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Seit den zuletzt erlebten Turiner Ereignissen sind mehrere Wochen verstrichen.
Wir befinden uns also auf dem klassischen Boden Roms, doch in einem Viertel, von welchem sich nicht sagen läßt, daß »die Schauer der Jahrtausende« darüber hinwehten. Es ist nicht eine jener Gegenden der »ewigen Stadt«, wo der Beschauer sich im Geiste zurückversetzt fühlt in die Zeiten historischen und künstlerischen Glanzes, in die Zeiten, da von unerreichbarer Höhe der Imperator die Welt lenkte; da die großen Geschicke der Welt an Rom hingen und die Kunst, das Reich der Formen und Farben, alles Wissen und Glauben von diesem Punkte des Erdbodens aus- und wieder dahin zurückging.
Auf dem Exquilin und Viminal, jenseits des von Sixtus V. angelegten Straßenzuges, östlich vom Bahnhof und im Rücken von Maria Maggiore, erhoben sich eine Anzahl mit peinlicher Regelmäßigkeit und fast ängstlicher Sauberkeit erbauter, moderner Häuser, in schnurgerader Linie und in rechten Winkeln aneinander angeschlossen. Wer jemals die mit schablonenhafter Regelmäßigkeit gebauten jugendlichen Städte Amerikas gesehen hat, wird sich eines Vergleiches zwischen einer solchen transatlantischen Stadt und jenem jugendfrischen Viertel Roms, in dem wir uns jetzt befinden, nicht erwehren können. Hat man lange in den labyrinthischen Stadtvierteln Roms umhergeirrt, Kunst und Geschichte in vollen Zügen genossen, und steigt dann, übersättigt von malerischen Motiven, zu diesen Anfängen einer amerikanischen Stadt auf, dann kann man vorübergehend ein Wohlsein empfinden, wie derjenige fühlt, der etwa nach staubiger Fußwanderung oder langer, schmutziger Arbeit in den Fall kommt, frische Wäsche anzulegen. Eines dieser mit mehr oder weniger Eleganz ausgestatteten Häuser wollen wir jetzt näher in Augenschein nehmen.
Das Haus lag ziemlich am Anfange der Via nazionale und zeichnete sich vor vielen seiner Nachbarn in zweierlei Punkten aus: es war etwas schmaler und äußerlich mit mehr architektonischer Eleganz und baumeisterlichem Geschmack ausgestattet, als die übrigen Gebäude. Beide Umstände verliehen dem Hause einen traulicheren, komfortableren Charakter. Es erinnerte mehr denn alle anderen an eines jener gemütlichen, schmalen englischen Familienhäuser, die der Engländer mit berechtigtem Stolz sein » castle« zu nennen pflegt, wo nur ein Familienkreis haust, wo man nichts hört und sieht von dem Lärmen, dem Wirrwarr und dem Elend der modernen Mietkaserne, dieses notwendigsten Übels der Großstadt.
Und wenn dies als das äußere Gepräge des Hauses zu bezeichnen war, so entsprach auch seine gegenwärtige Bestimmung diesem Charakter ganz trefflich. Der derzeitige Bewohner desselben war in der Tat ein Engländer – Lord Duncombe. Es hätte dem fremden Besucher, selbst wenn das Haus vollständig menschenleer bei seinem Eintritte gewesen wäre, niemand zu sagen brauchen, daß es ein von den großbritannischen Inseln hierher verpflanztes » home« sei, – denn alle Attribute eines solchen, in der ausnehmend luxuriösen Einrichtung desselben waren vertreten und sprachen laut genug für den Geschmack und den Reichtum seines Bewohners, wie auch für seinen konservativen Nationalsinn, mit welchem er in jedem Stück Möbel, im Arrangement der Zimmer, des ganzen Haushaltes ein heimatliches Muster im Auge behalten hatte.
Lord Duncombe gehörte zu jenen englischen Italienschwärmern, welche, freilich unter möglichster Beibehaltung ihrer nationalen Sitten und Gepflogenheiten, es vorziehen, die größte Zeit ihres Lebens unter der südlichen Sonne Italiens, statt in den Dunstkreisen des » London fog« zuzubringen. Sein Reichtum machte ihm die kostspielige Erfüllung dieses Wunsches sehr leicht, und so hatte er denn schon als sehr jugendlicher Lord seine Römerfahrt angetreten und es verstanden, die mannigfachen Schönheiten des Landes nach allen Richtungen hin in vollen Zügen zu genießen. Man erzählte sich seiner Zeit, namentlich in Neapel, sehr viel von dem verschwenderischen Leben des jungen, mit allen Vorzügen und auch mit allen Schattenseiten eines feurigen, unsteten Geistes ausgerüsteten Briten, welcher neben dem warmen und aufrichtigen Interesse, das er den Natur- und Kunstschätzen des herrlichen Landes entgegenbrachte, auch recht wohl verstand, sich für sein Geld Genüsse zu verschaffen, welche für wenig oder gar nicht idealistisch angelegte Gemüter das Paradies auf Erden zu schaffen pflegen. In der eingeborenen und fremdländischen Aristokratie Italiens war er allenthalben »der Hahn im Korbe«, weil in seinen Abenteuern toller und tollster Sorte stets ein gewisser imponierender » chic« lag, welcher der chronique scandaleuse ein höchst pikantes und willkommenes Material lieferte, ohne dem Helden irgendeinen reellen Makel anhaften zu können.
Die betreffenden Kreise an den verschiedenen Schauplätzen der Tätigkeit unseres Lords fühlten daher eine gewisse Leere, als der Held so vieler interessanter Tragikomödien, dieser ebenso kecke, wie enragierte Schwärmer für Carbonarismus, Jung-Italien und Sturz der päpstlichen Oberhoheit, der in allen kleinen und großen Konspirationen eine Rolle zu spielen pflegte, plötzlich dem Lande der Zitronen und Goldorangen den Rücken drehte und so gut wie spurlos in den Nebelmassen Alt-Englands verschwand.
Es war niemals, trotzdem Hunderte von Zeugen sich in Aufstellung aller möglichen und unmöglichen Theorien lange genug abmühten, ganz klar geworden, wo die Motive dieser plötzlichen Abreise zu suchen waren. Da weder Schulden noch Polizei die treibenden Kräfte waren – das stand allgemein fest – so konnte es nur ein mit dem Don-Juanismus des Lords zusammenhängendes Motiv sein, aber an diesem Punkte hörte auch das Wissen auf und das vage Vermuten fing an. Man munkelte von einer unglücklichen Liebe, aber da diese Munkelei absolut zu keinem greifbaren Resultate führen wollte, gab man sich endlich zufrieden und stellte einfach die Diagnose auf – »Spleen«, mit welcher angeblichen Nationalkrankheit man ja gewohnt ist, selbst die unerklärlichsten Extravaganzen eines Engländers zu erklären.
Die offenbaren Tatsachen lagen einfach so, daß Lord Duncombe aus unbekannten Gründen nach England zurückkehrte und daselbst nach etwa Jahresfrist eine der ersten Ehrenpflichten eines Sprößlings aus edlem Geschlechte erfüllte, nämlich sich standesgemäß zu vermählen. Man hörte auch durch englische Wandervögel in den früheren Freundeskreisen des chevaleresken Briten, im Laufe der Zeit, daß die Ehe durch mehrere Kinder gesegnet ward, daß nach der Geburt der dritten Tochter Lady Duncombe starb und daß der Lord ein Paar Jahrzehnte hindurch teils auf Duncombe-Hall ein ziemlich einsames Leben führte, teils auf dem Kontinente, freilich mit sorgfältiger Vermeidung Italiens, herumreiste.
Doch als sich der junge, lebenslustige Don Juan in einen alternden Mann zu verwandeln begann, da schien bei ihm mit einem Male die Sehnsucht nach dem Lande »wo die Zitronen blühn« mit mächtiger Gewalt wieder hervorzubrechen. Nachdem er, – entsprechend seiner nie erkaltenden Wanderlust, – in Begleitung seiner ältesten Tochter einen Abstecher nach dem transatlantischen Kontinent gemacht und in dem jugendfrischen und an belebenden Eindrücken so reichen Kolumbien vermutlich alle Erinnerungen an seine italienischen Abenteuer versenkt hatte, erschien er plötzlich mit seinem gesamten Haushalte, den er in Amerika noch um eine bildschöne deutsch-amerikanische Gesellschaftsdame bereichert hatte, wieder in Italien. Indessen dort, wo er in seiner Jugendzeit am liebsten und längsten sich aufgehalten hatte, auf dem einstigen Schauplatze seiner Sturm- und Drangperiode, in Neapel, ließ er sich, wie man doch hätte vermuten können, nicht nieder. Er wählte sein neues » home« auf – römischem Boden und bezog jenes Haus auf der Via nazionale, welches wir soeben dem geneigten Leser in flüchtigen Zügen beschrieben haben.
In dem gealterten Manne, mit dem ernsten, oft schwermütigen Gesicht, der sein ganzes Glück in dem häuslichen Leben, im Kreise seiner Kinder zu suchen und zu finden schien, hätte freilich niemand auch nur die leisesten Spuren des einstigen Helden der neapolitanischen chronique scandaleuse entdecken können. Es schien in dem Herzen des Lord Duncombe unendlich still geworden zu sein. Ja, es gab Tage, wo er sich in sein Studierzimmer einschloß und wo selbst seine Kinder, sonst die Genossen aller seiner Beschäftigungen und Vergnügungen, keinen Zutritt zu dem Vater haben durften. Der einzige, der ihm bei solchen anachoretischen Anwandelungen nahen durfte, war ein alter Diener oder richtiger ein Faktotum des Hauses, Bloxam genannt, – mürrischer, schweigsamer noch wie sein Herr, – welcher in den » flush-times« dieses britischen Don Juan bereits, – teilweise wohl in der Eigenschaft eines diskreten Leporello, – in Diensten des Lords gestanden hatte, und seinem Herrn, wie dessen Kindern eine wahrhaft rührende Anhänglichkeit bewahrte.
Als wir im Kellergewölbe des Bäckers Asti auf der Strada di Giovanni in Turin zum ersten Male den Namen des Lord Duncombe erwähnen hörten, geschah dies in Verbindung mit einem doppelt traurigen Ereignisse, das denselben getroffen. Der Leser wird sich erinnern können, wie damals Doktor Malder dem »Abbé« jenen tragischen Vorfall auf dem protestantischen Friedhofe in Rom erzählte, bei welchem unter seinen, des Doktors, Augen Lord Duncombe von Mitgliedern der »Toten-Brüderschaft« lebensgefährlich verwundet ward, als er sich gegen die gewaltsame Entfernung des Kreuzes wehren wollte, das er seiner vor wenigen Tagen verstorbenen Tochter hatte auf das Grab setzen lassen. Welchen tiefen und nachhaltigen Eindruck der Tod seiner von ihm nahezu vergötterten ältesten Tochter auf den Lord machen mußte, bei seiner an und für sich zur Schwermut neigenden Gemütsveranlagung, ist nur zu begreiflich. Er war in jenen Tagen um Jahre gealtert – und als man ihn damals schwer verletzt den Seinen zuführte, da waren seine ersten Worte zu den Seinen, als er wieder zur Besinnung kam: »Quält mich nicht! – Laßt mich sterben! – Ich bin euch dankbar, wenn ihr mich zu meiner Maud gehen lasset!«
Selbstverständlich war entgegen diesem seinem Wunsche alles aufgewandt worden, was ärztliche Kunst vermochte, um das Leben des Lords zu retten. Und als Doktor Malder, nach seinem unfreiwilligen Aufenthalte in der Zelle des Jesuitenklosters, seinen Besuch in der Casa Grimaldi, – so war das Haus, in welchem der Lord wohnte, von seinem Erbauer getauft worden, – abstattete, war auch er zur ärztlichen Hilfeleistung hinzugezogen worden. Zur unendlichen Freude der Seinigen konnte Doktor Malder nach Verlauf von einigen Tagen erklären, daß jede Gefahr für das Leben des Lords nunmehr ausgeschlossen sei. Der Doktor war seitdem ein regelmäßiger und auch außerordentlich gern gesehener Gast in dem Hause des Lords geworden. Namentlich der Patient selbst fand an seinem jungen Arzte ein ausnehmendes Gefallen, nachdem er in demselben nicht nur einen hervorragend geschickten und erfahrenen Vertreter der Heilwissenschaft, sondern auch einen Menschen von seltenem, edlem Charakter, einen für alles Große und Ideale begeisterten Mann gefunden hatte. Sehr bald hatte der Lord die politischen Gesinnungen und Verbindungen des Doktors durchschaut, und es war dies für ihn um so mehr ein Grund, für den Mann Sympathie zu fühlen, als er selbst ja in seiner Jugend, wie wir wissen, ein begeisterter Anhänger der Carbonari gewesen war und selbst jetzt noch, ungeachtet der hochtoryistischen Antezedenzien seines Geschlechtes, nicht nur durchaus liberal, sondern au fond sogar strikt republikanisch gesinnt war.
In dem Grade, wie die Genesung des Lords fortschritt, ward auch das Verhältnis zwischen dem Patienten und seinem Arzte ein immer intimeres, und es kam schließlich dazu, daß der Lord mißgestimmt wurde und ungeduldig nach seinem neugewonnenen Freunde fragte, wenn dieser einmal zur gewohnten Stunde nicht in der Casa Grimaldi eintraf. Im übrigen verstand es Doktor Malder, sich die Zuneigung der übrigen Familienmitglieder in demselben Maße zu erwerben, wie die des Hausherrn, und man sah ihn um so lieber kommen, als seine Gegenwart stets dazu beitrug, Lord Duncombe seine Schmerzen vergessen zu machen und aus dem dumpfen Hinbrüten, in welches er seit dem Tode seiner Lieblingstochter öfter denn je zu versinken pflegte, herauszureißen.
So lagen die Verhältnisse an dem Tage, an welchem wir das Innere der Casa Grimaldi betreten.
Doktor Malder hatte soeben oben im Schlafzimmer des Lords, welcher inzwischen das Bett verlassen hatte und bereits täglich mehrere Stunden im Garten des Hauses die »Times« und den »New-York-Herald« studierte, das Levée seines Patienten vom medizinischen Standpunkte überwacht und trat in den »Parlor«, um daselbst so lange zu verweilen, bis die Diener Lord Duncombe in den Garten hinunter trugen. Doktor Malder hatte eine Vorliebe für diesen Parlor, und namentlich um diese Zeit, in den letzten Stunden des Vormittags. Es ist kaum anzunehmen, daß die lauschig-elegante Ausstattung dieses englischen Salons, die mannigfachen Bücher und Bildermappen, welche den Raum zierten, eine so hervorragende Anziehungskraft auf unsern Doktor ausüben konnten, daß er mit der Regelmäßigkeit einer pünktlich gehenden Uhr und mit dem Ausdrucke einer gewissen Spannung und inneren Befriedigung auf dem männlich-ernsten Gesichte stets zur selben Stunde in den mit duftigem Blumenparfüm erfüllten Parlor trat. Dagegen spricht schon der Umstand, daß er bei der so häufigen Wiederholung dieser Prozedur schließlich doch des Schauens und Bewunderns müde geworden sein müßte.
Sollte ein anderer Gegenstand vorhanden sein, der ihn so sehr zu fesseln vermochte? Das einzig lebende Wesen in dem eleganten Zimmer, das Doktor Malder, wie gewöhnlich, so auch heute in demselben antraf, war außer einem Papagei – eine Dame, welche mit einer Handarbeit beschäftigt am Fenster saß, und diesem blondhaarigen weiblichen Wesen wandte Doktor Malder seine Augen mit deutlich sprechendem Interesse sogleich bei seinem Eintritte zu. Sie stand sicherlich nicht mehr in der ersten Blüte der Jugend, diese schlanke Gestalt, welche den auffallend schön geformten Kopf mit so hartnäckiger Andacht über ihre Arbeit beugte, als erfordere der Eintritt des Arztes die Entwicklung eines doppelten und dreifachen Fleißes. Die Augen der jungen Frau, – denn für einem Mädchen angehörig konnte man diese vollen und reifentwickelten Formen nicht halten, – reflektierten einen viel zu großen Reichtum an tiefernsten Erfahrungen, als daß sie für den Spiegel einer jungen Mädchenseele hätten angesehen werden können. Doch was dieser Frauenerscheinung an jugendlichen Reizen abging, das ward reichlich ersetzt durch die pikante Schönheit dieses eigenartigen Gesichtes. Die Hautfarbe der Dame war eine so dunkle, daß man sie wohl für eine Kreolin hätte halten können, dagegen sprach das blonde Haar und der hervorstechende germanische Typus des Gesichtes. Dieses trug alle Spuren eines sanften, echt teutonisch-häuslich angelegten Charakters, jenes Thusneldenhafte, was die deutsche Jungfrau so trefflich kleidet. Und doch – aus diesen festen, charaktervollen Linien um Mund und Kinn, aus diesen oft wie trotzig oder doch energisch aufgeworfenen Lippen sprach jene kecke Selbständigkeit, die das Eigentum der Amerikanerin zu sein pflegt, ein Ausdruck, mit dem das Südländische, Sonnenverbrannte dieses ungewöhnlich schönen und interessanten Gesichtes ganz prächtig harmonierte. Alles in allem – es war eine wie aus zwei Elementen zusammengesetzte Erscheinung, von denen das eine auf ein deutsches Heim, das andere auf eine Wiege im Urwald, auf ein Leben in der Mut und Nerven stärkenden Wildnis, unter heißbrennender Sonne, nickenden Palmen und dem erregenden Dufte exotischer Blumen hinwies. Die Vereinigung dieser beiden Elemente hatte ein Wesen geschaffen, welches jeden mächtig anzog, der dem Gesichtskreis desselben nahte.
