfürsten und den Markgrafen, denn die Attentate müssen rasch aufeinander folgen, wenn sie Wirkung haben sollen.«
»Das meint auch die Äbtissin – ich wünsche nur, daß die erste Kugel auch wirklich ihr Ziel trifft, denn ein Fehlschuß könnte großen Schaden stiften, sie warnen, und der verrückte Tatar, dessen Leichenwitterung in ganz Warschau bekannt ist, hat mich noch vor wenigen Minuten besorgt gemacht oder seine Gabe hat ihn wirklich verlassen.«
»Unbesorgt! Die Hand, die den Schuß tun wird, hat noch niemals gefehlt. Denn ich stimme Dir bei, ein Mißerfolg würde großen Schaden bringen und uns nötigen, den Ausbruch der offenen Erhebung noch einmal zu vertagen, oder das Zentral-Komitee zwingen, endlich seine erste Proklamation zu veröffentlichen.«
»Ganz Warschau harrt darauf!«
»Was würde sie nützen in der Hand dieser Unentschlossenen und Schwächlinge! Das ist es, weshalb wir Dich beriefen. Wir müssen mit Dir im Reinen sein, ob Du zu uns stehn willst, oder zu den Weißen?«
»Wie? So ist es nicht das Zentral-Komitee, das diese Beratung hält? Deine Stimme ist mir zwar bekannt, und das Zeichen war richtig, aber noch weiß ich nicht Eure Namen und Euer Recht zum Ruf.«
»Die Schwächlinge des Zentral-Komitees sind abgesetzt, die Männer der Junta allein dürfen das Regiment führen.«
»Das hieße eine Revolution in der Revolution, ein Bruch mit den Weißen und mit Paris!«
»Kannst Du daran zweifeln, daß es über kurz oder lang doch dazu kommen muß? Deshalb riefen wir Dich, denn wir wissen, daß Du ein Mann von Tatkraft und Entschlossenheit bist, obschon die Geistlichkeit im allgemeinen zur Fahne der Weißen hält. Entschließe Dich kurz, ehe wir Dir weiteres vertrauen. Willst Du Erzbischof von Warschau werden?«
»Das Ziel wäre hoch, aber nur Rom hat darüber zu entscheiden.«
»Wir bieten es Dir, die Junta des Volks von Warschau. Männer, die zu allem entschlossen sind und nicht länger zögern wollen.«
»Eure Namen?«
»Genügt Dir der meine?« fragte eine scharfe Stimme. »Hab' ich gezögert, als Du ihn fordertest am Vorabend der Feier von Grochow für den Tod des Mannes, der vielleicht der beste Patriot Polens war, auf den bloßen Anschein einer Verbindung mit den Russen hin. Ich habe mir stets Vorwürfe gemacht, zugestimmt zu haben, ohne weiter zu prüfen, nur auf Deine Anklage hin, Priester.«
»Du bist der Okuliarnik?«
»Ich bin's! Traust Du mir jetzt?«
Der Pater reichte ohne Antwort die Hand herüber. »Aber die andern? Ich muß wissen, wer die Junta bilden soll?«
»Was kümmern Dich die Namen? Vorläufig Oskar Aweide, Mikoschewski, Joseph Janowski, Maikowski und Stephan Lobrowski, bis bessere sich finden.«
»Und ich denke – der meine wird Dir gleichfalls genügen: Ignaz Chmelenski,« sagte der Mann, der ihn empfangen. »Ich bin stolz darauf, das Werk morgen das meine zu nennen.«
»Und dennoch vermisse ich noch einen Namen, der damals zu uns stand, Traugutt!«
Der Okuliarnik lächelte bitter. »Bist Du und das Weib, das hinter Dir steht, so blutdürstig, daß Ihr es nicht erwarten könnt, bis der litthauische Wolf kommt und Euch alle zerreißt und Polen sein letztes Blut aussaugt? Laßt Euch bis dahin an mir genügen! Wenn Euch so nach Blut gelüstet, statt nach wahrer Freiheit, so macht Karlowicz oder den schwarzen Jan zum Polizeidirektor der Stadt und Liandowski mit seinen Kerjalisten zum Vollstrecker der Urteile des Tribunals; ich halte mich zu gut zum Henkersknecht. Der Student Paul Liandowski trat in der Tat nach dem Tode des Okuliarnik im Oktober 1863 an die Spitze der sogenannten Hängegendarmen, der Kerjalisten oder Dolchmänner, welche die Urteile des Revolutionstribunals zu vollstrecken hatten. Wie die späteren Entdeckungen ergaben, bestand zu jener Zeit im Geheimen bereits die Organisation der provisorischen Volksjunta, das heißt der demokratischen Agitation, die darauf ausging, die Leitung der ganzen Erhebung an sich zu reißen und sie der Partei der Weißen, also der Adels- und kirchlichen Partei, zu entziehen, die durch das sogenannte, aus fünf Mitgliedern bestehende Zentral-Komitee geleitet wurde. Es ist längst unzweifelhaft bewiesen, daß die ganze polnische Bewegung von 1861 bis 64 in innigem Zusammenhang mit der sozialistischen und republikanischen Agitation durch ganz Europa stand und weniger der staatlichen Befreiung Polens von russischer Herrschaft galt, als einem Schlag gegen das monarchische Prinzip überhaupt und namentlich gegen Preußen, unterstützt und gefördert dabei durch die Eifersucht der Kabinette von Wien, St. Cloud und Kopenhagen und die jesuitischen Intriguen zur Wiederherstellung der päpstlichen Oberherrschaft in Deutschland. Nur dem Widerstreit dieser revolutionären Ziele, der dynastischen Eifersucht der Kabinette und des Papsttums unterlag die wohlgeplante Bewegung, deren Unterdrückung Rußland sonst schwer genug geworden wäre. Nachdem sich das Zentral-Komitee im August zu seiner ersten öffentlichen Proklamation hatte drängen lassen, war allerdings kein Halten mehr auf der betretenen Bahn, und schon im Januar 1863 war die Bewegung planlos in der Hand der Junta und ohne höheres Ziel.«
Der Pater bedachte sich einige Augenblicke; er war klug genug, einzusehen, daß alle Pläne der revolutionären Agitation an der schon in jener Phase der Bewegung offen zu Tage tretenden Uneinigkeit scheitern mußten, aber er verfolgte seine eigenen Zwecke und gedachte unwillkürlich der eben gehaltenen Unterredung mit seiner Vertrauten, deren wahren Zwecke das Gehörte fördern mußte.
»Habt Ihr wohl bedacht, Brüder, daß ein Bruch mit dem Zentral-Komitee hier auch ein Bruch mit dem in Paris ist und dieses die weiteren Geld-Mittel zur Erhebung verweigern wird, wenn alle Gewalt allein in den Händen der Volksjunta liegen soll?«
»Wir brauchen sein englisches und französisches Geld nicht; es ist ohnehin nur der Esaupreis für die Rechte des Volkes zugunsten der Adelspartei! Wozu lagern in den Gewölben der Warschauer Finanzkasse in diesem Augenblick fünf Millionen Rubel polnischen Geldes in Gold und Werten?«
Es war nicht das erste Mal, daß dem habsüchtigen Priester der Gedanke an jene Kapitalien kam, die den Kredit oder Bankerott des Landes ausmachten, ohne daß er ihn bisher näher zu verfolgen gewagt hätte. Jetzt mußte er ihn so offen von einem andern ausgesprochen hören.
»Wie wäre das möglich? Alle Stände würden sich gegen eine Beraubung vereinigen.«
»Wer spricht von einem Raub?« bemerkte der ehrliche Patriot. »Aber wo es das Vaterland gilt, ist es kein Raub oder Diebstahl, das Eigentum des Landes und seiner Bürger in unsere Verwahrung zu nehmen. Der größte Teil der polnischen Obligationen ist in den Händen der Pariser, Londoner und Wiener Börse. Rußland hatte bis zum Krimkriege nur 150 Millionen Rubel Nationalschuld – rechnen Sie den zehnten Teil davon als die unsere, wenn wir also drei oder vier Millionen in Paris und London zur Deckung deponieren, und eine Million für die Revolution, das heißt für unsere Befreiung vom russischen Joch verwenden, kann uns niemand vorwerfen, daß wir unsere Nationalschuld nicht tilgen, und wir werden Kredit genug haben.«
»Aber dazu müßten wir eben Herren der Finanzkasse sein.«
»Wir werden es sein, ehe sie Sorge tragen können, das Geld zwischen die Wälle ihres verfluchten Modlin zu führen.«
Der Priester hätte gern weiteres gesagt über Zeit und Mittel, aber er fürchtete sich, Argwohn zu erregen und bedachte zugleich, welche persönlichen Vorteile eine Überführung des Staatsvermögens in die Hände der Leiter der Revolution, also nach der Beseitigung des Zentral-Komitees oder der Adelspartei in die der Volksjunta, der Demokratie, seinen Plänen bieten mußte, selbst wenn sie größtenteils aus Männern von der persönlichen Uneigennützigkeit des Okuliarnik bestanden hätte.
»Es wird das Ihre Sache sein, Pan Lemke. Sie werden sich erinnern, daß unser Kloster nicht allein eine sichere Zuflucht für die Waffenvorräte sondern in seinen verborgenen Gewölben und Gängen auch für andere Gegenstände bieten kann.«
»Eben wegen der Waffen wünsche ich mit Ihnen zu sprechen. Das Depot bei den Bernhardinern ist das bedeutendste.«
»Wir können das Zehnfache in den Grüften unterbringen, ohne daß es auffallen würde. Doch wird es gut sein, das Prinzip der Teilung der Depots festzuhalten.«
»Ich bin der gleichen Meinung, und deshalb soll allein das vordere Magazin bei den Bernhardinern der Volksbewaffnung preisgegeben werden, wenn ein Zusammenstoß mit den Truppen morgen abend hervorgerufen werden kann, während die Vorräte im Grabowskischen und Eckertschen Hause für die Bewaffnung im Lande bewahrt bleiben müssen.«
»So ist der offne Kampf beschlossen?«
Die Glocken im Bernhardiner Turm und die der Kreuzkirche sollen das Signal dazu geben – treffen Sie Ihre Vorbereitungen. Das Kloster ist bei der Nähe der Statthalterei ein wichtiger Posten in unsern Händen, den man von der Zitadelle aus schonen muß, da er in der Schußlinie des Schlosses liegt. Die Kirche darf dem Eindringen des Volks kein Hindernis bieten; selbst, wenn die Überraschung des Schlosses nach dem Fall des Statthalters nicht gelingt, kann der Einbruch immer leichter auf einen Putsch des Pöbels geschoben werden, wie im Februar des vorigen Jahres. Ihr Priester versteht Euch auf die Ausflüchte, doch werden sie diesmal hoffentlich nicht nötig sein!«
»Ein kluger General berechnet alle Fälle und hält sich einen Rückweg offen. So lange unsere Feinde im Besitz der Zitadelle und Modlins sind, nützt der Tod des einzelnen wenig.«
»Dennoch ist er ein Anfang und spart das Blut von Tausenden. Wenn die siebenzig Büchsen, die in Ihrer Gruft versteckt sind, sich in den Händen entschlossener Männer befinden, wird es gelingen, das Kloster zu halten und die Brücke nach Praga zu sperren, bis das Volk uns zu Hilfe kommt und die Revolution erklärt ist. Die Dembinska kann statt ihrer Weiberpost Bereits unter der National-Regierung, also zur Seit des, Zentral-Komitees waren die acht Woiwodschaften in 39 Bezirke, diese in Kreise und diese wieder m Kirchspiele (Parafien oder Prichoden) geteilt. Die Beförderung der geheimen Befehle in und von Warschau aus geschah, seit dem Sommer 1862 und nach der Begründung des besondern Polizei-Departements in der Zentralorganisation der Revolution hauptsächlich nur durch Weiber, die in bestimmtem geringem Solde wie etwa Botenfrauen standen, und sie an zwei Orten in Warschau: einer Apotheke in der Marschallstraße und dem Wroblewskischen Pfefferkuchenladen in der Kapitelstraße, täglich in Empfang nahmen., die gegenwärtig alle Befehle und Nachrichten überbringt, unsere Dekrete in allen Prichoden der Woiwodschaft in drei Tagen offen anschlagen lassen!«
»Auf welche Macht rechnen Sie bei dem ersten Ausbruch morgen?«
»Zweitausend entschlossene Männer; sie sind bereits in Sektionen geteilt und die Kreisstraßen und Punkte ihnen bekannt, die sie zu besetzen haben, sobald der Glockenruf ertönt! Wenn dann der Schuß im sächsischen Garten gefallen und die Nachricht vom Tode des Generalgouverneurs bekannt ist, versammeln sich die Direktoren der sechs Wudzials und ihre Sekretäre im Auditorium Dubawskis und Kapitän Galewski übernimmt die Leitung des Kampfes, bis der General eintrifft!«
»Der General? welcher?«
»Wer anders als Miroslawski – oder glauben Sie, daß wir auf den Sendling der Aristokraten in Paris warten wollen? Wenn der Kapitän Langiewicz Mut und Patriotismus hätte, wie wir ihn brauchen, würde er längst die bewaffnete Erhebung proklamiert haben, statt unser Geld für alte preußische Waffen in Paris und Berlin zu vergeuden und die Zeit zu verschwenden, bis die Moskowiten vom Riemen bis zur Donau gerüstet sind. Fluch über die Zeitverschwendung, die uns alle verdirbt, und an den Strick liefern kann! Schmach über die Söhne Polens selbst! Sie wissen jetzt, Hilarius, von welcher Seite her Sie allein die Befreiung Polens und des katholischen Glaubens zu erwarten haben, und es ist Zeit, Chmelenski, daß wir die Nerven noch durch eine Stunde Schlaf für unsere Aufgabe stärken mögen, ich sehe ohnehin, daß Wenzel uns daran erinnern will, daß die Frist zu Ende ist, in der wir auf dem Floß Sicherheit genießen!«
Der alte Flißak hatte sich in der Tat erhoben und kam, um daran zu mahnen, daß nach der strengen Verordnung auch das Feuer der Tänzer um 11 Uhr gelöscht werden müsse und kein Bot mehr den Fluß kreuzen dürfe.
