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Auf der Durchreise in Ravenna

Ich liebe Italien in jener Zeit sehr, wenn die Hitze die Touristen daraus vertrieben hat. Die vereinsamten Museen, die geschlossenen Kirchen, die leeren Hotels lassen die Melancholie der Reise besser empfinden. So genießt man mehr die Vergangenheit und lebt darin in naher Gesellschaft mit jenen erlauchten Schatten, deren Erinnerung uns sich dort leichter aufdrängt, wo sie als lebendige Gestalten wandelten. Gleich einem ruhmreichen Gefolge ziehen sie mit uns, und jene uns so vertrauten Phantome mischen sich unter sie, die ein jeder von uns überall mit sich führt, und die unser verfehltes Glück und unsere verlorenen Freuden sind, alle Wünsche und alles Bedauern, die uns aus der Tiefe unseres Selbst betrachten.

Diese Vorliebe für das sommerliche Italien und die Art Träumereien, die es hervorruft, waren es also, die mich veranlassten, es in der ziemlich vorgeschrittenen Jahreszeit aufzusuchen und auch nach Ravenna zu gehen, wo ich gedachte einen Teil der letzten Wochen zu verbringen, ehe ich meine Rückreise antrat. Übrigens bedeutete dieser Aufenthalt in Ravenna die Ausführung eines langgehegten Planes. Ich hatte die uralte Stadt der Mosaiken und der Gräber schon besucht, und sie hatte mir einen großen Eindruck von Beängstigung und Düsterheit hinterlassen, trotzdem dieser erste Besuch im Frühling stattgefunden hatte, als Ravenna seine Kuppeln und Kirchturmspitzen zu einem frischen, leichten Himmel emporstreckte. Nichtsdestoweniger war das Andenken, das ich an jenes frühlingsmäßige Ravenna wahrte, voll tiefer Traurigkeit, und ich war begierig zu sehen, welchen Grad von Verzweiflung das Byzanz der Adria in der drückenden Glut des Sommers bei mir hervorrufen würde.

Oft hatte ich mir das von schwüler Betäubung, von tiefem Schweigen erfüllte glühende Ravenna vorgestellt, das gleich einer Toten von den großen Pinien der La Pineta bewacht wurde, aber die Wirklichkeit überstieg meine Vermutungen noch. Als ich in der Stadt ankam, herrschte dort eine geradezu erstickende Temperatur. Der gewitterschwere Himmel war farblos und ohne Sonne. Kein Hauch strich durch die heiße Luft. Wie von einer Bleihülle war man umgeben, die Atmosphäre war wahrhaft dantisch. Und wie verlassen, wie einsam waren die Straßen, wo zwischen den Steinen ein dürrer Grashalm sproß! Ja, dieses heiße Ravenna sah wirklich wie eine nach einer Pestepidemie verlassene Stadt aus, um so mehr, als ein sumpfiger Geruch, die Ausdünstungen von Kloaken, es durchzogen; aber trotz alledem war der Ort von ergreifender Schönheit, und düsteres Entzücken erfüllte mich, als ich zur Abendbrotzeit in das Hotel zurückkehrte, nachdem ich die hauptsächlichsten Sehenswürdigkeiten erblickt hatte, die mich in Hast von dem Grabe Gallia Placidas zu dem Mausoleum Theodorichs führten.

Es war in jenem Hotel zu Ravenna nicht weniger einsam als in der Stadt selbst. Das bemerkte ich beim Betreten des Speisesaales, in dem alle Tische, ausgenommen einen, leer waren. Ein einsamer Gast saß dort. Soll ich eingestehen, daß ich mich instinktiv für ihn interessierte? Daß dieser Herr sich in dieser Jahreszeit in Ravenna befand, ließ mich annehmen, daß er einen ähnlichen Geschmack wie ich hatte. Zweifellos teilte er meinen Hang zu düsteren Träumereien, die diese Reise so sehr begünstigten. Der bloße Gedanke genügte schon, ihn mir sympathisch zu machen, und ich begann ihn mit einer gewissen Aufmerksamkeit zu betrachten.