»Ist eine Störung erlaubt, Mrs. Robertson?« fragte Doktor Maldex, nähertretend und seine Augen mit sichtlichem Wohlgefallen auf der schönen Gestalt ruhen lassend.
Sie blickte auf, und ihre ausdrucksvollen, ernst blickenden Augen begegneten denen des Fragestellers mit so sprechender Freundlichkeit und Zutraulichkeit, daß man es ihm wohl nicht verargen konnte, wenn er sich, ohne erst eine laute Antwort abzuwarten, einen Sessel heranzog und dicht neben der interessanten Stickerin Platz nahm.
Beide waren schweigsam und saßen eine Weile still, als endlich Mrs. Robertson das Schweigen in gutem und wohlklingendem Deutsch unterbrach, welchem nur ein sehr gut geübtes Ohr eine Spur fremdländischen Dialektes hätte anzuhören vermögen.
»Was macht der Patient heute, Herr Doktor?«
»O, vortrefflich geht es,« erwiderte der Doktor, ohne seinen Blick von dem Gesicht der wieder mit derselben Hartnäckigkeit auf ihre Arbeit niederblickenden Dame zu verwenden. »Ich denke, wir werden Körper und vor allem auch Gemüt bald wieder auf dem richtigen Punkte haben.«
Sie blickte ihn mit forschender Ängstlichkeit an.
»Glauben Sie wirklich, Doktor Malder,« fragte sie, »daß Lord Duncombe von seiner periodischen Schwermut zu heilen ist?«
»Wenn die rechten Mittel angewandt würden, warum nicht?«
»Ich fürchte, daß der Tod Miß Mauds die letzte Hoffnung nach dieser Richtung hin gebrochen hat.«
»Derartige Erschütterungen der körperlichen Konstitution, wie Lord Duncombe sie jetzt durchzumachen gehabt hat, sind oft von ganz unberechenbar günstigem Einflüsse auf Gemütsleidende. Freilich müßte man immerhin noch das Übel gewissermaßen an der Wurzel anfassen und den Leidenden dazu bringen, einer Person, die sein volles Vertrauen genießt, sein Herz auszuschütten –«
»Bloxam!« warf Mrs. Robertson mit leisem Lächeln ein.
»Bloxam,« entgegnete Doktor Malder gleichfalls lächelnd, »ist ein prächtiger alter Kerl, genießt allerdings das volle Vertrauen des Lords und ist auch unfehlbar über den Ursprung dieses Gemütsleidens unterrichtet, aber – das ist's nicht, was ich meine. Diese Person, die ich im Sinne habe, müßte nicht nur ein stummes Sprachrohr, nicht bloß ein diskreter Bewahrer des anvertrauten Geheimnisses sein, sie müßte auch einen gewissen seelischen Einfluß auf den Patienten besitzen. Sie müßte imstande sein, mit vorsichtig gewählten Worten des Trostes und Zuspruchs die Wunden zu heilen, welche irgendein uns unbekanntes, folgenschweres Ereignis diesem Gemüte geschlagen hat.«
»Nun – und ich dächte, Herr Doktor, Sie hätten wohl das Vertrauen und die Zuneigung des Lords in einem Maße gewonnen, das Sie zu dieser Rolle des Seelenarztes ebenso befähigen müßte, wie zu der Rolle des Leibesarztes!«
Der Doktor schüttelte lächelnd den Kopf.
»Wollen Sie mich wirklich herausfordern, Mrs. Robertson, Ihnen das zu sagen, was ich Ihnen eigentlich schon lange hätte sagen sollen?«
»Ich verstehe Sie nicht, Herr Doktor,« entgegnete sie mit aufrichtigem Erstaunen.
»Wirklich nicht, Mrs. Robertson?« sagte Doktor Malder. »Nun, ich wollte Ihnen einfach Ihre Insinuation, zurückgeben, verehrte Landsmännin. Wenn eine Persönlichkeit die wärmste Sympathie des Lords genießt, so sind Sitz es wohl, sollte ich meinen. Und wenn irgend jemand wahres und tiefes Interesse für den Herrn dieses Hauses zeigt und nach dem, was ich gehört habe, stets gezeigt hat,, so sind auch wiederum Sie es. Hier haben wir ja also die gewünschten Bedingungen erfüllt und – die Seelenärztin wäre gefunden!«
Während der Doktor diese Worte sprach, ruhten seine Augen noch prüfender, als vorher, auf dem Gesichte der schönen Deutsch-Amerikanerin. Sie fühlte offenbar diesen Blick, ohne ihn zu sehen, da ihr Gesicht tiefer denn je auf die Handarbeit niedergebeugt war – und eine glühende Röte überzog ihre Wangen. Doch sie erhob gleich daraus den Kopf und blickte den Doktor mit ruhigem Lächeln in die Augen, indem sie sagte:
»Ich wüßte nicht, Herr Doktor, wo und von wem Sie über die große Sympathie des Lord Duncombe für meine Wenigkeit gehört haben könnten. Wahr und richtig ist nur, daß der Lord mich, – seit ich die Ehre habe, seiner verstorbenen Tochter Maud Gesellschafterin zu sein und zum Teil seinem Haushalte vorzustehen, – mit einer seiner edlen und milden Natur völlig entsprechenden Liebenswürdigkeit behandelt. Daß ich allerdings dies mit Dankbarkeit anerkenne und meinerseits das wärmste Interesse und gegenwärtig besonders die tiefste Teilnahme für diesen Mann, der mir ein zweiter Vater geworden ist, fühle, darin haben Sie vollständig recht.«
»Wissen Sie, Mrs. Robertson,« sagte der Doktor nach einer kleinen Pause, während welcher er sinnend vor sich hingeblickt hatte, »wissen Sie, daß ich an jenem Tage, da ich dieses Haus zum ersten Male betrat, Sie für die Gebieterin der Casa Grimaldi gehalten habe, für die Lady Duncombe? Ich wußte damals nicht, daß unser Lord Witwer ist.«
Ein helles Lachen tönte von den Lippen der jungen Frau, doch schien dieses Geständnis des Doktors in Wahrheit keineswegs einen lächerlichen Eindruck auf sie zu machen, denn aufs neue färbte das eine tiefere Bewegung verratende Rot ihre Wangen.
»Eine sehr schmeichelhafte Eröffnung, Doktor!« entgegnete sie. »Freut mich, daß ich Ihnen so ›ladylike‹ erscheine. Ich fürchte nur, daß Sie einen sehr verschiedenen Begriff von mir bekommen würden, wenn Sie wüßten, wie weit oder vielmehr wie unweit meine gesellschaftlichen Talente reichen. Drüben in Texas und Louisiana lernt man wenig von der hohen Schule der Repräsentation.«
»Sie sind doch in Deutschland geboren, Mrs. Robertson?« fragte der Doktor.
»In Süddeutschland, ja,« erwiderte die Amerikanerin, und ihr Blick richtete sich gedankenvoll auf das Fenster, an dem sie saß, und schien in die Ferne zu schweifen.
»Sie werden es nicht für Neugierde halten, Mrs. Robertson,« begann der Arzt aufs neue, mit einem zögernden Tone, der fast an Schüchternheit grenzte und diesem selbstbewußten, energischen Manne recht sonderbar zu Gesichte stand, – »Sie werden es nicht für Neugierde, für Indiskretion halten, wenn ich mein Erstaunen darüber ausdrücke, daß ich, der ich nun fast täglich mit Ihnen zu verkehren das Vergnügen habe, so gut wie nichts über Ihre Lebensschicksale erfahren habe. Darf ich, als Landsmann wenigstens, das nicht erwarten, oder haben Sie kein Vertrauen zu mir?«
Bei diesen Worten hielt ihr Doktor Malder die Hand hin, mit einem Blicke, welcher sie in ihrem innersten Herzen erbeben machte. Sie las mehr in diesem Blicke, als die Worte, welche ihn begleiteten, mehr, weit mehr als Sympathie, Teilnahme, Freundschaft. Die glühende, plötzlich aber mit elementarer Kraft hervorbrechende Leidenschaft eines feurigen Herzens, – sie strahlte ihr aus diesen Augen entgegen, so daß sie unter dem Eindrucke eines unerklärlichen Gefühles, gemischt aus Scheu, Bestürzung, momentanem Stolze und – einem Körnchen Freude, vor diesem Flammenblicke die Augen niederschlug. Und doch – sie vermochte nicht die ihr dargebotene Hand zurückzuweisen. Wie mit magischer Gewalt zog es sie zu derselben hin, und als sie ihre kleine Hand in diese feste, männliche Rechte legte, als sie den energischen Druck derselben empfand, da durchzuckte sie eine beseligende Vorahnung, ein Gefühl, als sei sie an einem Wendepunkte ihres Lebens angelangt und als versänken mit einem Male alle düsteren und melancholischen Bilder der Vergangenheit vor ihrem geistigen Auge für immer.
Rasch sich ermannend (doch nicht rasch genug, daß der erfahrene Psycholog nicht ein wenig die Bewegung gemerkt hätte, welche das ganze Wesen der jungen Frau momentan durchbebte), entzog sie ihm ihre Hand wieder und sagte:
»Meine Schicksale, lieber Doktor und Landsmann, sind nicht geheimnisvoll, aber – auch nicht erheiternd und erfreulich. An Vertrauen zu Ihnen fehlt es mir wahrlich nicht, indessen habe ich allen Grund, anzunehmen, daß meine Biographie auch nicht das geringste bieten dürfte, was Interesse für Sie haben könnte.«
»In dieser Annahme müssen Sie sich logischerweise irren, Mrs. Robertson,« entgegnete der Arzt, ohne den Blick von ihrem Gesichte, das aufs neue den Ausdruck von Melancholie annahm, abzuwenden. »Jede Phase Ihrer Biographie muß mich interessieren, welcher Art sie auch sein möge, aus dem einfachen Grunde, weil mich überhaupt alles interessiert, was Ihre Person angeht.«
Wieder durchzuckte die Frau dasselbe Gefühl – und doch fühlte sie sich momentan so eigentümlich beklommen, daß sie nicht vermochte, dem Arzt irgendein Wort auf seine Bemerkung zu erwidern. Letzterer überhob sie auch rasch dieser Mühe, indem er fragte:
»Darf ich eine Frage tun, ohne Sie zu beleidigen?«
»Ich halte Sie nicht für fähig, eine Dame zu beleidigen!« lautete die kurze, mit leiser Stimme gegebene Antwort.
Ein freundlicher, fast dankbarer Blick aus den Augen des Arztes streifte sie.
»Nun denn,« sagte er, »so erlauben Sie mir, zu fragen, ob Sie von – – Mr. Robertson geschieden waren, als Lord Duncombe bei seinem Besuche in Amerika Sie in sein Haus nahm?«
Einen Augenblick schien die Gefragte mit sich zu kämpfen, welche Antwort sie auf diese Frage geben sollte. Dann blickte sie dem Arzte mit ihren seelenvollen Augen voll und gerade in das Gesicht, als beabsichtige sie den Eindruck ihrer Antwort genau zu studieren, und sagte mit fester Stimme:
»Ein Mr. Robertson hat für mich niemals existiert!«
Aufrichtiges Erstaunen spiegelte sich im Gesichte des Arztes.
»So wären Sie nicht –« begann er zögernd.
»Verheiratet gewesen?« ergänzte Mrs. Robertson lächelnd. »Doch – ich war verheiratet, doch nicht mit einem Amerikaner. Mein Gatte war ein Deutscher, wie ich, ja er stammt mit mir aus einem und demselben Orte.«
»Und Sie wanderten zusammen aus?«
»Nein, ich folgte meinem – Bräutigam in die Fremde.«
»Und der Dank war, daß er Sie dann verließ?« fragte der Doktor, mit immer größerem Interesse das schöne, junge Weib vor sich betrachtend.
»Ich bin Witwe, Herr Doktor,« erwiderte Mrs. Robertson, zugleich mit einem Kopfschütteln die Frage Malders verneinend. »Mein Mann fiel als das Opfer eines Mörders,« fügte sie mit leiserer Stimme hinzu. »Die Bäume des Urwaldes sind die Wächter seines Grabes und wilde Blumen zieren den Hügel.«
Tief erschüttert durch den Ton der fast verzweiflungsvollen Melancholie, mit der sie diese Worte sprach, erhob sich der Doktor und sagte mit weicher Stimme:
»Verzeihen Sie mir, Eva! Ich bereue es bitter und schwer, daß ich mich dazu hinreißen ließ, Sie an so schmerzliche Bilder der Vergangenheit zu erinnern. Gott ist mein Zeuge, daß es nicht hohle, leere Neugierde war, welche mich dazu antrieb. Seit ich Sie zum ersten Male gesehen, Eva, – gestatten Sie mir, Sie bei diesem Namen zu nennen, da der andere doch nicht der Ihre ist, – fühlte ich eine warme Teilnahme, ein Interesse für Sie, welches den Rahmen landsmannschaftlicher Sympathie weit überschreitet. Ausschließlich dieser Gesinnung Ihnen gegenüber entsprang meine anscheinende Neugier. Und nicht wahr – Sie sind mir darum nicht böse!?«
Sie schüttelte leicht mit dem Kopfe und auf einen Moment ruhte ihr Blick mit unendlich freundlichem und vertrauensvollem Ausdrucke auf seinem männlich-schönen Gesichte.
»Und Sie gestatten mir, Eva, daß ich jene Gesinnungen weiter kultiviere, auf die Gefahr hin, daß sich dieselben in noch andere, tiefere, heiligere Gefühle verwandeln?«
Seine Stimme zitterte merklich, als er diese Worte sprach und zugleich Eva seine Hand entgegenstreckte.
Ein tiefes Rot überflog das Gesicht der jungen Witwe. Ihre Lippen zuckten, doch sie blieben stumm. Mit der schüchternen Zaghaftigkeit eines jungen Mädchens, die ihr so natürlich zu Gesicht stand, daß kein Mensch Ziererei hinter derselben zu vermuten fähig gewesen wäre, streckte sie endlich ihre Hand aus und legte sie vertrauensvoll in die dargebotene Rechte des Arztes, welcher sich niederbeugte und auf die kleine Hand, trotz ihres Widerstrebens, seine Lippen preßte. Ein entscheidender Bund wurde hier für das Leben geschlossen, und wer weiß, um wie viel Züge fester sich jetzt schon das Band geknüpft hätte, wer weiß, welche Worte Doktor Malder noch zu Eva gesprochen hätte, wäre nicht in diesem Augenblicke auf der Haustreppe eine fremde Männerstimme laut geworden. Die Hand Evas befreite sich mit einem schnellen Ruck aus der Gefangenschaft.
»Mein Gott, der Marquis!« rief sie, während ein verlegenes Lächeln ihre Lippen umspielte.
»Ein ebenso pünktlicher, wie beharrlicher Gast,« sagte der Doktor lachend, »welcher jedenfalls mehr Teilnahme für unsern Patienten zeigt, als die übrigen Mitglieder der Gesellschaftskreise, in denen, wie Sie mir sagten Lord Duncombe, seiner lebenslustigen Tochter Maud zuliebe, zu verkehren pflegte.«
»Gefällt Ihnen der Mann?« fragte Eva den Doktor groß anblickend.
»Ich könnte nicht sagen, daß er mir mißfällt,« erwiderte der Doktor, durch den Ernst der jungen Witwe einigermaßen erstaunt. »Er ist Lebemann durch und durch – französischer Landedelmann par excellence! Offenbar oberflächlich, auch ein bißchen frivol, wenn's darauf ankommt, im übrigen aber, wie es mir scheint, ein ganz gutmütiger und harmloser Geselle.«
Eva zuckte mit den Achseln.
»Man hat bei uns in Amerika eine Redensart,« sagte sie, »welche lautet: › he is too sweet to be good‹. Er ist zu süß, um gut zu sein. Diese fällt mir stets ein, wenn ich mit diesem überhöflichen Franzosen zu tun habe. Ich glaube, Herr Doktor, Sie tun gut, wenn Sie ihm gegenüber nicht so vertrauensselig sind.«
Der Doktor lachte jetzt hell auf.
»Sie haben allerdings recht, Eva,« sagte er, »wenn Sie die Höflichkeit dieses lustigen Gascogners speziell Ihnen gegenüber konstatieren. Man könnte diese Galanterie nahezu mit dem gallisch-germanischen Worte Courschneiderei bezeichnen.«
Ein verächtliches Lächeln umspielte die Lippen Evas.