Als das Flißakenmädchen vorhin noch einmal dem russischen Offizier sich genähert, hatte dieser ihre Hand festgehalten.
»Willst Du fünf blanke Silberrubel verdienen, Dirne?« fragte er.
»Wie gerne, Pan, gnädigster, die Minka ist sehr arm. Was befiehlst Du?«
»Du gefällst mir, Dirne!« sagte der Russe brutal, »und sollst mir eine Stunde verkürzen; siehst Du die Laterne dort drüben am Ufer?« »Ja, Herr!«
»Mein Jäger Iwan wird unter ihr warten und Dich zu mir führen.«
»Aber ich muß in einer Stunde zurück sein, der Jaref, mein Bräutigam, rudert vor Mitternacht die fremden Männer hinüber, und dann könnte ich nicht mehr zurück zum Floß!«
»Närrin, was kümmert mich der Jaref? Ich werde doch nach einem schlechten Flißakenburschen nicht mein Vergnügen bemessen sollen, wenn Du mir behagst. Entschließ Dich kurz, ich glaube schwerlich, daß es Deiner Toilette großen Schaden tun wird, wenn Du nötigenfalls eine Stunde später hierher schwimmst. Ihr Leute sollt ja ohnehin wie die Wasserratten tauchen!«
Der Rat entschied. Fünf Silberrubel war für die Ärmste ein Kapital, welcher Putz war dafür zum Ärger ihrer Gefährtinnen zu kaufen, und ihre Tugend und Treue nicht sehr groß.
»Ich komme, Herr,« sagte die Dirne, »muß nur noch einmal zu den andern.«
Er stieg in die noch harrende Gondel, der tatarische Fürst empfing ihn mit einem frivolen Scherz, Fürst Ylinski schwieg in tiefen Gedanken, die taktlose, voreilige Anspielung des Kosakenchefs hatte ihm gezeigt, daß sein Verhältnis mit der jungen Polin doch nicht so unbemerkt geblieben schien und zu Redereien Veranlassung gegeben hatte. Er hatte das Mädchen in der Tat geliebt, bei seinen selbständigen Verhältnissen auch nur vor Jahresfrist seinen Abschied genommen, um ihr aus dem Gesicht zu kommen und ihr die Trennung zu erleichtern, da bei der ausgesprochenen Antipathie der Mutter gegen seine Nationalität eine Einwilligung zu ihrer Verbindung nicht zu hoffen war und sein Oheim ohnehin ihm eine andere bestimmt und bereits eingeleitet hatte. Während des Aufenthalts in Paris hatte der Fürst sich jedoch überzeugt, daß es ihm nicht so leicht werden würde, eine Konventionsheirat zu schließen und seiner Liebe zu entsagen. Entgegen der gewöhnlichen Erfahrung war mit dem erlangten Sieg und der Entfernung seine Neigung für die junge Mutter nur gestiegen, und er hatte allerlei Vorwände gesucht, der Verbindung, die ihm sein Oheim bestimmt, auszuweichen. Als ihm von Petersburg die Nachricht von der bevorstehenden Ernennung des Großfürsten zum Vizekönig von Polen bekannt wurde, durch die ihm zu Gebote stehenden Kanäle unter dem Vorwand der wieder gekräftigten Gesundheit und der Kenntnis der Warschauer Verhältnisse seine Wiederanstellung im Stabe des Großfürsten durchgesetzt. Seither war jede Verbindung mit der Komteß abgebrochen gewesen, aber die Erinnerung des alten Offiziers an sie hatte wie mit einem Zauberschlag auch ein anderes Gefühl in seinem Herzen wach gerufen, die Vaterliebe, und er hatte beschlossen, sobald wie möglich sich über das Schicksal des verstoßenen Kindes wie seiner Mutter Gewißheit zu verschaffen. Wer möchte es ein Spiel des Zufalls nennen, daß fast zur selben Zeit, wo die zufällige Erwähnung seines Namens, der das Herz der armen Mutter erschütterte und sie an das Kind ihrer Liebe mahnte, auch die Gefühle des Vaters für die beiden Wesen angeregt wurden und diese sich zu einem festen Entschluß gestählt hatten.
Während die Gondel auch ihn mit den Kameraden und den Damen zum Ufer der Zitadelle zurückführte und dort ans Land setzte, Atschikoff aber seinem Jäger die Instruktion gab, das Flißakenmädchen zu erwarten und es mittels Droschke heimlich nach seiner Wohnung zu führen, hatte der Fürst überdacht, auf welche Weise er am andern Tag seine Erkundigungen einziehen könnte, und bald darauf, nachdem man die Damen zu ihren Wohnungen zurück geleitet hatte, trennten sich die Offiziere. –
Es war um dieselbe Zeit, als die Verschworenen von dem alten Flißaken und dem Liebsten der hübschen Minka in mehreren Gruppen nach dem rechten und linken Weichselufer zurückgerudert wurden, wobei es dem Mädchen gelang, unbemerkt zu dem verabredeten Rendezvous zu entwischen. Nach dem Gelöbnis des Paters, sich der Junta anzuschließen, hatte jedes Mißtrauen der Männer aufgehört, die ihn bisher noch immer für einen Anhänger der Weißen, also der Aristokraten gehalten, zu deren Partei sich während der ganzen Empörung die Geistlichkeit hielt, wenn sie auch keinen Anstand nahm, für die Zwecke der Revolution oder nach den Anweisungen von Rom her mit der Demokratie gemeinschaftliche Sache zu machen. Es war in der Tat ein trauriges Spiel, das mit dem Blute und dem Patriotismus eines sonst edlen Volkes gespielt wurde, nicht sowohl von dem unruhigen Geist der Revolution für Freiheit und Selbständigkeit getrieben, als um den politischen Zwecken des Vatikans und der Kabinete von Paris, London und Wien zu dienen, oder dem Ehrgeiz des Adels und einiger Heißsporne. Erst das Jahr 1866 sollte auch den blindesten Augen das frevle Spiel vollständig aufdecken, das hier weniger gegen Rußland, als hauptsächlich gegen Preußen und das protestantische Deutschland gespielt wurde und das unter der Maske der Konstituierung eines neuen Polen die preußische Entwickelung hindern sollte.
Als der Okuliarnik als der letzte der Verschworenen von dem alten Flißaken schied, empfahl er ihm noch ganz besonders an, bei dem geringsten Anschein von Gefahr oder Mißtrauen der Wachen auf den Wällen, das Floß sofort treiben zu lassen bis außerhalb der Rojatke.
Es war 11 Uhr vorüber, als der Jäger Iwan das Flißakenmädchen unter der Laterne traf, den Mantel über sie warf und sie in den Fiaker hob, der unfern der Stelle wartete, trotz des Widerspruchs, den sie versuchte. »Der Gospodin hat's befohlen! Also Paschol!« war seine einzige Antwort.
In dem geräumigen Zimmer, das der Kapitän Atschikoff neben seinem Bureau im Krasinskischen Palais, dem Kriegsgouvernement bewohnte, stand ein Tisch gedeckt mit kalter Küche und Champagnerflaschen in eisgekühlten Kübeln, daneben der Samowar mit Wasser zum Punsch. Auf dem Divan streckte sich der Herr der Wohnung in bequem seidenen Schlafrock, als endlich der Jäger die Dirne ins Zimmer stieß, die Tür hinter ihr schloß und sich davor setzte, um jede Störung zu hindern.
Die Flißakendirne hatte noch niemals solchen Luxus gesehen, solche Delikatessen gegessen; hartes Brot, Speck und Wutki waren ihre höchsten Genüsse gewesen.
»Komm her, Dirne! Hat der Iwan Dir Becken und Krug zum Waschen gegeben – ah, schau, bist sauber und schmuck geworden, wie Dirs kaum alle hohen Festtage passiert! Da setz Dich her und stoß mit mir an! Gefällst mir!«
Er zog sie zu sich auf den Divan und nötigte ihr den Champagnerkelch auf. »Nimm! Iß, trink was Du willst, Dirne! Wird Dir selten so geboten werden bei Deinem Volk! Mach' keine Umstände, Fratz! Sollst Dirs zur Ehre schätzen, wenn ein Mann wie ich Gefallen an Dir findet!« Er griff in die reichen Schätze ihrer Natur und stürzte dazu den schäumenden Trank hinunter, an dem die Dirne nach den ersten Gläsern bereits Gefallen fand.
»O Herr, gnädigster, werd ich kommen zu spät aufs Floß; wird der Jaref mich schlagen halb tot und sprechen kein Wort mehr mit mir!«
»So laß den Burschen laufen und bleib hier in Warschau, ein Dienst für Leute Deines Schlages findet sich leicht. Ich werde morgen dem Iwan Auftrag geben, einen passenden für Dich zu suchen, der Hausmeister des Palais wird Vernunft annehmen und gern beide Augen zudrücken, wenn man einen Imperial darauf legt. Was sprachst Du doch von Männern, welche Dein Liebster und der Floßherr zurückrudern sollten ans Ufer – habt Ihr noch andere Zuschauer gehabt, als uns?«
»Die Pans aus Warschau, die schon an den beiden letzten Abenden kamen, es war ein heiliger Priester darunter heute und der Wenzel, der über uns befiehlt, hat ihn selber abgeholt mit dem Kahn.«
Der Kapitän setzte das Glas, das er eben zum Munde hob, nieder und wandte sich aufmerksam zu der Dirne.
»Polen? – Kanntest Du sie? Von Eurem Volke, Kaufleute, Holzhändler?«
»Weiß nicht, Herr! Doch sind sie nicht von unserm Volk, scheinen vornehme Herrn, Gospodins! Wir durften sie nicht stören und blieben um ihretwillen zwei Tage auf der Weichsel liegen, wie ich den Wenzel sagen hörte; die Herrn vom Amt durften nichts davon wissen, daß sie des Abends zu uns kamen.«
»Aber wir waren doch eine halbe Stunde auf dem Floß, ohne daß ich Fremde sah!?«
Die Dirne lachte. »Waren in Flißaken-Kitteln, und lagen zwischen den Rudern, wo der Feuerschein nicht hinreicht. Russen-Gospodine haben schlechte Augen, wenn es gilt, Polenpans zu sehen!«
Der Kapitän war bei dem Geplauder der Dirne immer aufmerksamer geworden; noch glaubte er, es handle sich um eine der gewöhnlichen Schmuggler-Geschichten, bei denen Offiziere wie Beamte gleich nachsichtig waren, wenn es nicht ihr eigenes Interesse galt. Aber schon die nächste Antwort sollte ihn eines Andern belehren.
