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Die Jünger Jesu
In diesem irdischen Paradies, das bis dahin von den großen historischen Revolutionen wenig berührt wurde, lebte in völliger Harmonie mit dem Lande selbst eine arbeitsame, biedere, fröhliche Bevölkerung. Der See von Tiberias in einer der fischreichsten Becken der Welt. Es gab hier, besonders in Bethsaida und Kapernaum recht einträgliche Fischereien, die einen gewissen Wohlstand geschaffen hatten. Diese Fischerfamilien bildeten eine gutmütige, friedliche Gesellschaft, verzweigt in zahlreichen Verwandtschaften über den ganzen hier beschriebenen Seebezirk. Ihr wenig beschäftigtes Leben gab der Phantasie volle Freiheit. Die Ideen über das Reich Gottes fanden hier mehr Anhänger als anderwärts. Nichts von dem, was im griechischen oder römischen Sinne Civilisation genannt wurde, war bisher zu ihnen gedrungen. Da war nicht unser germanischer oder celtischer Ernst; doch ob ihre Gutherzigkeit oft nur oberflächlich und ohne Tiefe sein mochte, waren ihre Gehaben doch friedsam und sie hatten eine gewisse Intelligenz und Schlauheit in sich. Man kann sie sich ziemlich ähnlich den besten Volksstämmen des Libanons denken, doch mit einer Gabe, welche diese nicht besitzen, das ist: große Männer hervorzubringen. Jesus fand hier seine wahre Familie. Er ließ sich hier als einer der ihrigen nieder. Kapernaum wurde »seine Stadt« (Matth. IX, 1; Mark. II, 1, 2) und in der Mitte des kleinen Kreises, der ihn verehrte, vergaß er seiner zweifelnden Brüder, des undankbaren Nazareths und dessen spöttische Ungläubigkeit.
Besonders ein Haus in Kapernaum bot ihm ein behagliches Asyl und ergebene Jünger. Es war dies das Haus zweier Brüder, beide Söhne eines gewissen Jonas, der vermutlich zur Zeit als sich Jesus an dem Ufer des Sees niedergelassen hatte, schon gestorben war. Diese beiden Brüder waren Simon, mit dem Beinamen Kephas oder Petrus, und Andreas. Geboren in Bethsaida, lebten sie zur Zeit als das öffentliche Wirken Jesu begann in Kapernaum. Petrus war verheiratet und hatte Kinder; seine Schwiegermutter lebte bei ihm. Jesus liebte dieses Haus und wohnte gewöhnlich dort. Andreas scheint ein Jünger des Johannes gewesen zu sein und Jesus mochte ihn an den Ufern des Jordans kennen gelernt haben. Die beiden Brüder übten stets ihr Fischerhandwerk aus, selbst zur Zeit, wo sie mit ihrem Meister vollauf beschäftigt waren. Jesus, der Wortspiele liebte, meinte zuweilen, daß er aus ihnen Menschenfischer machen werde. (Matth. IV, 19; Mark. I, 17; Luk. V, 10.) Wirklich hatte er auch unter allen seinen Jüngern keinen, der ihm anhänglicher gewesen wäre.
Eine andere Familie, die des Zabdia oder Zebedäus, eines wohlhabenden Fischers und Besitzers mehrerer Barken, nahm Jesus gleichfalls freundlich auf. Zebedäus hatte zwei Söhne, Jakobus, der ältere, und einen jüngeren, Namens Johannes, der später im Werdegang des Christentums eine so entscheidende Rolle spielen sollte. Beide waren eifrige Jünger. Saloma, die Frau des Zebedäus war Jesum gleichfalls sehr zugethan und begleitete ihn bis zu seinem Tode.