»Allerdings eine Art von Galanterie, welche bei mir doppelt schlecht angebracht ist,« sagte sie. »Doch – ich muß Ihnen gestehen, daß ich an meine Wenigkeit bei dieser abfälligen Beurteilung des Marquis de Santillier nicht im geringsten gedacht habe. Ich habe derartige galante Anwandlungen desselben als Naturfehler angesehen und daher kaum beachtet. Speziell Sie hatte ich bei meiner Bemerkung im Sinn, weil mir die Freundschaft, welche der Marquis Ihnen gegenüber zur Schau trägt, ein wenig auffällig zu werden begann.«
Noch immer schien den Doktor diese Besorgnis zu belustigen. Doch er fühlte eine viel zu große Neigung für Eva und sah überdies mit viel zu großer Freude aus dieser Besorgnis für sein Wohl einen Hoffnungsstrahl der Erwiderung durchleuchten, als daß er nicht alles vermieden hätte, was Eva verletzen konnte. Er unterdrückte daher die scherzhafte Erwiderung, welche ihm auf den Lippen schwebte, und sagte nur mit einer Verbeugung:
»Ich unterwerfe mich dem sprichwörtlichen Scharfsinne der Frau und werde auf meiner Hut sein, so sehr auch, offen gestanden, meine Ansichten in diesem Punkte von den Ihren verschieden sind. Doch interessant wäre es mir wohl, so einigermaßen zu erfahren, worauf sich Ihr Verdacht gründet. Die Interessen des Marquis können sich mit den meinigen unmöglich in irgendeinem Punkte kreuzen, und ich wüßte daher nicht, wie er dazu käme, mir feindlich gesinnt zu sein.«
Wiederum stieg ein verräterisches Rot in den Wangen Evas auf. Sie biß sich auf die Lippen und schien mit sich selbst im Kampfe zu liegen, welche Antwort sie auf diese Frage Doktor Malders geben sollte.
»Ich habe Ihnen Vertrauen geschenkt, Herr Doktor,« sagte sie endlich, »so vergelten Sie auch jetzt Gleiches mit Gleichem und erlassen Sie mir bis auf weiteres jede Auseinandersetzung hierüber. Ich habe ein erfahrungsreiches Leben hinter mir, obwohl ich noch keine alte Frau bin, und glaube einen guten Teil von Scharfblick zu besitzen. Und dieser nötigt mich, so zu sprechen, wie ich soeben zu Ihnen gesprochen habe. Wird Ihnen das genügen?«
Doktor Malder hatte nur Zeit, mit einem raschen Händedrucke seine Zustimmung anzudeuten, denn in demselben Augenblicke öffnete sich die Tür und der uns wohlbekannte Marquis, wie immer tiré aux quatre epingles, trat ein.
Der Eintretende warf einen raschen, forschenden Blick auf die beiden im Parlor befindlichen Personen; es sah aus, als wolle er aus dem Gesichtsausdrucke derselben den Inhalt des Gespräches herauslesen, welches sie vor seinem Eintritte geführt.
* * *
Der Marquis hatte an jenem verhängnisvollen Abend, da Doktor Malder aus seiner Gefangenschaft befreit worden war, noch ein langes und äußerst animiertes Gespräch mit seinem Herrn und Meister, dem Pater Mariano, gepflogen. Man kann sich denken, daß dasselbe sich um die Andeutungen gedreht, die der Jesuit dem Franzosen bezüglich des Doktor Malder gemacht hatte. Die Gesichter der beiden Komplotteure zeigten im Augenblick der späten Trennung einen sehr verschiedenen Ausdruck. Während Pater Mariano, mit einer Miene höhnischen Triumphes dem Marquis nachblickte, ehe er sich an die Lektüre des uns bekannten Schriftstückes machte, eilte der Gascogner mit einem Gesichtsausdrucke seiner Wohnung zu, welcher für diese frivol-leichtsinnig angelegte Natur nicht besser paßte, als die Faust aufs Auge. Er befand sich offenbar in dem Stadium eines tiefen, seelischen Kampfes, eines Kampfes zwischen dem Bewußtsein von der seelischen Sklaverei, gegen die sich der Rest ritterlich-edelmännischer Natur, die ihm angeboren war, mit aller Gewalt aufbäumte.
Aber wenige Tage darauf erschien bereits der Marquis beim Lord Duncombe in der alten Gestalt eines »lustigen Schwerenöters,« mit demselben frivolen Lächeln auf den Lippen, derselben gutmütigen Nonchalance und demselben, seine Umgebung stets erheiternden Humor auf der Zunge. Zu Lebzeiten seiner Tochter hatte Lord Duncombe, nur ihr, wahrlich nicht sich selbst zu Gefallen, wie man zu sagen pflegt: »ein Haus gemacht«, hatte sich in die »Gesellschaft« Roms gemischt und eine große Anzahl von Bekanntschaften kultiviert. In jenen Tagen hatte er auch den Marquis, der sich, wie viele verkappte Jesuitenspione, in den besten Zirkeln bewegte, kennen gelernt und einen gewissen Grad von Gefallen an dem stets munteren, schlagfertigen und anscheinend harmlosen Bonvivant gefunden, diesem auch bei verschiedenen Gelegenheiten Zeichen seiner Sympathie gegeben. Kein Wunder, wenn der Franzose einer der ersten war, welcher, bei seiner Rückkehr von einer »Geschäftsreise«, dem Lord Duncombe einen Kondolenzbesuch abstattete. So hatte der Marquis Eva näher kennen gelernt, so hatte er Malder getroffen und sich unmerklich mit seiner ohrwurmartigen Glätte, seinem insinuierenden Wesen nahezu in die Freundschaft des letzteren hineingestohlen. Was Eva anbetraf, so machte sie aus ihrer Antipathie gegen den Gascogner eigentlich recht wenig Hehl, ebenso wie dieser mit einem fast komisch wirkenden Mangel an Reserve, und völlig das oft abstoßende Wesen Evas unbeachtet lassend, der jungen Witwe den Hof machte. Anders kann man sein Verhalten ihr gegenüber kaum bezeichnen. Denn für den oberflächlichen Beobachter war es in der Tat nur ein fast krampfhaftes Ausüben jener zahllosen Galanterien und Aufmerksamkeiten, die man wohl einem hübschen Weibe gegenüber, für das man sich interessiert, erweist. Da war von einem wärmeren, intensiveren Interesse kaum eine Spur zu bemerken. Kaum! – Denn Eva selbst, deren Augen hierfür scharf genug waren, verstand recht wohl die glühenden, verlangenden Blicke zu deuten, welche zuweilen inmitten aller faden Galanterien aus den Augen des Marquis sie trafen. Sie verstand wohl ungefähr zu lesen, was in der Seele dieses anscheinend so oberflächlich angelegten Mannes vorging, wenn er bald mit forschendem, bald mit triumphierendem, bald auch mit haßerfülltem Blicke auf Doktor Malder hinsah, sobald dieser an der Konversation mit Eva teilnahm und bei solcher Gelegenheit seine ernsten Augen mit einem sehr deutlich sprechenden Ausdrucke von Bewunderung auf dem Gesicht der Amerikanerin ruhen ließ. Aus der Quelle dieser Erkenntnis entsprang die Warnung, welche Eva dem Doktor Malder, bezüglich der sogenannten »Freundschaft« des Marquis, geben zu müssen geglaubt hatte.
Nun noch zu Eva, der kleinen, aber interessanten Zentralsonne, um welche sich die Handlung in diesem Kapitel gewissermaßen dreht.
Der Leser wird kaum noch im Zweifel darüber sein, daß er in der Gestalt der jungen Amerikanerin niemand anders vor sich hat, als jenes blonde Schulmeistertöchterlein, das mitten aus dem Idyll eines süddeutschen Dorfes durch des Schicksals wunderbares Walten und den mächtigen Antrieb treuer und selbstloser Liebe plötzlich mitten hineinversetzt ward in die Wildnis der texanischen Prärie. Er wird sich auch erinnern, wie grausam jenes glückliche Zusammenleben des Präriejägers mit seinem treuen, alle Mühe und Fährlichkeiten teilenden Weibe durch die Hand des Meuchelmörders zerstört ward. Gerhard und Robert – diese zwei Gestalten treten wieder vor unser geistiges Auge, und wir sehen einerseits, wie das stille Grab in der Waldlichtung sich über dem deutschen Jäger schließt, andererseits, wie die Kugeln des Richter Lynch dem Leben des Mörders ein wohlverdientes Ende bereiten, während seine Lippen als trotzigen Todesgruß den Namen »Eva« stammeln.
Die ihres Gatten und Ernährers beraubte Jägersfrau war, wie wir wissen, in Gesellschaft des Karawanenführers und begleitet von dem treuen Kehe-Paha weiter gezogen, um, völlig entsprechend den dortigen Ansichten und Verhältnissen, die für das Weib in gleichem Maße gelten, wie für den Mann, den Ort zu verlassen, aus dem die Fügungen des Schicksals sie hinausgetrieben, und anderwärts »ihr Glück zu versuchen«, d. h. sich danach umzutun, ob es ihr gelänge, irgendeine für sie und das Kind brotbringende Tätigkeit zu erhalten, bei welcher sie zugleich einigermaßen die quälende Erinnerung an die verlebten glücklichen Tage und die damit so grausam kontrastierenden, blutigen Vorgänge in den Hintergrund drängen könnte.
Der Leser wird sich noch jenes Jenkins erinnern können, in dessen Zelt Gerhard oder Steffen die letzte Nacht seines Lebens hatte übernachten sollen. Der biedere Kentuckier, welcher von vornherein ein unerklärliches Mißtrauen gegen Gerhard gehabt hatte, interessierte sich nächst dem Karawanenführer und Kehe-Paha vielleicht am meisten für das Schicksal der verlassenen Jägersfrau. Während der Fahrt ritt er fast ausschließlich neben dem Wagen her, in welchem Eva mit ihrem Kinde Platz genommen, und er ließ es sich angelegen sein, von ihr so viel wie möglich über ihre Lebensgeschichte, ihr Verhältnis zu Robert und die bewegten Schicksale des jungen Ehepaares in der Prärie zu erfahren. Er war Menschenbeobachter und Menschenkenner genug, um aus dem, was er hörte, verbunden mit dem, was er selbst vor wenigen Tagen gesehen und erlebt, sich ein getreues und wahrlich nicht ungünstiges Bild von den Charaktereigenschaften, dem inneren Werte dieser jungen Deutschen zu machen. Und so rückte er denn eines Tages mit einem Vorschlage heraus, welcher das Resultat einer ziemlich andauernden, nachdenklichen Schweigsamkeit und einer damit verbundenen, erschrecklich erhöhten Konsumption von Kautabak zu sein schien. Er war vor fast einem Jahre schon, wie er Eva auseinandersetzte, mit seiner Familie von Kentucky weggezogen und hatte, da ihm seine reichen Mittel dies erlaubten, für dieselbe einen schönen Landsitz im »sonnigen Süden« und zwar in der allernächsten Umgebung der »Halbmondstadt« New-Orleans erworben. Nach diesem Landsitze, in den Schoß seiner Familie, lud er Eva, ohne viel Umschweife zu machen, nachdem er erst über diesen Plan mit sich selbst einig geworden war, ein, ihr im voraus die Versicherung gebend, daß sie mit offenen Armen aufgenommen werden würde, und daß sie sich keinen besseren Ort wünschen könnte, um behaglich und mit Muße »auszulugen« und sich zu überlegen, was nun weiter anzufangen sei. Eva hätte nicht genug von der amerikanischen Luft geatmet haben müssen, wenn sie diesem offenbar in jedem Punkte günstigen und annehmbaren Vorschlage überbescheidene Einwände entgegengesetzt hätte. Der Gedanke an die ziemlich nahe bevorstehende Geburt eines zweiten Kindes genügte schon, um sie nach einer kurzen Überlegung und einem Gespräch mit dem Führer der Handelskarawane, zu einer freudigen Annahme des gemachten Vorschlages zu veranlassen, worüber niemand sich mehr zu freuen schien, als Jenkins, und niemand sich mehr betrübte, – als Kehe-Paha. Das Gefühl dieses Natursohnes für die schöne Lebensgefährtin seines ermordeten Freundes und Beschützers war offenbar mehr als Anhänglichkeit, mehr als Pietät für das Andenken Roberts. Zuzeiten, wenn er sich unbeachtet sah, ruhten seine Augen mit einem Ausdrucke verzehrender Glut auf Eva und sprachen deutlich genug für die heiße, wilde Leidenschaft, die ihn zu der jungen Witwe hinzog und gegen die er nur mit Anwendung der furchtbarsten Selbstbeherrschung, – einer hervorragenden Eigentümlichkeit seiner Rasse, – anzukämpfen vermochte. An dem Tage, wo sich Eva von der Karawane trennen und in der Begleitung von Jenkins und zweier anderer Männer sich in der Richtung nach New-Orleans begeben sollte, kam endlich das im Herzen des Indianers mühsam unterdrückte Gefühl zum Ausbruch. Eva erzitterte unter der Gewalt der Leidenschaft, mit welcher Kehe-Paha, in dem sie bisher stets nur den mit allem Stoizismus seiner Rasse ausgerüsteten Indianer vermutet hatte, ihr seine heiße Liebe zu erkennen gab. Die elementare Gewalt dieser Leidenschaft, nicht gezügelt durch die Schranken des »guten Tones« und der »Etikette«, innerhalb deren wir Söhne der Zivilisation selbst unsere Herzensangelegenheiten zu erledigen verpflichtet sind, gab dieser originellsten, aber sicher wohl aufrichtigsten aller Liebeserklärungen einen pikanten, eigenartigen Reiz, um welchen vielleicht manche von faden Gecken umschwärmte Großstadtdame Eva von ganzem Herzens beneidet haben würde. Er malte Eva die Reize seines Wigwam in den lebendigsten Farben aus und versuchte sie alles Ernstes dazu zu überreden, ihm in die Prärien zu folgen oder in der Nähe des Grabes ihres Gatten ein Blockhaus mit ihm zu errichten und an seiner Seite das unstete und gefahrvolle Leben einer hinterwäldlerischen Jägersfrau wieder aufzunehmen. Eva hatte, ehe diese Szene ihr die Augen öffnete, die Absicht gehabt, den treuen Begleiter durch ein ganzes Leben voller Drangsalen und Fährlichkeiten aufzufordern, sich ihr nach New Orleans anzuschließen und als Diener, als Freund, als Gefährte, wie er es haben wollte, in ihrer Nähe zu bleiben. Ihr Gönner Jenkins hatte an der jungen Rothaut, wie man zu sagen pflegt, einen Narren gefressen und somit von seinem Standpunkt nicht das geringste dagegen einzuwenden, daß Kehe-Paha seine Adoptivtochter, – mit diesem Namen bezeichnete er Eva bereits, – in das Haus seiner Familie begleitete.
Natürlich erstarb Eva das Wort auf den Lippen, als sie die Gemütsverfassung des Indianers gewahr wurde. Mit milden aber energischen Worten stellte sie Kehe-Paha das Unmögliche einer Verbindung zwischen ihm und ihr vor, schon aus dem Grunde, daß das Andenken an den teuren gemordeten Gatten ihr es auf Jahre hinaus, vielleicht für immer, unmöglich machen würde, mit einem andern Manne zusammen zu leben. Sie versicherte ihn ihrer treuen Freundschaft, ihrer innigen Dankbarkeit für die Treue und Anhänglichkeit, welche er dem Verstorbenen und ihr jederzeit erwiesen, bat ihn aber, um seiner selbst willen, sie zu verlassen und zurückzugehen in die Wigwams seines Volkes, wo sicherlich manche braune Pottawatamiemaid stolz und glücklich sein würde, die »Squaw« des tapfern jungen Kriegers zu werden.
Eigentümlich war der Eindruck, den diese Worte auf den Indianer ausübten. So wild und erregt der Sturm der Leidenschaft, welcher in dem Innern dieses Natursohnes tobte, an die Oberfläche getreten war, so war er nach den Worten Evas stumm und starr geworden, wie eine Bildsäule von Erz. Mit keinem Wimperzucken verriet er, welchen Schmerz ihm die Weigerung des schönen Bleichgesichtes bereitet, nicht ein Wort kam über seine Lippen, welches Ausdruck gegeben hätte von dem niederschmetternden Gefühle, mit dem er die Kluft erkannte, die sich zwischen ihm, dem Sohn der Wälder und Prärien, und der schönen Tochter der Zivilisation auftat. Stumm und starr ergriff er die dargereichte Hand der selbst aufs tiefste erschütterten Eva, verbeugte sich mit der seinem Volke eigenen Grandezza und legte die flache Hand der Deutschen als Zeichen der Ehrerbietung auf seine Stirn. Dann schritt er, immer noch wortlos, zu dem Pferde, welches der Missourier ihm damals als Andenken für Robert mitgegeben, drehte sich noch einmal um, warf einen einzigen Blick auf die vor ihm stehende Gestalt Evas, einen Blick, der beredter war, als alle Wortschätze seiner blumenreichen Sprache zusammengenommen, und schwang sich in den Sattel. Ehe noch Eva Zeit hatte, dem jungen Krieger ein Wort des Abschiedes zuzurufen, drückte er die Schenkel in die Weichen des Pferdes und schoß dahin auf dem durch den Wald führenden Pfade, wie ein Flüchtling, der dem ihm verfolgenden Feinde zu entrinnen trachtet. Die Waldriesen entzogen ihn bald den Blicken der ihm mit tränendem Auge nachschauenden Eva.