»Hast Du keinen der verkleideten Männer erkannt? Von was sprachen sie?«
»Ich kenne sie nicht, hab' auch nichts verstanden, nur daß morgen geschehen soll etwas in Warschau, hoffen großen Erfolg davon, sehr blutig morgen Abend, und soll der Wenzel machen das Floß triftig, könnten schießen von der Zitadelle und treffen unser Volk.«
Die Nachricht schien dem Kapitän doch bedenklich und forderte seine Aufmerksamkeit. Einige weitere geschickte Fragen, die nicht auffällig waren und auch das Mißtrauen des Flißakenmädchens nicht erregten, gaben ihm die Gewißheit, daß schon seit einiger Zeit die Flößer, ohne selbst zu der Agitationspartei zu gehören, doch von dieser gebraucht worden waren, um Personen und Sendungen, wahrscheinlich Massen von Krakau und Galizien her nach Warschau und den nördlichern Kreisen einzuschmuggeln, daß die Flöße bereits öfter zu geheimen Zusammenkünften verdächtiger Personen selbst unter den Augen der russischen Militärbehörden hatten dienen müssen, und daß eine strengere Überwachung dieser Fahrzeuge auf der Weichsel dringend notwendig sei und vielleicht zu wichtigen Entdeckungen führen könne. Ohne dabei seine nächsten Zwecke aufgeben zu wollen, beschloß er doch, das Mädchen zu wichtigeren Ermittelungen, sei es mit, sei es gegen ihren Willen zurückzuhalten und sie am Morgen der Polizei zu übergeben, die sich von der Wahrheit oder Grundlosigkeit ihres Geschwätzes überzeugen möge. In jedem Fall war die Dirne hübsch und originell genug, ihm für einige Zeit zur Befriedigung der Sinnlichkeit zu dienen.
»Mach Dir keine Sorgen um Dich und um die Deinen, Mädchen,« sagte er, »und iß und trink, und suche unbekümmert das Lager; am Morgen bei guter Zeit soll Iwan Dich zum Strom zurückführen und sorgen, daß Deiner Überfahrt nichts in den Weg gelegt wird, wenn Du nicht vorziehst, das erbärmliche Leben bei Deinem Volk ganz zu verlassen, überleg Dirs reiflich, indes ich noch einiges Dringende erledige. In einer halben Stunde bin ich bei Dir, und teile mit Dir das Lager.«
Er führte sie zum Schlafgemach, reichte ihr eine Kerze und kehrte dann rasch zum Schreibtisch zurück, überzeugt, daß der Wein und die Verlockungen, die er ihr in Aussicht gestellt, genügen würden, sie zu betäuben und zu seinem willenlosen Werkzeug zu machen.
Aber er sollte sich dennoch getäuscht haben.
Die Dirne, wenn auch leichtfertig und habsüchtig, war ebenso schlau als entschlossen, und die beharrlichen Fragen hatten sie mißtrauisch gemacht. Wenn auch der Geliebte, oder vielmehr der Bursche, der sie zu seinem Schatz gewählt, wenig auf ihre Treue zu zählen hatte, hing sie doch an ihrer Horde und fürchtete, dieser durch ihre achtlose Offenherzigkeit Gefahr gebracht zu haben. Der Kapitän hatte sie daher kaum allein gelassen, als sie statt das üppige Lager, das er ihr gezeigt, zu suchen, zu der von ihm geschlossenen Tür zurückschlich, das Auge an das Schlüsselloch legte und das Ohr an dasselbe preßte. Was sie sah und hörte, vermehrte ihren Verdacht, daß man eine besondere Absicht mit ihr hegte weit über den Zweck hinausgehend, zu dem man sie hierher gebracht hatte.
Der Kapitän hatte einige Zeilen geschrieben und das Blatt geschlossen und versiegelt, dann rief er den im Vorzimmer auf einem Feldbett gelagerten Jäger.
»Iwan – komm hierher – aber still, ohne Geräusch!«
Der Russe war sogleich bei der Hand.
»Was befiehlst du, Väterchen?«
»Du weißt die Polizeiwache am Schloß?«
»Verlaß leise das Zimmer und den Palast. Die Dirne da drinnen darf nichts merken von dem Auftrage, den ich Dir gebe!«
»Wie Du befiehlst! Ich dachte, Iwan sollte sie vor dem Sonnenaufgang zurück bringen zum Strom.«
»Ich habe es anders beschlossen. Dieses Billet bringst Du zur Polizeiwache am Schloß und fragst, ob zufällig Pan Drosdowicz der Kommissar dort ist, andernfalls muß es ihm sofort von dort bestellt werden; er ist der Klügste von allen und wird seine Maßregeln treffen. Morgen früh wird er wahrscheinlich selbst hierher kommen, und Du meldest ihn sogleich. Auf keinen Fall darf das Mädchen eher das Palais verlassen, bis er sie gesprochen hat. Dieses zweite Billet gib an den kommandierenden Offizier der Wache am Tor der Alexander-Zitadelle und sage ihm, es käme von mir. Dann kehre zurück und störe mich nicht weiter bis Morgen. Du hast doch ein Karteczka, daß Du durch die Posten und Patrouillen nicht aufgehalten wirst? – sonst, hier in dem Fach liegen sie.«
Das Auge der Flißakin sah, wohin die Hand des Kapitäns wies, und wie der Diener eine Passierkarte herausnahm, ehe er das Zimmer verließ. Sie hatte Verstand genug, um zu begreifen, daß sie nur im Besitz einer solchen, ohne Begleitung durch die Straßen kommen könne, ohne angehalten und festgenommen zu werden.
Aber wie Gelegenheit finden, die Wohnung des Kapitäns und den Palast gegen seinen Willen zu verlassen, und doch mußte es geschehn, wenn ihre Landsleute gewarnt werden sollten?
Sie war zu einem Fenster geschlichen. Die Zimmer, die der Kapitän in dem Amtsgebäude des Kriegsgouvernements, dem Krasinskischen Palast bewohnte, gingen allerdings nach dem Garten hinaus, aber sie lagen, wie sie sich aus dem bei der Sommerhitze geöffneten Fenster leicht überzeugte, im zweiten Stockwerk, und überdies war die innere Einrichtung des Gebäudes ihr ganz fremd – Iwan der Jäger hatte sie auf einer Seitentreppe herauf geführt. Sie begriff sofort, daß sie nur durch das Fenster entkommen könne, während der Kapitän schlief.
Das Flißakenmädchen sah mit Befriedigung, wie der Russe fortfuhr, sich in dem starken Punsch zu berauschen, während er weiter schrieb. Erst, als er sich erhob, den Gashahn herabdrehte und sich zu entkleiden begann, warf sie ihre dürftigen Gewänder ab und schlüpfte auf das Lager, als hätte sie es sofort gesucht.
Sie hörte, wie der Adjutant die Tür mit dem innern Riegel schloß und dann die zum Schlafzimmer aufriß.
»So, Täubchen, nun gehört die Nacht uns, und Du bleibst hier, bis ich Dir den Käfig öffne. Tu Dein Bestes, und Du sollst mit mir zufrieden sein!«
Er taumelte zu dem Lager und langte nach ihr; die Dirne hütete sich, ihm zu widerstreben, umschlang ihn mit den runden Armen und drängte ihm den vollen, üppigen Busen entgegen.
Eine Stunde nachher lag der russische Offizier im festen, willenlosen Schlaf, das tiefe Schnarchen verkündete seine völlige Betäubung, der er nur schwer zu entreißen gewesen wäre. Diesen Augenblick schien die Flißakin abgewartet zu haben, denn, leise sich auf ihren Ellbogen stützend, erhob sie sich halb und lauschte sorgfältig, ob ihre ersten Bewegungen ihn aufmerksam machen würden.
Sie hatte sorgsam, mit Gewalt die eigene Betäubung und alle Müdigkeit zurückgedrängt, auf den Schlag der Uhren von den naheliegenden Kirchen gelauscht und sich überzeugt, daß diese zuletzt die erste Stunde nach Mitternacht verkündet hatten. In der Nacht des Hochsommers, mußte, obschon der Mond bereits nach 11 Uhr untergegangen war, schon nach zwei Stunden die erste Dämmerung beginnen und ihre Flucht erschweren, wo nicht unmöglich machen.
Aber der Kapitän rührte sich nicht, er lag so hilflos wie ein Toter da.
Das Mädchen stieg über ihn weg und ließ sich vorsichtig von dem Lager niedergleiten, zog ihre ärmlichen Kleidungsstücke an und öffnete die Tür des Nebengemachs, das noch matt erleuchtet war von der herabgedrehten Gasflamme, immer sorgfältig zurücklauschend, ob auch der Offizier nicht erwache; aber weder das Geräusch noch der Lichtschein störten seinen tiefen Schlaf.
Sie untersuchte jetzt den andern Ausgang; er war in der Tat von innen verschlossen.
So gesichert vollendete sie ihre Kleidung, schlich zu dem Arbeitstisch, aus dessen Fächern sie den Jäger hatte die Paßkarte nehmen sehen, suchte nach diesen und steckte zwei derselben zu sich. Die goldene Uhr des Kapitäns hing an seinem Schreibtisch, seine Börse lag offen auf dem Tisch, lüstern blickte sie auf beide, aber sie unterdrückte jede Versuchung und nahm nichts als die fünf Silberrubel, die er ihr verheißen, den grauen Militärmantel, welchen ihr Iwan umgeworfen, als er sie vom Stromufer hierhergeführt, und die gleiche Mütze, mit der sie ihr Haar bedeckt hatte, alles andere ließ sie unberührt liegen; man durfte sie nach ihrem Entweichen nicht für eine Diebin halten. Dann ging sie nach dem Schlafzimmer zurück, überzeugte sich nochmals, daß der Mann, der sie ihrer Freiheit berauben wollte, ungestört und fest weiter schlief und trat zu dem halbgeöffneten Fenster. So gut es in dem Halbdunkel ging, prüfte sie den Weg, der ihr zur Flucht blieb, dann schwang sie sich aus dem Fenster auf den breiten unter ihm an der Front des Gebäudes hinlaufenden Steinsims, kroch wie eine Katze auf demselben hin bis zum nächsten Vorsprung, der eine Regenröhre bildete und ließ sich an dieser nieder.
Der Krasinskische Palast, das damalige Kriegs-Gouvernement, stammte wie viele gleiche Bauten, aus der Zeit des Königs August und war in italienischem Stil gebaut, also reich mit Stuck geziert, für einen im Klettern gewandten Fuß und eine sichere kräftige Hand das Abklimmen an der Mauer daher keine so schwierige Sache. Das Naturkind, das aus den Wäldern ihrer Heimat gewöhnt war, die höchsten Fichten auf und nieder zu steigen, gelangte in wenigen Minuten bis zum Erdboden, da hier keine der Schildwachen stand und durch die zahlreichen Vorsprünge Schatten genug vorhanden war, ihre Bewegungen fremden Augen zu verbergen. Glücklich auf dem Erdboden angekommen, hüllte sie sich in den Soldatenmantel, drückte die flache Mütze auf das Haar, und, nachdem sie sorgfältig umhergelauscht, um nicht auf Posten oder Patrouillen zu stoßen, schritt sie im Schatten der jetzt laubreichen, parkähnlichen großen Gärten der Seite zu, wo diese an die St. Ferska stoßen. Sie war diesmal und schon früher oft genug in den Straßen von Warschau gewesen, um auf der Fahrt vom Strom mit dem russischen Diener wenigstens im allgemeinen erkennen zu können, wo sie sich befand, und zu wissen, nach welcher Richtung sie sich zu wenden hatte, um das Weichselufer zu erreichen, wo sie sich leichter orientieren konnte.
Plötzlich versperrte ihren weitern Weg ein eisernes Gitter; an ihm entlang schleichend vernahm sie in der nächtlichen Stille das Flüstern zweier Stimmen, als komme es dicht vor ihr aus dem Schatten eines Boskets, und zugleich sah sie von dem nächtlichen Dunkel sich abzeichnend eine hohe männliche Gestalt an dem Gitter hängen, mit der Hand sich festhaltend, daß es schien, als schwebe sie über ihr in der Luft zwischen den Blumen und Büschen. Erst die Gewöhnung des Auges an das Halbdunkel belehrte sie, daß es ein Balkon war, unter dem sie kauerte, und daß dieser zu einem Nachbargrundstück gehörte, von dem her aus der geöffneten Glastür des Salons oder Balkonzimmers gedämpftes Lampenlicht herüberstrahlte und den Schatten des Mannes, der am Gatter hing und zugleich eine weibliche Gestalt im weißen weiten Nachtgewand abzeichnete, die aus dem blumenbesetzten Balkon stand und herablehnte.
Das Flüstern der Beiden bewies ihr zugleich, daß von einem Einbruch oder anderer Gefahr nicht die Rede, sondern sie nur zufällig Zeugin eines nächtlichen Liebesrendezvous geworden war. Und seltsamerweise schien die Stimme der Dame, ihr nicht ganz, unbekannt.