Die Frauen zeigten sich ihm überhaupt recht wohlgeneigt. Er bekundete ihnen gegenüber jenes rücksichtsvolle Benehmen, das eine sehr angenehme Ideenverbindung zwischen beiden Geschlechtern möglich macht. Die Trennung der Männer von den Frauen, die bei den semitischen Völkern jede zarte Gefühlsentwickelung verhindert hat, wurde damals, so wie heutzutage, auf dem Lande minder streng durchgeführt als in großen Städten. Drei oder vier Galiläerinnen begleiteten den jungen Meister stets und stritten um das Vergnügen ihn anhören und der Reihe nach pflegen zu dürfen (Matth. XXVII, 55, 56; Mark. XV, 40, 41; Luk. VIII, 2, 3; XXIII, 49). Sie brachten in die neue Sekte ein Element der Begeisterung und des Wunderbaren, dessen Wichtigkeit schon damals beachtet wurde. Eine von ihnen, Maria von Magdala, die den Namen ihres armseligen Örtchens so berühmt in der Welt gemacht hat, scheint eine sehr exaltierte Person gewesen zu sein. Nach der Sprache jener Zeit war sie von sieben Dämonen besessen (Mark. XVI, 8; Luk. VIII, 2; vgl. Tobias III, 8; VI, 14), d. h. sie war von nervösen und anscheinend unerklärlichen Übeln geplagt. Jesus beruhigte durch seine reine, milde Schönheit diesen gestörten Organismus. Die Magdalerin blieb ihm bis auf Golgatha treu und spielte am zweiten Tag nach seinem Tode eine bedeutende Rolle; denn sie war, wie wir später ersehen werden, das Hauptorgan, durch das der Glaube an die Auferstehung sich festsetzte. Johanna, das Weib Khusas, eines der Verwalter des Antipas, Susanna und noch andere Frauen, deren Namen unbekannt geblieben sind, begleiteten ihn stets und dienten ihm (Luk. VIII, 3; XXIV, 10). Einige ihrer waren reich und ermöglichten durch ihr Vermögen dem jungen Propheten leben zu können, ohne das Handwerk weiter ausüben zu müssen, das er bis dahin betrieben hatte. (Luk. VIII, 3.)
Noch andere begleiteten ihn gewöhnlich und anerkannten ihn als ihren Meister, so: ein gewisser Philippus aus Bethsaida, Nathanael, der Sohn Tolomais oder Ptolomäus, aus Cana, vielleicht ein Jünger aus der ersten Zeit, Ich halte Nathanael für denselben, der als Apostel unter dem Namen Bartholome figuriert. ferner Matthäus, wahrscheinlich derselbe, der der Xenophon des geborenen Christentums werden sollte. Er war Zöllner und als solcher wußte er sicherlich mit dem Schreibstift besser umzugehen als die andern. Vielleicht faßte er damals schon den Gedanken die Logia niederzuschreiben, welche die Grundlage dessen bilden, was wir von den Lehren Jesu wissen. Man nennt als Jünger auch Thomas oder Didymos – letzteres ist die griechische Übersetzung des ersteren Namens – der zuweilen zweifelte, sonst aber ein Mann von Herz und Edelsinn gewesen zu sein scheint (Joh. IX, 16; XX, 24); Labbäus oder Taddäus; Simon Zelotes, der vielleicht ein Schüler Judas des Goloniters war, der Partei des Kenaim angehörte, die damals sich bildete und die bald eine so wichtige Rolle in der Bewegung des jüdischen Volkes spielen sollte (Matth. X, 4; Mark. III, 18; Luk. VI, 15; Apostelg. I, 13); endlich Judas, der Sohn Simons, aus Kerioth, der eine Ausnahme in der treuen Schar bildete und sich einen so schrecklichen Ruf erwarb. Das war der einzige, der kein Galiläer war; Kerioth war eine Stadt im äußersten Süden des Stammes Juda, eine Tagreise jenseits des Hebrons (heute Kurjetehin oder Kerehitehin).
Wir haben gesehen, daß Jesu Familie im allgemeinen ihm wenig gewogen war. Der von Johannes XIX, 25–27 mitgeteilte Umstand läßt annehmen, daß Jesu eigene Brüder zu keiner Zeit seines öffentlichen Wirkens sich ihm näherten. Doch zählten fortan zu seinen Jüngern Jakobus und Judas, seine Vettern seitens Maria Kleophas; und diese selbst gehörte zu den Frauen, die ihm auf Golgatha folgten (Matth. XXVII, 56; Mark. XV, 40; Joh. XIX, 25). In dieser Zeit war seine Mutter nicht bei ihm. Erst nach Jesu Tod kam Maria zu hohem Ansehen und die Jünger suchten sie heranzuziehen. Apostelg. 1, 14; vgl. Luk. I, 28; II, 35, wo sich schon eine große Ehrfurcht für Maria äußert; Joh. XIX, 25. Damals auch bildeten die Glieder der Familie des Stifters eine einflußreiche Gruppe unter dem Namen »Brüder des Herrn«, die lange Zeit der Kirche von Jerusalem vorstand und nach der Zerstörung dieser Stadt nach Batama sich flüchtete. (Jul. Afrikanus bei Eusebius, Hist. eccl. I, 7.) Die Thatsache, ihm nahe gestanden zu haben, wurde allein schon ein entscheidender Vorzug, ebenso wie nach Mohammeds Tod die Frauen und Töchter des Prophetens, die während seines Lebens keine Bedeutung hatten, zu hohem Ansehen kamen.