Er war ein Mann in mittleren Jahren, eher alt als jung, gut gekleidet und sicher in einer behaglichen Lebensstellung. Ziemlich wahrscheinlich war es, daß er Franzose war. Er saß so, daß ich ihm nicht ins Gesicht sehen konnte, aber als mir meine Gabel herunterfiel, wandte er sich um, und leider mußte ich bemerken, daß sein Gesicht ein ganz alltägliches war, unbedeutend, ruhig, mittelmäßig und zufrieden sah es aus, und flößte mir nichts anderes als vollständige Gleichgültigkeit ein.

Der gute Mann hatte mir gegenüber nicht dieselbe Empfindung, denn als ich mich nach dem Essen in den kleinen Hotelgarten zurückzog, folgte er mir dorthin und sprach mich sogleich an. Er hatte meinen Namen in der Fremdenliste gelesen, und er kannte die Artikel, die ich über Le Bernin veröffentlicht hatte. Nachdem er mir seine Anerkennung ausgesprochen hatte, bat er um die Erlaubnis, sich zu mir setzen zu dürfen. Kaum hatte er die Unterhaltung begonnen, als er aufsprang und zu mir sagte:

»Verzeihen Sie meine Zerstreuung, ich habe vergessen, mich Ihnen vorzustellen, ich heiße Maurice Courteux.«

Gewöhnlich fliehe ich die Zudringlichen, aber an jenem Abend war ich auf ein Entgegenkommen gestimmt. Obwohl Herr Courteux meine Artikel gelesen hatte, schien er mir nicht sehr viel Anregung zu bieten, aber er machte den Eindruck eines braven Mannes und die Traurigkeit des vereinsamten Ravennas lastete so schwer auf meinem Herzen. Den ganzen Tag hatten mich verzweifelte Gedanken bedrückt. Mein Leben war mir plötzlich so überflüssig, so elend, so verfehlt erschienen. Ein alter Kummer war wieder rege in mir geworden ... Ich empfand, daß gewisse Ereignisse vergangener Zeiten nicht wieder gutzumachen waren. Besonders eins war mir wieder mit erschreckender Bitterkeit in die Erinnerung zurückgekehrt: ich dachte an eine Jugendliebe, der sich Hindernisse entgegengestellt hatten, und die meine Schwäche nicht bekämpft hatte, so daß sich die prächtigen Aussichten nicht verwirklichen konnten. Wozu lebt man eigentlich, wenn es nur dazu ist, um mit sich einen unnützen Haufen Erinnerungen herumzutragen!

Obgleich ich Gefahr lief, daß solche Gedanken von dem braven Herrn Courteux nicht sehr gut verstanden sein würden, dessen wohlgerundete Wangen sich aufblähten, als er jetzt in gleichmäßigen Zügen an einer dicken Zigarre sog, wagte ich trotzdem ihm meine Empfindungen auseinanderzusetzen, und ich betonte besonders den Eindruck der Traurigkeit dieses niederdrückenden, glühenden Ravennas, das in seiner alten Vergangenheit beharrte, in seinen Mosaiksteinen, in denen die langen, schweigsamen, verzückten Figuren das Leben aufhielten. Aufmerksam hörte mir Herr Courteux zu. Nach einem Weilchen unterbrach er mich und berührte vertraulich meinen Arm:

»Ich möchte Ihnen lieber gleich sagen, verehrter Herr, daß ich fürchte, wir haben nicht die gleiche Ansicht über Ravenna, in dem mir ein glücklicher Zufall Ihre Bekanntschaft verschaffte. Für Sie bedeutet Ravenna eine tote Stadt, Sie begegnen hier nur Phantomen Ihrer Vergangenheit, an die Sie mit Bedauern und Melancholie zurückdenken. Aber für mich hat Ravenna im Gegenteil gar nichts Ähnliches. Ich werde hier nur von einem einzigen Bild begleitet, das in meinen Augen die ganze Anmut des Lebens und der Liebe schmückt.«

Herr Courteux hatte seine Zigarre fortgeworfen, sein Gesicht hatte plötzlich einen ganz neuen Ausdruck angenommen, mit einem Male hatte es die Miene des braven, friedlichen Spießbürgers verloren. Eine unerwartete Flamme erleuchtete seinen Blick.

»Ja, verehrter Herr, dieses Jahr sind es fünfundzwanzig Jahre geworden. Ich war damals ein junger Bursche und mein Vater, wenn auch nur Kaufmann, war doch ein gelehrter Mann, der mich zur Vervollständigung meiner Bildung nach Italien schickte. Soll ich Ihnen gestehen, daß mir die Reise nur wenig Vergnügen bereitete? Ich hatte nicht viel Kunstsinn, und mein Empfinden war entwickelter als mein Verstand. Ich sage Ihnen das, damit Sie begreifen, wie unbehaglich ich mich bei meiner Ankunft in Ravenna fühlte, bei dem Gedanken, hier verweilen zu müssen. Schnell wollte ich eine so ernste Stadt, die meinen jugendlichen Träumereien so wenig Stoff bot, verlassen. Ach! ich ahnte wahrlich nicht, daß sich dort das Schicksal meines Gefühlslebens entscheiden sollte.«

Lächelnd fuhr Herr Courteux fort:

»In Sant'Apollinare in Classe war es, wo das Ereignis sich vollzog. Als ich ziemlich gleichgültig die berühmten Mosaiken, die der Schmuck der Kirche sind, betrachtete, wurde ich durch Stimmengewirr veranlaßt, mich umzuwenden. Eine Gruppe Besucher trat ein, der ein junges Mädchen voranging. Bei ihrem Anblick blieb ich wie geblendet stehen und Staunen erfaßte mich. Nie hatte ich mir vorstellen können, daß es eine solche Schönheit geben könne, wie diese Unbekannte sie aufwies. Sie hatte etwas so Strahlendes, Süßes und Göttliches, daß ich nicht versuchen will, sie Ihnen zu beschreiben, aber eins kann ich Ihnen versichern, daß sich die Liebe niemals tiefer und blitzartiger eines Herzens bemächtigte, wie ich das meine ergriffen fühlte.«

Herr Courteux kreuzte die Arme auf der Brust und fuhr fort:

»Vielleicht erwarten Sie, daß ich Ihnen jetzt irgendein romantisches Abenteuer erzähle. Sie denken, es wird nun eine dramatische Geschichte voller Schliche und Kniffe mit Entführungen und Verwicklungen kommen. Nichts davon, verehrter Herr! Ich habe das junge Mädchen nie wiedergesehen, ich habe selbst nicht einmal danach getrachtet, sie wiederzusehen. Nie habe ich versucht, ihren Namen und ihre Heimat zu erforschen, aber ihr Bild habe ich in meinem Herzen und meiner Seele bewahrt, und mein Leben lang habe ich dieses strahlende, unerreichbare Bild angebetet, und das bedeutet für mich das Glück. Denn durch diese geistige und heimliche Liebe, die nie eine Verminderung oder Abschwächung erfuhr, war ich glücklich. Während andere, die lieben, allen Qualen der Liebe unterworfen sind, kannte ich nur ihre Freuden. Die Zeit konnte meiner Leidenschaft nichts anhaben, und sie war auch gegen jene Angriffe geschützt, die die Wirklichkeit gegen unsere tiefsten Gefühle gebraucht. Nichts hat das reine Bild getrübt, das ich von meiner Geliebten wahrte. In unsterblicher, triumphierender Jugend lebt sie in mir fort, und dieses Bildes wegen komme ich alljährlich hierher, um es mir fromm heraufzubeschwören, in diesem Ravenna, wo Sie, verehrter Herr, so melancholisch umherirren, mit soviel bitteren, düsteren Erinnerungen, weil Sie von der Liebe ihre vergänglichen Wirklichkeiten verlangten, anstatt sich mit einer ewigen Illusion zu begnügen.«

Herr Courteux schwieg. Langsam, umständlich zündete er sich eine neue Zigarre an. Aus seinem Gesicht war der Glanz, der es einen Augenblick erleuchtet hatte, wieder verschwunden, und er war wieder der brave Spießbürger, der in Italien umherreist und froh ist, auf einer Durchreise in Ravenna einen Gefährten im Hotel gefunden zu haben und durch eine Unterhaltung einen einsamen Abend abzukürzen.


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