»Teure Josefa, welches Glück, daß Dein Spiel und Lied mich hier fesselte, als mich das Herz trieb, wenigstens in der Nähe Eures Hauses zu sein und dessen finstere Fenster anzuschauen. Ich hatte keine Ahnung, daß Du mit Deiner Mutter in Warschau weiltest, als ich heute mittag mit der Base von Petersburg kam, und glaubte Dich in dieser Jahreszeit noch auf dem Gut.«
»Still, Constantin, daß die Mutter uns nicht hören kann. Du weißt, daß sie jetzt häufig in Warschau ist, ja fast die Hälfte der Zeit hier zubringt, während ich am liebsten in der Einsamkeit unseres Waldes bliebe, wo alles mir mein Glück und Unglück mit tausend Erinnerungen zurückruft und der Arzt mir auch zu verweilen verordnet. Denn ich lag nach unserer Trennung lange schwer krank und erhoffte den Tod, während Du, wie ich hörte, alle Freuden des Lebens in Paris genossest. Du weißt, was allein mich ans Leben fesselte!«
»Ich hoffe es! Morgen erst denke ich die süße Gewißheit zu erhalten, ohne daß Lodoiska meine Nachforschung sie verhindern oder sie erfahren kann. Die Mutter selbst wünscht, daß ich das Spital besuche, oder vielmehr ein unglückliches Mädchen, das dort lebt und mit dem ich ohne Verdacht die Anstalt besuchen darf. In seiner Gesellschaft hörte ich heute abend bereits, daß Du vielleicht nach Warschau zurückkehren würdest, und es leistete mir Beistand, als mein Gefühl mich überwältigte, daß ich in Ohnmacht fiel. Ich bin noch schwach, Constantin, infolge meiner Krankheit!«
»Seltsam! Auch ich wurde heute abend an Dich und an das Band, das uns verknüpft erinnert, und es war die Ursach', die mich hierher trieb, ohne daß ich von Deiner Nähe wußte.«
»So bedurfte es erst einer fremden Erinnerung! Wenn Du wüßtest, wie all meine Gedanken nur bei Dir gewesen sind, selbst in meinen Fieberträumen, und wie schwer ich endlich überwunden und mich dem harten Willen Lodoiskas gefügt hatte. Männer wissen nicht, was lieben heißt, und wie schwer es einem Frauenherzen wird, selbst die natürlichen Gefühle der Mutter und Gattin zu unterdrücken. Dennoch bezwang ich mich, selbst dann noch, als ich zufällig von der Mutter vernahm, daß Du einer andern gehören solltest und Dich in Paris um ihre Hand bewürbest – ich traute ja noch immer auf Dein Gelöbnis, und glaubte, daß es unmöglich wäre, daß Du mein allzuvertrauendes Herz getäuscht hättest. Und dabei jeden Trost, selbst den der Schwester entbehren zu müssen, kein Wesen zu haben, in dessen Busen man seinen Schmerz, sein Leid ausschütten darf, nicht einmal das Ohr des geheiligten Priesters, denn die Kirche würde die ungetreue Tochter Polens und seines Glaubens nicht weniger verfluchen, als die leibliche Mutter, wenn sie wüßte, daß ihr Herz noch immer an dem Feinde ihres Landes und ihres Glaubens hängt!«
Der russische Offizier murmelte einen Fluch. »Armes Kind, so ist das Gerücht auch zu Dir gedrungen? Aber fürchte nichts Josefa, es ist leeres Geschwätz. Mein Oheim, von dem unsere ganze Zukunft abhängt, wollte mich zwar einer anderen verloben. Aber ich habe gefühlt, daß ich nicht von Dir lassen kann und will, und im letzten Augenblick alle Fesseln gesprengt. Deshalb suchte ich wieder Dienste und kehrte nach Petersburg zurück, wo ich dem Oheim offen meine Weigerung und meine Liebe zu Dir erklärte, und daß ich lieber auf seine Güter verzichten, als eine andere heiraten wolle. Er ist ein seltsamer, eitler und starrer Charakter, da es ihm aber nur darauf ankommt, einen Erben seines Stammes und Namens zu haben, und da er hörte, daß ein solcher vielleicht vorhanden wäre, zog er andere Saiten auf und, gab seine Einwilligung, daß ich wieder hierher nach Warschau ginge und meine Bewerbung um Dich offen erneuerte. Wenn es gelingt, mich auszuzeichnen, oder die Großfürstin für unsere Liebe zu interessieren, wird er unserm Glück nicht im Wege stehn. Du siehst also, daß unsere Hoffnungen nicht haltlos sind!«
»Du vergißt das schlimmere Hindernis, das ihnen im Wege steht, den Widerwillen meiner Mutter gegen die Unterdrücker Polens!«
»Hole der Henker ihren Starrsinn! Es wird sich wohl für Geld noch ein Priester Eures Glaubens finden, der die Todsünde vergibt, einen Russen zum Schwiegersohn zu haben, um so leichter, wenn sie die andere Tochter der heiligen Kirche opfert. Habe ich die Einwilligung meines Oheims und des Kaisers, so entführe ich Dich nötigenfalls mit Gewalt allen fanatischen Weibern, selbst Deiner eigenen Mutter und Schwester zum Trotz! Wann gehst Du morgen zum Spital, und wer ist die Freundin, die Du dort gefunden?«
»Die Braut des Mannes, den Du selbst an jenem traurigen Abend kennen und achten lerntest, obschon er Dein politischer Feind war, des Grafen Oginski, der so unglücklich in dem Februar-Konflikt endete, ein Fräulein Marowska!«
»Die Schwärmerin! Ich habe von ihr gehört, – wenn ich mich recht erinnere durch einen unserer Spione im Polnischen Zentral-Komitee. Hüte Dich, Dich von ihrem Fanatismus anstecken zu lassen und erinnere Dich, daß Du einem Russen gehörst und daß das Weib ihrem Manne folgen muß. Sei vorsichtig in Deinen Nachforschungen nach dem Kinde, oder überlasse sie mir.«
»Das Herz einer Mutter wird es leichter finden, und zu lange ist es ihm fern geblieben! Jetzt, da ich weiß, daß auch das Deine für das unglückliche Wesen schlägt, werd' ich vor nichts mehr zagen. Eine Stunde vor Mittag fahre ich zum Spital – vielleicht ist es Dir möglich, mich dort zu treffen, der Zutritt steht allen Fremden offen, und mein Auge würde Dich ohne Worte wissen lassen, ob mein Besuch von Erfolg gewesen ist, oder nicht. Doch jetzt gehe, ich darf nicht länger mehr zögern. Die heilige Jungfrau sei gebenedeiet für das Glück, daß sie mich sehen ließ!«
Er haschte nach ihrer Hand, und das vergebliche Bemühen war die Ursache, daß seine andere die Gitterstäbe des Balkons fahren ließ und er zu Boden springen mußte, um nicht zu fallen, zugleich auch, daß er dicht vor dem Flißakenmädchen stand, bevor dieses sich seinem Blick entziehen konnte.
» Shorte wos mi! Wer lauscht hier? Ein Soldat – Wer bist Du, Kerl, und wo kommst Du her?«
»Erbarmen, gnädigster Herr! Ich bin kein Soldat, bin arme Flißakendirn, aus dem Radomer Gouvernement, von den Sümpfen des Son her, wo die gnädigste Gräfin im Kreise zu Hause ist, ich war die Milchschwester von Liebsten Ihrigten.« Sie hatte den Militärmantel fallen lassen, die Hand des Offiziers zerrte sie aus der gefährlichen Nähe des Hauses bis in den Schein der nächsten Laterne.
»Was zum Henker, ist das am Ende gar die Flißakendirne, die heute abend auf dem Floß an der Zitadelle tanzte! Wie kommst Du hierher? Und ist es wahr, daß Du eine Milchschwester der Komteß Dembinska bist?«
»Ist sich gewiß wahr, von Komteß Lodoiska, die eine fromme Klosterfrau werden wird in Sandomierce im nächsten Jahr.«
»Vom großen Haus drüben jenseits des Gartens, wo die vielen Soldaten stehn auf dem Platz. Bin ich eine arme Dirn, und hat der Gospodin, der gewesen ist mit Ihnen auf unserem Floß diesen Abend, mir befohlen zu kommen ans Ufer, weil ich ihm hab' gefallen und hat mir versprochen, mich wieder führen zu lassen zu unserm Floß zu rechter Zeit durch seinen Jäger, aber hat nicht gehalten Wort und mich zwingen wollen, bei ihm zu bleiben, und hab' ich nicht bleiben dürfen, ohn Erlaubnis von Meinigten. Bin ich entsprungen aus großem Schloß und gelaufen bis hierher, um zu kommen zum Strom!«
Es zuckte ein schadenfrohes Hohnlachen über das Gesicht des Fürsten. »Was? sprichst Du vom Kapitän Atschikoff, und hast Du da drüben bei ihm im Gouvernements-Gebäude die Nacht zugebracht!«
»Ist sich unrecht von mir an Jaref, meinen Schatz, aber bin ich ein armes Mädchen, und hab ich Gospodin nichts gestohlen, als ich bin entwischt, als die Rubel, die er mir hat versprochen.«
Der Fürst lachte auf. »Und wie bist Du dem Kapitän entwischt?«
»Ist Gospodin Kapitän ein sehr grausamer Herr, der es sehr schlimm macht mit den Weibern. Schläft so fest, wie ein Hamster oder der Bär im Winter. Bin ich gestiegen aus Fenster und gestiegen an die Wand herab, da er gar so böser Mann und hält nicht armen Flißakenmädchen sein Wort. Will sie morgen stecken lassen ins finstere Loch, damit sie nicht haben will, was er ihr versprochen und verraten ihre Freunde und Landsleute. Ist sich nicht wie gnädiger Herr, der liebt und halten will sein Versprechen an gnädigste junge Gräfin, die doch ist die Milchschwester von armer Minka, die sie liebt über alles und ihr gern leisten möcht einen Dienst und koste es ihr Leben.«
Der Fürst sann nach; die Andeutung der Dirne hatte ihm gezeigt, daß sie doch mehr gehört und verstanden hatte, als ihm lieb sein konnte. Zugleich juckte es ihn, dem Kameraden einen Streich spielen zu können, mit dem er ihn später aufziehen konnte. Das Mädchen schaute ihn furchtsam an und dachte nach, wie es das Erlauschte zu seinen Gunsten benutzen könne; daß er der gewöhnlichen Verführung nicht zugänglich und ein anderer Mann war als der brutale Wüstling, dessen Händen sie eben entkommen war, begriff sie wohl, auch empfand sie wirklich aufrichtige Neigung für ihre Milchschwester und Teilnahme für deren Liebe – hilft doch ein Weib gern dem andern, wo es auf Herzenssachen oder deren Förderung ankommt gegenüber dem Druck feindlicher Verhältnisse oder Personen.
Der Fürst hatte ihr befohlen, Mantel und Mütze wieder anzulegen und ihm zur Seite zu bleiben.
»So willst Du wirklich nur zur Weichsel und zu den Deinen zurückkehren und Warschau sobald als möglich verlassen?«
»Gott und die Heiligen mögen mir dazu helfen – und werde ich leicht mein Floß finden, wenn ich nur fort bin von hier, und gnädigster Herr mir helfen wollen vor schlimmem Gospodin. Könnt armes Flißakenmädchen vielleicht auch helfen dem hohen Herrn zu seinem Ziel mit einem Dienst. Wenn mich nehmen wollte Gräfin Josefa in Herrendienst ihrigten, könnte die Minka vielleicht nützen gar viel, da sie jetzt weiß, woran ihr Herz hängt. Der Jaref kann warten noch ein oder zwei Jahr, gnädiger Gospodin gibt ihm dann vielleicht einen besseren Dienst, wenn erst wieder Ruhe im Lande und sie nicht mehr erschlagen wollen die großen Herren, die doch haben das Regiment in Polen, denn mein Liebster ist ein guter Jäger, der nicht fürchtet Wolf oder Bär, und das Holzhauen im Walde und Flößen auf dem Wasser ist ein schlimmes Brot und bringt wenig Geld. Der Jaref und die Minka kennen die besten Plätze auf dem Strom durch ganz Masovien von der Grenze her, wo das Wild in den Bergen steht und die vielen Fremden auf den Ruf von Warschau herkommen, um wieder Krieg zu machen gegen die Russen Gospodine, wie zur Zeit, als meine Mutter jung war und gedient hat in Krakau und bei gnädiger Gräfin in Jablona.«
Dem Fürsten fiel der Name auf, Jablona war das einsame Gut in den Wäldern und Sümpfen an der Dluga, welches die Gräfin Dembinska wegen der Nähe Warschaus bewohnte, zwei Meilen von der Hauptstadt entfernt und in gleicher Entfernung von Modlin, und wo er nach der ersten Bekanntschaft in Warschau bei dem aufgedrungenen Besuch zur Jagdzeit das Verhältnis mit der Geliebten angeknüpft hatte, während die Mutter auf den andern Gütern der Familie an der obern Weichsel an der galizischen Grenze weilte.
Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf. »Bist Du selbst in Jablona bekannt?«
»Nein, Gospodin – bin aus Masovien, aber kommt unser Volk weit herum am Strom und war schon dreimal in Warschau auf der Weichsel, mit Wenzel dem Floßherrn. Denn Jaref und ich sind verdungen bei ihm für die Fahrt und halb verwandt mit ihm, wenigstens ich, da er mich über die heilige Taufe gehalten hat. Deshalb hat er mich lieb, und muß ich zurück zu ihm, damit er gewarnt wird vor dem schlimmen Gospodin, der es böse meint mit uns. Vielleicht, daß ich jenseits der Grenze in Herrendienst treten kann, bis der Jaref mit ihm eine neue Fahrt macht.«
»Und hast Du niemals daran gedacht, in Dienst Deiner Milchschwester selbst zu treten, bis der Jaref Dich zum Weibe nehmen kann?«
»Wäre zu großes Glück für armes Flißakenmädchen! Wollt ich gar zu gern dienen ihr und Dir Gospodin!«
»Daran dachte ich eben; vielleicht gelingt es mir, Komteß Josefa noch während Eurer Anwesenheit vor Warschau zu sprechen – Dein Verhältnis zur Familie Dembinska ließe sich leicht zur Grundlage eines Dienstgesuchs machen, wenn Du den Flößer bewegen kannst, Dich freizugeben; vielleicht fände sich auf dem Gut auch ein Dienst für den Jaref, Deinen Liebsten; wenn er es nicht vorzieht, in den meinen zu treten. Versteht er mit Pferden umzugehen, ich habe einen Stallknecht in Petersburg zurückgelassen?«
»Ist der Jaref ein Krakuse und versteht alles! Kann auch verstehn russisch und deutsch, ist gewesen ein Jahr über der Grenze und wäre ausgehoben sicher unter das Soldatenvolk, wenn er nicht wäre ein Flißak und liebte zu sein ein freier Mann.«
»Nun, aus Liebe zu Dir, Dirne, obschon Du ihm wenig treu zu sein scheinst, könnte er's vielleicht versuchen, vielleicht auch kann er uns bessere Dienste leisten auf dem Strom in seinem Metier, da er gewiß viele Deiner Landsleute kennt. Vor allem seh ich ein, daß Du zurück zu ihm mußt, um Abrede mit ihm und dem Flößer zu nehmen. An Geld, Euern Dienst zu lösen oder andere in Eure Stelle zu bringen, soll es nicht fehlen, da, nimm das zu den Rubeln, die Du diese Nacht bei dem Kapitän verdient. Aber merke Dirs, ob aus unserm Handel etwas wird oder nicht, niemals darf die Komteß Josefa wissen, was Du diese Nacht getrieben, so wenig, wie der Jaref, Dein Liebster, höchstens der Flößer selbst, – er mag Dir helfen, eine Lüge zu ersinnen, wie Du mich gefunden. Aber wie und wo soll ich Dir zu wissen tun, ob ich die Komteß gesprochen und ob sie einverstanden ist mit meinem Plan?«
Das Mädchen sann einen Augenblick nach, dann sah sie ihn halb schlau, halb furchtsam an.
»Wird der gnädige Herr nicht um mittag an der Spitalka sein, oder hat arme Flißakendirne falsch gehört?«
»Ich fürchte, Dirne, Deine Ohren waren nur zu gut. Um so nötiger ist, daß sie gestopft oder so weit entfernt werden, daß sie keinen Schaden tun. Hier, nimm dies Geld noch, schweige aber jedenfalls; ob Du kommst oder nicht, ich werde zwei Stunden nach mittag auf der Spitalka sein und muß Dich jetzt verlassen, denn es ist die höchste Zeit, daß auch ich zur Ruhe komme. Wenn Du diese Straße hinabgehst gelangst Du zum Ufer der Weichsel und in die Nähe der Zitadelle, wo Dein Floß lag.« Damit und ohne sich weiter um das Schicksal des Mädchens zu kümmern, verließ er es und wandte sich dem Schloß zu, wo er bei seiner Ankunft von Petersburg vorläufig Wohnung genommen hatte.
Kaum hatte er sie verlassen, als die Flißanka in Angst, nochmals aufgehalten zu werden, in der Richtung des Stromufers davon rannte.
Unterhalb des Schlachthauses, in dem bereits das allnächtliche Leben begann, schlich sie sich bis zum Strande des hohen Ufers und spähte auf die Wasserfläche, eine Spur des Floßes zu sehen, aber die Dämmerung war noch zu stark, als daß sie es in dieser Entfernung hätte entdecken können. Nur der Richtung im allgemeinen konnte sie sich versichern.
» Stoi! Gib Antwort!«
Sie hörte das Klirren der Gewehre einer nahenden Patrouille, zugleich von der Praga-Brücke her den Ruderschlag eines großen Bootes; es war das Fahrzeug der Strompolizei, die ihre Morgenrunde begann.
Einen gellenden Pfiff ließ sie zwischen den Zähnen weit über die Wasserfläche erschallen, das Signal, auf das die Wache der Flißaken zu achten gewohnt war, dann ließ sie Mantel und Mütze fallen und schlug ein Kreuz. »Heilige Mutter Gottes von Czenstochau, stehe mir bei!« Und, ohne zu wissen, ob sie das Floß erreichen könne oder nicht, glitt sie in die trüben Wellen des Stromes in den Morgennebel hinein. »Komm zurück, Hund, Ausreißer, oder ich schieße! – Richtig, da liegen Mantel und Mütze, wieder einer der verdammten Deserteurs, der von seinem Wachtposten entsprungen ist und hinüber schwimmt ans andere Ufer. Vergebne Müh', da drüben kommt er schwerlich durch, wenn er nicht vorher schon im Treibsand der Insel stecken bleibt! Rudert, Leute, es ist strenger Befehl gekommen, die Flöße nach Verdächtigen zu untersuchen und die Flößer selbst zu verhaften!«
Es waren die letzten Worte, die sie hörte, hinterdrein das Klatschen einer Kugel auf dem Wasserspiegel. Dann tauchte sie tief unter die Oberfläche nieder. –
Wenzel, der alte Flißak, hatte die Polen, die sein Floß zu ihrer Zusammenkunft benutzt, zum Ufer zurückbringen lassen, wobei er das Verschwinden des Mädchens wohl bemerkt hatte, und die Mahnung erhalten, bei dem geringsten verdächtigen Umstand noch die Stunden der Nacht zu benutzen, die Stellung des Floßes zu ändern und es Strom ab treiben zu lassen. Den Baststrick, der das Floß festhielt, in der Hand, war er eingeschlummert, als er den Warnungspfiff vom Ufer hörte und fast mechanisch die Verbindung löste. Sofort entfernte sich das Fahrzeug vom Ufer, schwenkte in den Strom und trieb im Nebel langsam auf der trägen Flut davon. Aber zugleich rüttelte eine Hand den Alten vollends wach.
Es war Jaref, der zu ihm getreten war. »Es muß da drüben etwas passiert sein, was die Warnung verursacht hat. Das Floß ist jetzt triftig, und ich werde das Steuer nehmen. Kriecht unter, Wenzel, – meine Hand genügt und ich habe scharfe Augen und Ohren, wenn die Minka etwa ans Floß will, denn die Dirne fehlt unter den schlafenden Weibern. Wenn Euer Rat oder Eure Hilfe noch nötig, werd' ich Euch rufen!«
Der Alte schüttelte das Haupt, die Stimme des Burschen klang ihm gar so heiser, aber er tappte ohne weitere Antwort zu der Lagerstätte, warf sich darauf nieder und versank bald in Schlaf, ohne sich weiter um den Groll des Eifersüchtigen zu kümmern. War er doch jetzt sicher, daß, wenn man ihr Floß suchte, man es nicht mehr an der früheren Stelle fand, und auf der Strecke bis zur Rogatke jenseits der Zitadelle lagen oder trieben der Flöße noch mehrere! – – – – –
Der Kommissar Drosdowicz pflegte zeitig im Dienst zu sein, er fand auf dem Bureau des Ober-Polizeimeisters die während der Nacht dort abgegebene Anzeige des Stabskapitäns und ordnete sofort eine strenge Untersuchung und Überwachung der auf dem Strom ankernden Fahrzeuge nach verdächtigen Persönlichkeiten oder den Spuren geheimer Zusammenkünfte an, ehe er sich nach dem Kriegsgouvernement begab, um von dem Offizier, der, wie er wußte, lange schlief und erst spät in den Bureaux erschien, weitere Mitteilungen einzuholen.
Es war bereits 7 Uhr, aber er fand, wie er vermutet, daß der Kapitän noch nicht sichtbar war. Der Jäger Iwan harrte noch auf die Öffnung der Tür des Arbeits- und Schlafzimmers seines Herrn. Mit dem Instinkt eines guten Polizeibeamten wandte er sich zunächst an den Diener und suchte diesen auszuforschen.
Iwan wußte nichts, als daß er gegen Mitternacht noch von seinem Herrn Befehl erhalten habe, zwei Briefe nach der Polizeimeisterei und der Zitadellwache zu bringen, und daß sein Herr noch schlafen müsse und vielleicht noch ungestört bleiben wolle, denn die Tür sei von innen geschlossen, obschon, wie er bemerkt habe, das Fenster des Schlafzimmers weit geöffnet sei. Doch habe dieser ihm streng befohlen, ihn zu wecken, sobald der Polizeibeamte erschiene, und deshalb wolle er es auf sich nehmen, den Herrn zu rufen, selbst auf die Gefahr hin, sich seinen Unwillen zuzuziehen. Ein schlaues Augenzwinkern belehrte den Beamten, warum er solchen Unwillen besorge. Der Kommissar kümmerte sich wenig um die Ursache und half dem Jäger an der äußern Tür klopfen, als diese nicht sofort geöffnet wurde, dennoch blieb eine Weile lang alles still – keine Bewegung war im Innern hörbar.
»Hast Du keinen andern Weg, zu Deinem Herrn zu gelangen?« fragte endlich ungeduldig der Kommissar, der am Fenster des Vorzimmers stand und hinunter auf den Platz vor dem Palais sah, wo sich ein außergewöhnliches Menschengewühl zeigte, und namentlich viele Offiziere und Militärs zum Eingang des Gouvernements eilten.
»Es muß dort unten etwas besonderes geschehen sein; geh hinunter und frage bei der Wache, indes ich hier Deinen Herrn erwarte, er muß doch endlich öffnen, oder ich werde später wiederkommen, wenn er ausgeschlafen hat.«
Der Jäger eilte die Stiegen hinab, der Weisung zu gehorchen; zugleich hörte der Kommissar im Innern der Wohnung endlich das Schlürfen herannahender Schritte und eine schläfrige Verwünschung – dann wurde der Riegel zurückgeschoben. »Kapitän Atschikoff! Ich bin es, der Kommissar Drosdowicz, und auf Ihren ausdrücklichen Wunsch komme ich, Sie zu stören!«
»Ach Sie! Der Schurke Iwan hätte mich nicht so lange schlafen lassen sollen! Einen Augenblick, Pan, ich stehe Ihnen sogleich zu Diensten! Zum Henker, der verfluchte Punsch hat mich ganz betäubt!« Und jener vernahm, wie der Schritt nach der Türe des Schlafzimmers zurückging und der Kapitän diese wieder schloß, nachdem er einige Worte hineingerufen hatte.
Der Kommissar nahm keinen Anstand, sofort einzutreten, der wachsende Lärm auf dem Platz vor dem Palais hatte ihn besorgt gemacht, zugleich hörte er Rennen und Ausrufungen in den Korridoren des Innern, die zu den Büreaux führten. Ein Blick bei dem Eintritt in das Wohn- und Arbeitszimmer des Kapitäns belehrte den Beamten, daß hier am Abend vorher ein Gelage oder Souper, wahrscheinlich in Weibergesellschaft, stattgehabt haben mußte. Uniformstücke lagen noch unordentlich auf den Möbeln umher, geöffnete und halb geleerte Champagnerflaschen standen zwischen den Resten kalter Speisen auf dem Tisch in der Mitte, der Dunst einer Punschbowle und der unangenehme Geruch einer niedergedrehten aber noch brennenden Gasflamme vor dem offenbar noch in der Nacht benutzten Arbeitstisch erfüllte das geräumige Gemach; auf der offenen Klappe des Schreibtisches lag eine kostbare goldene Uhr und eine offene Börse mit Gold- und Silbermünzen.
Von der Portiere des Schlafzimmers her trat ihm der Stabskapitän in seidenem orientalischen Schlafrock entgegen, zugleich aber stürzte von der anderen Seite atemlos der Jäger Iwan herein.
