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Jesus zu Kapernaum.
Eingenommen von einem immer gebieterischer und exklusiver sich geltend machenden Gedanken, schritt Jesus nun mit einer verhängnisvollen Gleichgültigkeit weiter auf der Bahn, die ihm sein erstaunliches Genie und die außerordentlichen Umstände, unter welchen er lebte, vorgezeichnet hatten. Bis dahin hatte er seine Gedanken nur einigen heimlich herangezogenen Personen mitgeteilt; jetzt aber beginnt er öffentlich und ununterbrochen zu lehren. Er war ungefähr dreißig Jahre alt (Luk. III, 23. Evang. der Ebonim bei Epiphanes, Adv. haer. XXX. 13). Die kleine Schar Jünger, die ihn zu Johannes begleitet hatte, war zweifellos größer geworden, vielleicht auch, daß sich ihm einige Schüler Johannes angeschlossen hatten. Mit diesem ersten Kern der zukünftigen Kirche verkündete er nach seiner Rückkehr nach Galiläa kühn »das Evangelium vom Reiche Gottes«. Dieses Reich sollte kommen und er, Jesus, wäre der »Menschensohn«, den Daniel in seiner Vision als das göttliche Werkzeug der letzten und höchsten Offenbarung erblickt hatte.
Es sei erinnert, daß nach der jüdischen Auffassung, die gegen Kunst und Mythologie eine gewisse Abneigung bekundete, die einfache Form des Menschens mehr galt als die der Cherubin und phantastischen Tiere, welche die Vorstellung, seitdem das Volk unter assyrischem Einflüsse stand, um Gottes Majestät gruppierte. Schon bei Hesekiel (I, 5, 26) hat das auf dem höchsten Throne sitzende, weit über die Ungeheuer des geheimnisvollen Wahnes hehre Wesen, der große Verkünder prophetischer Visionen, Menschengestalt. Im Buche Daniel, mitten in der Vision der durch Tiere dargestellten Reiche, naht sich im Augenblicke, wo das jüngste Gericht beginnen und die Bücher geöffnet werden sollen, ein dem Menschensohne gleichendes Wesen dem Alten der Tage, der ihm die Macht verleiht zu richten und ewig zu regieren (Dan. VII, 13,14. Vgl. VIII, 15, X, 16). Der »Menschensohn« ist in den semitischen Sprachen, hauptsächlich in den aramäischen Dialekten, synonym mit »Mensch«. Dennoch aber wirkte diese Hauptstelle in Daniel eigentümlich auf die Gemüter. Der Ausdruck »Menschensohn« wurde, wenigstens in manchen Schulen, Bei Joh. XII, 34 scheinen die Juden den Sinn dieser Worte nicht recht zu verstehen. eine Bezeichnung für den Weltenrichter und König der neuen Zeit geltenden Messias. Buch Henoch XLVI, 1–3, XlVIII, 2, 3, LXII, 9,14, LXX, 1; Matth. X, 2, 3, XIII, 41, XVI, 27, 28, XIX, 28, XXIV, 27, 30, 37, 39, 44, XXV, 31, XXVI, 64; Mark. XIII, 26, XIV, 62; Luk. XII, 40, XVII, 24, 26, 30, XXI, 27, 36, XXII, 69; Apostelg. VII, 55. Die charakteristische Stelle ist Joh. V, 27. Vgl. mit Offenb. Joh. 1,13, XIV, 14. Der Ausdruck »Sohn des Vaters« befindet sich einmal im Buche Henoch, LXII, 5. Die Anwendung, die hieran Jesus auf sich selbst machte, war also die Verkündigung seines Messiastums und die Bestätigung der nahenden Katastrophe, wo er, von dem »Alten der Tage« bevollmächtigt als Richter auftreten wird (Joh. V, 22, 27). Der Erfolg der Worte des neuen Propheten war dieses mal entscheidend. Eine Schar Männer und Frauen, alle charakterisiert durch denselben Geist jugendlicher Keuschheit und kindlicher Unschuld, bildeten seinen Anhang und riefen ihm zu: »Du bist der Messias!« Und weil der Messias der Sohn Davids sein sollte, so wurde ihm natürlich auch dieser Titel, der dem ersteren synonym war, beigelegt. Jesus ließ es gerne geschehen, obgleich es ihm eine gewisse Verlegenheit brachte, denn er war aus dem Volke geboren. Er selbst gab den Titel »Menschensohn« den Vorzug, ein scheinbar bescheidener Titel, der jedoch direkt an die messianischen Hoffnungen anknüpfte. Mit diesem Worte bezeichnete er sich selbst, Dieser Ausdruck ist in den Reden Jesu, im Evangelium, dreiundachtzig mal enthalten. so daß in seiner Rede »Menschensohn« gleichbedeutend mit »ich« war, dessen er nicht zu gebrauchen Pflegte. Doch wurde er nicht so angeredet, sicherlich, weil diese Bezeichnung ihm erst am Tage seiner künftigen Erscheinung ganz gebühren mochte.
