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Die erste Freude meine: Kindheit. Noch einige Züge von Großschwester, und wie die Nachricht des Todes meiner Stiefmutter auf mich wirkte.
Die erste lebhafte Freude, deren ich mir bewußt bin, hatte ich, als meine Großmutter zum erstenmal mit mir mein väterliches Haus besuchte. Da war ich ungefähr im achten Jahre und drückte zuerst meinen leiblichen Bruder Fritz, meine zweijährige Schwester und meinen einjährigen Bruder aus der zweiten Ehe meines Vaters an meine Brust. Meine Stiefmutter hatte auch aus ihrer ersten Ehe mit dem Herrn von Nolde eine Tochter, die zwei Jahre älter, als ich, war; zwischen dieser und mir entstand eine herzinnige Freundschaft. Ich fühlte mich nun so glücklich und reich, hatte zwei Schwestern – zwei Brüder! Und das Gefühl von Liebe und Anhänglichkeit durchschauerte sanft mein ganzes Wesen, verdoppelte die Schläge meines Herzens und goß eine nie gefühlte Heiterkeit in mein Gemüt. Meine Stiefmutter sah, wie innig meine Seele an ihren Kindern hing und dies verdoppelte noch ihr liebevolles Betragen gegen mich. Die zwei Tage, die wir in Mesothen Gräfl. Medemsches Gut im Kreise Mitau. C. bei meinen Eltern zubrachten, waren die glücklichsten, die ich bis dahin gelebt hatte. Bald saß ich mit meiner Stiefschwester an der Wiege unseres kleinen Bruders, und da ergossen unsre Seelen sich in vertraulichen Gesprächen, doch wagte ich keine Klage über das Betragen der Großschwester über meine Lippen gleiten zu lassen. Vielleicht daß meine gegenwärtigen Freuden meine Seele so erfüllten, daß ich nun alles vergaß, was mein kleines Herz drückte. Bald besuchte ich mit meinem Bruder die Stelle, auf welcher unsre Mutter starb, und wir horchten mit heiligem Schauder dem zu, was die Leute uns von der lieben Seligen erzählten, freuten uns dann, daß wir im Himmel und auf der Erde so gute Mütter hätten. Lief unsere kleine Schwester rasch zwischen uns durch, so gab die Behendigkeit der lieben Kleinen uns neue Freuden. Auch hatte meine Stiefschwester und mein Bruder allerlei Spielzeug; und da wurde mir nun der sonst so lange Tag zu kurz. Als die Abschiedsstunde erschien, konnte ich mich der Tränen nicht enthalten. Meine Großmutter rief mir mit gebieterischer Stimme zu und sagte, falls ich nicht zu weinen aufhören würde, so wollte sie mich bei meiner Stiefmutter lassen. Nun weinte ich noch heftiger, in Hoffnung, bei meinen Eltern bleiben zu können; aber statt der Erfüllung dieser Hoffnung bekam ich Ruten. Meine selige Stiefmutter tat Fürsprache für mich und sagte, es sei natürlich, daß ich mich vor der Drohung, von meiner Großmutter verstoßen zu werden, erschreckt hätte. Mein Herz war bei dieser ersten Trennung von mir lieben Gegenständen zerrissen, und es drückte mich doppelt, daß ich zur Verstellung meine Zuflucht nehmen mußte. Ich fürchtete, meine Stiefmutter habe mein heftigeres Weinen so ausgelegt, als sie es sagte, doch wagte ich es nicht, ihr zu widersprechen: aber meiner Stiefschwester sagte ich es ins Ohr, ich hätte bloß darum heftiger geweint, weil ich gern bei unsrer Mutter geblieben wäre; dies möge sie doch ja der guten Mutter sagen.
Im Wagen fing die Großschwester wieder an, von meinem Undanke gegen unsere vortreffliche Großmutter zu sprechen. Sie äußerte, es sei recht heimtückisch von mir gewesen, daß ich meiner liebreichen Großmutter zum Trotze so laut gegrinst Von greinen – weinen. C. hätte, gewiß sei es mein Wunsch gewesen, bei meiner Stiefmutter zu bleiben. Meine Großmutter sagte, ich sollte ihr nur die Wahrheit gestehen, ob ich lieber bei meiner Stiefmutter geblieben wäre und daher so geweint hätte. Ich nahm zur Verstellung meine Zuflucht Dieser Falschheit mußte ich mich, so lange ich unter der Zuchtrute der schönen Constanze stand, sehr oft unterwerfen, fühlte jedesmal tiefen Schmerz, daß ich meine Mutter im Himmel durch meine Falschheit, meine Lügen betrübe, und bat dann Gott, daß er um des lieben Jesu willen es so machen möge, daß ich, um der Strafe zu entgehen, nicht so oft lügen und falsch sein müsse. Nach jedem solchen Gebete fühlte ich mein Gewissen erleichtert, sprach dann zum Bilde meiner Mutter: »Du, Liebe, weißt es ja, ich muß lügen, um keine Ruten zu bekommen.« (Anm. der Verf.) und versicherte, bloß die Furcht, von meiner Großmutter verstoßen zu werden, hätte mich zu Tränen gebracht. Meine Stiefmutter wurde von der arglistigen Constanze den ganzen Weg hindurch gegen meine Großmutter lächerlich gemacht. Zu meinem Glücke hatte ich einen so dichten Flor auf, daß ich unbemerkt meinem beklemmten Herzen durch Tränen Luft machen konnte.