In diesem Freundeskreis bevorzugte Jesus augenscheinlich einige und bildete aus ihnen einen engeren Kreis um sich. Die beiden Söhne des Zebedäus, Jakobus und Johannes scheinen hierbei vor allen andern in Betracht zu kommen. Sie waren voll Feuer und Leidenschaft. Geistreich nannte sie Jesus »Söhne des Donnerers«, ihres Feuereifers wegen, der auch von dem Blitz Gebrauch gemacht hätte, wenn er darüber hätte verfügen können. (Mark. III, 17; IX, 37; X, 35; Luk. IX, 49, 54.) Besonders Johannes scheint mit Jesu sehr intim gewesen zu sein. Vielleicht auch hat die Schule dieses Jüngers, die sich später um ihn sammelte und uns seine Erinnerungen überlieferte, die Zuneigung, die der Meister gegen ihn hegte, übertrieben. (Joh. XIII, 23; XVIII, 15; XIX, 26, 27; XX, 2, 4; XXI, 7, 20.) Bedeutsamer jedoch ist der Umstand, daß nach den synoptischen Evangelien Simon Barjona oder Petrus, Jakobus, der Sohn des Zebedäus und sein Bruder Johannes eine Art Vertrauenskomitee bildeten, das Jesus zuweilen zu Rate zog, wenn er dem Glauben und der Intelligenz der andern mißtraute. Matth. XVII, 1; XXVI, 37; Mark. V, 37; IX, 1; XIII, 3; XIV, 33; Luk. IX, 28. Die Annahme, daß Jesus diesen drei Jüngern eine Geheimlehre mitgeteilt hätte, war schon frühzeitig verbreitet. Eigentümlich ist, daß Johannes in seinem Evangelium seines Bruders Jakobus nicht ein einziges Mal erwähnt. Auch scheint es, daß diese drei im Fischerhandwerk verbunden waren (Matth. IV, 18-22; Luk. V, 10; Joh. XXI, 2). Jesus Neigung zu Petrus war stark. Sein offener, ehrlicher, kraftvoller Charakter gefiel Jesu, der zuweilen ob dessen entschiedenes Auftreten eines Lächelns sich nicht erwehren konnte. Petrus, der Mystik nur wenig zugethan, teilte dem Meister seinen naiven Zweifel, seine Abneigungen, seine rein menschlichen Schwächen (Matth. XIV, 25; XVI, 22; Mark. VIII, 32) in ehrlicher, freimütiger Weise mit. Jesus belehrte ihn freundschaftlich, vertrauensvoll, achtungsvoll. Was Johannes betrifft, so mußten seine Jugend, sein außergewöhnliches Zartgefühl, seine lebhafte Einbildungskraft einen großen Reiz ausüben. Er scheint etwa bis zum Jahre 100 gelebt zu haben. S. sein Evangelium XXI, 15-25. Ferner die ihm zugeschriebenen Episteln, die sicherlich denselben Verfasser haben wie das vierte Evangelium. Ob jedoch die Offenbarung von ihm herrührt, will ich nicht entscheiden. Die Persönlichkeit dieses außerordentlichen Mannes, der dem entstehenden Christentum eine so kräftige Wendung gab, entwickelte sich erst später. In seinem Alter schrieb er über den Meister das wunderliche Evangelium, das so wertvolle Mitteilungen enthält, in dem aber, meiner Meinung nach, der Charakter Jesu in manchen Punkten gefälscht ist. (Die gewöhnliche Tradition scheint mir hier genügend gerechtfertigt. Übrigens ist es klar, daß die Schule des Johannes sein Evangelium nach seinem Tode verändert hat; s. das ganze Kapitel XXI.) Johannes Natur war zu tief und gewaltig, als daß er in den unpersönlichen Ton der ersten Evangelisten hätte verfallen können. Er war der Lebensschilderer Jesu, wie Plato der des Sokrates. Gewöhnt, seine Erinnerung mit der fieberischen Unruhe eines exaltierten Geistes wachzurufen, formte er des Meisters Bild um, während er ihn schildern wollte, und zuweilen erweckt er den Verdacht – wenn nicht andere Hände sein Werk verändert haben – daß nicht immer die vollkommene Aufrichtigkeit Regel und Gesetz bei der Abfassung dieser seltsamen Schrift war.