Der Mittelpunkt der Thätigkeit Jesu zu dieser Zeit seines Lebens war das Städtchen Kapernaum Tellhum, das man gewöhnlich mit Kapernaum identifiziert, zeigt zwar Überreste ziemlich schöner Denkmäler; doch abgesehen davon, daß die Annahme selbst zweifelhaft ist, können diese Denkmäler auch aus dem 2. und 3. Jahrhundert unserer Zeit stammen. am Ufer des Sees Genezareth. Der Name, der das Wort »Kafar« (Dorf) umfaßt, scheint einen Ort älterer Art zu bezeichnen, im Gegensatz zu den großen, nach römischen Muster gebauten Städten, wie z. B. Tiberias. Der Name war so wenig bekannt, daß ihn Josephus an einer Stelle seiner Schriften (B. J. III, X, 8) für den Namen eines Brunnens hält, da dieser bekannter war als der neben ihm liegende Ort. Wie Nazareth hatte auch Kapernaum keine Vergangenheit und hatte in keiner Weise an der durch die Heroden begünstigten weltlichen Bewegung teil genommen. Jesus war dem Städtchen sehr zugethan und schützte es gleichsam als seine zweite Vaterstadt. Kurz nach seiner Heimkehr hatte er gegen Nazareth einen Versuch gemacht, der aber erfolglos blieb. Er konnte dort keine Wunder verrichten, wie einer seiner Biographen naiv bemerkte (Mark. VI, 5. Vgl. Matth. XII, 58; Luk. IV, 23). Auch schadete seiner Autorität sehr die Kenntnis, die man von seiner Familie hatte. Der, dessen Bruder, Schwester, Schwager man täglich sah, konnte nicht als Sohn Davids betrachtet werden. Es ist übrigens merkwürdig, daß seine Familie ihm ziemlich heftige Gegnerschaft leistete und an seine Mission entschieden nicht glauben wollte (Matth. XIII, 57; Mark. VI, 4; Joh. VII, 3). Die Nazarener, noch viel heftiger, wollten ihn sogar, wie man erzählte, töten und von einem hohen Felsen stürzen. Luk. IV, 29. Wahrscheinlich ist da jener Felsenkegel gemeint, der nahe bei Nazareth, oberhalb des jetzigen Maronitenklosters liegt, und nicht der angebliche »Sturzberg«, eine Stunde von Nazareth entfernt (s. Robinsohn, II, 335). Geistreich bemerkte Jesus, daß er dieses Übel mit allen großen Männern gemein habe und wandte das Sprüchlein an: »Kein Prophet gilt etwas in seinem Vaterlande«.