»Gospodin –« keuchte er ganz außer sich, »Gott und die Heiligen mögen sichs erbarmen – wissen Sie schon das Unglück – …«
»Was für ein Unglück, Tölpel?«
»O Jammer, Jammer – O Batuschka – was wird der Zar sagen, wenn ers hört!«
Der Kommissar hatte den Verwirrten, Jammernden am Arm gefaßt. »Sprich, Kerl! Was ist geschehen?«
Der Jäger, immer noch wehklagend, zog ihn und seinen Herrn ins Vorzimmer zum offenen Fenster, das auf den großen Platz vor dem Palast hinaussah. Die Menge füllte ihn jetzt dicht gedrängt Kopf an Kopf, darunter zahlreiche Offiziere, an allen Türen und Fenstern erschienen Menschengruppen – von der Dluga her sprengten Reiter, einen offenen Wagen umgebend, um den sich die Menge drängte, ein Mann saß im Wagen und hielt einen andern im Arm.
»Jesus, Maria! Das verfluchte Polakenvolk! Sie haben ihn erschossen – dort bringen sie seine Leiche!«
»Esel! Wen?«
Eine derbe Ohrfeige schien ihm endlich die Zunge zu lösen.
»Wen anders als Seine Exzellenz den gnädigen Herrn General-Gouverneur. Drüben im Sächsischen Garten vor einer halben Stunde!«
»General Lüders?«
»Wen sonst, einen so vornehmen und tapfern Mann! O, das verfluchte polnische Gesindel; die Soldaten zünden die Stadt an allen Ecken an, daß die Meuchelmörder verbrennen mögen in ihren Sünden.«
Der Kommissar war bereits an der Tür, aber noch eilfertiger als er war der Kapitän hinter ihm und erwischte ihn.
»Halt, Kommissar! Wenn das Unglück wirklich geschehn ist und dieser Tölpel uns nicht unnütz in Schrecken jagt – nehmen Sie die Dirne da drinnen fest – sie muß mehr wissen und kann uns auf die Spur des Mörders bringen. Niemand darf aus dem Zimmer, bis sie in Fesseln liegt. Gott sei Dank! Da heben sie den General-Gouverneur aus dem Wagen, er scheint nur verwundet – Chrulef selbst ist bei ihm! So hat man es wirklich gewagt! Ich eile hinunter, um Näheres zu erfahren.«
»Halt da, Herr!« Der Polizeikommissar hatte bereits ohne Weiteres die Tür des Schlafzimmers aufgerissen und schaute in allen Winkeln umher, selbst unter den Möbeln und in die Schränke. »Hier ist niemand; was reden Sie da von den Mördern und von einer Dirne, die sich hier befinden soll. Wer ist sie, wo ist sie?«
Der Offizier, der Beamte, Iwan, der Jäger, durchsuchten vergeblich die beiden Zimmer, niemand war da; der Kommissar hatte selbst den innern Riegel zurückschieben hören und den Kapitän öffnen sehen, – einen andern Ausgang gab es nicht – Iwan hatte, seit er die Wohnung wieder betreten, auf dem Feldbett im Vorzimmer die Zeit bis zum Morgen zugebracht und schwor bei allen Heiligen, daß niemand dasselbe passiert habe, ja, daß er sich bei seiner Rückkehr überzeugt hatte, daß die Tür von innen verschlossen gewesen sei. Man konnte keine Zweifel in seine Aussagen setzen.
»Dann ist die verfluchte Flißakendirne während meines Schlafs durch das Fenster entwischt, aber diese Gemächer liegen im zweiten Stock, und die Fenster gehen nach den Gärten hinaus!« Der Kapitän schlug sich selbst vor den Kopf, während er sich rasch in Uniform warf, um hinunter zu eilen.
Der Gang wurde ihm durch den Eintritt eines der Feldwebel aus dem Bureau erspart, der auf dem Wege dahin kam, seinen Chef zu fragen, ob er bereits die nähern Umstände des Attentats vernommen habe.
Als er diesen Bericht mit angehört und daraus ersehen hatte, daß es sich nur um eine schwere Verwundung des Generalgouverneurs handle und dieser sich bereits in den Händen der Militärärzte und in der Wohnung Chrulefs im Gouvernement befinde, der Täter aber, obschon hunderte die Tat mit angesehen hatten, vorläufig unbekannt und in dem Gedränge, das sofort an Ort und Stelle entstanden war, entkommen sei, hielt es der Kommissar für verständiger, die Spur zu verfolgen, die ihm hier so unerwartet geworden und auf der Stelle zu ermitteln, ob sie in der Tat mit dem verübten Verbrechen in Verbindung stehen und auf welche Mitschuldigen sie leiten könne.
»Was veranlaßt Sie zu der Behauptung, Herr Kapitän, daß Sie damit den Urhebern auf der Spur sind? Ich weiß zwar, daß ich kein Recht habe, Sie zu befragen und Sie nur dem Militärgerichte Aussage zu machen brauchen; aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß es in Ihrem eigenen Interesse liegen dürfte, mir zuerst Mitteilung zu machen, um beurteilen zu können, ob sich gegründete Ursachen finden, Ihre Anzeige von dieser Nacht, die ich leider erst diesen Morgen erhielt, und deren Ergebnis ich noch nicht kenne, mit diesem verdammten Mordversuch in Zusammenhang zu bringen? Also berichten Sie, Kapitän, ohne Rückhalt, wen hatten Sie die Nacht bei sich, und wie kommen Sie überhaupt zu dem Verdacht? Sie ersparen sich vielleicht eine unnütze Kompromittierung, wenn Sie die Sache in meine Hände legen.«
Der Stabskapitän schien dasselbe zu denken und während er sich den Kopf mit Eiswasser übergoß, seine gewöhnliche Kur nach einer Schwelgerei, sammelte er seine Gedanken.
Kaiser Alexander hatte nach dem Rücktritt und Tode Gortschakoffs im Herbst und kurzem Interimistikum im Spätherbst des Jahres vorher den General Lüders zum Chef des I. (polnischen) Armeekorps und Generalstatthalter von Polen ernannt und ihm die Beruhigung und Verwaltung des bereits hochbewegten Königreichs übertragen.
Alexander Nikolajewitsch von Lüders, aus einer ursprünglich deutschen, seit Generationen aber in der russischen Armee dienenden Familie war 1790 geboren, zur Zeit des Mordversuchs also bereits über 71 Jahre alt. Er trat 1807 in die Armee, machte schon den Krieg in Finnland, 1812 bis 1814 den gegen Napoleon und bereits 1831 als Generalmajor an der Spitze seiner Infanterie-Brigade den Sturm auf Warschau mit, focht 1843 im Kaukasus gegen Schamyl, erstürmte dessen für uneinnehmbar gehaltene Felsenfeste Dargo, schlug 1848 und 1849 in Ungarn und Siebenbürgen gegen Bem und Kiß, wurde für den glänzenden Sieg von Groß-Scheuern zum General-Adjutanten ernannt, focht 1853 an der Donau bei Kalafat und Silistria und ermöglichte die Erhaltung der Krim, auch nach dem Fall von Sebastopol. Ein hartnäckiges Augenleiden nötigte ihn, sich lange im Auslande aufzuhalten, bis ihm der Kaiser 1859 wieder den Oberbefehl in Beßarabien übertrug und ihn zwei Jahre nachher nach Polen rief. Er galt als genialer Heerführer, strenger und furchtloser Soldat und wurde selbst von den bessern Führern der polnischen Agitation wegen seines biedern und gerechten Charakters hochgeachtet.
Warschau hat den großen Vorzug, inmitten seiner Straßen so zahlreiche Plätze, Gärten, öffentliche Parks und Alleen zu besitzen, wie kaum eine andere große Stadt. Eine der beliebtesten derartigen Anlagen war von jeher der »Sächsische Garten«, der im nordwestlichen Teile der Altstadt zwischen der Königstraße und der Senatorska hinter dem sächsischen Palast liegt, wo die beiden Auguste residierten, und der auf der Nordseite nur durch ein großes eisernes Gitter von dem Markt getrennt ist, der an bestimmten Tagen gewöhnlich sehr zahlreich besucht wird. Ein Teil des Sächsischen Gartens, der dem Publikum zur allgemeinen Benutzung offen steht und als Promenade viel besucht wird, ist zum sogenannten Brunnen- und Milchgarten bestimmt, da an der nördlichen Seite die Meierei oder Molkerei liegt und bei dem angrenzenden Kaffeehause der Ausschank des Mineralbrunnens ist. In diesem Teile des Gartens pflegte auch der General-Gouverneur Graf Lüders schon während des ganzen Monats früh, kurz vor 7 Uhr, zu erscheinen und den ihm verordneten Brunnen zu trinken. Er bewegte sich höchstens in Begleitung eines Adjutanten in seinem gewöhnlichen Uniformrock mit dem oder jenem seiner Bekannten plaudernd ungeniert in der Menge auf und ab. An dem betreffenden Tage, Freitag, den 27. Juni, war der Garten am frühen Morgen sehr zahlreich besucht. Man bemerkte eine Menge polnischer Familien, die in der Nähe der Konditorei Platz genommen hatten oder promenierten. Spätere Ermittelungen haben ergeben, daß, als der Graf von dem Sächsischen Platz her wie gewöhnlich eintrat, zwei gutgekleidete Männer, die den Meisten wohl unbekannt blieben, diesen Eintritt beobachteten und dem Eintretenden in einiger Entfernung folgten. Gartenarbeiter erklärten später ausdrücklich, daß sie die Männer mit einander polnisch sprechen hörten, wodurch sich also der Verdacht, daß die Tat von National-Russen ausgeführt sei, widerlegt.
Wir haben bereits erwähnt, daß General Lüders damals 71 Jahr alt, aber noch sehr rüstig war. Sich unterhaltend ging er nach dem Brunnengarten vor, wechselte hier mit mehreren Offizieren Fragen und Antworten und hatte bereits zwei Glas seines Brunnens getrunken, als er sich, durch das Gedränge der Promenierenden windend, die ihm ehrerbietig Platz machten, in der Nähe des Kaffeehauses zwei Männern gegenüber sah. Wie sich nachher ergeben hat und die Aussage des General Lüders bestätigte, waren es zwei in Zivil gekleidete Personen, die eine im Alter von etwa 40 Jahren, wahrscheinlich dieselben, die ihn am Eingang des Gartens erwartet hatten. Der General sah die eine Person eine Pistole gegen ihn erheben und sich von der Mündung bedroht. Kurz entschlossen als alter Soldat warf er sich schnell zur Seite und entging so der tötlichen Richtung des Schusses, der zu gleicher Zeit krachte. Das Pistol war mit drei Kugeln geladen, von denen die eine eine Frau, die hinter dem General gerade vorüberging, in der Schulter verwundete, die andere aber den Grafen durch seine rasche Wendung nicht vollständig in den Kopf, sondern nur in den Mund traf und über dem Kinnbacken durch die Wange hinausschlug. Die Spuren der dritten Kugel hatte man später gefunden.
Der Schuß machte im Augenblick solch allgemeines Aufsehen und erregte soviel Entsetzen, daß es dem Mörder, der gleich nach Abgabe des Schusses sich umdrehte und in der Menge zu verschwinden suchte, in der Tat gelang, sich der Verfolgung zu entziehen. Man nimmt an, daß er dabei der wohlüberlegten Richtung folgte, die sein Begleiter einschlug, und die durch das Kaffeehaus ging und nach dem nahen Markte führte. Kurzum, Tatsache war es, daß der Attentäter unverfolgt und unergriffen entkommen war und auch nicht ermittelt werden konnte, da die russischen Offiziere und alle Bessergesinnten sofort sich um den General sammelten, und die Verwirrung eine große war. Graf Lüders selbst hatte seine Fassung behalten. Ein Tuch auf die Wunde drückend, aus der Blut und Knochensplitter drangen, ließ er sich von seinem Adjutanten nach dem Kriegs-Gouvernement bringen, woselbst die erste Verbandanlegung erfolgte.
Dies war die Nachricht, die dem Kommissar Drosdowicz mit der beruhigenden, von den rasch herbeigeeilten Ärzten erteilten Versicherung gebracht wurde, daß die Verwundung, wenn auch schmerzhaft und langwierig in ihrer Heilung, doch keine unmittelbare Lebensgefahr bedeute. General Chrulef und der Militär-Gouverneur waren sofort um den Verwundeten beschäftigt, der alle zu treffenden Maßregeln beaufsichtigte und sich alsdann erst in den Gouvernements-Palast bringen ließ. Dieser Ruhe und Umsicht allein war es zu danken, daß das mißlungene Attentat keinerlei Folgen weiter hatte. Der General-Gouverneur sorgte dafür, daß der Kaiser durch den Telegraph benachrichtigt und beruhigt wurde, und daß alle Anstalten getroffen würden, um jeden Ausbruch einer Revolte im Keime zu ersticken. Aber zu einem solchen Versuch kam es auch nicht, da die Nachricht von dem mißglückten Versuch sich rasch in allen Kreisen verbreitete und man fand, daß das Militär gegen jeden beabsichtigten Putsch Vorkehrungen getroffen hatte. Ohnehin sprach sich die allgemeine Entrüstung gegen den Meuchelmord aus. Noch war es nicht 8 Uhr, als schon der Chef der Zivilverwaltung, Graf Wielopolski und die Spitzen der städtischen Behörden zum Schloß eilten, ihre Teilnahme an dem Attentat und die glückliche Rettung zu bekunden, die Partei der Schwarzen, von der es geplant worden, mußte also erkennen lernen, daß ihre Zeit noch nicht gekommen und das Volk zur bewaffneten Erhebung noch nicht reif sei.