In der werdenden Sekte herrschte keine eigentliche Hierarchie. Alle mußten sich »Brüder« nennen und Jesus verbot einen höheren Titel als »Rabbi«, »Meister«, »Vater«; er allein sollte Meister sein, Gott allein Vater. Der Angesehenste sollte der Diener der andern sein. Indes zeichnete sich Simon Barjona von seinesgleichen doch durch einen besonderen Grad der Wichtigkeit aus. Jesus wohnte bei ihm und lehrte in seiner Barke (Luk. V,3); sein Haus war der Mittelpunkt der evangelischen Predigten. Die Leute betrachteten ihn als den Führer der Schar und an ihn wendeten sich die Steuereinheber, um die Abgaben der Gemeinde einzuziehen. (Matth. XVII, 23.) Simon hatte Jesus zuerst als Messias erkannt (Matth. XVI, 16, 17). Zu einer Zeit, da Jesus unpopulär war, fragte er seine Jünger: »Und auch ihr wollt von dannen gehen?« und Simon antwortete: »Herr, zu wem sollten wir denn gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.« (Joh. VI, 68-70.) Jesus erteilte ihm oft einen gewissen Vorrang in seiner Kirche Matth. X, 2; Luk. XXII, 32; Joh. XXI, 15; Apostelg I, II, V ec.; Gala. I, 18; II, 7,8. und gab ihm den syrischen Beinamen »Kepha« (Stein), damit andeutend, daß er aus ihm den Eckstein seines Baues machen will. (Matth. XVI, 18; Joh. I, 42.) Einmal scheint er ihm sogar den »Schlüssel zum Himmelreich« zu versprechen und das Recht zu erteilen auf Erden Entscheidungen zu treffen, die in alle Ewigkeit gelten sollen. (Matth. XVI, 19. Diese Macht ist übrigens auch allen Aposteln zugeteilt, s. Matth. XVIII, 18.)
Sicherlich hatte dieser Vorzug des Petrus ein wenig Eifersucht erregt. Diese regte sich besonders bezüglich der Zukunft, in Hinsicht auf das Reich Gottes, wo alle Jünger auf Thronstühlen, zur Rechten und zur Linken des Meisters sitzen würden, um die zwölf Stämme Israels zu richten (Matth. XVIII, 1; Mark. IX, 33; Luk. IX, 46, XXII, 30). Er wurde gefragt, wer dem »Menschensohn« zunächst sitzen soll, gewissermaßen als sein erster Minister und Berater. Die beiden Söhne des Zebedäus strebten nach diesem Rang. Und von diesem Gedanken völlig eingenommen, schoben sie ihre Mutter Saloma vor, die eines Tages Jesum beiseite nahm und ihn um die beiden Ehrenplätze für ihre Söhne ersuchte. (Matth. X, 20; Mark. X, 35.) Jesus wies bei dieser Forderung auf seine bekannten Grundsätze hin, wonach der, welcher sich erhöht, erniedrigt werde und das Himmelreich den Kleinen gehöre. Doch der Vorfall erregte Aufsehen in der Gemeinde; es entstand eine große Mißstimmung wider Jakobus und Johannes. (Mark. X, 41.) Dieselbe Rivalität scheint auch im Evangelium Johannes durchzuschimmern, wo der Erzähler immer wieder bemerkt, daß er »der Lieblingsjünger« gewesen sei, den der Meister im Sterben seiner Mutter anvertraut habe. Er stellt sich neben Simon Petrus, zuweilen sogar über ihn, und das bei wichtigen Vorfällen, wo die älteren Evangelien seiner nicht erwähnten. (Joh. XVIII, 15; XIX, 26, 27; XX, 2; XXI, 7, 21).