Dieser Unfall war weit entfernt ihn zu entmutigen. Er kehrte nach Kapernaum zurück (Matth. IV, 13; Luk. IV, 31), wo er eine günstige Stimmung vorfand und von hier aus bildete er eine Reihe von Missionen nach den benachbarten kleinen Städten. Die Bevölkerung dieses schönen, fruchtbaren Gebietes war nur Samstag versammelt. Dies war der Tag, den er für seine Unterweisungen wählte. Jede Stadt hatte damals ihre Synagoge oder Versammlungsraum. Es war dies ein rechtwinkeliger ziemlich kleiner Saal mit Vorhalle, die mit griechischen Säulen geschmückt war. Da die Juden keine eigene Architektur hatten, so haben sie nie darauf gesehen, diesen Baulichkeiten einen ursprünglichen Stil zu geben. Die Überreste einiger alten Synagogen finden sich noch heute in Galiläa vor. Sie sind alle aus gutem Material erbaut, aber ihr Aussehen ist recht unbedeutend, zufolge jenes Durcheinanders von vegetabilischen Verzierungen, Windungen und Einschnitten, die die jüdischen Denkmäler kennzeichnen. Im Innern waren Bänke angebracht, eine Kanzel für den öffentlichen Vortrag, und ein Schrein, der die heiligen Gesetzesrollen enthielt. Diese Bauten, die nichts von einem Tempel aufwiesen, waren der Brennpunkt des jüdischen Lebens. Hier versammelte man sich am Sabbathtag zum Gebet und zum Vorlesen der Gesetze und der Schriften der Propheten. Da das Judentum außerhalb Jerusalem keine Geistlichkeit im eigentlichen Sinne des Wortes hatte, so erhob sich der Erstbeste, verlas die Schrift für den Tag (Parascha und Haftara) und fügte dann einen Midrasch zu, oder eine rein persönliche Erläuterung, wo er seinen eigenen Anschauungen Ausdruck gab. Das war der Ursprung der »Homilie«, deren vollkommenes Muster wir in den kleinen Abhandlungen des Philo finden. Man hatte das Recht, dem Vorleser Einwendungen zu machen und Fragen zu stellen. Solchermaßen entartete die Versammlung bald zu einer freien Zusammenkunft. Sie hatten einen Vorsitzenden, Älteste, einen Hassan oder besoldeten Vorleser, Küster, Gesandte, eine Art von Sekretären oder Sendboten, welche die Verbindung zwischen den verschiedenen Synagogen unterhielten und einen Schamasch oder Sakristan. Derart bildeten die Synagogen kleine Republiken, die eine weitgehende Jurisdiktion hatten. Gleich allen munizipialen Körperschaften bis zur vorgeschrittenen Zeit des römischen Kaisertums erteilten sie Ehrendiplome, votierten Beschlüsse, die für ihre Gemeinde Gesetzeskraft hatten, verhängten Körperstrafen, deren Vollzieher gewöhnlich der Hassan war.
Bei der außerordentlichen geistigen Regsamkeit, die das Judentum stets charakterisiert hat, konnte eine solche Einrichtung, trotz ihrer willkürlichen Strenge nicht verfehlen zu sehr lebhaften Erörterungen Anlaß zu bieten. Dank der Synagoge konnte das Judentum unversehrt achtzehn Jahrhunderte der Verfolgung widerstehen. Sie waren ebensoviel kleine Welten für sich, wo der nationale Geist sich bewahrte und die den inneren Kämpfen ein völlig bereites Feld boten. Hier wurde eine ungeheuere Summe Leidenschaft verbraucht. Der Streit um den Vorsitz war erregt. Einen Ehrenstuhl in der ersten Reihe einzunehmen, war der meistbeneidete Lohn besonderer Frömmigkeit oder das Vorrecht des Reichtums. Anderseits wieder schuf die Freiheit, mit der jeder als Vorleser oder Erklärer der Schrift auftreten konnte, der Verbreitung neuer Anschauungen wundervolle Erleichterungen. Das war auch die Hauptstütze Jesu, das gewöhnliche Mittel, das er anwandte, um seine Lehren zu begründen (Matth. IV, 23, IX, 35; Mark. I, 21, 39, VI, 2; Luk. IV, 15,16, 31, 44, XIII, 10; Joh. XVIII, 20). Er trat in der Synagoge ein und erhob sich zum Vortrag. Der Hassan übergab ihm die Schrift, er entrollte sie und las die Parascha oder die Haftara vom Tage und gab dem eine Erläuterung, die seinen Anschauungen entsprach (Luk. IV, 26. Vgl. Mischna Joma VII, 1). In Galiläa gab es nur wenig Pharisäer, die Diskussion nahm daher gegen ihn nicht jene Erregtheit und Schärfe an, die ihn in Jerusalem schon bei seinem ersten Auftreten gehemmt hätten. Die guten Galiläer hatten noch nie eine Rede vernommen, die ihrer heiteren Phantasie so behagt hätte wie diese. Man bewunderte ihn, huldigte ihn, fand, daß er gut spräche und daß sein Wort überzeugend sei. Mit größter Sicherheit löste er die schwierigsten Einwände. Der Reiz seiner Rede und seiner Person fesselte die jugendliche Bevölkerung, welche die Pedanterie der Gelehrten noch nicht ausgetrocknet hatte.
Die Autorität des jungen Meisters wuchs derart mit jedem Tage und – was sehr natürlich ist – je mehr man an ihn glaubte, je mehr auch glaubte er an sich selbst. Sein Wirken war sehr eingeschränkt; es erstreckte sich nur auf den Becken des Sees von Tiberias und selbst da hatte er noch eine bevorzugte Gegend. Der See ist etwa fünf bis sechs Stunden lang, drei bis vier breit. Obgleich er dem Anscheine nach ein ziemlich regelrechtes Oval bildet, hat er doch von Tiberias bis zur Mündung des Jordans eine Buchtung, deren Krümmung ungefähr drei Stunden mißt. Das ist das Feld, wo Jesu Saat den Boden endlich wohl vorbereitet fand. Durchziehen wir es Schritt für Schritt, indem wir den Mantel der Öde und Trauer, den der Dämon des Islams darüber gebreitet hat, zu lüften versuchen:
Von Tiberias ausgehend haben wir vorerst steile Felsen vor uns, einen Berg, der sich ins Meer zu stürzen scheint. Dann weichen die Berge zurück. Eine Ebene (El Ghueir) öffnet sich fast im Niveau des Sees. Das ist ein köstliches Boskett von hohem Grün, durchschnitten von reichlichen Quellen, die teilweise aus einem großen runden Becken antiker Konstruktion (Ahin Medawara) kommen. Am Eingang dieser Ebene, die das eigentliche Gebiet von Genezareth ist, befindet sich das elende Dörfchen Medschel. Am andern Ende der Ebene – immer dem Meere entlang – findet man die Stelle, wo eine Stadt einst war (Khan Minjeh), sehr gutes Wasser (Ahin el tin) und einen hübschen Pfad, schmal, tief, in den Fels gehauen, den Jesus sicherlich oft gegangen ist und der die Ebene von Genezareth mit dem nördlichen Rand des Sees verbindet. Eine Viertelstunde von hier entfernt überschreitet man ein salziges Flüßchen (Ahin Tabiga), das aus mehreren größeren Quellen besteht, die, wenige Schritte vom See entfernt, aus der Erde quillen, und das sich im dichten Grün verliert. Schließlich, etwa vierzig Minuten weiter, an dem öden Abhang, der sich von Ahin Tabiga bis zur Mündung des Jordans erstreckt, findet man einige Hütten und Trümmer alter Bauten, was Tell-Hum genannt wird.
Fünf Städtchen, von denen die Menschheit ewig reden wird, wie von Rom und Athen, lagen zu Jesu Zeit in dem Raum zwischen dem Dorfe Medschel bis Tell-Hum zerstreut.
Von diesen fünf Städten– Magdala, Dalmanutha, Kapernaum, Bethsaida und Chorasin Das Kennereth des Altertums war verschwunden oder hatte seinen Namen geändert. – läßt sich heute nur die erste mit Sicherheit bestimmen. Das häßliche Dorf Medschel hat wahrscheinlich den Namen und die Stelle des Ortes erhalten, den Jesus seiner treuesten Freundin gab. Man weiß hauptsächlich, daß es in der Nähe von Tiberias lag. Tal. von Jerus. Maasaroth III, 1; Schebiit IX, 1; Erubim V, 7. Dalmanutha lag vermutlich in der Nähe. Mark. VIII, 10. Vergl. Matth. XV, 39. Und es ist nicht unmöglich, daß Chorasin etwas nördlicher sich befand. An der Stelle, die jetzt Khorasi oder Lair Karaseh heißt, oberhalb Tell-Hum. Betreffs Bethsaida und Kapernaum, so nimmt man aufs Geratewohl dafür an: Tell-Hum, Ahin el Tin, Khan-Minje, Ahin Medawara. Fast könnte man vermuten, ein geheimes Walten habe die Spuren des großen Stifters, sowohl in topographischer wie in historischer Beziehung genommen, verbergen wollen. Es ist zweifelhaft, ob es jemals gelingen werde auf diesem durchaus verwüsteten Boden die Stätten festzustellen, wo die Menschheit die Spur seiner Füße küssen möchte.
Der See, der Horizont, das Buschwerk, die Blumen – das ist alles, was uns von dem kleinen Kanton von drei bis vier Stunden im Umkreis bleibt, wo Jesus sein göttliches Werk begründet hat. Die Bäume sind völlig dahin. In diesem Gebiete, wo einst die Vegetation so üppig war, daß Josephus eine Art Wunder darin erblickte, wo die Natur – wie er meint – sich darin gefallen hatte, neben den Pflanzen der kühleren Länder, die Produkte der heißen Zone, die Bäume des gemäßigten Klimas, das ganze Jahr mit Blüten und Früchten beladen, wachsen zu lassen ( B. J. III, 7, 8); in dieser Gegend – sage ich – wird jetzt einen Tag früher der Ort berechnet, wo man ein wenig Schatten für seine Mahlzeit finden mag. Der See ist verödet. Eine einzige Barke, die im elendsten Zustande ist, durchfurcht heute diese einst an Leben und Frohheit so reiche Fluten. Aber das Wasser ist noch immer leicht und durchsichtig. Das aus Fels oder Steinen bestehende Ufer ist eher das eines kleinen Meeres, nicht das eines Teiches, wie die Ufer des Sees Huleh. Es ist rein, ohne Schlamm, stets an derselben Stelle von leichtem Wellenschlag berührt. Kleine Vorsprünge, bedeckt mit Lorbeerrosen, Tamarinden und dornigen Kapern treten da hervor; besonders an zwei Stellen: an der Jordanmündung bei Tarichäa und am Rand der Ebene von Genezareth befinden sich prächtige Rasenplätze, wo die Wogen im Rasen- und Blumenteppich sich verlieren. Der Bach Ahin-Tabiga wirst recht hübsche kleine Muscheln ans Ufer. Ganze Schwärme von Schwimmvögeln bedecken den See. Der Horizont erstrahlt im hellen Glanze. Die himmelblauen Wasser, tief zwischen glühenden Felsen eingeschlossen, scheinen, von der Höhe der Berge von Safed aus betrachtet, den Boden eines goldenen Bechers zu bedecken. Im Norden heben sich die schneebedeckten Schluchten der Hermons in weißen Linien vom Himmel ab. Im Westen bildet die wellige Hochebene von Golonitis und Peräa – die gänzlich dürr und von der Sonne gleichsam mit einer samtartigen Atmosphäre bekleidet ist – einen massigen Berg, oder besser gesagt, eine lange hohe Terrasse, die von Cäsarea Philippi bis weit, weit südlich sich ausdehnt.
Die Hitze an den Ufern ist jetzt sehr drückend. Der See liegt in einer Senkung von zweihundert Meter unter dem Meeresspiegel und hat also ähnliche Temperaturverhältnisse wie das Tote Meer. Die Senkung des Toten Meeres beträgt das Doppelte. Einst wurde die übermäßige Hitze von einer üppigen Vegetation gemildert; man würde auch schwer begreifen können, wie ein Glühofen – was gegenwärtig von Monat Mai an das ganze Becken dieses Sees ist – jemals der Schauplatz einer so besonders rührigen Thätigkeit sein konnte. Übrigens fand Josephus ( B. J. III, X, 7, 8) das Klima hier gemäßigt. Zweifellos hat hier, wie in der Campagna von Rom, irgend ein klimatischer Wechsel stattgefunden. Der Islam und besonders die mohammedanische Reaktion wider die Kreuzzüge haben diese Lieblingsgegend Jesu wie ein Todeswind ausgedörrt.
Die schöne Flur von Genezareth konnte nicht wissen, daß unter der Stirne dieses friedlichen Wandlers sein Schicksal bestimmt wurde. Denn ein gefährlicher Landsmann, ist Jesus dem Lande, das die verderbliche Ehre hatte ihn hervorzubringen, verhängnisvoll geworden. Für alle ein Gegenstand der Liebe oder des Hasses geworden, von zwei fanatischen Rivalen begehrt, sollte Galiläa als Preis seines Ruhmes in eine Wüste sich verwandeln. Wer aber wollte sagen, Jesus wäre glücklicher gewesen, wenn er ein volles Menschenleben unbeachtet in seinem Dorfe verbracht hätte? Und wer gedächte heute der undankbaren Nazarener, wenn nicht einer der ihrigen, auf die Gefahr hin die Zukunft des Örtchens preiszugeben, seinen Vater erkannt und sich als Gottessohn dargestellt hätte?
Vier bis fünf große Dörfer, eine halbe Stunde voneinander entfernt – das war also die kleine Welt Jesu. In Tiberias, der ganz profanen, größtenteils von Heiden bewohnten Stadt und gewöhnliche Residenz des Antipas scheint Jesus nie gewesen zu sein. Indes trennte er sich manchmal von seiner Lieblingsgegend. Er fuhr in einem Kahn nach dem östlichen Ufer hinüber, nach Gergasa zum Beispiel. Gegen Norden zog er nach Paneas oder Cäsare Philippi, am Fuße des Hermons (Matth. XVI, 13; Mark. VIII, 27). Endlich machte er auch einmal einen Abstecher nach Tyrus und Sidon (Matth. XV, 21; Mark. VII, 24, 31), einem Gebiete, das sich damals in einer höchsten Blüte befinden mußte. In allen diesen Gegenden befand er sich mitten unter Heiden. In Caesara sah er die berühmte Grotte des Panium, wohin man die Quelle des Jordans versetzte und die der Volksglaube mit den wunderlichsten Legenden versah. Er konnte den Marmortempel bewundern, den Herodes zu Ehren Augustus errichten ließ. Er blieb vielleicht auch vor den zahlreichen Votivstatuen stehen, welche die Frömmigkeit zu Ehren des Pans, der Nymphen, des Echos der Grotte, an diesen schönen Orte errichtet hatte. Ein ephemeristischer Jude, der gewohnt war die fremden Götter als göttlich verehrte Menschen, oder als Dämonen zu betrachten, konnte in diesen bildlichen Darstellungen nur Götzen erblicken. Die Verführungen der naturalistischen Kulten, die die gefühlvollsten Völker umfingen, ließen ihn kalt. Zweifellos hatte er keine Kenntnis von dem, was das alte Heiligtum von Melkarth zu Tyrus noch von dem ursprünglichen, dem Judentum mehr oder minder gleichenden Kultus umfaßte. (Lucianus, De dea syria 3). Das Heidentum, das in Phönizien auf jedem Hügel einen Tempel und einen heiligen Hain errichtet hatte, dieser ganze Anblick großer Gewerbethätigkeit und profanen Reichtums, mußte ihn nur wenig anmuten. Die Spuren reicher heidnischer Civilisation zeigen sich noch heute in ganz Beled-Bescharrah und besonders auf den Bergen, die Kap Blanc und Kap Nakura bilden. Der Monotheismus benimmt jede Fähigkeit die heidnischen Religionen zu verstehen; der Mohammedaner, der zufällig in polytheistische Länder kommt, scheint keine Augen zu haben. Sicherlich vermehrte Jesus auf diesen Reisen nicht seine Kenntnisse. Er kehrte stets zu seinem geliebten Ufer von Genezareth zurück. Hier war der Mittelpunkt seiner Gedanken, hier fand er Glauben und Liebe.