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Vater und Tochter.

Wir kehren nunmehr zu dem rettenden Engel Jankals und der Signore Moretto, zu der schönen und treuen Violetta zurück.

Was für Empfindungen mochten sich in ihrem, vor Aufregung wallenden Busen verbergen, als sie mit Paolini, die diebische Elster verlassend, dem Palazzo reale zuschritt? Das himmlische, sechzehnjährige Mädchen konnte nicht anders denken, als daß dieser ihr Gang mit dem geheimen Polizeiinspektor des Königs ein strenges Verhör, betreffs der jüngsten Ereignisse in der Gazza ladra zum Ziele habe. Was ihr Paolini an trostreichen und mutzusprechenden Artigkeiten gesagt, hielt Violetta nur für eine ebenso politische als chevalereske Umschleierung dessen, was ihrer wartete.

Dieser Verdacht wurde noch dadurch verstärkt, daß der Inspektor, welcher ihr, um jedes Aufsehen zu vermeiden, galanterweise den Arm geboten, ziemlich einsilbig an ihrer Seite einher schritt und nur bisweilen einen mehr schalkhaften als forschenden Blick auf ihre liebreizende Gestalt warf.

Endlich am Palazzo reale angekommen, war Violetta nicht wenig erstaunt, als Paolini sie bedeutete, daß nicht der Polizeipräsident, sondern der König selbst sie zu sprechen wünsche, und daß sie sich zu diesem Zwecke mit ihm, dem Inspektor, unmittelbar nach dem im zweiten Stock des Schlosses gelegenen und an anderer Stelle schon eingehend geschilderten himmelblauen Sanktissimum des Re Galantuomo zu begeben habe.

Aus einer Banditenhöhle in das Allerheiligste eines Monarchen, das war allerdings ein Lebensschritt, der zu denken gab und den Busen des schönen Kindes nur noch heftiger wogen machte.

Violetta hatte den Liebling Italiens, den grundhäßlichen Re Galantuomo, noch niemals von Angesicht zu Angesicht geschaut, und jetzt sollte sie ihm plötzlich und wie sie da ging und stand, nämlich mit ihrem schlichten, aber, was sie selbst nicht ahnte, dennoch anmutigen Hauskleide unter die Augen treten. Die bezaubernde Göttin der Blumen, die Rose, neben eine mit Stachelwarzen besäete Fackeldistel gestellt, vermag keine mehr gegensätzliche ästhetische Wirkung hervorzubringen, als Tochter und Vater in diesem Augenblicke.

Buchstäblich entsetzt, ob des furchtbaren Anblicks so potenzierter Häßlichkeit, prallte Violetta unwillkürlich einen Schritt zurück, als der Leibkammerdiener Tommaso nach geschehener Anmeldung die Tür des königlichen Geheimkabinetts öffnete und der Monarch – heute nicht, wie gewöhnlich, in Zuavenpumphosen, Gilet und Hemdsärmeln, sondern bürgerlich schwarz gekleidet – ihr mit von sichtbarer Freude und Überraschung geröteten Wangen in ritterlicher Weise entgegentrat, indes sich Paoloni auf einen Wink dieses seines Gebieters stumm zurückzog.

» Corpo di Christo! Welch eine Ähnlichkeit bei so großer Verschiedenheit! Welch ein Engel von Mädchen!« murmelte Victor Emanuel zwischen den Zähnen, als er Violettas ansichtig wurde.

In der Tat repräsentierten Nase und Mund des schönen Kindes eine gute Portion von dem Gesichtstypus des Königs, nur daß alle Züge, was Häßlichkeit anlangt, bei ihr verjüngt, verklärt, apotheosiert erschienen. Der Re Galantuomo gebrauchte seine ganze Selbstbeherrschung, um nicht aus der Rolle zu fallen. Er hätte diesen Engel von natürlicher Tochter sogleich umarmen und küssen mögen, doch, wie gesagt, er bezwang sich und die Tränen einer noch nie so tief empfundenen Rührung, welche ihn, beim Anblick Violettas aus den Augen zu stürzen drohten.

»Treten Sie ein! Es freut mich Sie zu sehen!« rief er vielmehr in konventionellem Tone, »mein Polizei-Inspektor hat mir viel Gutes von Ihnen berichtet!«

»Eure Majestät halten zu Gnaden,« entgegnete Violetta schüchtern und durch des Königs feurige Blicke sichtbar erschreckt. »Es ist mir noch nicht völlig klar, wie ich zu der hohen Auszeichnung gelangt bin, hier vor Eurer Majestät erscheinen zu dürfen, doch möchte die Ursache dieser allerhöchsten Gnadenerweisung wohl weniger in meinen Guttaten, als vielmehr in dem beklagenswerten Umstande zu suchen sein, daß mich ein widriges Geschick verfolgte und schließlich in die bei allen wohlgesitteten Turinern so verrufene Osteria della gazza ladra brachte. Indes, was dort in früherer Zeit und heute geschehen, das wollen Eure Majestät weder mir, noch meinem Pflegevater, Filippo Martino, zur Last legen. Er sowohl, als ich, sind vielmehr die Opfer einer Kabale, deren Quelle Euer Majestät Erzfeind, der römische Jesuitismus ist!«

» Affè di Dio, Signorina! Ich ahne, doch überlassen wir dieses Thema meiner Polizei. Ihr spracht von einem widrigen Geschick, das Euch verfolgte und schließlich in die sogenannte diebische Elster brachte. Das ist's, was schon seit lange halb Turin befremdete und endlich auch zu meinen Ohren drang. Ein so schönes und tugendsames Mädchen in der verrufensten Osterie meiner Residenz? – Per bacco, das muß anders werden; soll heute noch zu Eurem Heil sich wandeln: Das ist der einzige Grund, weshalb ich Euch zu mir beschieden!«

Mit neuem ängstlichen Mißtrauen wich Violetta den Blicken des Königs aus. Hatte sie ihn bis dahin auch noch nicht persönlich gekannt, so war doch von seinen zahlreichen galanten Abenteuern schon soviel zu ihren Ohren gekommen, daß sie mit Recht Verdacht schöpfen konnte, Victor Emanuel selbst habe es jetzt am Ende auf ihre eigene Person abgesehen und die Befreiung aus jener Banditenspelunke sei nur ein Vorwand zu noch tieferer Erniedrigung.

Allein, als der Re Galantuomo, seine erste Aufregung bemeisternd, Violetta mit wahrhaft väterlichem Tone zum Sitzen einlud, sich dann selber, ihr gegenüber, in einen Sessel warf und eine Träne, die ihm trotz aller Selbstbeherrschung durch die Wimpern entschlüpft, von seiner Backe wischte, schwand endlich jede Besorgnis nach obengedachter Richtung hin, so daß Violetta ihre schönen, blauen Augen fortan nicht mehr furchtsam zu Boden senkte, sondern unbefangen Rede und Antwort stand.

»Ihr seid fremd hier in Turin?« begann der König von neuem. »Erzählt mir, bitte, Eure Lebenswege bis zu diesem Tage. Verschweigt mir nichts, was nebensächlich scheint. An kleinen Dingen hängt ja oft der Menschen ganzes Mißgeschick!«

Violetta, durch den herzlichen Ton, in welchem Victor Emanuel diese Worte sagte, immer mehr Vertrauen gewinnend, blickte dem König jetzt völlig furchtlos in die Augen und entgegnete: »Wenn Majestät für das traurige Los, welches einem armen Mädchen meines Schlages beschieden worden, Zeit und Geduld haben, so bitte ich um die Gnade, mit meiner Erzählung ganz von vorne zu beginnen, das heißt auch alles dasjenige mit einflechten zu dürfen, was über meine früheste Jugend die Mutter mir berichtet.«

» Tanto meglio!« winkte huldvoll der König mit seiner Rechten, während seine linke Hand wieder nach den Augen fuhr. Das Wort »Mutter« hatte ihm einen Glutstrom in Stirn und Wangen getrieben, der von Violetta, die sich jetzt zur Darstellung ihrer Lebensgeschichte zurechtsetzte, glücklicherweise nicht bemerkt worden war.

»Majestät,« begann das Mädchen nach einer kleinen Pause innerer Sammlung, »ich bin eine arme Waise, die ihren Vater nie gesehen und ihre Mutter früh verloren hat. Nicht in Europa, der alten, sondern in Amerika, der neuen Welt, begrüßte mich des Lebens goldener Morgenstern, und the big bend State of Tennessee, genau noch die aufblühende Handelsstadt Chattanooga am Tennesseestrome ist meine engere Heimat.