Von den erwähnten Personen waren anfangs alle, soweit uns ihre Thätigkeit bekannt wurde, Fischer. Jedenfalls gehörte keiner einer höheren Gesellschaftsklasse an. Nur Matthäus oder Lewi, Sohn des Alphäus, war Zöllner gewesen. Doch die, welchen in Judäa dieser Titel gegeben wurde, waren nicht die Generalpächter, Leute von hohem Rang – stets römische Ritter – die in Rom publikani genannt wurden. Es waren vielmehr die Bediensteten dieser Generalpächter, Beamte niedrigen Ranges, einfache Zollwächter. Die große Straße von Acra nach Damaskus, eine der ältesten Straßen der Welt, die Galiläa, den See berührend, durchschnitt, vermehrte die Zahl dieser Art Beamte sehr. Kapernaum, das vielleicht am Wege lag, zählte deren eine Menge. Ein derartiges Handwerk ist nirgends beim Volk beliebt; bei den Juden galt es fast als verbrecherisch. Die Steuer, neu für sie, war ein Zeichen ihres Vasallentums; die Schule Judas des Goloniters lehrte sogar Steuerzahlen sei eine heidnische Handlungsweise. Auch wurden die Zöllner von den Glaubenseiferern verachtet; man nannte sie nur in Gesellschaft von Mördern, Straßenräubern und sonstigen schlechten Menschen. Die Juden, die solche Ämter übernahmen, wurden verflucht und für unwürdig erklärt zum Eide zugelassen zu werden. Ihre Kassen wurden verflucht und die Casuisten verboten es, Geld bei ihnen einzuwechseln. (Mischna Bak. X, 1; Talm. von Jerus. Demahi II, 3; Talm. v. Baby. Sanhedrin 25, b.) Die armen, vom Bann der Gesellschaft betroffenen Leute, besuchten sich gegenseitig. Jesus nahm die Einladung zu einer Mahlzeit bei Lewi an, wo – nach der Redeweise jener Zeit – »viele Zöllner und Sünder« anwesend waren. Das schuf ein gewaltiges Ärgernis. (Luk. V, 29.) In diesem argberüchtigten Hause mochte man mit schlechter Gesellschaft zusammenkommen. So werden wir aber häufig ersehen, wie Jesus, unbekümmert über die Vorurteile der rechtlich Denkenden damit beleidige, die von den Orthodoxen erniedrigte Klassen zu heben versuchte und sich dabei den heftigsten Anfeindungen der Frömmler aussetzte.
Diese zahlreichen Eroberungen verdankte Jesus dem unendlichen Reiz seiner Person und seines Wortes. Ein eindringliches Wort, ein Blick in ein kindliches Gemüt, das nur erweckt zu werden brauchte, erwarb ihm eifrige Jünger. Zuweilen gebrauchte Jesus auch einen unschuldigen Kunstgriff, wie ihn später auch Johanna d'Arc angewendet hat. Er that so, als wüßte er von dem, welchen er gewinnen wollte, etwas Intimes, oder er erinnerte ihn an einen seinem Herzen teueren Umstand. Derart gewann er Nathanael (Joh. I, 48), Petrus (Joh. I, 42) und die Samariterin (Joh. IV, 17). Den wahren Grund seiner Stärke – ich will sagen, seiner geistigen Überlegenheit – verhehlend, ließ er glauben, um den Ideen der Zeit zu genügen, Ideen, die übrigens völlig auch die seinigen waren, daß eine himmlische Offenbarung ihm die Geheimnisse entdecke und die Herzen öffne. Alle wähnten, er lebe in einer Sphäre, hoch über die Menschheit. Man erzählte, er hätte auf den Bergen mit Moses und Elias Unterredungen gehabt (Matth. XVII, 3; Mark. IX, 3; Luk. IX, 30, 31); man glaubte, daß ihm in einsamen Stunden Engel huldigend nahen und einen übernatürlichen Verkehr zwischen ihm und den Himmel vermitteln. (Matth. IV, 11; Mark. I, 13.)