Eilte er in die Jagdgründe seines Stammes? Wollte er Evas Prophezeiung wahr machen und eine Tochter seines Stammes als Squaw begrüßen? Eilte er zum Grabe des gemordeten Freundes zurück, um dort zu seinem Gotte Manitu zu beten, oder ging er dahin, um das Kriegsbeil auszugraben und in wildem Kampfe gegen die weiße Rasse, deren Vertreterin ihn, den tapfern Häuptling, verschmäht, den Sturm austoben zu lassen, der sein Innerstes bewegte? Sollten sich diese zwei Gestalten auf den so seltsam gewundenen Pfaden des Lebens wieder begegnen?
Eva fand, mit ihrem freundlichen Beschützer in New-Orleans angelangt, im Hause der Familie Jenkins, welche nur aus Frau und Tochter des Handelsherrn bestand, eine Aufnahme, die in jeder Beziehung geeignet war, sie das Leid der vergangenen Wochen vergessen zu machen. Sie ward behandelt wie eine Tochter des Hauses, und Nellie, die anmutige Tochter des Kaufmannes, der verhätschelte Liebling und Tyrann des Hauses, schloß sich mit so inniger Zuneigung an die deutsche Schulmeisterstochter an, daß jedes Wort Evas, welches dahinzielte, sich irgendeine für sie angemessene Beschäftigung zu suchen, um sich womöglich die Mittel zur Heimkehr zu erwerben, in einem Sturm von Bitten und Tränen seitens Nellies erstickt ward, und in gleicher Weise der eindringlichsten Vorstellung seitens der Eltern des jungen Mädchens begegnete.
Das Band, das Eva zu der Familie zog, ward womöglich noch enger, nachdem der Tod ihr das Kind entriß, und auch das letzte Pfand der Liebe ihres Gatten, das nachgeborene Kind, wenige Stunden nach der Geburt starb. So blieb denn Eva zunächst unter dem Schutze der liebenswürdigen Familie, und es fiel ihr, wenn sie ihre eigenen Gefühle und Wünsche zu Rate zog, eigentlich auch recht leicht, den Bitten der gastfreundlichen Leute nachzugeben, da sie in der Tat sich in diesem Kreise guter Menschen so wohl fühlte, daß die Bilder aus den Zeiten ihres Prärie- und Urwaldlebens nach und nach nur noch wie wesenlose Gestalten eines wüsten Traumes vor ihrem geistigen Auge zu erscheinen begannen. Sie lebte auf diese Art fast ein volles Jahr in dieser Familie ein durch gesellschaftliche Abwechslungen aller Art noch verschöntes, sonst aber stilles und beschauliches Leben. Mehr denn einmal näherten sich ihr Männer aus den Bekanntenkreisen des Hausherrn, deren Besitz so manches mit den reichsten Gaben des Glückes bedachte Yankeemädchen glücklich und zufrieden gemacht haben würde, – indessen Eva setzte allen Anträgen, welche ihr gemacht wurden, stets denselben Einwand entgegen, daß, so sehr sie sich auch durch die ihr geschenkte Aufmerksamkeit geehrt fühle, die Erinnerung an den Verstorbenen in ihr noch viel zu lebendig sei, als daß sie imstande wäre, ihr Herz voll und ungeteilt einem andern Manne zu schenken.
Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, als in dem Rahmen dieses erfreulichen Familienstillebens zwei neue Erscheinungen eintraten. Um diese Zeit langte nämlich Lord Duncombe, welcher, wie dem Leser bereits bekannt ist, in Gesellschaft seiner jüngsten Tochter Maud den amerikanischen Kontinent bereiste, in der »Crescent-City« an, um von dort aus Exkursionen den romantischen Mississippistrom aufwärts zu machen. Der Lord war kein besonderer Freund des Hotellebens und hatte es daher auf seiner ganzen amerikanischen Reise, soweit es möglich war, so eingerichtet, daß er da, wo er etwas längeren Aufenthalt zu nehmen beabsichtigte, stets seine Wanderheimstatt in einem Privathause, bei einer Familie, welche auf unbestimmte Zeit Zimmer zu vermieten bereit war, aufschlug. Kaum war er daher in New-Orleans angelangt und provisorisch in einem Hotel abgestiegen, als er auch sogleich Schritte tat, um für sich und seine Tochter, – er war außerdem nur von seinem alten Bedienten und einem Kammermädchen für seine Tochter begleitet, – eine geeignete Wohnung zu finden. Der Zufall führte ihn bei einem Spaziergange entlang den mächtigen Warenspeichern auf der »Levee« mit Jenkins zusammen, und im Laufe des Gespräches machte es sich ganz natürlich, daß Lord Duncombe dem Kaufmanne, bei dem er weitausreichende Lokalkenntnisse vermutete, von seinem Wunsche Kunde gab.
Nun war das Haus, welches Jenkins besaß, ein für amerikanische Verhältnisse ziemlich großes, und da die Familie, wie schon bemerkt, eine sehr kleine war, so standen mehrere Räume desselben unbewohnt. Sehr häufig schon hatte Mrs. Jenkins, eine praktische Amerikanerin, ihren nicht minder spekulativen Ehemann darauf aufmerksam gemacht, daß es doch eigentlich sehr zweckmäßig sein würde, die leerstehenden Räume, welche ebenso geschmackvoll, wie reichlich möbliert waren, durch Vermietung auszunützen. Der Hausherr war prinzipiell mit seiner Gattin in diesem Punkte natürlich vollständig einverstanden, – indessen der Mieter hatte bis Dato gefehlt. Nicht, als sei nicht so manchem die allerliebste Cottage am Mississippistrome in der schönsten Umgebung von New-Orleans als wünschenswertes Asyl in die Augen gefallen. Im Gegenteil, es hatte, nachdem die Absicht der Familie bekannt geworden war, an Offerten und Anfragen keineswegs gefehlt. Indessen Jenkins nebst Gemahlin und Fräulein Tochter waren wählerisch, – sehr wählerisch, und hielten viel zu große Stücke auf ihr trauliches Familienleben, als daß sie ohne weiteres das Risiko auf sich genommen hätten, dasselbe durch irgendeinen unliebsamen Störenfried, einen Wolf in der Schafhürde stören zu lassen.
Nun gefiel aber Lord Duncombe dem Kaufmanne ganz ausgezeichnet, der Peers-Titel mochte wohl auch ein wenig mit ins Gewicht fallen, und hierzu kam noch der Umstand, daß der Lord eben nur seine Tochter und die notwendigste Dienerschaft bei sich hatte, also keine allzugroßen Ansprüche an Raum stellte. So kam es denn, daß sich Jenkins nach kurzer Überlegung veranlaßt fühlte, den Lord auf die in seinem Hause leerstehenden Räume aufmerksam zu machen und ihn zur Besichtigung derselben aufzufordern. Die Angelegenheit war sehr bald » a bargain«, – wie der Handelsherr nachher, sich die Hände reibend, zu seiner Gattin sagte. Ein Tag genügte, um die gegenseitige Bekanntschaft anzuknüpfen, und das Resultat war ein sehr günstiges. Denn, als am nächsten Tage Lord Duncombe nebst Maud mit Sack und Pack in dem oberen Stockwerk des Jenkinsschen Hauses seinen Einzug hielt, – da war es, als ob man sich schon seit langer Zeit kannte, und » the old folks« konnten sich ruhig in dem Bewußtsein zu Bett legen, daß ihr Familientempel trotz der neuen Gäste keinerlei Störungen zu fürchten haben würde.
Nicht wenig zur Erweckung dieser Harmonie und zur immer größeren Befestigung derselben trugen die sympathischen Gefühle bei, welche der jugendlichere und jugendlichste Teil dieser kleinen Hausgesellschaft einander entgegenbrachte, nämlich Eva, Nellie und Maud. Eva war hier gewissermaßen das vermittelnde, vereinigende Element, denn sehr bald begegneten sich die beiden jungen Mädchen in ihrer herzlichen Zuneigung zu der jungen Witwe und fanden sich um so leichter selbst zueinander. Es war auch kaum zu verwundern, daß das milde und dabei doch energische Wesen Evas, welches übrigens auch den Lord Duncombe selbst sehr bald im größten Maße anzog, ihr interessantes Äußere und auch das Tragisch-Romantische ihrer Schicksale einen geradezu zauberhaften Eindruck auf die beiden in sehr vieler Beziehung gleichgearteten, mit äußerst lebhaftem, impulsivem Temperament veranlagten jungen Mädchen machte.
Wer hätte wohl ahnen können, daß dieses trauliche Zusammenleben, bei welchem der Gedanke an Trennung seitens der beteiligten Personen von Tag zu Tag, von Woche zu Woche verschoben wurde, in furchtbarer und rücksichtsloser Weise gestört werden konnte! Gab es wirklich Menschen, die mißgünstig genug sein konnten, die Rolle der Schlange in diesem kleinen Paradiese zu übernehmen? – – – Die Störung kam nicht von Menschenhand. Das Fatum geht seinen Weg mit ehernem Schritt und kennt keine Rücksicht; menschliches Glück, – menschliches Unglück, Freud' und Leid, alles ohne Unterschied schwindet dahin oder verändert sich vor dem unbeugsamen Willen der Schicksalsgötter.
Es war ein furchtbares Gespenst, das sich raschen Schrittes nahte, nicht denen allein, die dort in der Vorstadt-Cottage ein fast idyllisches Leben genossen, sondern, ohne Ausnahme, sämtlichen Bewohnern des Staates Louisiana. Wer hat nicht schon von dem grausamsten aller Würgengel gehört, der fast in jedem Spätsommer mit größerer oder geringerer Strenge die Staaten des »sonnigen Südens« heimsucht? Mutige Herzen erzittern vor dem Namen dieses Zwillingsbruders des »Schwarzen Todes«, und wo er erscheint, da füllen sich die Straßen des Landes mit Flüchtlingen, die seiner todbringenden Umarmung zu entfliehen trachten.
Die gelbe Pest! – – – Furchtbarer, tödlicher, rascher war sie seit Menschengedenken in Louisiana nicht aufgetreten, als in jenem unvergeßlichen Herbste. Noch ehe die nötigen Vorsichtsmaßregeln getroffen werden konnten, noch ehe die entsetzte Bewohnerschaft, – soweit ihr das überhaupt möglich gewesen wäre, – entrinnen konnte, wehte der Pesthauch des gelben Fiebers, entstiegen den Morästen des Mississippi, über das Land dahin, hier Tod, Hunger und Elend, dort Verzweiflung, Kopflosigkeit, Demoralisation verbreitend. Die Feder vermag den Jammer nicht zu schildern, welcher binnen wenigen Tagen auf den Straßen und in den Häusern von New-Orleans, Vicksburg, Memphis, Granada und andern Städten sein trauriges Regiment aufschlug. Während ringsum der Gürtel der Quarantaine sich um die von dem Würgengel heimgesuchten Distrikte schloß, hielt drinnen der Tod seine Ernte, und seine Schrecken sprengten alle Bande gesetzlicher Ordnung. In New-Orleans selbst war das Unterste zu Oberst gekehrt. Die Apotheken bis auf zwei oder drei, waren geschlossen. Keine andern Fahrzeuge erblickte man fast, als die Wagen der Ärzte – und Leichenfuhren. Holz- und Teerfeuer sandten in der Nacht vor den Häusern ihre blutige Lohe zum Himmel empor: es waren die furchtbaren Warnungssignale, – anzeigend, daß Tod oder Krankheit im Hause, zugleich bestimmt, die Kutscher der Leichenwagen herbeizurufen, während am Tage schwarze oder rote Tücher die Stelle dieser Feuer vertraten. Viele freilich starben dahin ohne Signal, ohne Pflege. Personen, plötzlich von der Seuche ergriffen, durch Schwäche oder Delirium unfähig gemacht, Hilfe herbeizurufen, fielen nieder, starben verlassen, und erst die eintretende Verwesung oder andere Zufälligkeiten führten die Auffindung der Leichname herbei. Vagabunden krochen, froh, einmal ein ordentliches Obdach zu finden, in verödete Häuser, – die sie lebend nimmer verließen, – andere fand man tot unter freiem Himmel. Selbstverständlich wurden die Beerdigungen in größter Hast ausgeführt. Nebeneinander und aufeinander wurden die rohgezimmerten Särge in die Massengräber gesenkt; der Name ward, – wenn bekannt, – mit Kreide auf den Sargdeckel geschrieben. Die Ärzte waren in wenigen Tagen nahezu erschöpft, die Mitglieder einer im ersten Feuer gebildeten Hilfsgesellschaft hatten nach wenigen Tagen sämtlich das Weite gesucht, von den Zeitungen erschienen nur noch zwei, je auf halben Bogen, nichts wie Nachrichten über den Verlauf der Seuche und Totenlisten enthaltend. Die Stadtverwaltung war außer Rand und Band. Weiße und farbige Landstreicher trieben sich, dem Fieber trotzend, umher, um von der Barmherzigkeit anderer Leute oder dem Diebstahl zu leben. In den Händen einer einzigen wohltätigen Gesellschaft, der Howard-Assoziation, lag die ganze Last der Samariterarbeit. Sie tat, was sie konnte, sie teilte die Stadt in Distrikte, speiste unzählige Personen, schickte Lebensmittel in die Häuser der verarmten, ihrer Ernährer beraubten Familien, sandte auf ihre Kosten Ärzte und Krankenwärter umher, soweit es in ihren Kräften stand, – aber was wollte das alles heißen gegenüber dem panischen Schrecken, dem unsagbaren Elend, das die gelbe Pest mitsamt ihrem furchtbaren Gefolge allenthalben in der Stadt verbreitete!? Was half es, daß die Menschen scharenweise ins Land hinauspilgerten und außerhalb der Stadt ganze Zeltlager errichteten, um der Seuche zu entgehen? Der Würgengel, welchem sie zu entfliehen trachteten, heftete sich an ihre Fersen und setzte draußen in der Zeltstadt das Zerstörungswerk fort, wie er es drinnen begonnen, so daß sich diese teils aus Zelten der Bundesarmee, teils aus rohgezimmerten Hütten bestehenden Ansiedelungen und improvisierten Barackenhospitäler bald in Sammelplätze demoralisierter, vor Furcht halb wahnsinniger Geschöpfe verwandelten.
So sah es in New-Orleans aus, so in Memphis und Vicksburg, so in vielen andern Städten des » sunny South«. Und wie stand es bei unsern Freunden in dem Landhause am Ufer des Mississippi!?
Wir haben schon bemerkt, daß die Seuche mit einer Raschheit und Plötzlichkeit, und zwar gleich mit so voller Kraftentfaltung, auftrat, daß selbst diejenigen, deren Mittel und Verhältnisse es ihnen wohl gestattet hätten, sich eiligst nach dem Norden zu flüchten, den Kopf verloren und erst an Flucht dachten, als es schon zu spät war. So stand denn auch bei der Familie Jenkins und den übrigen Bewohnern der Cottage das furchtbare Gespenst auf der Schwelle, noch ehe sie Zeit und Gelegenheit gehabt hatten, irgendwelche Vorbereitungen zur Flucht oder sonstige Vorsichts- und Schutzmaßregeln zu treffen. – Als es einmal so weit gekommen war, daß mit einem Schlage Elend, Verzweiflung und Hungersnot ringsum Platz griffen, da war es wiederum die echt edle Regung männlichen Stolzes, welche es Jenkins sowohl, wie dem Lord verbot, das Hasenpanier zu ergreifen. Sie taten beide freilich ihr Möglichstes, wenigstens die Frauen zur Flucht zu überreden. Begleiter genug boten sich an, und es wäre unter den gegebenen Umständen immerhin verhältnismäßig leicht gewesen, die Frau des Kaufherrn, sowie Eva und die beiden jungen Mädchen noch rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Indessen alle dahin zielenden Versuche und Überredungskünste scheiterten an der einmütigen Erklärung aller vier, daß sie nicht einen Schritt aus New-Orleans hinaus tun würden, so lange die beiden Männer bei ihrem Entschlusse beharrten, in der Pesthöhle zu bleiben, und nach Kräften dazu beizutragen, das furchtbare Elend zu mildern und, in der allgemeinen Kopflosigkeit, mit Rat und Tat gegen ein allgemeines Zusammenbrechen aller Ordnung und Gesetzmäßigkeit anzukämpfen.
So kam es denn schließlich dazu, daß, bis auf die Dienerschaft, welche, mit Ausnahme Bloxams, des alten Dieners Lord Duncombes, durch die Bank schon in den ersten Tagen davon gelaufen war, der gesamte Hausstand in der freundlichen Cottage am Mississippi-Ufer beisammen blieb, nunmehr fest entschlossen, nicht zu weichen und nicht zu wanken, auf den Schutz Gottes zu vertrauen und im übrigen Rat und Hilfe zu spenden, wo dies nur irgend erforderlich und möglich war.