So kamen wir bei dem alten Igelströhm an; mit dessen junger Frau war die Großschwester ein Herz und eine Seele. Dort war Musik und eine Gesellschaft, die der Großschwester gefiel. Alles war da herrlich und in Freuden, es wurde getanzt, und mein alter Igelströhm baute mir Kartenhäuser, erzählte mir Geschichten, aber meine Seele war voll von dem Vergnügen, was ich genossen hatte. Der Bruder, die Schwester, die Mutter, der Vater, alle waren mir nun ganz gegenwärtig! Sich untereinander so herzlich lieben, wie ich in meines Vaters Hause Liebe gefühlt hatte, darnach sehnte sich mein kleines Herz; und wenn mein alter Freund mir ein Kartenhaus erbaute, so sehnte ich mich im Stillen nach meinen Geschwistern und dem Spielzeuge, das sie hatten.
Meine Großmutter wollte Tages darauf nach Brucken zurückkehren. Die Großschwester gefiel sich aber bei ihrer Freundin, so daß sie den Plan machte, noch ein paar Tage in dieser Tanzgesellschaft zu bleiben. Gleich bei meinem Erwachen trat sie an mein Bette und sagte: »Du armes Kind, dir tut der Kopf gewiß recht weh, du hast die Nacht sehr unruhig geschlafen.« – »Mir ist recht wohl, mir tut nichts wehe!« – Die Großschwester faßte mir die Hände, fühlte mir die Stirne an. »Deine Stirne brennt wie Feuer, du hast Hitze! Nicht wahr, mein Kind, du bist krank, dir tun alle Glieder weh, der Kopf tut dir weh?« – »Wahrhaftig nicht, Großschwester, ich bin ganz gesund.« – »Lügnerin, du bekommst Ruten, wenn du es mir nicht gleich gestehst, daß du krank bist; du hast ja die ganze Nacht unruhig geschlafen, hast immer gesprochen. Da kommt Großmama, unterstehe dich nicht, es zu leugnen, daß du krank bist!« Meine Großmutter trat an mein Bette, fragte, warum ich nicht aufgestanden sei. Sogleich nahm Constanze das Wort: »Lottchen hat doch ein recht gutes Herz, das arme Kind will sich doch durchaus nach meiner gnädigen Großmama bequemen. Sie weiß, daß Sie heute fahren wollen, und da will sie es verschweigen, daß sie schon die ganze Nacht krank gewesen ist; sie kann kaum ein Glied rühren, aber sie will sich doch zwingen und aufstehen.« – Sorgfältig setzte meine Großmutter sich auf mein Bette, fühlte nach meinem Puls, fand, daß dieser sehr geschwind ginge, fragte, was mir fehlte; ich lügte, der Kopf und meine Glieder täten mir wehe. Gleich bekam ich Arzenei aus der Apotheke meiner Großmutter; ich mußte zwei Tage zu Bette liegen und schwitzen, indessen die Großschwester tanzte. – Sobald meine Großmutter an einem Orte zum Besuch war, wo Constanze sich wohlgefiel, so mußte ich, wenn sie Lust dazu hatte, krank werden, und dann bekam ich zu schwitzen oder zu purgieren, je nachdem es ihr wohlgefiel, denn sie hatte sich so in Furcht bei mir gesetzt, daß ich ihrem Willen gehorchte, wenn mir es auch noch so bitter war. Denn die Strafen, die auf Widerstand folgten, war noch bittrer.
Einige Monate nach meinem ersten Besuche bei meinem Vater starb meine Stiefmutter gleich nach der Geburt meines dritten Bruders. Meine Großmutter erhielt von meinem Vater sogleich die Trauerbotschaft, aber sie erzählte die Nachricht mit Vergnügen und machte noch den Zusatz: Es sei recht gut, daß diese Frau tot sei; sie vermehre die Familie so sehr, daß, wenn es so fortgegangen wäre, Medem die Kinder hatte nicht erziehen und versorgen können. Mich überfiel ein kalter Schauer, mein Herz wurde mir so zusammengepreßt, daß mir die Luft verging und ich am ganzen Leibe zitterte. Meine Großmutter nahm mich auf den Schoß, streichelte mir die Backen und sagte: »Armes Kind, was fehlt dir, – weine nur, ich erlaube es dir zu weinen, deine Stiefmutter hielt dich auch recht lieb!« – Ich konnte nicht weinen, ich blieb stumm, und wie ein Fieberfrost zitterte es mir durch alle Glieder! Endlich brachte ich stammelnd die Worte hervor: »Ach Gott, so soll ich armes Kind denn durchaus keine Mutter haben!« – Meine Hände und Füße waren kalt wie Eis! Meine Großmutter trocknete sich ein paar Tränen, die ihr entfielen, schloß mich in ihre Arme und sagte: »Ich bin ja deine Mutter, und du bist mein liebes, gutes Kind.« – An so etwas und solch einen Ton der Stimme war ich nicht recht gewöhnt. Ich fühlte nun auch für meine Großmutter eine innigere Zärtlichkeit als sonst. – Ich faßte das Herz, ihre Hand küssend, zu sagen: »Ja, Sie sind mir Mutter und Großmutter, aber liebe Großmama, halten Sie doch auch meine Schwester und meine Brüder lieb, ach, die guten Kinder hatten so eine gute Mutter, und jetzt haben sie keine mehr.« Meine Großmutter versprach mir, daß mein Vater mit allen seinen Kindern nach Brucken kommen sollte. Die Großschwester sagte hinterher, ich sei zwar ein rechter Einfaltspinsel, aber dennoch wäre ich ein naseweises Ding, das sich unterfangen hatte, der Großmutter einen Ausputzer zu geben, weil sie sich nichts aus dem Tode meiner Stiefmutter gemacht hätte.
Meine Großmutter fuhr sogleich zu meinem Vater, holte ihn und meinen Bruder gleich nach der Beerdigung meiner Stiefmutter zu sich. Als ich meinen Vater, meinen Bruder, mich selbst so in den schwarzen Kleidern sah, so mußte ich weinen. Mein Vater drückte mich liebreicher, als gewöhnlich, an sein Herz, meine Großmutter desgleichen. Mein Vater brachte mir von seinen andern Kindern Grüße, und ich fragte, ob denn meine letztverstorbene Mutter mich nicht auch habe grüßen lassen, und ob sie ihn denn nicht auch, wie meine selige Mutter, gebeten habe, ihr Lottchen auch nach ihrem Tode zu lieben. Mein Vater drückte mich weinend an seine Brust und mir war beim Andenken des Todes meiner Stiefmutter nun so wohl und so wehe, denn ich hatte weder meinen Vater, noch meine Großmutter so liebevoll und zärtlich um mich beschäftigt gesehen. Ich wurde um die gewöhnliche Stunde zu Bette gebracht; ich konnte aber nicht einschlafen, das Andenken an meine selige Stiefmutter, die Tage die ich in ihrem Hause gelebt hatte, die kleinen Geschenke, die ich von ihr besaß, die schönen Münzen, welche die Großschwester mir weggenommen hatte, – die Art, wie meine Großmutter den Tod meiner Stiefmutter bekannt gemacht hatte, ihr nachheriges Betragen gegen mich, dies alles durchkreuzte ganz wunderbar meine Seele, und so erhielten diese Vorstellungen mich wach, bis auch meine Großmutter sich zu Bette legte. Tante Kleist, die bei uns war, und ihre drei Töchter blieben nun so lange bei meiner Großmutter, bis sie sich auskleidete und zu Bette ging; da hörte ich nun, wie Tante Kleist und die Großschwester mich bei Großmama anschwärzten und sagten, ich sei durch die Karessen, die Großmama mir gemacht hätte, ganz übermütig geworden. Ich sei im Grund gar nicht betrübt um die Stiefmutter, ich spielte aber die Betrübte; ich sei auf meine eigne Hand lustig umhergesprungen, habe es sogar gewagt, Großmama auszuspotten, wie sie mich auf dem Schoße gehalten und getröstet hatte, und dann, wenn Menschen herzugekommen wären, hätte ich überlaut geweint. Meine Großmutter sagte, sie würde mir schon die Mucken auspeitschen. Wie mir bei diesem Gespräche zumute war, vermag ich nicht zu beschreiben, – die Angst vor der kommenden Strafe erhielt mich bis nach Mitternacht wach. Die Wahrheit von dem, was man meiner Großmutter gesagt hatte, bestand darin: ich hielt oft, wenn ich allein zu sein glaubte, Selbstgespräche, die ich mehrenteils an das Bild meiner Mutter richtete, denn ich hatte ja, meine Wärterin ausgenommen, niemanden, zu dem ich sprechen konnte; und diese sprach ich nur abends und morgens. Meiner Großmutter liebreiches Betragen gegen mich hatte so tiefen Eindruck auf mich gemacht, daß ich nun in voller Freude dem Bilde meiner Mutter erzählte, was meine Großmutter mir gesagt hatte, und da bemühte ich mich auch, den Ton der Stimme meiner Großmutter nachzuahmen. Fiel mir es aber bei, daß meine Stiefmutter tot wäre, daß ich sie nie in dieser Welt wiedersehen würde, so weinte ich laut. Allmählich überwältigte mich der Schlaf, aber meine Träume waren fürchterlich, – ich schrie – ich weinte im Schlafe, nannte weinend meine Stiefmutter; meine Großmutter wachte auf, ließ einen tüchtigen Bündel Ruten holen, weckte mich auf und sagte in vollem Zorne, sie wolle der Komödie ein Ende machen, und ich bekam fürchterliche Ruten, die in meinem Herzen gegen die Tante Kleist und die Großschwester einen bittern Haß zurückließen und mich um mein einziges Vergnügen – um meine Selbstgespräche brachten.