Meine Mutter, die Sängerin Lucy Brandon, war eine Pittsburger Farmerstochter mit echtem Yankeeblut. Sie erhielt ihre musikalische Schulung im besten Privat-Konservatorium New-Yorks, und namentlich scheuten ihre Eltern keine Kosten, die ganz ungewöhnlichen gesanglichen Anlagen Miß Lucys zu vollendeter Entwicklung zu bringen. Als ideales Ziel stand ihnen dabei die künftige Primadonna der großen Pariser Oper vor der Seele.

Sonderbar, daß selbst mein Großvater mütterlicherseits – den anderen habe ich so wenig wie meinen Vater kennen gelernt – auf diese romantische Idee wie versessen war. Jedenfalls wußte sein praktischer Yankeesinn das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, das heißt die fabelhaften Honorarsummen einer ersten Sängerin Frankreichs mit den hohen Anforderungen, welche die Kunst dabei an seine Tochter stellte, sehr hübsch zu vereinbaren.

Doch es kam anders, als man geplant. Binnen Jahresfrist raffte das gelbe Fieber Vater und Mutter Miß Lucys hinweg und, damit der Kelch des Unglücks bis zur Neige geleert werde, zerstörte ein furchtbarer Waldbrand die gänzlich unversicherte Farm.

Unter diesen traurigen Verhältnissen sah sich meine spätere Mutter gezwungen, ihre New-Yorker gesanglichen Studien zu unterbrechen und unverzüglich nach Chattanooga, ins nunmehr leere Elternhaus zurückzukehren.

Aber Elend über Elend! – Erst nach meines Großvaters Tode stellte es sich heraus, daß seine Vermögensverhältnisse nicht die besten gewesen waren, daß auf seiner Farm ganz bedeutende Schulden lasteten. Dieser letztere Umstand trieb meine spätere Mutter sogar aus dem elterlichen Hause hinaus.

Kaum halb fertig in ihrer Gesangstechnik und in allen übrigen Dingen vollends unerfahren, verzichtete sie freiwillig auf die Opernkarriere und war froh, mehr durch ihre wirkliche Schönheit als durch ihre Kunst in den Konzerthallen größerer Städte glänzen zu können.

Als eine Konzertsängerin und Schönheit ersten Ranges kam sie dann auf ihrer notgezwungenen Tournee durch aller Herren Länder – wie sie mir oft erzählt – auch schließlich nach Italien, dem Lande der Kunst par excellence, und hier nun, in Italien, begann der zweite und vorletzte Akt jenes Trauerspiels, daß sich ›das Leben meiner Mutter‹ betitelt.«

Bei diesen Worten der Erzählerin zuckte der König unwillkürlich zusammen und eine nervöse Unruhe schien sich seiner zu bemächtigen. Doch bemeisterte er dieselbe dadurch, daß er aufstand, ein paar Mal im Kabinett auf und ab ging und seine zitternden Hände in den Seitentaschen seines Jackettes verbarg.

»Das tut mir sehr leid,« rief er im Tone natürlichen Mitgefühls, »aber weiter, weiter, schöne Signorina!«

»An diesem dunklen Punkte im Leben meiner Mutter angekommen,« fuhr Violetta zu erzählen fort, »muß ich mich vollends auf das wenige beschränken, was die längst Entschlafene mir, ihrer neunjährigen Tochter, erst kurz vor ihrem Tode offenbarte.

Sie habe, auf der apeninischen Halbinsel angekommen, unter anderem, oder vielmehr gleich in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft von Marseille, auch in Genua gesungen, und gerade dieses ihr Auftreten in der alten, herrlichen Golfstadt des italischen Nordens sei für sie verhängnisvoll geworden.

Ein zwar grundhäßlicher, aber sehr vornehmer und guter, edler Herr, der in der Nähe, auf dem Monte d'oltre Po, eine villenartige Burg, Castelo riale di Moncalieri genannt, besitze, habe nämlich von der ausnehmenden Schönheit jener nordamerikanischen Konzertsängerin gehört und dieselbe unter fürstlichen Honorarversprechungen zu sich beschieden und dann, angeblich ihrer ausgezeichneten Kunstleistungen wegen, mehrere Wochen in seinem Burgkastell festgehalten.«

» Portoraccio, tortoraccio!« brummte jetzt Victor Emanuel in seinen gewaltigen Schnurrbart und zauste in fieberhafter Aufregung so heftig an dessen Spitzen, daß man glauben konnte, er beabsichtige mit jenem Urwald seiner Oberlippe vollständig tabula rasa zu machen.

»Nun,« stieß der König, zum Erstaunen Violettas, wie ein Gefolterter heraus, »ließ denn jener häßliche, hohe Herr die schöne Sängerin nicht endlich, reich belohnt, weiter ziehen?«

»Allerdings, Majestät, denn anderen Falles hätte ich schwerlich in Nordamerika, am Ufer des Tennessee, das Licht der Welt erblickt. Doch was meine gute Mutter eigentlich bewogen, Italien, ohne Rom und Neapel vorher gesehen zu haben, so schnell, als sie getan, den Rücken zu kehren, darüber weiß ich Ärmste nicht ein Sterbenswort! Nur eine leise Ahnung steigt jetzt in mir, dem gereiften Mädchen, jenen dunklen Punkt betreffend, auf.«

»Und die wäre?« fragte hastig und laut, dabei aber sein Gesicht von der Sprecherin abwendend, der König.

»Erlauben Majestät, daß ich den Faden meiner Erzählung wieder aufnehme: Ein Bruder meines verstorbenen Großvaters erstand, dem Namen Brandon zuliebe, die verwaiste, schwerverschuldete Farm bei Chattanooga und gestattete meiner nach dort zurückgekehrten späteren Mutter das Haus ihrer Eltern und Jugendzeit, welches glücklicherweise bei jenem Brande, der die Plantagen und Wirtschaftsgebäude vollständig zerstörte, nur wenig gelitten, wieder zu beziehen.

Dort, in ihrem alten Heim, am rauschenden Tennessee, wollte sie, der Welt verborgen, den ersten und zugleich letzten Fehltritt ihres jungen Lebens büßen; dort, Majestät, wo meiner Mutter Wiege einstmals stand, dort ward auch ich – ein vaterloses Kind, geboren!«

Noch immer war der König unruhig im Zimmer auf und abgeschritten; noch immer verbarg er seine zitternden Hände in den Taschen seines Rockes; jetzt aber gebrauchte er seine ganze Selbstbeherrschung, um sich nicht zu verraten und seiner Tochter um den Hals zu fallen.

» Per Dio! Mio Alma, mio uno Alma!« stammelte er wie verzweifelt und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen, während Violetta, diese Pantomimen nicht bemerkend, in ruhigem Tone zu erzählen fortfuhr:

»Schon als ich ein Kind von sechs, sieben Jahren war, nahm mich, wenn wir im Sommer auf der Terrasse am Tennessee saßen und dem bunten Nixentanz der Wogen lauschten, meine Mutter oft zu sich auf den Schoß, schlang ihre weißen Arme um meinen jugendlichen Nacken und das lange, lockige Blondhaar, das, dem ihren gleich, auf meinem Köpfchen üppig sproßte, und sprach alsdann zu mir.

»Das Vaterland, geliebte Violetta, die Heimat und das Elterhaus, das sind die Stätten, davon unser Christengott gesprochen: ›Zeuch deine Schuhe aus, denn der Ort, da du stehest, ist heiliger Boden!‹ Erst in der Fremde, Violetta, lernt man die Heimatscholle schätzen; erst weit vom Wiegenplatz der süßen Kindheit packt uns des Heimwehs schmerzliche Gewalt. Und, sonderbar, die Liebe ist die Amme dieses Schmerzes. Ein Herz, das liebt, zum ersten Male jenem Götterstrahl vom Himmel unseres Busens Tore öffnet, es möchte all sein Liebesglück auf dem Altar des Vaterlandes niederlegen; die erste, reine Glut des Herzens jener Scholle weihen, wo uns die Mutterliebe einstmals sanft gebettet.