Doch das gelbe Gespenst hatte kein Erbarmen! Kaum eine Woche war vergangen, da pochte es an die Türe des friedlichen Hauses und erfaßte zuerst die Gattin des Kaufherrn mit seinen todbringenden Armen. Es dauerte nicht lange, da kniete Nellie jammernd am Totenbett der Mutter, während vor Schmerz starr und stumm die andern auf das bleiche Totenantlitz der dem friedlichen Kreise so rasch Entrissenen blickten. Und als der Morgen graute, als die letzten Reste des vor dem Hause entzündeten Holzfeuers verglimmten, da erschienen die schwarzen Leichenträger samt ihrem mit Wachstuch überzogenen Kasten, um mit der Gleichgültigkeit und stumpfen Geschäftsmäßigkeit, welche ihr in diesen Tagen ununterbrochen geübtes Amt mit sich brachte, die teure Tote aus dem Hause zu bringen, welches noch vor kurzem der Zeuge des glücklichsten und heitersten Familienlebens geworden war. Laut schreiend brach Nellie zusammen, als die Männer ihre traurige Bürde aufrafften, – und der Schrei war bereits das Zeichen des beginnenden Deliriums. – Mit so grauenhafter, blitzartiger Schnelle ergreift diese Seuche ihre Opfer. – Bange und lange vierundzwanzig Stunden folgten, noch trauriger und kummervoller gemacht durch den Umstand, daß auch Lord Duncombe, erschöpft und fast zu Tode ermattet durch seine aufopfernde Samaritertätigkeit in der Stadt, sich niederlegte, und der mit Mühe und Not herbeigeschaffte Arzt auch ihn als vom gelben Fieber ergriffen bezeichnete.
Hier zeigte sich in seinem glänzendsten Lichte der Heroismus und die eiserne Willens- und Tatkraft Evas und die innige, aufopfernde Liebe Mauds zu ihrem Vater. Die beiden, obwohl selbst von all dem Elend, das sich um sie herum abspielte, seelisch und körperlich aufs tiefste angegriffen, teilten sich mit unermüdlicher Sorgfalt in die Pflege der beiden Patienten, nicht einen Augenblick daran denkend, daß ihr eigenes Leben jeden Moment in derselben Gefahr schwebte, aus deren Armen sie die geliebten Kranken mit Aufbietung aller Kräfte zu entreißen suchten. Der Kaufherr, niedergeschmettert durch den Verlust der geliebten Frau, selbst erschöpft durch die gleiche Tätigkeit, welcher Lord Duncombe zum Opfer gefallen, stündlich zitternd für das Leben der von ihm fast vergötterten Tochter, des einzigen ihm gebliebenen Kleinods, schöpfte neuen Mut und neue Kräfte beim Anblick der beiden heroischen Frauengestalten, welche inmitten dieser tod- und verderbenspeienden Umgebung keinen Augenblick den Kopf verloren, sondern mit unermüdlichem Eifer ihre Pflicht erfüllten.
Doch wiederum und wiederum das alte Lied: Das gelbe Gespenst hatte kein Erbarmen. Am zweiten Tage, nachdem die liebliche Nellie sich im Fieberdelirium niedergelegt hatte, veränderte sich mit einem Male ihr Zustand anscheinend zum Bessern. Doch die auflebende Hoffnung ihrer mit diesem tückischen Gaukelspiel des gelben Fiebers noch unbekannten Pflegerinnen, welche in dem glänzenden Auge und dem zarten, rosigen Rot der Wangen die erfreulichen Zeichen der wiederkehrenden Gesundheit zu sehen glaubten, sollte bitter getäuscht werden. Das gelbe Gespenst hatte kein Erbarmen. Noch einmal malte es, seiner grausamen Gewohnheit gemäß, die lieblichen Rosen der Gesundheit auf die Wangen des jungen Mädchens und verschaffte sich den grausamen Genuß, der holden Mädchengestalt eine fast überirdische Schönheit noch zu verleihen, um dann in grausamem Kontraste – ihr den Stempel des »gelben Todes« auf die Züge zu drücken.
Die Feder schreckt vor der Aufgabe zurück, den namenlosen Schmerz auch nur annähernd zu beschreiben, der den unglücklichen Vater und die Freundinnen beim Verluste dieses liebenswürdigen Wesens ergriff. Es ist als ein Wunder zu betrachten, daß Jenkins selbst nicht der Wucht des Jammers, der ihn am Totenbette seiner einzigen Tochter niederbeugte, vollständig erlag. Viel, sehr viel war wohl hierbei dem selbst im furchtbarsten Schmerze gefaßten Wesen Evas zu verdanken, welche kein Mittel unversucht ließ, den völlig gebrochenen Mann aufzurichten, mit der Hoffnung auf ein einstiges Wiedersehen in jenen unbekannten Fernen, zu denen sein geliebtes Kind entrückt war. Und dennoch behielt die wackere Frau noch Kraft, Mut und Zeit genug, ihre Freundin Maud, welche gleichfalls nahe daran war zu unterliegen, in der Pflege des Lords mit derselben Sorgfalt und Aufopferung zu unterstützen, wie vorher.
Ein schöner Lohn dieser Treue und Beharrlichkeit war es wenigstens, daß Lord Duncombe, bald nachdem Nellie in der kühlen Erde gebettet war, deutliche und diesmal untrügliche Zeichen der Genesung zeigte. – Maud triumphierte selbst in ihrem Schmerz. Und ihr Triumph sollte recht behalten, denn binnen kurzem war in der Tat jede Gefahr für das Leben des Lords beseitigt und mit tränendem Auge konnte alsbald der Wiedergenesene seinem vereinsamten Gastfreunde teilnahmsvoll die Hand drücken.
Die Seuche ließ auch in den am schwersten heimgesuchten Distrikten endlich nach, und die außer Rand und Band gebrachten Verhältnisse kehrten allmählich in die altgewohnte Ordnung zurück. Nun dachte auch der Lord, nachdem es für ihn in seinem mutvollen Samariterwerk nichts mehr zu tun gab, an die Heimkehr. Der Aufenthalt in den Vereinigten Staaten war ihm durch die Ereignisse der letzten Wochen begreiflicherweise verleidet und er sehnte sich nach Ruhe und Erholung, nach einem Vergessen der grauenvollen Bilder, welche er in diesem Chaos menschlichen Elends hatte schauen müssen. Wie seine Liebe zu seiner schönen Tochter nach dieser Krankheit, in welcher sie ihre kindliche Zärtlichkeit so glänzend dargetan hatte, noch inniger geworden war, so war auch die unbegrenzte Hochachtung und warme Zuneigung, welche er für Eva von Anbeginn gehegt, noch mehr gewachsen. Sah er doch mit Recht, nächst seiner Tochter, in ihr seine Lebensretterin. Eva war durch den Tod der Mrs. Jenkins und Nellies gewissermaßen verwaist. Es lag auf der Hand, daß der Kaufherr seine kleine Mississippi-Villegiatur aufgeben und, wie er dies auch schon andeutungsweise hatte fallen lassen, sein unstetes Leben, als ein eigener » travelling agent«, wieder aufnehmen würde, um in der Abwechslung Vergessenheit oder doch Linderung für seinen Schmerz zu suchen. So war es denn fast natürlich, daß Lord Duncombe Eva das Angebot machte, bei ihm zu bleiben, und ihn und seine Tochter nach der »alten Welt« zu begleiten. Wir müssen eine Schilderung der Kämpfe übergehen, welche Evas Herz zu bestehen hatte, ehe sie zu dem Vorschlage des Lords und den flehentlichen Bitten Mauds ja sagte. Verdankte sie doch dem einsamen Manne, welcher sie in der bittersten Stunde ihres wechselvollen Daseins in sein Haus aufgenommen und seinem Kinde gleich behandelt hatte, nach ihrer Ansicht unendlich mehr, als sie durch ein ganzes Leben der Hingebung und sorgfältiger Pflege zurückzahlen konnte. Doch Jenkins selbst machte ihr den Kampf so leicht, als es bei ihrem feinfühlenden und dankbaren Herzen möglich war. Er verkannte keinen Augenblick die Vorteile, welche für Eva sich durch eine so günstige Gelegenheit, Amerika zu verlassen, darboten. Er fühlte recht wohl, wie das Herz der jungen Witwe höher schlagen mußte bei dem Gedanken, dem Flecken Erde wieder näher zu kommen, wo sie geboren war, wo sie ihren Gatten kennen gelernt. Und in dieser Erkenntnis bot der selbstlose Mann alles auf, um Eva zur Einwilligung zu veranlassen. Kurz und gut – der Tag kam, wo der Lord mit seiner Tochter und Eva sich von Jenkins verabschiedeten. Es war ein tränenvoller Abschied für Eva, – kaum weniger schwer wohl auch für Jenkins selbst. Doch – was konnte ihm jetzt, nach dem Verluste des liebsten, was er auf Erden gehabt, noch wirklich tiefen Kummer verursachen?
So kam es denn, daß Eva ein integrierender Bestandteil der Familie des Lord Duncombe wurde, in welche sie sich sehr bald nicht minder einlebte, und in welcher sie nicht minder geachtet und geliebt ward, als damals in dem Hause ihrer Freunde zu New-Orleans. Sie besuchte auf den ausdrücklichsten Wunsch des Lords in seiner und Mauds Begleitung ihren Heimatsort, – doch sie fand nur die Gräber ihrer Lieben und meist fremde oder doch teilnahmslose Gesichter, welche die aus fernen Zonen Heimgekehrte, deren Aussehen sich in dem Urwaldleben so charakteristisch verändert hatte, anstaunten wie ein interessantes Schaustück eines ethnologischen Museums. Auch nicht einen Gegenstand, außer den Gräbern ihrer Eltern, fand Eva, welcher sie hätte zu dem Wunsche veranlassen können, sich hier oder in der Nähe irgendein Heim zu schaffen, um innerhalb der Kreise zu leben, unter denen sie sich in ihrer Jugend bewegt hatte. So kostete es ihr denn keinerlei Überwindung, dem dringenden Wunsche des Lords und den Bitten ihrer Freundin und zweiten Schwester Maud zu willfahren und völlig und für immer in die Familie des Engländers einzutreten. Es ward, um diesem Verhältnisse alles Drückende und Peinliche für Eva zu benehmen, ihr vor der Welt die Stellung einer Gesellschafterin für Maud eingeräumt, und die Liberalität Lord Duncombes stattete diese Stellung mit einem Jahresgehalte und sonstigen Vergünstigungen aus, die geeignet waren, die einstige hinterwäldlerische Jägersfrau aller Sorgen für die Zukunft zu entheben.
So standen die Dinge, als die grausamste aller Schicksalsmächte, der nichts verschonende Tod, die liebliche Maud dahinraffte und dem Vater seinen Liebling, und Eva die wie eine Schwester geliebte Freundin entriß.
* * *
» Mille fois pardon!« rief der Marquis, der sichtlich widerstrebenden Eva galant die Hand küssend. »Bitte Sie, meine schöne Halbtochter Kolumbiens, und insbesondere auch Sie, werter Freund und Doktor, um Entschuldigung, daß ich das tête-à-tête zweier Landsleute und Freunde so grausam störe. Doch« – fügte er mit einer komisch-kläglichen Miene hinzu, »ich bin nur das unwillige Werkzeug einer höheren Macht. Der Lord sehnt sich erschrecklich nach Ihnen, Dottore. Ich hatte das Vergnügen, mit demselben eine kleine Konversation im Garten zu pflegen, – indessen wie könnte meine unbedeutende Gesellschaft diejenige unseres werten Äskulap und Freundes ersetzen? Mit einem Worte, – ich bin beauftragt, Sie vor Seine Lordschaft zu zitieren, Doktor Malder.«
Der Marquis sprach alles dies mit einem Tone so lustiger Bonhommie, daß auch der größte Argwohn nicht imstande gewesen wäre, aus demselben irgendwelche Ironie herauszuhören. Trotzdem kräuselte Eva fast verächtlich die Lippen, während ihre Augen das lächelnde Gesicht des Marquis streiften, als derselbe zu Doktor Malder gewendet sprach.
Dieser hatte offenbar allen Argwohn, den Eva ihm gegen den Marquis hatte einflüstern wollen, vergessen. Er reichte dem Franzosen lächelnd die Hand und sagte:
»Immer derselbe Spötter, Marquis! Man möchte glauben, Sie beneideten mich um dieses tête-à-tête und es spräche eine Art Galgenhumor aus Ihnen.«
Ein rascher Blick, halb forschend, halb ärgerlich, aus den dunklen Augen des Gascogners schoß nach dem Gesichte Malders hinüber. Es schien, als sei die offenbar sehr harmlos gemeinte Neckerei des Arztes ein scharfer Hieb gewesen, welcher den gewandten Weltmann für den Augenblick aus seinem gewohnten Gleichgewicht brachte. Der Doktor bemerkte diese Wirkung seiner in der Scherzlaune hingeworfenen Worte nicht. Eva hingegen hatte den häßlichen Blick des Marquis wohl gesehen, und der bittere Haß gegen Malder, der aus demselben sprach, war ihrem scharfen Auge keineswegs entgangen. Sie faßte den Entschluß, den Marquis um so genauer zu beobachten und um jeden Preis, soweit es in ihrer Macht stand, den Mann, der zum ersten Male, seit dem Tode ihres unglücklichen Gatten, ein wärmeres Gefühl in ihrem Herzen zu erwecken verstanden hatte, gegen die gefährlichen Ränke des Franzosen zu schützen. Denn daß glühende Eifersucht die Seele des Marquis erfüllte, daß in dieser zunächst sein Haß gegen den Deutschen wurzelte, war ihr in den Wochen, während welcher sie in Gesellschaft dieser beiden Männer so häufig verkehrt, längst klar geworden. Daß noch andere Motive des Antagonismus zwischen den beiden bestanden, daß der Marquis außerdem noch das gehorsame Werkzeug eines mächtigeren Ränkeschmiedes war, das konnte sie freilich damals noch nicht ahnen.
Der Marquis hatte sich von seiner augenblicklichen Verlegenheit rasch erholt. Das verbindliche Lächeln des Diplomaten schwebte wiederum auf seinen Lippen, als er sagte:
»Allen Respekt vor Ihrer Bescheidenheit, Dottore, – allein Sie wissen selbst am besten, was Sie unserm Lord wert sind, abgesehen von Ihrer Eigenschaft als Arzt. Also – zieren Sie sich nicht und werfen Sie mir überdies nicht meine unbegrenzte Verehrung für unsere gemeinsame, schöne Freundin vor.«
Bei diesen Worten machte er vor Eva eine galante Verbeugung. Der Doktor wandte sich lachend zur Tür.