Drosdowicz hatte den Stabskapitän bedrängt, ihm ehrlich die Wahrheit zu sagen und dieser hatte denn auch berichtet, wie und wo er die Flißakin getroffen und daß er nicht wisse, wo dieselbe geblieben sei. Der Kommissar konnte ihm später nur mitteilen, daß auch ihm jede Spur von ihr verloren gegangen und er die des Flosses an der angegebenen Stelle nicht gefunden habe. Bei den zahlreichen Fahrzeugen, die damals den Fluß bedeckten, war es nicht möglich, das Richtige zu ermitteln, und er konnte also nur eine strengere Aufsicht über das bisher für unschuldig gehaltene Verkehrsmittel anordnen und die Kontrolle auf dem Strom vermehren. –
Es war am Nachmittag, als der Fürst Ilinski, dessen Übersiedelung nach dem Belvedere durch das Ereignis des Tages verzögert worden war, nach dem Bericht an den Großfürsten sich zur Spitalka begab, um dort, wie er versprochen, seine Geliebte zu treffen und womöglich auch die Nachricht der Flißakin in Empfang zu nehmen. Sehr leicht gelang es ihm, bei dem Direktor des Spitals Eingang zu finden, und die Versicherung, daß die Großfürstin bei dem Besuch Warschaus auch die Krankenanstalt und das Findelhaus in Augenschein nehmen werde, ja, besonders ihren persönlichen Schutz ihm zusichere, veranlaßte den Beamten, sich ihm zur Besichtigung der Einrichtungen und Räume zur Verfügung zu stellen. In dem Bureau der Findelanstalt gelang es dem Fürsten leicht, eine Vorlegung der Bücher und Listen der Aufgenommenen sich zu verschaffen.
»Durchlaucht wissen, daß unsere Damen der Anstalt ihr besonderes Interesse widmen. Ihrer Kaiserlichen Hoheit Gnade für dieselbe wird also mit besonderem Dank anerkannt werden,« berichtete der Beamte. »Es geschieht täglich, daß die vornehmsten Frauen mit dem Schicksal der armen Unmündigen sich beschäftigen und für sie sorgen. Noch heute haben wir der Gräfin Dembinska die Einsicht in das Aufnahmejournal gestatten müssen, und sie hat versprochen, sich eines der Pfleglinge besonders anzunehmen.«
Den Fürsten, so materiell er auch sonst war, durchbebte bei dieser Nachricht doch ein eigenes Gefühl.
»Ich habe die Ehre, die Gräfin Dembinska früher gekannt zu haben, wenigstens erinnere ich mich ihrer aus den Soiréen des Fürsten Gortschakoff. Obgleich ihre Familie keineswegs zur Regierungspartei gehört, ist es mir doch lieb, von ihrer humanen Gesinnung gegen das Volk solche Beweise zu erhalten, um so mehr, als ich beauftragt bin, mich zu erkundigen, welche von den unabhängigen polnischen Damen sich wohl eignen würde, zum Eintritt in den Hofstaat Ihrer Kaiserlichen Hoheit aufgefordert zu werden, wenn es nach dem heutigen Vorgang noch zu der beabsichtigten Statthalterschaft Seiner Kaiserlichen Hoheit kommen sollte.«
Der Direktor zuckte die Achseln. Die Gesinnung der Gräfin Dembinska als fanatische Polin war ihm wohlbekannt; dennoch wollte er dem Offizier nicht gern eine nicht zufriedenstellende Antwort geben und begnügte sich, ihm mitzuteilen, daß die Komteß seines Wissens in der Anstalt noch anwesend und bei einer der angestellten Pflegerinnen, einem Fräulein von Marowska zum Besuch sei.
»Würden Sie wohl vermitteln, daß ich der Dame meine persönliche Hochachtung bezeugen darf?«
Der Direktor fand hierin einen guten Ausweg, sich selbst einer ihm unliebsamen Meinungsäußerung zu entziehen und erbot sich, wegen der Erlaubnis anzufragen.
In der Zeit seiner Abwesenheit durchblätterte der Fürst das ihm vorgelegte Register. Das Datum war ihm genau erinnerlich, und eine Röte aufrichtiger Freude übergoß sein Gesicht, als er an ihm zwei Kinder eingetragen bemerkte, einen Knaben und ein Mädchen, deren Angabe mehrere Notizen beigefügt waren. Er hatte eben Zeit gehabt, diese Wahrnehmungen zu machen, als der Direktor schon zurückkehrte und ihm mitteilte, daß Komteß Dembinska bereit sei, ihn im Sprechsaal zu empfangen, wohin er dem Offizier voranging. Als der Fürst kaum eingetreten war, öffnete sich die Tür gegenüber, und die junge Gräfin erschien in Begleitung einer andern Dame, die das Schwesterngewand des Hauses trug. Ein Blick genügte dem Fürsten, um zu erkennen, daß er in ein Gesicht voll Befriedigung schaute, und die leuchtenden Augen seiner Geliebten verkündeten ihm ihr volles Glück. Ein weiterer Blick zeigte ihm, daß das junge Mädchen, das sie begleitete, das Fräulein von Marowska war, von deren eigentümlichem Schicksal er gehört hatte. Er erkannte, daß die Gräfin mit Gewalt ihre Gefühle unterdrückte, um ihm nicht mit Jubel in Gegenwart der Fremden entgegen zu eilen und suchte ihr die Situation zu erleichtern, indem er sie kalt und zeremoniell begrüßte.
»Verzeihen Sie, gnädigste Komteß, daß ich mir erlaubt habe, von Ihrer Anwesenheit Kenntnis zu nehmen und die Gelegenheit zu benutzen, um Sie zu fragen, wann ich Ihrer Frau Mutter und dem Herrn Grafen meine Aufwartung machen darf. Es ist eine eigentümliche Bitte, die ich beiden vorzutragen habe. Sie werden vielleicht bereits wissen, daß Großfürst Konstantin von Seiner Majestät den Befehl erhalten hat, so bald wie möglich das Amt des Vizekönigs zu übernehmen. Er hat geruht, mich zu seinem persönlichen Adjutanten zu ernennen, und ich hoffe, daß das Ereignis dieses Morgens nichts in den Dispositionen ändern wird. Die Großfürstin will den Gemahl trotz der interessanten Umstände, in denen sie sich befindet, nach Warschau begleiten, und ich habe den Auftrag, mich unter den polnischen Damen umzusehen, ob eine von Rang und Namen geneigt ist, ein Hofamt während der Anwesenheit Ihrer Kaiserlichen Hoheit zu übernehmen. Es ist der lebhafte Wunsch des Kaisers, daß, wenn die Großfürstin seinen erlauchten Bruder mit einem Sohn beschenkt, dieser als geborner Pole das Licht der Welt erblicke. Die Frau Großfürstin wird gewiß nicht ermangeln, dies wohltätige Institut zur Feier des freudigen Ereignisses mit ihrem Wohlwollen zu bedenken, und die betreffende Dame wird es in der Hand haben, die Richtung ihrer Wohltaten zu bestimmen. Der Kaiser ist von der väterlichsten Gesinnung für Warschau erfüllt, und es ist eine Mission der Versöhnung, in welcher der Großfürst hierherkommt. Ich würde Sie um Erlaubnis bitten, diesen Wunsch an Ihren Herrn Vater und Ihre Frau Mutter zu richten, gerade, weil es in Petersburg bekannt ist, daß beide zu den Patrioten gehören.«
Er hatte, während er sprach, die junge Komteß scharf im Auge behalten und bemerkt, wie eine tiefe, freudige Röte ihr Antlitz überzog und sie ihm wiederholt einen fragenden Blick zuwarf; aber er hütete sich sorgfältig, ihn zu erwidern, da er sie keinem Vorwurf der Überredung aussetzen, sondern sie selbst den Entschluß fassen lassen wollte. Auch das junge Mädchen, obgleich zurückstehend, hielt ihr Auge aufmerksam auf die Komteß gerichtet. Diese war offenbar in Verlegenheit und wußte nicht, was sie antworten sollte. Der Fürst sah ihr an, wie gern sie auf den Vorschlag eingehen wollte und daß sie besondere Hoffnungen daran knüpfte, aber die Kenntnis ihrer Familie und namentlich der Gesinnung ihrer Mutter ließ sie an der Erfüllung ihrer Wünsche zweifeln.
»Euer Durchlaucht sind sehr freundlich, und ich bezweifle nicht, daß die wohlwollende Gesinnung Ihrer Kaiserlichen Hoheit den besten Eindruck machen wird, dennoch kann ich Ihnen nicht sofort Bescheid geben, da ich von der Bestimmung meiner Eltern abhänge und mit meinen Freunden mich zu beraten wünsche.«
Ihr Blick suchte hilfeflehend das Auge der Marowska, die zu ihrem Erstaunen ihr zunickte.
»Das Fräulein ist, wie ich weiß, eine gute Patriotin, sie wird es, als mit den hiesigen Verhältnissen näher bekannt, vielleicht nicht verschmähen, eines der unglücklichen Kinder dieses Hauses zu wählen, dem die Frau Großfürstin ihre besondere Gunst zu Teil werden lassen kann, zu Ehren des versöhnenden Eintretens der gnädigen Komteß in Ihre Stellung. Ich übernehme es, den Namen des Kindes vorzuschlagen.«
Die Pflegerin antwortete dem indirekt an sie ausgesprochenen Wunsch. »Wie gern würde ich dem Institut meinen Dank für den Tag darbringen, da ich zum ersten Mal nach der mir geleisteten Hilfe aus seinen Räumen entlassen wurde. Das Datum steht mit festen Zügen in meiner Erinnerung, und es ist zufällig dasselbe, das vorhin die gnädige Komteß aufschlugen. Sie erlauben, daß ich das Register herbeihole.«
Der Direktor erbot sich, dafür zu sorgen, und kehrte nach wenigen Minuten mit demselben zurück. Der Fürst wußte sehr wohl, welche Antwort er erhalten würde, und überließ die Wahl unbesorgt der Dame. Die Marowska schlug den traurigen Tag des Februar auf und zeigte ihn der Komteß.
»Zwei Kinder sind an jenem Tag eingetragen, ein Knabe und ein Mädchen, es ist wohl nicht mehr als billig, daß wir die Wohltat einem Sohne Polens zu Teil werden lassen.«
»Und darf ich Sie fragen, wie das Kind bezeichnet ist?« Die Marowska sah nach: »Es ist ein hübsches Kind, ich erinnere mich seiner wohl! Wie Sie wissen, bleiben die Kinder achtzehn Monat im Hause, bis sie in auswärtige Pflege gegeben werden können. Der Knabe ist vor etwa vier Wochen dem Hause zurückgebracht worden, da seine erste Pflegemutter gestorben ist, deshalb erinnere ich mich auch seiner Persönlichkeit. Hier würde sich also eine gute Gelegenheit finden, ihn aufs Neue glücklich unterzubringen. Er ist nach einem dem Kinde beigefügten Zettel auf den Namen Konstantin getauft, hatte in der Wäsche kein erkennbares Zeichen, und nur eine seidene Schnur um seinen Hals enthielt ein agnus dei von lapis lazuli, was auf wohlhabendere Abkunft schließen läßt. Sonst fehlten alle Zeichen!«
»Das genügt. Wir haben also eine Zurückforderung nicht zu erwarten. Gnädige Komteß, darf ich die Ehre haben, Sie zum Wagen zu geleiten, oder verweilen Sie noch hier?«
Die Komteß reichte der Marowska die Hand. »Es bleibt also bei dem, was wir verabredet, und dabei, daß ich die Sorge für einige der Kranken und Findlinge besonders übernehme. Sobald wir wieder nach Warschau zurückkehren, werde ich Sie aufsuchen. Durchlaucht, ich werde sogleich die Ehre haben, Ihnen zum Wagen zu folgen.« Sie hielt die Hand der Marowska in der ihren, während sie dem Fürsten zum Portal folgte und dieser den Wagen herbeirief.