So, Violetta, erging mir's in Italien, in jenem Lande, von dem man glauben könnte, daß es des Heimwehs Spuren leicht verwischt. Nein, gerade an den paradiesischen Nordgrenzen der Lombardei, mitten im Freudentaumel einer ersten, beseligenden Liebe, ergriff mich des Heimwehs dämonische Gewalt mit unwiderstehlicher Macht. Und wohl mir, daß ich imstande war, jenem Drange in die ferne Heimat, der allgewaltig meine Seele packte, als ich erkannte und erkennen mußte, daß jenes Liebesglück, welches mir der Himmel jählings in den Schoß geworfen, nur einem Meteore glich, das schnell erscheint und noch viel schneller schwindet – daß ich in dieser meiner hoffnungslosen Seelenpein imstande war, den Herzensschmerz einer zwar erwiderten, sogar stürmisch erwiderten, aber dennoch unglücklichen, weil niemals vor der Welt zu offenbarenden und zu legalisierenden Liebe, in Töne und Worte zu kleiden:

» I can no longer here remain,
No pleasures here I see;
Farewell, farewell, I must go back,
Again to Tennessee!
«

So, Majestät, klagte meine Mutter ihrem vaterlosen Töchterchen fast täglich ihr herbes Leid; klagte es ihr solange, bis die Wellen des Tennessee der Unglücklichen Grablieder sangen!«

» Corpo di Bacco!« unterbrach hier der König leidenschaftlich und blieb wie fassungslos vor der jungen Erzählerin stehen, »Eure Mutter hat sich doch nicht etwa in übergroßem Schmerz ertränkt?«

»Wenn auch das nicht gerade,« fuhr die Sprecherin langsamer fort, »aber sie schien einem derartigen Ende vorbeugen zu wollen und begab sich in einer gewissen Vorahnung dessen, was ihr begegnen werde, aufs Wasser!«

»Wie soll ich das verstehen?« forschte Victor Emanuel weiter.

»Den inneren Zusammenhang begreife auch ich nicht,« begann Violetta von neuem; »Tatsache aber bleibt, daß meine Mutter, just an meinem neunten Geburtstage, in amerikanischen Zeitungen Berichte über Italien, denen sie mit Vorliebe nachspürte, las und eben bei dieser Lektüre auf eine Bemerkung und einen Namen, die und der sie fast dem Wahnsinn nahe brachte, aufmerksam wurde. Die Bedeutung dessen, was meine Mutter so furchtbar erregte, verstand ich selbstredend nicht, doch ist mir die Bezeichnung Rosina Mirafiori und der Ausdruck morganatische Ehe im Gedächtnis geblieben!«

» Diavoletto!« fluchte jetzt der König und stampfte in dumpfer Verzweiflung den Teppich seines Kabinetts. »Die Unglückselige! – Doch weiter, weiter, Signorina!«

»In dieser ihrer Aufregung befahl meine Mutter ihrem Diener, jenes Segelboot, das ihr aus dem Nachlasse der Eltern geblieben und dem sie nach ihrer Rückkehr aus Europa den Namen ›Moncalieri‹ gegeben hatte, zu einer Spazierfahrt auf dem Tennessee klar zu machen.

An sich betrachtet, hatte dieser Befehl durchaus nichts Auffälliges, denn meine Mutter liebte und übte schon von Jugend auf den Wasser- und insonderheit den Segelsport, nur war das Wetter an jenem Nachmittage derart, daß kein Vernünftiger sein Leben hätte wagen mögen. An fünf Fuß hohe Wellen peitschte ein wütender Nordost, und die weißen Schaumkronen dieser Wogen tanzten wie Irrlichter auf der breiten Stromfläche.

Indes meine Mutter lachte der Gefahr. »Feiglinge, die ihr seid!« schalt sie mich und ihren Diener, als wir mit Tränen in den Augen sie beschworen, für dieses Mal doch von der Fahrt zu lassen.

Alles umsonst. Großvaters Bruder war zufällig nicht daheim, und unsere Bitten und Vorstellungen blieben erfolglos.

Einen letzten, gewaltsamen Versuch meiner unglücklichen Mutter, mich trotz der augenscheinlichen Todesgefahr zur Mitfahrt zu bewegen, vereitelte unser braver, schwarzer Diener Jack noch rechtzeitig dadurch, daß derselbe in dem gleichen Augenblicke, wo er, wie ihm befohlen, mit seinem rechten Fuße das schwankende Gefährt vom Lande stieß, mich, die ich in Todesangst die Hände nach ihm ausstreckte, mit seinem linken Arme aus dem Boote riß.

Drei Stunden nach dieser aufregenden Szene, als sich der Sturm und die Wellen gelegt, trieb meine verzweifelte, waghalsige Mutter als Leiche ans Ufer.

Die Blütenschäfte weißer und gelber Seerosen hielten ihre prachtvollen Glieder, namentlich aber das goldgelbe, aufgelöste, herrliche Haar, welches ihren Hals in langen Strähnen umflutete, poesievoll im Tode umschlungen:

» I can no longer here remain,
No pleasures here I see;
Farewell, farewell, I must go back,
Farewell my Tennessee!
«

schwebte es von den bleichen Lippen der im Sturm geknickten Rose.

So, Majestät, so endete meine Mutter, die Sängerin Miß Lucy Brandon!«

» Dio, Dio, misericordia!« jammerte jetzt halblaut Victor Emanuel und war nahe daran, Violetta zu Füßen zu stürzen und einen älteren Fehltritt seines feurigen Temperaments an der einstigen Geliebten und ihrer Tochter damit zugleich zu sühnen, doch bezwang der König den Menschen noch im rechten Augenblicke.

»Signorina!« rief er, immer noch leidenschaftlich genug, in diesem Kampfe seiner Seele, »Signorina, Gott sei gelobt, daß dieser stürmische Tag meines Lebens Euch zu mir geführt hat! – Ich kenne nämlich Euren Vater nur zu gut. Derselbe weilt zwar auch nicht mehr unter den Lebenden, aber er hat mich zum Erben Eurer Ansprüche auf seine Fürsorge bestellt!

Dank der Vorsehung, die mich heute einen holden Sprößling seiner ersten und wahrsten Herzensneigung finden ließ, sollt Ihr dies Schloß nicht eher verlassen, bis Eure Zukunft sicher gestellt ist und Ihr vor allem aus den schmählichen Sklavenfesseln erlöst seid, mit welchen die Osteria della gazza ladra Eure Unschuld solange bedrohte!«

Erstaunt, ja fast erstarrt ob dieser plötzlichen Wendung ihres schicksalsreichen, jungen Lebens, schlug Violetta jetzt vertrauensselig ihre himmlischen Augen zu ihrem königlichen Gebieter auf.

»Majestät!« rief sie im Tone hellsten Glückes, »Majestät, ich weiß nicht, ob ich wache oder träume! – Ihr kennt meinen Vater und seid beauftragt, meiner unglücklichen Mutter grausen Tod zu sühnen?«

» Veramente!« antwortete der König. »Bei Gottes Barmherzigkeit und unserer heiligsten Jungfrau unbefleckter Empfängnis, ich kenne Euren Erzeuger und will an seiner Statt vergelten, was Euch und Eurer Mutter Übles widerfahren! – Zuvor jedoch erzählt mir weiter, wie Ihr in dieses Land und hier in meine Residenz gekommen; wie es möglich war, daß ein so schönes, tugendsames Mädchen in eine Banditenhöhle, wie die verrufene diebische Elster, geraten konnte!«

» Per Dio, Majestät!« entgegnete Violetta, wiederruhiger werdend und sich von neuem zum Erzählen in Positur setzend. »Auch ich hätte eine solche Tragik meines Lebens nicht für möglich gehalten, selbst wenn mir mein bisheriges Schicksal schon an der Wiege gesungen worden wäre! Aber hören Majestät in Gnaden, was ich jetzt berichte. Der Schleier über meinem jungen Leben ist alsdann gelüftet!«

»Ich bin sehr neugierig,« rief Victor Emanuel lebhaft, und nahm wieder auf seinem Sessel vor Violetta Platz, während die Erzählerin nunmehr begann:

»Als der Bruder meines Großvaters bald nach meiner Mutter Tode in deren hinterlassenen Briefschaften, um der Entschlafenen finanzielle Verhältnisse klar zu stellen, kramte, entdeckte er unter anderem ein Schriftstück, welches einen Revers enthielt, der aus Turin datierte und Graf Moncalieri unterzeichnet war. Diese Urkunde enthielt eine Anweisung auf 30 000 Lira, die für den Fall bei der königlichen Bank in Turin zu erheben seien, daß die Inhaberin jenes Scheines selbst oder aber deren beglaubigter Sprößling besagten Revers daselbst binnen zehn Jahren, vom Tage der Ausstellung an gerechnet, präsentiere!«

»Und Ihr besitzt wirklich diesen Schein, Signorina?« unterbrach hier der König hastig.

Statt der Antwort griff Violetta unter ihr Busentuch, wo sie auf bloßer Brust ein handtellergroßes, goldenes Medaillon mit dem Bildnis ihrer Mutter verwahrt hielt, öffnete alsdann die wohlverschlossene metallene Kapsel und entnahm derselben das in Rede stehende, sorgsam zusammengefaltete Dokument.

»Hier, Majestät, bewußte Anweisung des Grafen Moncalieri und als meine Legitimation zugleich das mir sprechend ähnliche Bild meiner seligen Mutter!« sagte jetzt Violetta in fast feierlichem Tone und reichte, eine Kette mit bezeichnetem Medaillon von ihrem Halse streifend, beides Victor Emanuel.

Wieder kämpfte der König, Bild und Schein schnell ergreifend und lange wehmütig betrachtend, einen schweren Kampf der Selbstbeherrschung, dann entgegnete er mit erzwungener Ruhe, indem er dankend Dokument und Medaillon in Violettas Hände zurücklegte:

»Es hat seine Richtigkeit, Signorina! Der Revers trägt die eigenhändige Unterschrift meines verstorbenen Freundes Moncalieri, und über Eure Identität als Tochter der verblichenen Miß Lucy Brandon kann schon nach einem Vergleiche jenes Bildes mit Euren Zügen kein Zweifel bestehen!

Da Ihr ferner selbst Überbringerin der Anweisung, wie vorgeschrieben, seid, so verzichte ich auf weitere Legitimationspapiere, als da sind Geburts- und Taufschein, und lasse Euch das Geld schon morgen zahlen!«

Jetzt war's an Violetta, ihrer Freude und Rührung Meister zu werden. Mit tränenerstickter Stimme wollte sie dem König zu Füßen sinken und tiefempfundenen Dank in ehrfurchtsvollen Worten stammeln. Aber Victor Emanuel, selbst vor Bewegung kaum noch eines Ausdrucks mächtig, kam dem zuvor, schob Violetta sanft auf ihren Sessel zurück und winkte mit der Hand, doch im Erzählen fortzufahren.

» Ebbene, Signorina, ebbene! Ich begreife jetzt schon, was Euch nach Italien führte, doch von Amerika nach hier? Ein Kind wie Ihr? – Ein Rätsel stellt sich vor das andre!«

»Und gleichwohl ging die weite Fahrt natürlich zu!« begann Violetta wieder. »Meines Großvaters Bruder am Tennessee hatte inzwischen die Bekanntschaft eines deutschen, aus Sachsen gebürtigen Trappers gemacht, der Zischwitz hieß und mit seinem in Amerika erworbenen Gelde nach Europa zurückzukehren im Begriffe stand. Dieser ehemalige Dresdener Sergeant Zischwitz (dem Leser aus Band II unseres Romans und der Präriengeschichte von Robert und Eva gewiß noch in Erinnerung) erbot sich, meines Großvaters Bruder, der leider unabkömmlich war, zu vertreten und mich, die arme Waise, behufs Geltendmachung ihrer Rechte und Ansprüche nach Italien zu begleiten.

Bei der Selbständigkeit, die uns Amerikanern nun einmal angeboren ist, darf eine derartige fast abenteuerliche Reise nicht befremden, und ich muß bekennen, daß der gute Sachse wie ein Vater an mir gehandelt und sein Versprechen treulich gehalten hat.

Daß ich dem braven Manne schließlich, noch ehe wir unser Ziel erreichten, zu seiner eigenen größten Bekümmernis abhanden kam und unter Zigeuner geriet, die mich jahrelang mit sich umher schleppten, an diesem Unglück, Majestät, trägt jener edle Deutsche nicht die geringste Schuld!«

» Improbabile! Signorina! Ihr fielt Zigeunerbanden in die Hände?« unterbrach an dieser Stelle der König höchlichst erstaunt.

» Roumanys! Leider, Majestät, und mit dieser Entführung, diesem Zigeunerraube, an einem armen Waisenkinde verübt, hebt zugleich das spätere Elend meines jungen Lebens an!«

»Ihr spannt meine Neugier aufs äußerste, Signorina! Erzählt, ich bitte Euch, berichtet weiter!«

»Unsere Meerfahrt von New-York nach Hamburg – meinem Beschützer zu Gefallen, den dringliche Familiengeschäfte zunächst nach seiner Heimat Sachsen riefen, sollte unsere Italienreise über Dresden, Teplitz, Karlsbad, Eger, Marienbad, Pilsen, Regensburg, München und den Brennerpaß gehen – verlief ohne jede Fährlichkeit, und ebenso glücklich gelangten wir schließlich in Sachsens Elbflorenz an.

Wie entzückt war Zischwitz, endlich einmal wieder deutschen Boden und deutschen Wald schauen zu können, und in dieser berechtigten Freude schlug er mir, nach mehrwöchentlichem Aufenthalt in Dresden, vor, die Fahrt nach München nicht, wie bisher, per Eisenbahn, sondern weil uns die Zeit keineswegs drängte, in gemütlicherer Weise per Kutschwagen zurückzulegen.

Da hierdurch vermehrte Reisekosten bei meinem Wohltäter absolut keine Rolle spielten, so war ich mit diesem Vorschlage, der unser, wenigstens mein Verderben werden sollte, sehr einverstanden, und die geplante letzte Route wurde denn auch wirklich in einem bequemen Landauer angetreten.

Anfangs machte sich auch diese Spazierfahrt, den Alpen entgegen, ganz prächtig, allein zwischen Marienbad und Pilsen zerbrach plötzlich das rechte Hinterrad unseres Wagens mit seiner Achse zugleich, so daß wir keinen Schritt weiter kommen konnten und noch froh sein mußten, in einem nahe gelegenen, elenden böhmischen Dorfe wenigstens Obdach vor der Unbill der Witterung zu finden.

In dieser schwierigen Lage, was namentlich die Reparatur unseres, bis Regensburg gemieteten Landauers betraf, betrachteten wir es als eine Fügung des Himmels, daß just um die Stunde unseres Malheurs eine Karawane von Zigeunern, worunter sich Stellmacher, Schlosser und Schmiede befanden, unverhofft des Weges gezogen kam.

Zischwitz, dem die Sprache dieser strolchenden Bohemians, wie sie auch genannt werden, von früher her nicht unbekannt war, verständigte sich bald mit dem Häuptling der Bande über den Preis der Wagenreparatur, so daß wir anderen Tages wieder weiter zu kommen hoffen konnten.

Die Hauptbedingung der heimatlosen Gaunerbande, meinem Beschützer gegenüber, bestand darin, daß Zischwitz die Kosten ihres Heilverfahrens an unserm Wagen pränumerando entrichten müsse, und erst als dieser Kardinalpunkt in klingender Weise erledigt worden war, schlugen jene Spitzbuben ihre Zelte auf und machten sich an die Arbeit.

Der Vorsicht wegen, sofern es doch immer noch zweifelhaft blieb, ob die Reparatur derartiger, nicht approbierter Wagenbauer unseren Zwecken auch wirklich genügen werde, zog mein Sachse doch aber vor, seinen Kutscher schon hier, am Orte des Unfalls, abzulohnen und nach Dresden zurückzusenden, währenddessen er, Zischwitz, sich zu Fuß, behufs Mietung einer neuen Chaise, nach dem nur noch zwei Meilen entfernten Pilsen begab. Ich, für meine Person, sollte die Nacht über, welche bereits hernieder zu dämmern anfing, bei der gastfreundlichen sogenannten Cousine eines katholischen Pfarrers, der uns als geistlicher Hirt des erwähnten böhmischen Dorfes hilfreiche Hand bot, zubringen.

Leider, wie gesagt, hob auf diese Weise kleine Vorsicht die größere auf und ward zu meinem Verderben. Diese Vorsicht setzte mein guter Sachse, der mich bei dem Herrn Pfarrer vollständig sicher wußte, in berechtigtem guten Glauben ahnungs- und besorgnislos beiseite.

Item, ehe der Morgen anbrach und Zischwitz mit einem Wagen aus Pilsen zurückkehrte, hatten die braunen Halunken von Zigeunern das Pfarrhaus überfallen, den Pfarrer, dessen Cousine und unsern Kutscher geknebelt und mich, die hilflose, kaum elfjährige Waise nach allen Regeln ihrer Spitzbubenkunst auf Nimmerwiedersehen entführt.

Mitten in der Nacht war von dem landstreichenden Gesindel die versprochene eilige Arbeit eingestellt worden, um diesen schnöden Mädchenraub als Dank für die reichliche Pränumerandozahlung meines Wohltäters in Szene zu setzen. Im Nu hatten sie die lodernden Feuer gelöscht und ihre zerlumpten Zelte abgebrochen und auf die Wanderkarren gepackt. Die beiden prächtigen Rappen unseres Landauers mußten selbstverständlich die Spitzbubenflucht beschleunigen helfen, während der Wagen, zerbrochen wie er noch dastand, als alleiniges, wenig tröstliches Andenken für Zischwitz am Platze des Raubes zurückblieb. Meinem am Morgen wiederkehrenden Reisebegleiter fiel nur noch die kleine, erfolgreiche Aufgabe zu, die drei geknebelten Personen im Pfarrhause von ihren Fesseln zu befreien; seine Anstrengungen bei der böhmischen Polizei, in betreff meiner Einholung und Erlösung waren, da die Räuber die belebteren Landstraßen schlauerweise vermieden und nur bei Nacht, und womöglich von Wäldern gedeckt, dem Osten und zwar zunächst den Gebirgen Mährens zusteuerten, völlig umsonst.

Aber trotz alledem wäre die Entdeckung und Zurückführung meiner Person der österreichischen Gendarmerie am Ende doch noch geglückt, hätten die braunen Schurken es nicht ebenso trefflich verstanden gehabt, die nachstellenden und vigilierenden Behörden und deren Organe auch über meine Herkunft durch mein Aussehen zu täuschen.

Majestät brauche ich den herzzerreißenden Jammer nicht zu beschreiben, der mich packte, als ich an gedachtem Morgen auf einem der Zigeunerkarren – die Spitzbuben hatten mich in tiefstem Schlafe aus dem Bette gehoben und, immer noch in festem Schlafe, auf jenen Wagen gebracht – die noch am Abend vorher meine Schaulust ergötzt hatten, erwachte und Zischwitz vermißte.

Noch größer aber war mein Entsetzen, als mich eine alte, braune Hexe, laut Befehl des Häuptlings der Bande, mitten auf der Fahrt und Flucht entkleidete und dermaßen mit Kienruß und Öl am ganzen Körper salbte, ja sogar mein blondes Haar schwarz färbte, daß ich in wenigen Minuten für ein echtes Zigeunerkind gelten konnte.

Gott sei Dank war bei allem Elend, in das ich so geraten, noch ein großes Glück. Man ließ mir nämlich, trotz der Lumpen, in die man meine Glieder nunmehr hüllte, die goldene Kette hier mit ihrer Kapsel, weil des Häuptlings Aberglaube sich nicht an diesen vermeintlichen Talisman, von dem er im Beraubungsfalle Verderben seiner ganzen Bande fürchtete, wagte.

Überhaupt betrachtete man mich, schon meiner blauen Augen wegen, die freilich in ihrer damaligen kienrußfarbenen und künstlichen Umrahmung fast ebenfalls dunkel erschienen, als eine Art höheres Wesen. Dieser Umstand, wie die bei so rohen, naturwüchsigen Menschen doppelt auffällige, wirklich humane, ja an Verehrung grenzende Behandlung, der ich mich in meiner neuen Umgebung glücklicherweise zu erfreuen hatte, brachte mich immer mehr zu der Überzeugung, daß die von den Zigeunern mit Vorliebe an Kindern germanischer Rasse verübten Entführungen und Räubereien mehr mit ihrem fatalistischen Aber- und Geisterglauben, resp. ihren altnomadisch-heidnischen Kultusformen, als mit den ihnen allerdings ebenfalls in starkem Maße eigentümlichen und darum wahrhaft diabolischen Spitzbubentrieben in Verbindung zu setzen sind. Ich wurde in der Tat, und zwar je länger desto mehr, nicht wie eine Sklavin, der man alles zumuten darf, sondern im Gegenteil, wie eine Prinzessin und Heilige fast vergöttert, und gerade der Bandenhäuptling selbst wachte mit Argusaugen darüber, daß mich niemand auch nur mit einer Miene beleidigte.

Ähnliche Geschichten von blondhaarigen und blauäugigen Kindern, die durch Indianer entführt und auf dieselbe merkwürdige Art von letzteren behandelt worden waren, hatte mir schon meine Mutter oft am Tennessee erzählt, so daß ich, trotz meiner elenden Lage, die Hoffnung auf Erlösung aus derselben nicht verlor und mich in mein vorläufiges trauriges Schicksal schneller, als ich dachte, finden lernte.

Wenn die Zigeuner in dem Punkte, fiel mir von öfterem Hörensagen damals wieder ein, es machen, wie die Indianer, daß sie nämlich die geraubten Kinder, nachdem ihnen der diesen angeblich innewohnende Schutzgeist durch jahrelange Inanspruchnahme abgenutzt und unbrauchbar geworden vorkommt, gleich ausgepreßten Zitronen fortwerfen oder doch mit Vorteil verkaufen, so durfte auch ich mit Sicherheit auf endliche Befreiung aus ihren Händen rechnen.

Diese Aussicht war mir natürlich ein süßer Trost, den meine junge Seele fest umklammert hielt bei all dem Ekel, welchen ich namentlich in bezug auf Wohnung, Kleidung und Speise täglich, ja stündlich zu überwinden hatte. Doch letztbezeichneter Jammer minderte sich in etwas, als wir Rumänien, unser damaliges Wanderziel und die quasi Winterheimat meiner Bande erreichten.

Durch das sogenannte eiserne Tor, das heißt jenen wildromantischen, transsilvanischen Gebirgspaß, der von der Magyarenstadt Temesvár nach Alt-Orsova an der Donau führt, betraten wir das Zigeunerland par excellence, die Walachei, und siedelten uns für die bevorstehende rauhe Jahreszeit in einem reinen Zigeunerdorfe unweit Plaëschti an.

Dieser Walachenort liegt nicht sehr fern von Bukarescht, der Residenz des jetzigen Königreiches Rumänien, und dieser glückliche Umstand nährte in mir von vornherein die stille Hoffnung, daß es mir vielleicht gelingen könnte, nach dahin zu entkommen und den Beistand der dortigen Behörden anzurufen,

Inwieweit sich diese, immerhin sehr trügerische Hoffnung auch wirklich erfüllen sollte, werde ich sogleich umständlicher berichten, nachdem ich vorher erst des poetischen Zaubers gedacht, der mein unfreiwilliges Zigeunerleben bei Plaëschti mehr noch, als auf der langen Reise von Böhmen nach Rumänien, umfloß.

Ja poetisch, durch und durch poetisch ist das Treiben dieser ziehenden Gauner, trotz all des Schmutzes und der Lumpen an ihren Leibern.

Hier, wo sie nicht ewig umkreist von deutschen Gendarmen und österreichischen Panduren, sich sicher und wie eine kleine Nation fühlten, konzentrierte sich denn auch ihr eigentümliches Wesen und Leben und gestaltete sich namentlich ihre hohe musikalische Veranlagung in ursprünglicher orientalischer Fülle und Schönheit.

So manches hatte mir, wie gesagt, schon die Mutter von dem unwiderstehlichen Zauber der Zigeunermusik erzählt, den bizarren, bald klagenden, bald schmeichelnden, bald schrillen und wilden Tönen von Violine und Mandoline, deren melancholische Weisen wie Irrlichter über stagnierende Sumpfgewässer und Wiesen hüpfen und deren Klangfarbe dem Mittagslüftchen gleicht, das schwül und duftig um Narzissenblüten fächelt.

Mehr und näheres genoß ich dann selbst davon auf meiner Zigeunerfahrt von Böhmen nach Rumänien, wenn die Bande, deren Schutzengel ich wider Willen spielte, abends auf einem Anger unter Weiden ihre Karutzen (Karren) halten ließ und ihre Bordehs (Zelte) zum Nachtkraale aufschlug. Im Nu loderten alsdann die Feuer und brodelten die Kessel über aus Feldsteinen improvisierten Herden, und gestohlene Ferkel, Gänse, Hühner und Enten boten mit auf dieselbe Art angeeigneten Kartoffeln und sonstigen Feldfrüchten ein leckeres Mahl.

War aber das letztere beendet und hatte die alte Vettel von Zigeunermutter, der am Tage das Kartenschlagen und Wahrsagen auf den Dörfern, die wir berührten, oblag, die nackt, barfuß und barhaupt umherlungernden höchst schmutzigen Kinder unserer Karawane zur Ruhe gebracht, dann strich unser Häuptling Scypcy den Kontrabaß, Scrasy, sein vierundzwanzigjähriger Sohn, spielte die erste Violine und Mynosca, seine acht Lenze jüngere Tochter schlug das Tamburin dazu.

Immer leidenschaftlicher, immer feuriger, zitternd, zerfahren und wüst, wie das vagabondierende Völkchen selbst, welches dies Abendkonzert, oft von einer dichten Schar neugieriger Lauscher aus nah und fern umstanden, gegen eine meist kärgliche Tellersammlung zum besten gab, klangen diese seltsamen Weisen, die jungen Zigeuner und Zigeunerinnen zum Tanze im Freien oder zum Kosen in den Zelten lockend, in die stille Nacht hinaus, und der Mond lugte, wie höhnisch grinsend zu diesem ganzen Zigeunerspuk, durch das geisterhaft graue Gezweige der Zitterpappeln und Silberweiden, unter deren Geäst sich unsere rotglühenden Herdfeuer, zerlumpten Bordehs und gebrechlichen Karutzen ausbreiteten.«

» Per bacco!« unterbrach hier nach längerer Pause der König von neuem die Erzählerin, » per bacco, ich kenne diese musikalischen Nomaden mit ihrem pechschwarzen glänzenden Haar, schneeweißen Zähnen und bronzefarbenem Gesicht sehr gut. Affé di Dio! Welch bildhübsche Mädchen, mit Augen, so scharf und blank wie Banditendolche, fand ich unter ihnen.«

»Ich bemerkte schon,« fuhr die Erzählerin jetzt wieder fort, »daß sich diese, vom Zigeunerleben unzertrennliche und vorwiegend aus Musik und Poesie bestehende Romantik in unserm Herbst- und Winterquartiere bei Plaëschti gleichsam konzentrierte. Dort nämlich strömten vor nunmehr fünf Jahren, und zwar an einem herrlichen Spätoktobertage, wohl an drei Dutzend einzelne Banden, behufs Abhaltung einer Art Nationalfestes, das in altheidnischen Mysterien wurzelnd, seinen Gipfelpunkt in der Apotheose einer gemeinsam erwählten und als irdisches Abbild der heiligen Jungfrau Maria betrachteten, wie behördlicherseits geduldeten Schutzgöttin der vereinigten Horden findet, zusammen.

Die betreffende, von den Bandenhäuptlingen veranstaltete Wahl fiel seltsamerweise auf mich, und diese Auszeichnung hatte zunächst zur Folge, daß man mich nicht bloß mit meinen früheren sauberen Kleidern schmückte, sondern noch außerdem mit gestohlenen Ketten, Armbändern, Diademen, Kränzen und dergleichen Putzsachen, mehr als reichlich zierte und ausstaffierte.

Daß diese Aureole meines unfreiwilligen Zigeunerlebens die Stunde meiner endlichen Befreiung mit umstrahlen könnte, wer hätte dies damals vorhersagen mögen? Wer hätte ferner ahnen sollen, daß diese Erlösung aus Zigeunerhänden nur ein »aus dem Regen unter die Traufe kommen« insofern bedeutete, als meiner Person und Freiheit später ungleich härtere und drückendere Sklavenketten warteten.

Es war, wie schon bemerkt, ein herrlicher Spätoktobertag, als ich unter Trommel- und Paukenschlag zur Generalschutzgöttin erwählt und dann mit wahrhaft bacchanalischem Jubel auf einen Schild gehoben, dem unter prächtigen, in voller herbstlicher Buntscheckigkeit dastehenden Nuß- und Kastanienbäumen aufgerichteten Altar und Thronhimmel zugeführt wurde, um hier die Huldigungen der gesamten Spitzbubenbanden entgegen zu nehmen.

Wie diese selbst, so hatten sich auch die besten und berühmtesten Zigeunerkapellen zu diesem meinem Triumphtage vereinigt und ihre Musik, namentlich soweit dieselbe Nationalmärsche und Tänze betraf, wirkte förmlich berauschend auf meine, durch so viel Ehrerweisung unnatürlich stark erregten Nerven.

Ich wäre in dieser Stimmung zu den größten Dummheiten und verwegensten Konzessionen, Scrasy und seine schon längst bemerkte heimliche Liebe zu mir betreffend, aufgelegt und geneigt gewesen, hätte nicht mitten in diesem Festtrubel ein als französischer Weltgeistlicher, als Abbé gekleideter junger Mann, mit entschieden deutschen Gesichtszügen, plötzlich meine ganzen Sinne gefangen genommen.

Diesen Mann sehen und den Gedanken fassen, durch ihn vielleicht die Freiheit zu erlangen, war bei mir eins.

Sobald der eigentliche, durch nationale Gesänge und Tänze beschlossene Festakt vorüber, bat ich meinen Häuptling Scypsy, der zu erwartenden größeren Ergiebigkeit wegen selbst eine Tellersammlung bei den umstehenden Zuschauern veranstalten zu dürfen, was natürlich gerne zugestanden wurde.

Auf diese Weise gelangte ich, ohne Verdacht zu erregen, vor den, mich ebenfalls schon lange scharf fixierenden Abbé, dem ich in demselben Momente, als er mir, wie die andern alle, ein Geldstück auf den Teller warf, leise, aber dennoch deutlich vernehmbar und zwar in italienischer, den Umstehenden unverständlicher Sprache zurief: »Retten Sie mich, ich bin eine geraubte Waise!«

» Per Dio, oggi, quando possibile!« war die von tiefem Erröten begleitete, schnelle Antwort des Abbé, während ich mit meinen beiden Sammeltellern, als wäre nichts geschehen, an ihm vorüber schritt.

Es war gegen ein Uhr nachts – die Feuer, welche die goldschimmernde Kascha aus Kukuruzmehl zur Abendmahlzeit gesotten, waren längst erloschen, und das ganze, große Lager heute, sogar die Wachen nicht ausgenommen, lag schon, von übermäßigem Bier- und Branntweingenuß fast betäubt, in tiefstem Schlafe, als ich, allein nur noch wach, an meiner hinteren, mir zu Häupten stehenden und der Landstraße zugekehrten Zeltwand leise Tritte eines vorsichtig heranschleichenden Mannes vernahm.

Der Abbé hatte sich, länger als die andern auf dem Festplatz verweilend, genau jenes Zelt gemerkt, in das ich mich, an diesem Abende absichtlich früh, Kopfschmerzen, ob dem Lärm des Tages vorschützend, zurückgezogen, und war jetzt, nachdem alles still geworden, als Bauer verkleidet aus einem nahen Walde zurückgekehrt, um sein Versprechen auszuführen.

»Keine Furcht,« lispelte er, der bewußten Zeltwand sich nähernd, »ich bin es, Fanciulla, dein Retter!«

In demselben Augenblicke trennte auch schon sein scharfes Taschenmesser die Leinwand so weit auseinander, daß ich bequem hindurch zu schlüpfen vermochte, und zehn Minuten später barg mich vorerst das nächste Försterhaus des Waldes.

Mynosca, die mit mir in demselben Zelte schlief, bemerkte, weil sie durch vieles Tanzen und Tambourinschlagen heute zehnfach erschöpft war, von meiner Flucht aus dem Lager ebenfalls nicht das geringste, so daß die bei Plaëschti vereinigten Zigeunerbanden insofern wenig Glück mit ihrer Generalschutzgöttin hatten, als sie dieselbe schon wenige Stunden nach ihrer Erwählung für immer wieder verloren.

Noch an demselben Morgen führte uns eine in Plaëschti bestellte Extrapost Bukurescht entgegen, und von dort aus sollte es dann, meinem ursprünglichen Reiseziel und Zweck auf umgekehrter Route entsprechend, über Silistria und Warna zunächst nach Konstantinopel gehen.

Mein Retter, der Abbé, den ich selbstverständlich erst auf dieser Fahrt genauer kennen lernte, erwies sich, Gott sei Dank, des kindlichen Vertrauens, das ich auf Grund seiner geistlichen Kleidung in ihn gesetzt hatte, von Tag zu Tage würdiger. Nachdem ich ihm meine ganze Lebens- und Leidensgeschichte berichtet hatte, weihte er mich mit wahrhaft väterlicher Zuneigung und einer Fürsorge, die lebhaft an den Geldüberfluß des mir leider verloren gegangenen Sachsen Zischwitz erinnerte, auch in ein gutes Stück seiner eigenen Daseinsgeschichte ein. Sein Schicksal, meinte er, habe viel Ähnlichkeit mit dem meinigen, denn auch er habe seinen Vater nie gesehen, noch je etwas über ihn erfahren. Auch bezüglich seiner Mutter, die er kaum gekannt, wisse er nur vom Hörensagen, daß sie Clarissa Klein geheißen und ihn in einer deutschen Grenzfestung als Gefangene geboren habe.

Als Kind einer Südfranzösin sei er erst nach Lyon und später nach Marseille gebracht worden, wo sich die berühmte Gesellschaft Jesu seiner angenommen und ihn zum Kleriker habe ausbilden lassen. Gegenwärtig wirke er als Novize und Laienpriester jenes heiligen Ordens, dem er nicht nur seine wissenschaftliche Erziehung, sondern auch seine sehr angenehme materielle Existenz verdanke, und habe von der Consulta sacra zu Rom speziell die Aufgabe erhalten, verwaiste Kinder, denen er auf seinen Reisen begegne, in den Schoß und Schatten der alleinseligmachenden Kirche zu geleiten.

Seine diesjährige, ihm vorgeschriebene Herbstroute sei die Walachei, und da er hier in Erfahrung gebracht, daß fast jede heimwärts kehrende rumänische Zigeunerbande ein geraubtes Kind mit sich führe, so sei er unter anderem auch dem großen Lager- und Festplatze bei Plaëschti zugeeilt und habe sich in seinen Erwartungen nicht getäuscht.«

Der Name »Klein« wird dem Leser eine der ersten Episoden dieses Romans ins Gedächtnis zurückrufen. Er erinnere sich gütigst jener Fortsetzung des Kapitels: »Ein Kind der Liebe«, die wir »Gefallene Würfel« betitelten. Dort sahen wir zwei stattliche, junge Militärs, einen Artillerie-Korporal und dito Feuerwerker aus dem sogenannten kilometrischen Rayon der Festung Weißenburg nach einem der umliegenden Vergnügungsdörfer hinauswandern und bald darauf mit dem Elsässer Monsieur Klein und dessen koketten Ehegesponst, der beauté du diable Clarissa, in einem Gartenlokal zusammentreffen.

Während besagter junger Korporal jener französischen Sirene entrüstet und schnöde den Rücken zukehrte, charmierte sein Kamerad, der Feuerwerker, natürlich desto zärtlicher mit diesem Musterbilde ehelicher Treue. Schien doch sogar Monsieur Klein, der betrogene Ehegalan selbst, an dem förmlichen Hirschgeweihe, das an jenem Abende sein zuhälterisches Haupt krönte, helle Freude zu haben.

In Rede stehendem Korporal, den, wie dem Leser jetzt sicher wieder einfällt, ein vorheriges unerwartetes Wiedersehen »Pauls und Theklas« so verblüffend ins Gewissen geschlagen war und der sich schließlich als Heribert Hilgard aus der uns bekannten »Villa Arabella« entpuppte, sind wir im Laufe unserer Erzählung öfter, und zwar zuletzt im Keller des Turiner Bäckers Asti, bei Gelegenheit einer geheimen Versammlung der Jünger Mazzinis daselbst, begegnet, nicht so aber seinem einstmaligen Weißenburger Kameraden, dem Clarissa liebetrunkenen Feuerwerker.

Diesen dürfte der Leser ganz aus den Augen verloren haben, so daß wir ihn daran erinnern wollen, daß dieser militärische »Spring ins Feld« aus dem Jahre 1859 Tassilo von Vollrad hieß und also blauen Blutes war.

Um dieselbe Zeit, da Theklas nunmehriger Gatte, der edelherzige Kaufmann »Paul«, seinem reumütigen Jugendgenossen Heribert, mit reichen Mitteln versehen, sicher zur Flucht nach dem Auslande verhalf, wanderten die Kleinschen, wie früher umständlich berichtet worden, des offenbaren Landesverrates überführten Eheleute ins Zuchthaus.

Hier nun genas die bis dahin unfruchtbar gewesene Südfranzösin Clarissa nach neun Monaten eines hübschen Knäbleins, das dem verliebten adligen Feuerwerker Tassilo von Vollrad wie aus den Augen geschnitten war, und kein anderer, als dieser Bastard, ist Violettas Retter aus Zigeunerhänden, unser junger, französischer Abbé.

Noch vor seiner Geburt wurde sein wirklicher Vater, des gleichen Verbrechens, wie der vorgeschobene, überwiesen, standrechtlich erschossen. Monsieur Klein starb im Gefängnis, ohne den Pseudosohn mit Augen gesehen zu haben, und auch sein sauberes Ehegesponst erlag später daselbst einer Krankheit, als ihr Kind der Liebe, oder besser, des Leichtsinns, kaum drei Jahre alt war.

Doch kehren wir nach dieser, zur Charakteristik unseres verehrungswürdigen Abbé notwendig gewesenen Abschweifung zu Violettas Erzählung zurück.

»Gegenseitiges Mitleid, Majestät, verband Retter und Gerettete je länger, desto mehr, zu aufrichtiger Freundschaft, die freilich bei dem feurigen Temperament des Abbé leicht hätte ausarten können, wenn nicht, als wir in Stambul angekommen, seine Mission zu Ende gewesen wäre. Obgleich ich nämlich das zwölfte Jahr noch nicht zurückgelegt hatte, so war dennoch mein Körper mit dem Geist zugleich – bei den Amerikanern keine ungewöhnliche Erscheinung und bei meiner, mir vom Schicksal leider nur zu frühzeitig aufgezwungenen Selbständigkeit – derartig herangereift, daß mein Retter mir, wie gesagt, hätte gefährlich werden können, wenn ich am goldenen Horn, an seiner Statt, nicht unter die Obhut eines bejahrteren Ordensgeistlichen gestellt worden wäre, dem die weitere Aufgabe zufiel, jene Dutzende von armen Waisen und sonstigen »geretteten« Menschenkindern, welche die Novizen der Gesellschaft Jesu bis dahin in den angrenzenden Provinzen aufgetrieben hatten, gemeinsam nach Rom zu schaffen.

Auf diese Weise aber hatte mein junger Abbé nur noch das Vergnügen, mir die Sehenswürdigkeiten Konstantinopels, das Miranettor, den Serapis- und Leanderturm, die Galata- und Mahomedbrücke, den Atmeidaobelisken, die Sophien-, Dolmabatsche-, Chopan- und Ostaken-Moschee usw. usw. zeigen zu dürfen, um trotz dieser aufopfernden Liebe schließlich mit – mit – –«

»Sagen wir – unbefriedigtem Herzen –« unterbrach hier Victor Emanuel schelmisch lächelnd.

»Mit unbefriedigtem Herzen abzuziehen!« wiederholte Violetta und fuhr dann fort:

»Eines schönen Tages jedoch erschien mir des Abbé Nachfolger weit gefährlicher als ersterer selbst.

In unserer geistlichen Herberge zu Pera sprach nämlich ein sehr vornehmer, aber trotz seiner hohen Stellung genitalisch doch sehr mangelhafter Beamter des Sultans vor, der uns wie Rekruten musterte und danach eine gar eifrige Unterredung mit unserem geistlichen Beschützer eröffnete.

Diese Unterredung wurde in italienischer Sprache, die mich die Mutter, wie schon erwähnt, gelehrt hatte, geführt, so daß ich imstande war, den Kern verstehen zu können. Auf diese Weise hörte ich denn zu meinem Entsetzen, daß jener Eunuche mit unserm Pater über einen Kaufpreis unterhandelte, der uns »gerettete« Mädchen, insonderheit aber meine Person betraf, und daß sich dieser Handel nur deshalb zerschlug, weil Freskati, unser Beschützer, erklärte, daß wir für ein solches Lumpengeld, wie man ihm biete, nicht feil seien.

Das Kloster des heiligen Ignatius in Rom bezahle ihm doppelt so viel, fügte er ärgerlich hinzu, und wenn der Sultan in bezug auf junges Gemüse derart knausere, so möge er sich den Appetit auf Gewächse meiner Vollkommenheit nur vergehen lassen.

Diese Unterredung öffnete mir die Augen für einen neuen Abgrund der Gefahr. Jetzt erst wußte ich, in welche Hände ich geraten war und was meine Rettung aus Zigeunerelend zu bedeuten hatte.

Ich wollte fliehen, aber wohin und wozu? – Um auf direktem Wege dahin zu gelangen, was auf indirektem nicht möglich gewesen war, nämlich in einen türkischen Harem? – –

Anderen Tages erschien besagter Eunuche noch einmal und mit verstärktem Angebot, aber wieder vergeblich, denn noch in der folgenden Nacht dampften wir durch das Marmarameer und die Dardanellenstraße zunächst nach Athen ab, wo weitere Ladung unseres jüngferlichen Exports wartete.

Die Schilderung dessen, was unserem Sklavenschiff auf der Fahrt von Athen nach Brindisi und uns »Geretteten« selbst dann ferner auf der sich anschließenden Eisenbahntour nach Rom begegnete, erlassen mir Majestät wohl, um endlich zum Schluß zu gelangen und meine Behandlung in Rom etwas eingehender berichten zu können.

In dieser heiligen Stadt endlich angekommen, wurden wir »zwanzig« angehende Jungfrauen – denn auf so viel hatte unser Vestalinnenkontingent sich nach und nach angesammelt – zu angeblichem größeren Schutze sofort in das Ignatiuskloster gesteckt, Dessen Untergang wir in dem Kapitel: »Ein geschmorter Teufel« schilderten, das aber zu der Zeit, welche die Erzählerin hier berührt, noch bestand. von wo aus mich selbst eine geistliche Ordonnanz schon am nächstfolgenden Tage zu einem Jesuitenpater, namens Mariano, berief.

Dieser saubere Herr unterzog mich in seinem Geheimkabinett nicht nur einem scharfen Verhör über alles Mögliche und Unmögliche, das einem jungen Mädchen passieren und zugemutet werden kann, sondern derselbe unternahm sogar, all meines Sträubens und Zappelns spottend, eine körperliche Okularinspektion mit mir, dem auf diese Art bis zum Tode geängstigten unschuldigen Mädchen; eine an Vivisektion grenzende Augen- und Handfolter, deren Hauptresultat in der Entdeckung und Öffnung meines seit den Zigeunertagen sorgsam auf bloßer Brust getragenen Medaillons bestand.

» Diavoletto, Signorina!« unterbrach hier der König wieder. » Veramente, me ne dispiace assai!«

»In der Tat, Majestät, diese Leibesvisitation, sie war der fürchterlichste Augenblick in meinem jungen Leben, und ich schaudere noch heute, wenn ich an den um mich herumgirrenden Täuberich von Pater denke, welcher eine solche Inspektion vorzunehmen wagte.

Doch der Inhalt des Dokumentes, das meine goldene Kapsel unterm Busentuche in sich schloß, schien seine sinnliche Begierde auf einmal zu ersticken.

Er erlaubte mir, mich wieder ankleiden zu dürfen und sagte nach längerem Nachdenken mit noch immer funkelnden Augen: »Jenes Papier, das du bei dir trägst, gehört eigentlich, wie alles, was du an Leib, Leben und Eigentum bisher besessen, der Gesellschaft Jesu, in deren Schoß du zum Heil deiner Seele gerettet worden, doch lasse ich dir das Medaillon mit seinem Inhalt unter folgenden Bedingungen:

»Mein Confrater Anselmo in Turin gebraucht eine junge und hübsche, aber auch zuverlässige Propagandistin für unsere heilige Sache; ein Mädchen, das Geschick genug hat, die ihm zugewiesene Doppelrolle eines Lockvogels für gute wie schlechte Elemente mit Bravour zu spielen. Unser Orden hat sich nämlich veranlaßt gesehen, unter anderem auch in Turin, und zwar in dem verrufensten Viertel dieser piemontesischen Kapitale, eine Offizin zu errichten, der in erster Linie die Aufgabe zufällt, all den gesellschaftlich zweideutigen, ja gefährlichen Streitern für Altar und Thron, welche aus Italiens Osten und Süden, aus den Abruzzen, aus Apulien und Kalabrien zu unseren Fahnen eilen, einen heimlichen, aber festen Sammelpunkt zu geben, von welchem die Direktive gegen die Carbonari und Neuroyalisten aller Arten und Grade, den Norden unserer Halbinsel betreffend, ihren Ursprung nimmt.

Die Gesellschaft Jesu nun hat sich diesen Ausgangs- und Brennpunkt, diese Filiale ihrer nordischen Interessen unter der kundigen Leitung Pater Anselmos in der Osteria della gazza ladra zu Turin geschaffen. Diese unscheinbare, ja verrufene diebische Elster birgt in ihrer oberen Etage Personalakten und geheime Dokumente von ganz unschätzbarem Werte, während unten zwar sehr verwegene, aber auch um so gefügigere Gesellen Meister Anselmos ihr Wesen treiben.

Letztere durch deine Reize zu fesseln und zusammen zu halten, damit es Anselmo nicht an tüchtigen Exekutivbeamten gebricht, ist, Violetta, deine nächste Aufgabe, welche freilich nicht ausschließt, daß du auch dann und wann einen reichen oder vornehmen, neuroyalistisch oder mazzinistisch angehauchten Gimpel in deine Netze lockst.

Dieser Posten ist keineswegs leicht, ist namentlich in betreff der Sittlichkeit kein rocher de bronze. Da ich jedoch gerade betreffs dieses Punktes deine Tugend, und zwar in eigener Person, geprüft und probat befunden habe, so schweigen alle weiteren Bedenken um so mehr, als dir in dem Osterienwirt Filippo Martino – den man Abdomine, das heißt Schmerbauch, nennt und welchen du, der gesellschaftlichen Form halber, fortan als Onkel betrachten wirst – ein Beschützer zur Seite stehen soll, dem Gott zwei kräftige Arme nicht umsonst verlieh.

Also Violetta, du hast die Wahl: Entweder du nimmst besagten Vertrauensposten an und sicherst dir damit den Weiterbesitz deines Medaillons nebst dem Alleingenuß all der Rechte und Vorteile, welche ganz unzweifelhaft an seinem Inhalt haften, oder aber, du begehrst den Klosterschleier, bleibst zeitlebens arm, wie eine Kirchenmaus, und kommst lebendig aus den Mauern unseres Ordenshauses nicht heraus!«

» Corpo di Bacco!« sprang hier der König auf und trat, sein Angesicht von der Erzählerin abwendend, an ein Seitenfenster seines Kabinetts. » Veramemte!« flüsterte er weiter, »die Pfaffenfalle ward für mich gestellt! – Nur um mich aufs äußerste zu kompromittieren, brachte man das Mädchen nach Turin und in die verrufenste Osterie meiner Residenz! Nur um mir neue Verlegenheiten zu schaffen und mich persönlich in ihre Gewalt zu bekommen, ließen die Schurken von Jesuiten Violetta im Besitz ihres Dokuments! – – Noch eine Frage, Signorina,« wandte sich Victor Emanuel sodann wieder laut an die Erzählerin zurück: »Sprich, Mädchen, weshalb machtest du die Forderung deiner Mutter an den Grafen Moncalieri, resp. an die Bank von Turin nicht eher geltend?«

»Weil Pater Anselmo angeblich den rechten Zeitpunkt bisher noch nicht für gekommen erachtete, in Wahrheit aber wohl, um mich noch länger bei seinem schändlichen Gewerbe festzuhalten!« antwortete Violetta.

»Beides, beides!« seufzte, wieder halb abgewandt, der König, »der heutige Tag ist in der Tat gut ausgewählt!«

»Nun der Schurke tot, habe ich natürlich das Nachsehen, wenn Eure Majestät, wie allergnädigst mir verheißen, meine Rechte nicht selber nachdrücklichst unterstützen!« fuhr Violetta in klagendem Tone fort.

»Gott sei Dank, daß er tot ist, und Wohl dem Manne, der ihn gerichtet hat! Kein Haar soll ihm gekrümmt werden, Violetta! – Du aber, ich wiederhole es dir als eines Königs Wort, wirst dein Geld schon morgen ausgezahlt erhalten! Ich preise Gottes Gnade, die mir's vergönnt, die so lange gestundete Schuld eines alten Freundes endlich begleichen zu können! Ich schätze mich unendlich glücklich, wenigstens einen kleinen Teil jenes Unrechts, das Miß Lucy Brandon einstmals widerfuhr, auf diese Art sühnen zu dürfen. In meines verstorbenen Freundes Namen, der reuig oft an deine Mutter dachte, laß mich dich umarmen, Violetta! An seiner Statt betrachte mich fortan als deinen Vater, der zärtlich für dich sorgt und dich beschützt; ja, der dich liebt, just wie sein eigenes Kind!«

Also der Re galantuomo zu seiner natürlichen Tochter am Tage des Turiner Aufstandes.

Wieder sank Violetta, von Rührung und Dankbarkeit überwältigt, dem, den sie nicht kannte, demütig zu Füßen, und wieder hob sie Victor Emanuel, mit Selbstüberwindung und seiner königlichen Würde eingedenk, vom Boden seines Kabinetts auf. Jetzt aber drückte er einen innigen Kuß auf ihre jungfräuliche Stirne, und dieser Kuß war Balsam für das Weh des abgelaufenen trüben Tages.


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