»Nun wohl, ich gehe,« sagte er, »um nach meinem Patienten zu sehen. Begleiten Sie mich, Marquis, oder –«
»Ich habe mich schon von dem Lord verabschiedet, – indessen es wäre mir lieb, wenn ich Sie noch sprechen könnte, ehe Sie fortgehen. Darf ich Sie hier erwarten?«
Mit einer zusagenden Handbewegung verließ Doktor Malder das Zimmer. Kaum war der Marquis mit Eva allein, als sich sein ganzes Wesen mit einem Male veränderte. Das Lächeln, welches soeben noch auf seinen Lippen gespielt hatte, verschwand und machte einer Miene nervöser Erregung Platz, welche sich auch in seinem ganzen sonstigen Gebahren zeigte. Ohne ein Wort zu reden blickte er verstohlen zu Eva hinüber und zupfte verlegen an seinem Schnurrbarte. Dabei glühte in seinen Augen, welche die elegante Gestalt der Deutsch-Amerikanerin verschlingen zu wollen schienen, ein unruhiges Feuer, welches deutlich genug Kunde gab, daß in diesem Augenblick ein ungewöhnlich heftiger Kampf sich im Innern dieses scheinbar so oberflächlich veranlagten Mannes abspielte. Plötzlich trat er Eva einige Schritte näher und sagte mit mühsam unterdrückter Erregung und gedämpfter Stimme:
»Eva – ich muß heute eine Frage an Sie stellen. Wollen Sie mir dieselbe der Wahrheit gemäß beantworten?«
Die junge Witwe überhörte absichtlich die vertrauliche Anrede. Sie hatte den Entschluß gefaßt, vorsichtig zu sein und den Marquis durch einen mäßigen Grad scheinbaren Entgegenkommens sicher zu machen. – – Sie zwang sich daher zu einem gleichgültigen Lächeln, während sie erwiderte:
»Halten Sie mich nicht für sehr wahrheitsliebend, Herr Marquis? Sie sind sonst galanter.«
»Mrs. Robertson – Eva – keine ausweichenden Antworten in diesem Augenblick! Ich bitte Sie darum! Darf ich offen zu Ihnen reden?«
»Aber, mein Gott, Marquis! So reden Sie doch! Ich verstehe mir Ihre Erregung gar nicht zu deuten!«
»Nun denn, Eva, so sagen Sie mir offen und ehrlich: Warum stoßen Sie mich so beharrlich von sich? Was ist es, das Sie so sehr gegen mich einnimmt?«
Eine leichte Röte flog über das Gesicht der schönen Frau. Sie mußte sich bezwingen, um nicht aus ihrer Rolle zu fallen. Ernst, jedoch nicht in abweisend unfreundlichem Tone, entgegnete sie:
»Ich habe Sie schon einmal, als Sie gewisse Fragen an mich richteten und gewisse Anträge an mich stellten, darauf aufmerksam gemacht, daß ich in diesem Punkte Ihnen kein Gehör schenken kann. Wenn ich dem entsprechend zurückhaltend bin, Herr Marquis, so werden Sie das doch wohl begreiflich finden. Von einem Eingenommensein gegen Sie ist dabei keineswegs die Rede. Ich habe dazu durchaus keinen Grund, ja würde Ihnen gegenüber sogar weniger zurückhaltend sein, wenn Sie mich versichern könnten, daß Sie niemals wieder jene Punkte zur Sprache bringen wollten, die ich nun für immer als abgetan betrachtet wissen möchte. Sie sehen also,« setzte sie lächelnd hinzu, »wenn Ihnen an meiner Freundschaft etwas gelegen ist, so steht die Erwerbung derselben völlig in Ihrer Hand.«
Der Marquis biß sich bei dieser in ruhigstem Tone gegebenen Antwort auf die Lippen. Er fühlte, daß der Entschluß Evas feststand, und daß es ihm im Guten wohl niemals gelingen würde, dieses Weib, für welches er, – darüber konnte er sich selbst nicht täuschen, – von Tag zu Tag in immer heftigerer Leidenschaft entbrannte, zu gewinnen. Und jetzt – gerade jetzt mußte er Gewißheit haben! Die ganze Zukunft hing für ihn von dieser Entscheidung ab! Diese Frau war imstande ihn wieder zu dem zu machen, was er gewesen, ehe ein unglückseliges Geschick ihn in die Hände der Jesuiten geworfen. Er empfand, daß die Liebe zu ihr, wenn erwidert, ihn läutern, ihm Mut geben würde, jene verhaßten Sklavenketten von sich zu werfen, und mit Eva vereint, fern von den Schauplätzen seiner gegenwärtigen entwürdigenden Tätigkeit, herausgerissen aus dieser Umgebung, welche ihn zum gemeinen Spion und Heuchler gemacht, ein neues, glückliches Leben zu beginnen. Und jetzt oder niemals mußte diese Umwandlung geschehen, denn die finstern Mächte, in deren Hände er sich begeben, trieben ihn zu einer Krisis, in welcher sich der alte Kampf endgültig entscheiden mußte. So intim er mit Doktor Malder geworden war, so sehr er, – und bis zu einem gewissen Grade mit Recht, – das Vertrauen des Deutschen zu besitzen meinte, so war es ihm doch nicht gelungen, die Hauptaufgabe zu erfüllen, welche ihm von seinem Herrn und Meister von der Jesusgasse auferlegt worden, nämlich den Doktor über seine Absichten, betreffs Frau Montal, auszuforschen und vor allem festzustellen, ob Malder, trotz der kleinen Eingriffe, die sich Pater Mariano in dessen Privatkorrespondenz, wie wir wissen, erlaubte, von der verunglückten römischen Mission seiner Klientin und ihrer Gefangennahme Wind bekommen habe. In diesem Punkte war der Doktor ausnehmend »zugeknöpft«, und alle Versuche, welche der Marquis bisher gemacht hatte, um ihn ganz unbemerkt zu einem Aussprechen über diese Angelegenheit hinzuleiten, waren glänzend gescheitert. In plumper Weise aber selbst davon zu beginnen und somit seine Kenntnis davon zu verraten, den Nimbus völliger Harmlosigkeit von selbst zu zerstören, das war natürlich nicht möglich.
So hatte denn gerade am Tage vor demjenigen, an welchem unsere Erzählung gegenwärtig angelangt ist, der Marquis eine sehr lange und augenscheinlich wichtige Konferenz mit Pater Mariano, in welcher der letztere, auf Grund seiner auf eigener Faust gemachten Entdeckungen, dem Marquis ohne Umschweife die Alternative stellte, entweder den Doktor auf jede beliebige Weise unschädlich zu machen, oder die Folgen auf sich zu nehmen, welche der Ungehorsam gegen die strikten Vorschriften des Ordens für ihn, den Marquis, haben werde. Der Franzose witterte bezüglich Evas nur zu wohl den Nebenbuhler in Doktor Malder, und zwar fühlte er instinktiv, daß der Deutsche der begünstigte Nebenbuhler sei. Darum haßte er ihn aus tiefster Seele. Ihm hätte es wahrlich fern gelegen, darüber zu wachen, daß Malder kein Haar gekrümmt werde, und ein Beiseiteschaffen desselben für immer hätte mit seinen, des Marquis Wünschen und Interessen durchaus übereingestimmt. Aber – er selbst sollte das Werkzeug der Vernichtung sein?! Er selbst sollte wie ein gedungener Bravo, zu der Rolle des Heuchlers und falschen Freundes auch noch die Rolle des Mörders fügen!? Dieser furchtbare Gedanke, diese Verpflichtung, welche ihm Tag und Nacht vorschwebte, – unterstützt von dem Knallen der jesuitischen Sklavenpeitsche, – hatte ihn zu dem Entschlusse der Verzweiflung getrieben. Entweder die Liebe Evas rettete ihn, und er brach die Fesseln für immer, oder – er folgte seinem furchtbaren Fatum und vernichtete ihn, den er haßte, den er überdies im Auftrage eines Mächtigeren – hassen mußte! Mit diesem Entschlusse, mit dem festen Vorsatze, eine entscheidende und unzweideutige Erklärung von Eva zu erlangen, war er heute hier erschienen, und wohl selten hatte sich unter seiner üblichen Maske weltmännischer Galanterie eine gewaltigere Erregung seines Innern verborgen, als in diesem Augenblicke, wo er vor Eva stand, von ihr den Urteilsspruch über seine und seines Nebenbuhlers nächste Zukunft erwartend.
»Freundschaft – Freundschaft,« sagte er endlich, krampfhaft die Stuhllehne mit der Hand umklammernd, auf welche er sich während des Gespräches gestützt hatte. »Ein jammervoller Ersatz für Liebe, Eva. Ich verlange Brot von Ihnen und Sie geben mir einen Stein! Doch es soll, es darf dies nicht Ihr letztes Wort sein!« fügte er ungestüm hinzu, Eva noch einen Schritt näher tretend. »Sie ahnen nicht, Eva, wie ich Sie liebe, Sie ahnen nicht, welches Feuer unter dieser Decke formeller Galanterie lodert. Wenn Sie denn, wie Sie sagen, nicht gegen mich eingenommen sind, – nun, so lernen Sie mich lieben. Ich bin reich, ich bin unabhängig, ich kann Ihnen, wenn Sie mit mir aus diesen monotonen Regionen der Alltäglichkeit in die weite Welt hinausziehen, ein Leben bieten, so reich an Freuden, an bunten Abwechslungen und Zerstreuungen, wie kein anderer von denen, die sich hier Ihnen nahen oder noch zu nahen versuchen werden. Ich werde Sie auf Händen tragen, Eva, und Sie werden meinem inhaltsleeren Leben einen Zweck geben, Sie werden aus dem ziellos in den Tag hineinlebenden Genußmenschen einen ernsten, tatkräftigen Mann machen, der an Ihrer Seite nach Idealen zu streben und der Welt zu nützen fähig sein wird! Gilt Ihnen das nichts, Eva? Achten Sie den Wert einer Liebe, die einen solchen Einfluß auf ein Mannesherz auszuüben vermag, so gering, daß Sie es vorziehen, einem falschen Vorurteile zuliebe, hartnäckig bei Ihrer vielleicht nur in der ersten Überraschung gegebenen Erklärung zu verharren? Sind Sie, das praktische, lebenserfahrene Weib, die zwei Welten gesehen, nicht imstande, Ihren eigenen Vorteil zu erkennen? Sprechen Sie, Eva, – sprechen Sie! Entscheiden Sie sich, und machen Sie mich und sich selbst glücklich!«
War es nicht ein sonderbares Walten des Schicksals, welches Eva nun zum zweiten Male in ihrem Leben in die Lage versetzte, die Liebesschwüre eines Mannes anhören zu müssen, den sie verabscheute; zum zweiten Male, wie sie wohl fühlte, durch das unumwundene Geständnis ihrer Abneigung den zu gefährden, für den ihr Herz wirklich warme Liebe fühlte; zum zweiten Male es hören zu müssen, daß ihre Liebe einen Mann, der sich selbst offen vor ihr anklagte, bessern und läutern solle! Ein kalter Schauer rieselte durch die Glieder Evas, als sie sich diesen Umstand vergegenwärtigte und sich unwillkürlich jener furchtbaren Szene im Urwalde erinnerte, wo der bleiche Gerhard, wenige Schritte von dem blutigen Leichnam ihres gemordeten Gatten, vor ihr kniete und ihr zurief: »Eva, – denke an unsere Jugendzeit! Du kannst mich leiten, du wirst einen andern, bessern Menschen aus mir machen!« – – War die Situation nicht jetzt eine ganz ähnliche, wenngleich die Umgebung und die sonstigen Nebenumstände verschiedene waren? Und sollte diese unglückselige Liebe, die, – das wußte sie nur zu wohl, – nie und nimmer Erwiderung auf ihrer Seite finden konnte, – gleich grauenvolle, blutige Früchte tragen?
»Bedenken Sie meine hilflose Lage, Marquis!« stammelte sie endlich, nachdem sie sich einigermaßen von dem Eindrucke dieser Erinnerungen erholt! »Seien Sie ein Mann und quälen Sie mich nicht länger! Ich kann von meinem Entschlusse nicht zurückgehen, denn derselbe ist fest in mir gewurzelt und war keineswegs, wie Sie vermuten, die augenblickliche Folge der Überraschung angesichts der ersten Erklärung, die Sie mir vor etwa vierzehn Tagen an dieser selben Stelle gemacht haben, und die ich, das werden Sie wohl bemerkt haben, als tiefstes Geheimnis unverletzt bewahrt habe. Gehen Sie, Marquis, ich bitte Sie darum!«
Der Abgewiesene machte seiner Erbitterung in einem höhnischen Lachen Luft.
»Oh, ich weiß es wohl, welches der wahre Grund Ihrer Weigerung ist!«
Der verletzte Stolz des Weibes begann sich bei dieser Äußerung des Franzosen in der Brust Evas zu regen.
»Die Weigerung an sich, Herr Marquis,« sagte sie in festem, gemessenem Tone, »sollte Ihnen, als Ehrenmann genügen. Die Gründe dafür sind nebensächlich. Jedenfalls bin ich keineswegs verpflichtet, Ihnen dieselben auseinander zu setzen.«
»Das wäre auch wahrhaftig in diesem Falle nicht notwendig,« versetzte der Marquis mit ironischem Lächeln. »Wo das Herz nicht mehr frei ist, – da muß ich freilich zu spät kommen!«
Eva richtete sich hoch auf und maß den Franzosen mit einem flammenden Blicke. Ihre offene, energische Natur bäumte sich mit aller Gewalt dagegen auf, noch länger die Gefühle des tiefen Abscheus, welche sie gegen diesen Mann hegte, zu verbergen.
»Sie gehen zu weit, mein Herr! Zwingen Sie mich nicht, mich an meinen natürlichen Beschützer, den Herrn dieses Hauses zu wenden, und seinen Beistand gegen Ihre Beleidigungen zu erbitten.«
Totenblässe überzog bei diesen Worten das bisher in der Erregung gerötete Gesicht des Marquis. Das Gefühl seiner Ohnmacht diesem stolzen, selbstbewußten Weibe gegenüber verdoppelte seinen Ingrimm und raubte ihm den letzten Rest seiner diplomatischen Ruhe und Gelassenheit.
»Oh – haben Sie keine Furcht, Mrs. Robertson, daß ich Sie viel länger mit meiner Gegenwart belästigen werde!« zischte er tonlos hervor. »Es wird der Hilfe des Portiers nicht bedürfen. Es genügt mir, zu wissen, daß ich auf dem richtigen Pfade bin, und Sie sollen wenigstens erfahren, schöne Frau, daß es dem Marquis de Santillier nicht an dem nötigen Scharfblick fehlt. Ich muß vor dem deutschen Arzte zurücktreten, Madame, der seine landsmännischen Beziehungen zu Ihnen in geschickter Weise auszunützen verstanden hat!«
Die Geduld Evas hatte bei diesem Ausfalle ein Ende erreicht. Sich hoch aufrichtend, trat sie dicht an den Marquis heran und rief mit zornbebender Stimme:
»Und wenn dem so wäre, Herr Marquis de Santillier!? – – habe ich Ihnen Rechenschaft darüber zu geben? Dessen bin ich fest überzeugt, daß Doktor Malder, der ein Ehrenmann durch und durch ist, sich niemals dazu hinreißen lassen würde, einer Dame in dieser Weise entgegen zu treten, wenn sie seine Liebesbewerbungen zurückweist. Seine Galantrie ist nicht Maske, seine Höflichkeit ist nicht Heuchelei, und – Herr Marquis,« setzte sie mit scharfer Betonung jedes Wortes hinzu, »Doktor Malder wäre auch niemals imstande, sich in die Freundschaft eines Mannes hinein zu schmeicheln, den er innerlich aus tiefster Seele haßt!«
Einen Moment überzog wieder jene fahle Blässe der Wut das Gesicht des Franzosen, dann ging mit einem Male eine merkwürdige Veränderung mit ihm vor. Sein Gesicht nahm einen fast melancholischen Ausdruck an, und es war ein Blick fast ehrfurchtsvoller Scheu, mit welchem er das im Zorne noch verschönte Weib vor sich ansah. Seine Erregung schien verflogen zu sein und einem gemessenen Ernste Platz gemacht zu haben. Es sah aus, als fühlte er, daß er zu weit gegangen sei, und fuhr sich mit der Hand über die Stirn und blickte um sich, als erwache er eben aus einem wüsten, beängstigenden Traume.
»Ich hätte nicht geglaubt,« sagte er endlich in ernstem Tone, »daß ich mich jemals hätte soweit hinreißen lassen können. Wenn Sie können, Mrs. Robertson, so verzeihen Sie mir! Glauben Sie mir eines gewiß, daß Sie meine Gefühle, gegenüber Doktor Malder, falsch beurteilen. Ich leugne das augenblickliche Aufwallen einer eifersüchtigen Regung nicht. Doch das ist menschlich und natürlich. Messen Sie daher meine wahren Gesinnungen nicht mit dem Maßstabe meiner in der höchsten Erregung gesprochenen Worte, die ich selbst auf das lebhafteste bedauere. Sie werden niemals wieder aus meinem Munde eine Erwähnung dieses Gegenstandes hören. Vielleicht können wir wieder Freunde werden, – doch für jetzt werde ich Sie von meiner Gegenwart befreien. Leben Sie wohl, Mrs. Robertson.«
Mit einer Verbeugung verließ der Franzose das Zimmer. Eva sah ihm mit gemischten Gefühlen nach. Die Veränderung in dem Wesen des Marquis war eine so plötzliche und zugleich so auffällige, daß sie kaum fähig war, an die Echtheit derselben zu glauben. Unwillkürlich drängte sich ihr der Verdacht auf, daß sie es hier wiederum mit einer gut gespielten Komödie zu tun habe, welche vor allem darauf hinzielte, sie über die wahren Gefühle des Marquis gegen Doktor Malder zu täuschen, welche ersterer in dem Augenblicke heftiger Erregung unvorsichtigerweise verraten hatte. War dies der Fall, so erschien in ihren Augen die Gefahr für den geliebten Mann noch größer. Worin diese bestand, das wußte sie selbst kaum zu sagen. Es war eben nur der scharfe Instinkt des Weibes, welcher dieses ungewisse Bangen in ihr erregte. Und diesem Instinkte gemäß beschloß sie zu handeln, so rasch zu handeln und so vorsichtig, als es unter den obwaltenden Umständen möglich war. Sie selbst mußte sich, das war ihr klar, möglichst im Hintergrunde halten, da ja der Marquis, wenn er Malder gegenüber eine falsche Rolle spielte, auf Eva zweifellos ein scharfes Augenmerk richten werde. So galt es denn, eine dritte Person ins Vertrauen zu ziehen und diese mit der möglichst sorgfältigen Beobachtung des Marquis zu betrauen. Doch wo war eine solche hierzu geeignete Person schnell zu finden? Eile schien Eva vonnöten. Da sie, – und zwar, wie wir wissen, nicht unrichtig, – kombinierte, irgendein besonderes, plötzliches Ereignis habe den Marquis veranlaßt, sie so ungestüm und in so unerwarteter Weise zu rascher Entscheidung zu drängen, so vermutete sie auch, daß, wenn er irgendeinen feindlichen Anschlag gegen Doktor Malder vorhabe, er denselben nunmehr auch rasch zum Austrage bringen werde.
Halt – jetzt hatte sie den Rechten gefunden. Bloxam! Das alte Faktotum des Hauses hing, wie wir wissen, mit ganz besonderer Zuneigung an Eva, und er würde so wie so ihr jeden Gefallen getan haben, welchen sie von ihm gefordert haben würde. In dem gegebenen Falle war Eva seiner Bereitwilligkeit um so gewisser, als der Diener nach dem alten Prinzip: » les amis de mes amis sont mes amis«, dem deutschen Arzte genau dieselben Sympathien entgegenbrachte, wie der Herr, und zweifellos doppelt bereit sein würde, da wacker einzugreifen, wo es sich um Evas und Malders Interesse gleichzeitig handelte.
Eva zog, dem augenblicklichen Impulse rasch folgend, die Glocke. Bloxam erschien auf den Ruf derselben. Man sah es den Augen des alten, aber offenbar noch rüstigen und handfesten Mannes an, daß es ihm ein Vergnügen war, Eva dienlich sein zu können.
»Bloxam!« rief sie ihm freundlich, doch mit hastiger und leiser Stimme entgegen. »Komm näher heran zu mir. Ich habe dir etwas anzuvertrauen, was kein anderer hören soll.«
»Meine Seele soll ewig im Fegefeuer braten,« sagte der wackere Irländer mit komischem Ernste, indem er dem Geheiß Evas folgte, »wenn irgendein menschliches Wesen etwas davon erfahren soll, wenn's erst einmal hier hinein gekommen ist.« Und dabei zeigte er auf seinen Kopf, und machte dann eine bezeichnende Gebärde mit dem Finger, in der Richtung seines rechten und linken Ohres.
»Oh, ich weiß, daß du schweigen kannst,« sagte Eva, über diese vielsagende Gebärdensprache unwillkürlich lächelnd. »Doch, Bloxam, du sollst nicht nur schweigen, sondern auch handeln, für mich und – für einen, den wir beide ehren und achten. Dazu bist du bereit, nicht wahr?«
»Oh, Mrs. Eve« (mit dieser vertraulichen Anrede beehrte der Irländer die junge Witwe schon seit den Tagen gemeinsamen Leides und Schreckens in New-Orleans), »Sie brauchen mir nur zu sagen, was es zu tun gibt, und Sie werden Bloxam auf dem rechten Flecken finden. Handelt es sich um Se. Lordschaft?«
»Nein, Bloxam, das nicht. Ich will dir gleich kurz auseinander setzen, was du zu tun hast, denn ich glaube, wir haben nicht viel Zeit zu verlieren. Doktor Malder war stets freundlich gegen dich?«
» God bless your soul, Mrs. Eve! – der ist gegen jedermann freundlich. Es liegt ihm einmal im Blute. Das ist, meiner Treu, ein anderer Kerl, als der windige Pflasterkasten in New-Orleans, der seine Nase nicht mehr in das Haus stecken wollte, nachdem der yellow Jack Mrs. Jenkins in seine Klauen gekriegt hatte. Hätten wir den in der verteufelten Cottage an der Sumpfpfütze von Mississippi gehabt, oder nachher, wie Miß Maud erkrankte, so –«
»Gut, gut, Bloxam,« unterbrach Eva den Redefluß des Irländers, »ich weiß schon, was du sagen willst. Doch wir können uns jetzt mit diesen traurigen Erinnerungen nicht aufhalten. Ich sehe jedenfalls, daß du große Stücke auf Doktor Malder hältst, und daß du somit gern bereit sein willst, ihm einen Dienst zu erweisen.«
»Oh, jeden, jeden, den ich ihm erweisen kann, Mrs. Eve!« rief Bloxam mit dem Ausdrucke eines aufrichtigen Enthusiasmus. »Hat er uns nicht Se. Lordschaft gerettet, den sonst diese verteufelten römischen Straßenräuber wahrhaftig ins Grab gebracht hätten? Sagen Sie mir nur, was ich tun soll!«
»Vor allen Dingen – kennst du den Marquis de Santillier genauer?«
»Den Franzosen? Hm. Wüßte nicht. Scheint mir ein lustiger Geselle zu sein, der selbst Se. Lordschaft zum Lachen zu bringen versteht, was meiner Treu ein Kunststück ist, Mrs. Eve, so wahr, als Pater Mac Carthy in Limmerick meine Braut im Beichtstuhle geküßt hat.«
»Ich will dir sagen, Bloxam, was ich vom Marquis de Santillier mit Bestimmtheit zu wissen glaube. Er ist ein Heuchler, der es mit seiner angeblichen Freundschaft zu Doktor Malder nicht ehrlich meint!«
Der Irländer riß vor Erstaunen weit die Augen auf.
»Ist das möglich, Mrs. Eve?« sagte er. »Bei meinem Schutzpatron, ich habe geglaubt, es gibt auf der Welt keine größeren Freunde, als diese beiden!«
»Und doch ist es so, wie ich dir andeute, Bloxam,« fuhr Eva fort. »Doch paß auf: Willst du das tun, was ich dir jetzt auftrage, ohne nach den Gründen zu fragen? Es würde zu umständlich sein, dir alles genau auseinander zu setzen.«
» Of course, Mrs. Eve! Sie brauchen bloß zu sprechen, was Sie wollen. Ich höre und werde tun, was Sie wollen. Ich weiß sehr gut, daß das, was Sie von mir verlangen, nichts Schlechtes ist, und nichts, was gegen Se. Lordschaft, meinen Herrn geht. That's all!«
»Nun wohl, Bloxam, ich sehe, daß ich mich auf dich verlassen kann. So höre: Ich habe gewichtige Gründe, anzunehmen, daß der Marquis de Santillier einen bösen Anschlag gegen Doktor Malder vor hat, vielleicht sogar ihm nach dem Leben trachtet.«
»Mrs. Eve!« – – fiel ihr Bloxam mit dem Tone maßloser Überraschung ins Wort.
»Bloxam,« unterbrach ihn Eva, »bedenke dein Versprechen, daß du, ohne zu fragen, meinen Auftrag ausführen wolltest. Dazu gehört vor allem auch, daß du mir Glauben schenkst und meinen Mitteilungen nicht von vornherein Zweifel entgegensetzest.«
»Nun – ich glaube Ihnen ja, Mrs. Eve,« stotterte der Irländer, offenbar noch immer bestürzt über das Überraschende und Rätselhafte der Andeutungen Evas. »Aber – da soll doch gleich – –! Wer hätte das wohl denken können! Dieser spitzbübische Franzose, der so aussieht, als könne er kaum einer Fliege den Kopf abreißen!«
»Allerdings, und doch ist dem fast zweifellos so, wie ich sage. Fast zweifellos, Bloxam, hörst du? Es gilt also, noch sicher festzustellen, ob mein Verdacht begründet ist oder nicht, und das ist die Aufgabe, welche dir zufällt.«
»Oh, ich verstehe, ich soll ein Auge auf diesen windigen Franzosen haben.«
»Auf beide, Bloxam, auf beide! Ich werde dir das gleich erklären. Kannst du dich auf irgendeine Weise für heute und vielleicht für den folgenden Tag ein wenig vom Dienste des Lords freimachen?«
»Hm – jetzt, wo Se. Lordschaft krank sind« – – versetzte der Irländer, nachdenklich mit dem Kopfe schüttelnd. »Doch – darf ich ihm sagen, um was es sich handelt, so –«
»Unter keiner Bedingung!« fiel ihm Eva rasch ins Wort. »Er darf vorläufig nicht ein Wort von der Angelegenheit wissen. Es würde ihn unnütz aufregen. Doch, Bloxam, das darf kein Hindernis sein. Bedenke, um was es sich handelt! Es liegt vielleicht in deiner Hand, demjenigen das Leben zu retten, welchem dein Herr, an dem du mit solcher Treue hängst, sein Leben verdankt! Ich bin überzeugt, daß du einen Weg finden wirst, einen geeigneten Vorwand, deine häuslichen Beschäftigungen hier auf kurze Zeit andern Händen zu übertragen.«
Diese Worte schienen ihren Eindruck auf den Irländer nicht zu verfehlen. Er nahm eine mehr entschlossene Miene an und sagte:
» Very well, Mrs. Eve. Ich werde Ihren Wunsch erfüllen. Sie haben Recht, es muß sich ein Weg finden, um unserm guten Doktor dienen zu können. Sagen Sie mir genau, was ich zu tun habe.«
»Glaubst du einiges Geschick zum Detektiv zu besitzen?«
»Oh, ich denke doch, Mrs. Eve,« erwiderte Bloxam, sich stramm aufrichtend, mit einer schlauen Miene. »Bin zwar kein junger Springinsfeld mehr und mag manches von den » tricks« und » manners« eines guten Londoner Bob »Bob« ist eigentlich eine Abkürzung für Robert. Mit diesem Scherznamen bezeichnet der Londoner seine Schutzleute. verlernt haben, aber – Mrs. Eve, Sie werden sich wohl erinnern können, daß, als Se. Lordschaft mich in seine Dienste nahm und ich zum ersten Male dieses unglückselige Land hier mit ihm betrat, ich ein ganz strammes Mitglied der Londoner ›Police-Force‹ war.«
»Ganz recht,« erwiderte Eva, »ich erinnere mich, daß Lord Duncombe mit mir davon gesprochen hat. Nun, um so besser. Denn deine Arbeit in dieser Angelegenheit wird sich zuvörderst auf Detektivdienste beschränken. Weißt du, wo der Marquis de Santillier wohnt?«
»Gewiß, Mrs. Eve. Habe manches Billett von Se. Lordschaft zu dem Franzosen getragen.«
»Du kennst natürlich auch die Wohnung Doktor Malders?«
»Freilich kenne ich sie. Hotel de Londres.«
»Ganz recht. Du mußt nun zunächst zu erfahren suchen, ob der Marquis sich von hier aus – doch halt, ist er noch im Hause? Er sprach davon, auf den Doktor warten zu wollen, weil er mit ihm zu sprechen habe.«
» Oh bless you no, Mrs. Eve. Der Franzose stürmte vorhin die Treppe hinunter, nachdem er aus dem Parlor hinausgetreten war, und jagte davon, als ob ihm der leibhaftige Teufel auf den Fersen säße.«
»Nun, so sieh zu, Bloxam,« sagte Eva, durch diese Mitteilung in ihren Befürchtungen nicht wenig bestärkt, »daß du so bald wie möglich feststellen kannst, ob der Marquis sich nach seiner Wohnung begeben hat oder irgend wo anders hin. Kannst du im letzteren Falle ausfindig machen, wo er sich hinbegeben, um so besser. Die Hauptsache ist die, daß du genau aufpaßt, ob im Laufe des heutigen Tages Doktor Malder und der Marquis zusammenkommen. Sobald du diesen Fall eintreten siehst, verdoppele deine Wachsamkeit, wende alle Mittel der Schlauheit an, spare kein Geld, – es steht dir reichlich zu Gebote, – um heraus zu bekommen, wohin sich etwa beide begeben oder was zwischen ihnen vorgeht. Sobald du irgendeine Gefahr für Doktor Malder vermutest, schreite sofort ein. Ich bin fest überzeugt, daß ich alles das ruhig deiner Geschicklichkeit, deiner Klugheit und Vorsicht überlassen kann. Und ich bitte dich dringend, Bloxam, daß du mich, soweit möglich, von jedem wichtigen Vorgange rasch in Kenntnis setzest. Begreifst du jetzt, was du ungefähr zu tun hast, und wirst du imstande sein, es auszuführen?«
»Alles in Ordnung, Mrs. Eve,« sagte der Irländer. »Jetzt weiß ich schon, wie der Hase läuft, und Sie sollen sehen, daß ich es an nichts werde fehlen lassen. Goodness gracious – der Doktor Malder ist fast zu beneiden, Mrs. Eve! Eine bessere Beschützerin kann er sich nicht wünschen, und ich wüßte, was ich an seiner Stelle täte, wenn wir ihn aus der Patsche herausbringen, in die der verteufelte Franzose ihn stürzen will, um seine Dankbarkeit Ihnen gegenüber –«
»Genug, genug, Bloxam,« unterbrach ihn Eva, während eine leichte Röte ihr Nacken und Wangen färbte. »Diese Bemerkungen gehören nicht zur Sache, und wir müssen bei dem einen, wichtigsten Punkte bleiben. Wirst du dich gleich frei machen können?«
»So schnell als nur irgend möglich, mache ich mich an die Arbeit. Sie können sicher sein, daß ich nichts versäumen werde.«
»Ich glaube es dir gern, Bloxam,« entgegnete Eva freundlich, dem alten Faktotum des Hauses die Hand reichend. »Und nun beeile dich, – irre ich nicht, so höre ich draußen die Stimme des Lord Duncombe. Sieh zu, daß du ihn sogleich sprechen kannst!«
Während der Irländer hinauseilte, um von seinem Herrn, unter einem plausiblen Vorwand, einen kurzen Urlaub zu erlangen, raffte Eva ihre Handarbeit zusammen, um sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen. Sie vermutete, daß Lord Duncombe, wie er dies seit seiner Rekonvaleszenz häufig zu tun pflegte, sich auf einige Zeit in den Parlor begeben würde, um noch mit Doktor Malder zu plaudern, und sie befand sich augenblicklich, unter dem Eindrucke der Szene mit dem Marquis, in solcher Aufregung, daß sie es nicht über sich bringen konnte, in diesem Seelenzustande dem Arzte zu begegnen. Kaum hatte sie den Parlor verlassen, als auch in der Tat Lord Duncombe in einem von einem jüngeren Bediensteten des Hauses geschobenen Rollsessel, begleitet von seinem Freunde, erschien.
Der Lord, wenngleich sein Gesicht sehr deutlich die Spuren der kaum überstandenen Krankheit trug und sein Körper daher momentan nicht die charakteristische »Strammheit« zeigte, welche bekanntlich den alten englischen Aristokraten, der bis in sein spätestes Lebensalter dem leibesübenden Sport huldigt, auszeichnet, so verriet doch jede Linie dieses im Alter schönen Gesichtes, das offene, klare Auge mit dem festen Blick und der ausdrucksvolle Schnitt der Züge einen jener interessanten Charaktere, die wohl imstande sind, hier und da die ihnen »philisterhaft« erscheinenden Bande der gesellschaftlichen Ordnung kühn zu durchbrechen, einer kleinlich gemeinen Handlung aber nicht fähig sind, oder wenigstens, wenn sie jemals sich zu einer solchen haben hinreißen lassen, in aufrichtiger Reue bereit sind, ihr Leben für die Sühne derselben einzusetzen.
Augenblicklich freilich strahlte wenig Leben, wenig von dem genialen Feuer, das diesem Manne, von dessen wilder Abenteuerlust in der Jugend wir bereits gehört haben, innewohnte, aus den Augen wieder. Ein Schatten düsteren Trübsinnes lag über seinem Gesichte ausgebreitet, und seine Augen starrten, während der Diener den Stuhl auf seinen Wink zu demselben Fenster rollte, an welchem Eva gesessen, ins Leere, als erblickten sie in weiter Ferne allerlei melancholisch stimmende Nebelbilder, welche sich durch keine Macht der Welt verscheuchen lassen wollten. Der Arzt, nachdem er einen raschen und anscheinend enttäuschten Blick durch den Raum geworfen hatte, – er hatte offenbar gehofft, Eva noch hier zu finden, – sah mit dem Ausdrucke der Besorgnis und des Mitleides auf seinen Patienten, während er auf dessen stumme Bitte an seiner Seite Platz nahm.
»Es wird hohe Zeit, Mylord,« sagte er endlich, »daß Sie wieder etwas hinaus kommen und mehr von der Welt sehen, als die Via nazionale. Dieses Gebanntsein an die kleine, enge Welt der Krankenstube und des Hausgartens hat einen Einfluß auf Ihren Gemütszustand, den ich als Arzt und als Freund auf das Lebhafteste bedauere.«
»Wenn Sie unter der weiteren Welt das Leben in der römischen Gesellschaft verstehen, in welche ich mich bei Lebzeiten meiner Maud gemischt, – dann danke ich für die Zerstreuung. Es würde mich das nur noch melancholischer stimmen, als ich schon ohnedies bin.«
»Doch, Mylord, erlauben Sie mir zu bemerken,« erwiderte der Arzt, »daß ich eine wesentliche Besserung Ihres Gemütszustandes in den letzten Tagen mit Freude beobachtet habe.«
Der Lord zuckte mit den Achseln.
»Täuschung, Doktor,« erwiderte er, »nichts wie Täuschung!«
Lächelnd schüttelte der Arzt mit dem Kopfe.
»Wenn eine Täuschung vorhanden ist, so liegt sie auf Ihrer Seite, Mylord,« sagte er. »Ich glaube Scharfblick genug zu besitzen, um mit Bestimmtheit behaupten zu können, daß Sie sogar heute ganz ungewöhnlich verändert sind. Die Konversation des Marquis de Santillier pflegt sonst eine sehr entgegengesetzte Wirkung auf Sie auszuüben.«
Ein schmerzliches Lächeln zuckte um den Mund des Patienten. »Das sind momentane Einflüsse, bester Doktor,« sagte er nach einer kurzen Pause. »Augenblickliche Sonnenstrahlen, die momentan eine dichte Wolkenschicht durchbrechen, um sogleich wieder hinter um so dunkleren Wolken sich zu verstecken. Wissen Sie, daß ich mich heute über mich selbst gewundert habe, daß es der Suade des Gascogners gelingen konnte, mich momentan in erheiternder Weise zu beeinflussen. – – Freilich, ich hatte heute morgen auf einen Augenblick vergessen, daß – – daß – –«
Hier stockte der Lord und wischte sich mit dem Tuche über die Stirn, als wolle er auf diese Art eine in ihm aufsteigende Erinnerung auslöschen.
Der Doktor sah ihn prüfend an. Es war ihm längst klar geworden, daß nicht allein der Schmerz um den Verlust der Lieblingstochter wie ein Wurm am Herzen dieses Mannes nagte. Hatte er doch schon aus den Mitteilungen Evas, der Kinder und der sonstigen Umgebung des Lords gehört, daß dieser, längst vor dem Tode Mauds, sehr häufige Anwandlungen einer durch keine Mittel zu verscheuchenden Melancholie gehabt. Es lag daher auf der Hand, daß wohl der schmerzliche Verlust, der ihn betroffen, einen noch verschlimmernden Einfluß auf die getrübte Gemütsverfassung des Lords gehabt, daß aber diese selbst auf ganz andere, zweifellos in der entferntesten Vergangenheit liegende Motive zurückzuführen sei.
Welch düsteres Schreckbild, welches frohsinnverscheuchende Gespenst konnte es sein, das so erbarmungslos, so hartnäckig Jahrzehnte hindurch diesen einst so lebenslustigen, mit den reichsten Gaben des Glückes und des Geistes ausgestatteten Mann verfolgte? – – Wo lag der Schlüssel zu diesem Rätsel? Und stand zu hoffen, daß Lord Duncombe selbst einst dieses drückende, wie ein böser Krebsschaden an seiner Seele nagende Geheimnis dem Ohre eines Freundes offenbaren und diesem dadurch Gelegenheit geben würde, heilenden Balsam auf die immerwährend eiternde Wunde zu träufeln?
Diese Fragen beschäftigten Doktor Malder schon lange und niemals lebhafter, als in diesem Augenblick, wo der Lord durch seine mysteriösen Worte anzudeuten schien, daß jene quälende Erinnerung gerade an dem heutigen Tage mächtiger, als an irgendeinem andern, ihren melancholischen Einfluß ausübte. Er entschloß sich, mit Vorsicht die Sonde anzulegen.
»Wollen Sie mir, als Ihrem Arzte, eine Frage ganz rückhaltlos beantworten?« fragte er endlich, während der Lord noch immer stumm zum Fenster hinausstarrte.
Der Patient wandte ihm das Gesicht zu und blickte ihn etwas verwundert an.
»Haben Sie je Mangel an Vertrauen zu Ihnen bei mir gefunden?« erwiderte er.
»Sie haben mich mit Ihrer Freundschaft beehrt, Mylord,« sagte Malder in herzlichem Tone, »und das ist an sich schon das schönste Zeichen von Vertrauen, das Sie mir geben konnten.«
»Und ich habe es Ihnen gern und aus voller, warmer Überzeugung gegeben, Doktor,« erwiderte der Lord, dem Arzte die Hand drückend, mit einem Aufleuchten seiner Augen, welches Zeugnis ablegte, daß das Feuer wärmerer Gefühle in der Seele dieses Mannes noch nicht erloschen war. »Warum daher die Frage?«
»Sie gründet sich auf meine ärztlichen Erfahrungen, Mylord.«
»Meinen Sie, dies freundschaftliche Vertrauen sei eine Art pathologischen Symptoms bei mir, das mit der Krankheitsursache verschwindet?«
»Nicht im entferntesten, Mylord,« entgegnete Malder. »Ich wollte damit nur sagen, daß der vertrauensvollste Mensch seinem vertrautesten Freunde gegenüber oft verschlossen wird, wenn dieser Freund zufällig Arzt und in seiner Eigenschaft als solcher Fragen an ihn stellt.«
Über Lord Duncombes Gesicht, das für einen Moment belebter ausgesehen, flogen wieder die finstersten Wolken. Ohne zu antworten, blickte er wieder zum Fenster hinaus. Fast schien es, als habe er den Sinn, der den Worten des Arztes zugrunde lag, wohl verstanden, und als wolle er vermeiden, durch eine Antwort denselben zur Fortsetzung dieses Themas zu veranlassen.
Allein, Doktor Malder ließ sich keineswegs abschrecken. »Am allermeisten habe ich das, – ich spreche wiederum auf Grund meiner ärztlichen Erfahrungen,« – fuhr er fort, »in solchen Fällen gefunden, wo die Sonde des Arztes versucht, sich in das wunde Gemüt, statt in den wunden Körper zu senken!«
Noch immer kam keine Antwort von seiten des Lords. Doch das scharfe Auge des Arztes bemerkte wohl, wie durch den Körper desselben ein nervöses Zittern ging, als spiele sich im Innern des Patienten ein Kampf ab.
Einen Augenblick zögerte er, in seinem Inquisitorium weiter fortzufahren. Mußte er doch befürchten, daß der durch die Krankheit und seelische Leiden geschwächte Körper des Lords einer allzu großen Aufregung nicht würde standhalten können. Doch er sagte sich alsdann wieder, daß eine günstigere Gelegenheit sich möglicherweise nicht wieder finden würde, und daß es oft notwendig sei, eine Wunde, ehe man sie wirklich heilen könne, mit dem operierenden Messer noch weiter zu öffnen.
So entschloß er sich denn, – anscheinend ohne die Bewegung seines Patienten, noch auch seine hartnäckige Schweigsamkeit zu bemerken, – mutig auf dem betretenen Wege vorwärts zu gehen.
»Seien Sie überzeugt, Mylord, daß ich auch genau weiß, daß ein Leiden des Gemütes nur dann geheilt werden kann, wenn derjenige, dem diese Ausgabe zufällt, vollständig über die – Ursachen desselben instruiert ist.«
Dies war deutlich genug. Und der Lord war bei alledem zu sehr Gentleman, um nicht zu empfinden, daß er nun den Auseinandersetzungen des Arztes füglich nicht mehr jene beharrliche Schweigsamkeit entgegensetzen konnte.
Er wandte sein Gesicht wiederum Doktor Malder zu und sagte:
»Lieber Doktor, ich wüßte keinen, der bereit wäre, diese Aufgabe zu übernehmen, und, – soll ich es Ihnen offen gestehen, ich wünsche dieselbe niemandem zu übertragen. Es wäre fruchtloses Bemühen. Weil ich das weiß, bin ich zurückhaltend. Nicht aus Mangel an Vertrauen. Sie haben mir den Körper geheilt, Doktor. – Meine Seele ist ein Objekt, das, – das, – – nun denn, das Ihres Interesses nicht würdig ist.«
»Sagen Sie das nicht, Mylord, – – niemals darf ein Mann, wie Sie, in diesem Tone sprechen. Mißverstehen Sie mich nicht. Sie wissen, daß Neugierde mein Motiv nicht sein kann. Ich habe lange mit mir selbst gekämpft, ob ich, auf die Gefahr hin, Ihre Freundschaft zu verlieren, offen zu Ihnen sprechen sollte. Ich möchte nicht –«
Hier unterbrach ihn der Lord mit einer raschen Handbewegung. Über sein Gesicht zuckte es wie die Widerspiegelung eines inneren Kampfes. Doch dies dauerte nur wenige Sekunden. Während er soeben noch starr vor sich hingeblickt hatte, sah er jetzt dem Arzte mit einem halb nachdenklichen, halb forschenden Ausdrucke in die Augen.
»Mein junger Freund!« sagte er endlich. »Sie erlauben mir, daß ich Sie so nenne, wenigstens sagt mir eine innere Stimme, daß Sie mir nicht minder zugetan sind, wie ich Ihnen, – ich weiß, was Sie mir soeben sagen wollten, und Sie haben recht. Es bleibt doch ewig wahr, daß geteiltes Leid nur halbes Leid ist, und ich selbst bin davon überzeugt, daß ich einen würdigeren Vertrauten nicht finden kann, als Sie.«
Der Arzt wollte seinen Patienten in diesem Momente, wo offenbar das Eis zu brechen schien, nicht durch irgendeine Bemerkung in seinem Gedankengange stören. Er beantwortete daher die freundschaftliche und ehrende Äußerung Lord Duncombes nur mit einem ernsten Kopfnicken und einem warmen, ermutigenden Händedruck.
»Ja, ja!« rief der Lord tiefaufatmend, wie in dem Bestreben, seine Brust von einem drückenden Alp zu befreien. »Es ist besser so. Kein Tag paßt besser, als der heutige Erinnerungstag, zu einer Beichte. Vielleicht gewinne ich mehr Ruhe, wenn ein Freund um meinen Seelenzustand weiß.«
Da er hier wiederum eine Pause machte und, wie in tiefes Sinnen versunken, vor sich hinstarrte, benutzte Doktor Malder die Gelegenheit, das Feuer zu schüren.
»Lassen Sie mich Ihnen, Mylord, als Arzt, nicht nur als Freund, versichern,« sagte er, »daß dieses stete, in sich verschlossene Sichbeschäftigen mit quälenden Bildern der Erinnerung gerade eben das Hauptmoment ist, das jetzt Ihre vollkommene Rekonvaleszenz verlangsamt. Oh, ich habe es längst durchschaut, daß irgendeine solche unverlöschliche Erinnerung Ihre Seele belastet, und mehr denn einmal, Mylord, hat mir die Bitte auf den Lippen geschwebt, daß Sie irgendeinem Wesen, dem Sie volles Vertrauen schenken zu können glauben, – an mich persönlich habe ich dabei gar nicht einmal gedacht, – ihr Herz ausschütten. Die Mitteilsamkeit ist einer der naturgemäßesten aller menschlichen Triebe, und stets sind es mehr oder minder abnorme Zustände, welche uns die Lippen schließen. Ein solches gewaltsames und langes Niederkämpfen dieser natürlichen Regung wirkt wie ein Fieber. Es zehrt schneller oder langsamer an unseren physischen Kräften und –«
»Ein Fieber!« unterbrach ihn beinahe heftig der Lord. »Ein Fieber! Ganz richtig. Es ist ein schleichendes, nervenzerrüttendes Fieber, das jahrelang in meinem Innern getobt, und das zuweilen bei seinen heftigen Ausbrüchen mich völlig zu verzehren drohte.«
»Und darf ich fragen,« wagte der Arzt, der die steigende Erregung des Lords einigermaßen zu dämpfen trachtete, einzuwerfen, »warum Sie, Mylord, der Sie schon vor dem Eintreten all der neulichen bedauernswerten Ereignisse das seltene Glück hatten, von wahrhaft vertrauens-, ja liebenswerten Personen umgeben zu sein, mit so eiserner Energie an Ihrem selbstquälerischen Schweigen festhielten? Ihr Fräulein Tochter, – Ev – Mrs. Robertson, – selbst Bloxam –«
Ein nervöses Zucken, das über das Gesicht des Lords fuhr, veranlaßte den Arzt, einzuhalten und prüfend seinen Patienten zu betrachten. Wahrlich, es mußte eine tiefe und schmerzliche Wunde sein, in welche unser Freund seine ärztliche Sonde einzuführen begonnen hatte.
»Gemach, Doktor, gemach,« erwiderte der Lord, indem er wiederholt eine abwehrende Bewegung mit der Hand machte. »Eva, – ja Eva hätte wohl über kurz oder lang erfahren müssen, was mich bedrückt. Bloxam ist bis zu einem gewissen Grade Mitwisser, aber nicht Vertrauter. Sie werden den feinen Unterschied verstehen und würdigen, Doktor. Maud – meine Maud,« – und bei diesen Worten bedeckte der Lord sein Gesicht mit beiden Händen, – »sie hätte niemals die – – die Schande ihres Vaters erfahren dürfen, nie den einzigen Flecken sehen dürfen, der an seinem Namen haftet. Nie – nie!«
Es entstand eine Pause, welche der Arzt nicht zu unterbrechen wagte. Er blickte mit tiefer Teilnahme, ja mit einem gewissen Angstgefühl auf die Gestalt des Engländers, welcher jetzt, wie völlig gebrochen, sein Gesicht noch immer bedeckend, im Stuhle saß. » Die Schande ihres Vaters!« Fast bereute es Malder, diesen Punkt berührt zu haben. Hatte er doch nicht geahnt, daß das Schreckbild der Erinnerung, welches den Lord verfolgte, so furchtbarer Natur sei, daß es eine eigene, offenbar schwere Schuld war, welche diesen Mann, so reich, so hochgeachtet in den Augen der Welt, bedrückte. Des Arztes Stellung war in der Tat momentan eine peinliche. Welches Recht hatte er, der verhältnismäßig Fremde, hier die Rolle eines forschenden Beichtvaters zu spielen, angesichts eines Geheimnisses, das selbst den Ohren der nächsten Angehörigen und treuesten Freunde des Kranken verschlossen bleiben sollte!?
Schon schwebte Malder die Bitte auf den Lippen, der Lord möge ihm seine zu weitgehende, freundschaftliche Teilnahme verzeihen und sich selbst dieses ihn schmerzende Bekenntnis ersparen, als der Lord sich aufrichtete und ihm ein zwar bleiches, aber ruhiges und gefaßtes Gesicht zeigte, welches deutlich genug die Merkmale eines soeben in kurzem, doch schwerem Seelenkampfe gefassten Entschlusses zeigte. Er schien fast die Gedanken des Arztes ihm von den Lippen lesen zu können. Denn mit schmerzlichem, aber freundlichem Lächeln sagte er:
»Fürchten Sie nicht, Doktor, daß ich Ihre echt freundschaftlichen Motive mißverstehe, und daß ich unter dem Eindrucke eines gewissen moralischen Zwanges Ihnen mein Herz öffne. Im Gegenteil, ich bin Ihnen dankbar, herzlich dankbar für die Veranlassung, welche Sie mir geben, mir endlich die Erleichterung zu schaffen, deren ich schon seit langen Jahren bedarf. Seien Sie ruhig, mein Freund,« setzte er hinzu, als Malder eine Entgegnung zu machen versuchte. »Mein Entschluß ist gefaßt, und ich wiederhole Ihnen, daß ich schon in dem Gedanken der Ausführung mich wohler fühle. Setzen Sie sich etwas näher zu mir heran, meine Stimme ist noch nicht sehr stark. Ich will keinen Augenblick länger zögern, wer weiß, ob es nicht bald zu spät sein wird. Haben Sie jetzt Zeit für mich? Ich werde Sie nicht lange aufhalten.«
»Meine Zeit gehört jetzt Ihnen, Mylord,« erwiderte Doktor Malder, indem er, dem Geheiße seines Patienten folgend, sich dicht neben denselben hinsetzte.
»Ich glaube,« sagte Lord Duncombe nach einer kurzen Pause, »ich glaube, Sie könnten sogar, nachdem Sie mein Bekenntnis gehört, in meinem, Ihnen näher zu bezeichnenden Interesse tätig sein. Würden Sie eventuell einen schweren, aber für mich unendlich wichtigen Auftrag übernehmen?«
»Mylord, Sie selbst begrenzen meine Antwort,« entgegnete Malder lächelnd. »Wenn die Schwierigkeit des Auftrages über meine Kräfte geht, – – ich möchte dieselben nicht überschätzen. Was das Wollen anbetrifft, so wissen Sie, Mylord, daß mich wärmere und innigere Gefühle an Sie ketten, als für gewöhnlich zwischen dem Arzte und seinem Patienten zu bestehen pflegen.«
»Ich danke Ihnen, Doktor! Ich danke Ihnen tausendmal!« rief Lord Duncombe, die Hand des Arztes drückend. »Doch das Wollen genügt vollständig, um die Schwierigkeiten des Auftrages, welche ich meine, zu überwinden. Allein – hiervon sprechen wir später. Erst müssen Sie wissen, um was es sich überhaupt handelt. Sie sollen eine Episode aus meinem Jugendleben hören, aus jener Zeit, da mein ganzer Stolz darin bestand, mit allem nötigen Glanze meinen hervorragenden Platz in der Jeunesse dorée auszufüllen. Ein hohles, wüstes Leben und Streben war es, und die endlichen Konsequenzen blieben nicht aus. Hören Sie die Schlußepisode dieser meiner Lebensperiode mit an, und dann urteilen Sie so mild über mich, als die Umstände es erlauben und als Ihr Herz es Ihnen gestattet!«
Die Stimme des Lords war leiser geworden, und während er sprach, schweifte sein Auge mit gedankenvollem Ausdrucke weit hinaus in die Ferne, als müsse er von dorther die Bilder und Gestalten herbeiholen, welche den Inhalt seiner Mitteilung bilden sollten.