»Was sagen Sie zu dem Antrag des Fürsten? Meine Mutter wird sicher nicht ihre Zustimmung geben und ebensowenig meine Schwester, selbst, wenn ich mich dazu entschließen könnte.«
Die Marowska sah sie nachdenkend an. »Dennoch könnten Sie Polen damit einen großen Dienst erweisen. Denken Sie an unser Gespräch von gestern bei der Rätin, und daß keiner polnischen Dame ein Opfer zu groß sein sollte, das sie der Sache des Vaterlands bringt. Es ist noch nicht so unmöglich, daß die Gräfin Ihnen die Erlaubnis erteilen würde, wenn sie weiß, daß sie damit im feindlichen Lager einen Halt gewinnt. Vergessen Sie nicht, daß man damit die sichersten Nachrichten erhalten würde von allem, was Polen bedroht. Ich würde an Ihrer Stelle die Äbtissin auf dem Rückwege besuchen und die Frage ihr zur Entscheidung vorlegen. Da sie doch in allem das Recht der Einmischung der Kirche verlangt, möge diese auch darin bestimmen.«
Der Wagen war vorgefahren, der Fürst erwartete sie am Schlage und hob sie hinein; da die Marowska auf den Stufen stehen blieb, hatte er kaum Gelegenheit ihr zuzuflüstern: »Ich muß Dich sprechen, um Mitternacht treffe ich Dich an derselben Stelle wie gestern.«
Als der Fürst den Wagen seine Richtung nach dem Hotel d'Angleterre nehmen sah, empfahl er sich dem Direktor und der Pflegerin und nahm den Weg über den Platz, unwillkürlich an jene Szene des Abends denkend, als er die Geliebte zu jenem Gange geleitete, dessen Ausfall jetzt wider Erwarten ein so glücklicher zu werden schien, und wandte sich dann nach der Warecka, um womöglich noch einige Nachrichten über das Befinden des Generals einzuziehen, eigentlich aber, um zu sehen, ob die Flißakin Wort halten würde, oder um ihr Gelegenheit dazu zu geben.
Er war noch nicht an der Ecke der Mazowiecka angelangt, als ihn ein ehrerbietiger Gruß des pademdonec anzeigte, daß er erkannt worden sei. Zugleich bemerkte er auf der gegenüberliegenden Seite der Straße die Flißakin. Es war ihm natürlich nicht gleichgültig, jetzt, wo es noch hell war, sich mit den gemeinen Leuten in Verbindung zu sehen, er gab ihnen daher hastig den Wink, ihm zu folgen, und schritt ihnen voran nach der Allee, die zum Belvedere führt. Hier bog er in den nächsten Gang und erwartete, daß die Nachfolgenden ihn ansprechen würden.
»O Gospodin,« sagte das Mädchen, das, obschon sie sich in ihren besten, ihren Staatsrock, geworfen hatte, doch noch immer schäbig genug aussah, »das ist der Jaref, mein Bräutigam; er ist bereit, in Deinen Dienst zu treten, und wir haben das Floß verlassen unter dem Vorwand, in Warschau ein Unterkommen gefunden zu haben. Der Wenzel hat uns ungern vermißt, aber es fehlt jetzt nicht an Volk und er will nach uns fragen, wenn er von Danzig zurückkehrt. Hoher Herr, wie glücklich würden wir sein, wenn die Jungfrau es fügte, daß wir durch Deine Gnade einen Dienst bekämen.«
Der Fürst, der wohl wußte, daß er sich erst am Abend entscheiden konnte, wies das Mädchen an, auf einer Bank Platz zu nehmen, und befahl ihr, zu warten, indem er den Burschen ihn begleiten hieß.
»Verstehst Du russisch?«
»Ja, Herr, russisch, polnisch und deutsch!«
»Bist Du ein Pole?«
» Tak, Herr, ein geborener Krakuse, aus der Gegend von Krakau zu Hause. Ich bin besser als die polnischen Schweine!«
»Verstehst Du mit Pferden umzugehen?«
» Tak, Herr, ich bin mein lebelang dabei aufgewachsen, ehe ich Flißak wurde und habe drüben über der Grenze gedient.«
»So weißt Du, was jetzt in Krakau vorgeht?«
» Tak, Herr, sie erwarten die Hilfe aus Frankreich, und es sammelt sich sehr viel Volk aus den Karpathen da!«
» K'tschortu, das wäre, also Krakau ist der Sammelplatz für die Rebellen, das ist ja ganz was Neues. Erzähle mir alles, was Du davon gehört hast.«
»Die Priester sagen, der weiße Zar in Moskau wolle die heilige Kirche unterdrücken, aber die Österreicher werden es nicht leiden, und die Ungarn von den Karpathen her. Es ist jetzt viel Leben in Krakau und sie erwarten Zuzug aus Frankreich und Oberschlesien. Sie erwarten wieder den großen General Miroslawski, der schon die Prussaki schlug in Preußen.«
»Schau, schau, das sind alles wichtige Neuigkeiten! Wenn Du bei mir als Pferdeknecht eintreten willst, so sollst Du es gut haben. Nur wenn Du in Warschau bist, hast Du Dienst bei mir, fünf Rubel monatlich und die Kleidung, Essen erhältst Du mit den andern. Komme morgen früh um 9 Uhr zu mir, dann wollen wir das Weitere abmachen. Einstweilen nimm diese zwei Rubel und logiere Dich mit Deinem Mädchen ein, bis ich auch ihr morgen näheren Bescheid erteilen kann.«
Der Flißak dankte dem Herrn demütig und entfernte sich. Der Fürst aber beschloß, noch an demselben Abend von seiner Entdeckung Gebrauch zu machen. –
Die Komteß hatte in der Tat den Rat der Marowska befolgt und sich auf dem Heimweg zur Äbtissin begeben. Unter dem Vorwande eines Besuchs, den sie ihr ohnedies schuldete, hatte sie Gelegenheit genommen, der Dame das seltsame Anerbieten mitzuteilen, das ihr soeben in der Spitalka gemacht worden war, und es konnte nichts Unerwarteteres und Willkommeneres der geistlichen Dame widerfahren, die den ganzen Tag den Ausbruch der Revolution erwartet hatte, bis ihr Neffe sie von dem Ausgang des Attentats und der Verschiebung der Revolte benachrichtigte. Zugleich brachte er ihr Botschaft von dem Pater, der sie noch an demselben Abend zu sprechen wünschte, da im Laufe des Tages verschiedene Nachrichten eingegangen waren. Die Äbtissin riet der jungen Gräfin, das Anerbieten nicht von der Hand zu weisen, und versprach, noch im Laufe des Abends bei der Gräfin, ihrer Mutter, vorzufahren und diese und die Familie zur Annahme desselben zu bestimmen. Nachdem sie vorsorglich ihre Karte mit der Erkundigung nach dem Befinden des Generals im Schlosse abgegeben hatte, fuhr sie wirklich nach dem Hause der Gräfin und war die erste, die die überraschende Nachricht von der Aufforderung an die Komteß überbrachte. Bei dem Charakter der Gräfin Dembinska bedurfte es jedoch alles Zuredens und der Erinnerung an die politischen Vorteile, die es ihrer Sache bringen mußte, in der unmittelbaren Nähe der Großfürstlichen Personen eine Vertraute zu haben, um sie zu vermögen, ihren Stolz zu beugen und die Erlaubnis zur Annahme der Einladung zu erteilen, wenn die Großfürstin sie an die Komteß richten sollte. Erst, als dies in allgemeinen Zügen verabredet war und die Äbtissin versprochen hatte, alle Einleitungen bei den vornehmen polnischen Familien selbst zu treffen, daß auch von diesen die nicht abzulehnende Wahl der Komteß angeraten werden sollte, verließ die intriguante Kirchenfrau das Haus. Wie verabredet, traf sie mit dem Pater in jenem Schlupfwinkel zusammen, in dem zu jener Zeit die Zusammenkünfte der Verschworenen stattfanden, wohin der Pater sich durch den geheimen Ausgang des Klosters unbemerkt begeben hatte. –
Es ist Tatsache, daß zum ersten Male in dieser Zeit die deutsche Sozialdemokratie an die politischen Ereignisse herantritt. Obschon wir nur in einzelnen Bildern das Eingreifen der Sozialdemokratie, wie sie im Jahre 1848 namentlich in Frankreich auftrat, erwähnen konnten, hatte die blutige Unterdrückung der giftigen, schon Jahrhunderte wuchernden Saat doch nur den Ausbruch vertagt. Namentlich in England, diesem ewigen Herde der sozialen Agitationen, hatte der Gedanke an eine Gemeinsamkeit des Kampfes aller arbeitenden Klassen nicht geschlummert und unter der Form der National-Ökonomie war mehrfach von ausgezeichneten Schriftstellern wie Stuart Mills und Smith der Klassenkampf angeregt worden. Der praktische Sinn der Engländer und ihr unleugbarer Patriotismus hatten jedoch immer die heikle Frage von England und seinen politischen Interessen abzudrängen und auf den Kontinent zurück zu werfen verstanden.
In neuerer Zeit war es Karl Marx, ein geborener Preuße, der es unternommen hatte, diese ewige Frage der Zeit, den Kampf zwischen Arbeit und Kapital, zu einer politischen Agitation zu benutzen und zu dieser die Kräfte heranzuziehen, welche die Vorgänge des Jahres 1848 an die Ufer von England geworfen hatten. Mazzini, Engels, Wolf, Freiligrat u. a. waren die Männer, die er dazu benutzte. Das Wort: »Proletarier aller Länder, sammelt Euch um meine Fahnen« war das Motto, unter dem er seine gehässigen Pläne gegen Preußen, sein Vaterland, verdeckte. Schon als im Jahre 1848 die Neue Rheinische Zeitung unter seiner Redaktion offenbar diese Absicht verfolgte und dies so kräftig hervortrat, daß sie an dem nationalen Sinn der Bevölkerung scheiterte, seine Zeitung eingehen mußte und selbst in ihrem Wiedererscheinen als Monatsschrift in Hamburg keine Sympathien fand, war es doch sein stiller Plan gewesen, seine Absicht nicht aufzugeben, sondern bei günstigerer Gelegenheit sie zu verwirklichen. Ehrgeizig und eitel, wie alle Juden sind, dazu von jener Zähigkeit des Strebens, die jener Rasse eigen ist und von großer Arbeitskraft, hatte er seine Zwecke nach dem ersten Mißerfolge der Blanc'schen sozialen Werkstätten in Paris mit dem theoretischen Versuch in der Neuen Rheinischen Zeitung noch nicht aufgegeben und trat bei erster Gelegenheit damit wieder ans Tageslicht, als eine Deputation der Arbeiter aus Paris mit den Arbeitern Londons fraternisierte und in dem Bunde des Schusters Odger eine Zusammengehörigkeit aller Arbeiter herbeizuführen suchte. Er war es, der in einer besonderen Deputation der Londoner Arbeiter an Lord Palmerston die Sympathien der englischen und französischen Bevölkerung für Polen auf das soziale Gebiet zu lenken und sie damit zu fördern suchte. Als dies sich unnötig erwies, da in England durch die polnische Agitation unter Palmerston die russischen Antipathien genugsam rege geworden, vorerst aber die italienische Frage den Beistand der Regierung mehr in Anspruch nahm, die französische Haltung auch eine so zweifelhafte blieb, also der Beobachtung selbst benötigte und Palmerston die polnischen Agitatoren auf Wien verwies, zu gleicher Zeit aber Bakunin in der Schweiz mit seinem Nihilismus und seiner panslavistischen Richtung auftrat, war es Marx, der seine Utopien einer allgemeinen Arbeiter-Republik vertagte und erst dann wieder zur Sprache brachte, als die Berufung des allgemeinen Kongresses nach Gent ihm Gelegenheit gab, mit der Gründung seiner Internationalen vorzutreten. Er hoffte schon damals die Leitung selbst zu übernehmen und die Statuten zu entwerfen. Doch die Herbeiziehung der Italiener gab sie Mazzini in die Hände, der bekanntlich niemals den Klassenkampf, sondern blos politische Zwecke, d. h. die Einigung Italiens verfolgte, sonst sich aber herzlich wenig um das Wohl und Wehe der arbeitenden Klassen bekümmerte. Zu jener Zeit war es auch, wo Marx, der unterdeß für die nordamerikanischen Zeitungen arbeitete und als der Faiseur der dortigen deutschen Politik auftrat, die Bekanntschaft eines Mannes machte, der in vielen Beziehungen ihm ähnlich war, in manchem ihm aber entgegentrat, und der deshalb auch nur ein äußerlich kurzes und nie vertrautes Verhältnis mit ihm unterhielt.
Es ist dies der unbedingt sehr begabte Geist, der in jener Zeit in das öffentliche Leben trat, der Vater der deutschen Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle.