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Wohlgemerkt, nur in der Stille des Gefängnisses ist es so. Für die Außenwelt ist da nur ein trotziges, erbittertes und höchst bösartiges Geschöpf zu sehn.
Diese ganzen zwanzig Tage, die bis zur vollkommenen Abwickelung der Formalitäten, bis zum Eintreffen der deutschen Beamten verstreichen, sitzt sie da mit dem Gesicht gegen die Wand, antwortet auf keine Frage, starrt auf diese mit Fliegenkot und Jahrzehnte alten Ausdünstungen überzogenen Wände, nimmt kaum Nahrung zu sich, verfällt, bekommt harte Falten zwischen Nasenflügel und Mund und eine dicke weiße Strähne ins blonde Haar, denkt, während sie von den Beamten mit Fug und Recht einem höchst renitenten und bösartigen Gefangenentyp zugerechnet wird, im wesentlichen doch nur ein einziges Wort, das »Robby« heißt.
Ja, nun muß Robby doch längst wissen, wo das ihm angetraute Weib geblieben ist, und da doch Robby gelobt hat, »bei ihr zu bleiben, bis daß der Tod sie scheide« ... da Robby doch der einzige ist, der alles verstehn und verzeihen wird, so muß Robby doch schon längst unterwegs sein zu ihr, wird wie in alten Tagen durch die Tür treten. Ja, mag dann kommen, was kommen will: alles, alles wird noch gut enden, wenn Robby nur noch ein einziges Mal wie in alten Tagen »kleines Sifmädchen« gesagt haben wird ...
Tatsächlich sind am Morgen des siebenundzwanzigsten Januar vor ihrer Zelle deutsche Worte zu hören, tatsächlich fährt sie, die sich seit zwei Tagen nicht gerührt hat, von ihrer Holzpritsche mit einem Schrei auf, der wie ein Jauchzen klingt. Da sind es aber doch nur die deutschen Kriminalwachtmeister Possekel und Hänsgen, die mit dem Dünnlippigen die Zelle betreten, während von Robby keine Spur zu entdecken ist.
Da wird ihr denn also zuerst in diesem korrupten Kolonialspanisch feierlich etwas vorgelesen, was sie im Augenblick ebenso interessiert, wie die Bedeutung der Schiaparellischen Marskanäle; und dann ist es die deutsche Staatsmacht, die ihr eröffnet, daß sie nunmehr ausgeliefert sei und am nächsten Tage auf der »Mongolia« die Reise nach Deutschland antreten werde.
Und wirklich wird sie unter lebhaften Teilnahmebezeugungen des Straßenpublikums im allgemeinen und den Steinwürfen der auf dem Kai herumlungernden Jugend im besonderen in einem jener in romanischen Ländern »Salatkutsche« genannten Transportwagen verstaut und nach dem Kai gebracht. Und da ist nun die alte ehrliche »Mongolia«, in deren dritter, mit erbssuppengelber Ölfarbe ausgestatteter Klasse sie Buenos Aires verläßt: über sich eine Ladung von Generalkonsuln und Beeftrustmagnaten, unter sich Weizen, Quillajarinde und halbierte Gefrierochsen ... dem deutschen, Strafgesetzbuch entgegen, wonach auf Grund von Paragraph zweihundertundelf mit dem Tode bestraft wird, wer einen Menschen vorsätzlich und mit Überlegung tötet ...
Und da ist an dem Maschinengetriebe der »Mongolia« die übliche Indikatoruhr, die die Umdrehungszahl der Schraubenwelle aufzeichnet; und jede Sekunde springt da unten im Raum eine neue Zahl auf, und jede dieser Zahlen bedeutet, daß sie sich wieder einmal um sieben Meter jenem Paragraphen zweihundertundelf und dem Schafott genähert habe. Und die Schrauben wühlen sich durch das braun-gelbe La-Plata-Wasser und das kupfervitriolfarbene des alten ehrlichen Atlantik und durch die Haifischschwärme bei St. Paul hinweg über die versunkene Insel Atlantis, bis hinauf in die mürrische Biskayasee, in der nun schon der nordische Winter zu spüren ist.
Und im eisigen Nordost saust durch die Antennen oben der erste Schneesturm, und eisbedeckt sind Pardunen und Stage der »Mongolia«, und trotz dieses mürrischen Winters streuen sie frohe Nachrichten aus über das ganze Schiff, diese Antennen: und I. P. Vanderstraaten, in Firma Braxton & Co., Chicago, erfährt, daß seine Tochter in Luxor sich mit dem Prinzen Schönfeld-Donnerschlag-Wiesenbaum verlobt habe, und auch die Gebrüder Sutor haben in Zürich vorteilhaft abgeschlossen, und an der Berliner Börse »streben die Kurse in der Mehrzahl nach oben«.
Aber es ist festzustellen, daß sie von dem Kunstmaler Robby Bruckner für sein wiederentdecktes Weib nichts ... daß sie nicht einmal einen bescheidenen Gruß für sie haben, diese Antennen ...
Und an einem unwirschen Februarabend, als die »Mongolia« im Schneesturm die Brecher der Nordsee übernimmt, da singt mit freundlichem Baß auf der Back der Ausguckmann Christian Tams »Füer verrut« und meint nun schon das Blinkfeuer von Helgoland; und die Elbschiffe gleiten vorüber, und da die ganze Mannschaft sich auf die Mädel von Sankt Pauli freut und auf das Café Metropol, so beginnt plötzlich die »Mongolia« zu zittern und doppelte Fahrt zu machen, und auf der Brücke fragt besorgt so ein alter Klappergreis von Kapitän, ob nicht am Ende die ganze Maschine zum Teufel gehen könne bei dem Höllentempo ...
Und abends um fünf macht man fest am Pier von Cuxhaven. Da entleert die »Mongolia« angelsächsische Bankjünglinge in eigelben Ulstern und Generalsuperintendenten und berühmte Finanziers und namenlose Herren im Cut und ehemalige deutsche Bonnen und Damen in schönen Zobelpelzen, und da ist als Symbol von Deutschland am Pier auch ein Schutzmann erschienen mit einem Bart, auf den ein ganzes Spatzenvolk sich setzen könnte ... »Alles zurücktreten,« schreit der Schutzmann.
Und alle treten zurück, und als letzte kommt das Fallreep herunter, eskortiert von ihren beiden Wächtern, die kleine Sif und späht auf die, die hier auf ihre Angehörigen gewartet haben, späht nach einem lieben Gesicht, das auf sie warten könnte. Aber es ist zu bemerken, daß kein liebes Gesicht auf sie wartet, und daß sie in den Berliner Zug geladen und davongefahren wird von Rädern, in denen die Hölle zu stampfen scheint.
Und da ist spät am Abend der alte ehrliche Lehrter Bahnhof mit seinem Anstrich von wollüstigem Rot, und da staut sich hinter den Perronschranken dieses ganze Deutschland der Millionen- und Milliardenscheine: vergrämte Offiziere, die hier ihren Stiefelwichskasten aufgeschlagen haben, und Inflationsjünglinge mit krachneuen Ledermänteln und ausgemergelte Arbeiterfrauen, die der ganzen Welt an die Kehle springen könnten vor Verbitterung und Überreiztheit.
Und hier, wo tausend hämische Blicke und die feindseligen und schadenfrohen Bemerkungen der Frauenzimmer und die anzüglichen der Mannsbilder sie treffen ... hier, wo der Wachtmeister Possekel sie schützen muß vor Insulten, und meine kleine trotzige Sif sich ganz ängstlich hinter seinen breiten Rücken duckt: hier geschieht es, daß sie stehnbleibt und in die Menge starrt und einen jämmerlichen Versuch macht, die gefesselten Hände zu heben ...
»Robby,« schreit die kleine Sif und hat nun wirklich dort jemand entdeckt ... »Robby, lieber Robby ...«
Und siehe, wie dieser Schrei zu hören ist und wie sie alle grinsend aufhorchen, diese Weiber und neugebackenen Börsenkavaliere, da ist das vertraute Gesicht auch schon wieder fort, und da duckt sich da hinten ein scheuer dummer Junge hinter die Streichholzverkäufer und Tragbänderhändler und verschmäht es durchaus, sein gefesseltes Weib zu begrüßen. Und da geschieht es denn hier, daß sie mitten in dieser schwatzenden, schreienden, zotenden Menge in Weinen ausbricht. Kein Weinen des Jammers und keines der Enttäuschung, wenn ich bitten darf ... nein, nein: auch dies sind nur Tränen der Wut und Erbitterung, und es ist zu bemerken, daß, als ihre beiden gutmütigen Wächter ihr zureden, sie, obwohl im Interesse der öffentlichen Gesundheit derlei verboten ist, ausspuckt auf die kalten, glatten Fliesen des Lehrter Bahnhofs.
Das Untersuchungsgefängnis des Strafgerichts Moabit aber hat mit Institutionen ähnlicher Bestimmung das gemein, daß es unbeschadet der königlich-preußischen Sauberkeit ungeheure Verlassenheit legt um seine Insassen. Da sitzt in dieser ersten Berliner Nacht die kleine Sif und ritzt mit den Nägeln unzählige Male die Worte »Schwindel«, »Robby« und »Fatalada« in die Wand. –
Ja, kleine Sif, man muß wohl auf derlei gefaßt sein, wenn man in eine Familie heiratet, in der es einen Schwager Staatsanwalt und einen Onkel Ministerialrat gibt mit dem Hausorden »zum Halse heraus«!
Es ist nachträglich zu bemerken, daß man in dieser Familie, bis zum Eintreffen eines gewissen, am Weihnachtsabend in Buenos Aires aufgenommenen Protokolls, nicht im entferntesten daran gedacht hat, das Verschwinden der eigenen Verwandten in Zusammenhang zu bringen mit einem kaum beachteten an der Witwe Grandjean verübten Verbrechen.
Zuerst, während die Sekretärin des Oberst Miramon über den Ozean fuhr, hat man seine Pflicht getan, indem man zwei Detektivinstitute und zehn Inserate in Bewegung setzte. Und es ist durchaus anzuerkennen, daß in diesem Stadium die Familie noch ehrlich getrauert hat um die totgeglaubte kleine Sif, daß Onkel Marzell als Chef des Hauses angefangen hat, Kondolenzbesuche zu empfangen, daß der Schwager Lex mit männlichen Worten seinen verwitweten Bruder zu Haltung und Fassung ermahnt, und daß der aus München heimgekehrte Robby begonnen hat, seiner Madonna in Blau und Gold vorher nicht geplante schmerzliche Züge einzuverleiben.
Und wenn auch noch immer in dem ganzen großen Berlin keine Menschenseele daran gedacht hat, die Namen Grandjean und Sif Bruckner in unliebsame Zusammenhänge zu bringen, so hat sich doch die Haltung der Familie von der Stunde an geändert, als die Polizei ihre Anwesenheit im Hotel Exzelsior und das Tanzen mit einem zweifelhaften argentinischen Militär festgestellt hat. Und nun erst hat man wieder daran gedacht, daß die kleine Sif ja doch nur die Tochter eines hergelaufenen schwedischen Lithographen gewesen ist, und Tante Klothilde hat sich erinnert, daß die kleine Sif kein Korsett getragen habe, und daß sie – Tante Klothilde – immer schon gewarnt habe, und daß schon die Ohnmacht bei der Hochzeit so ein übles Vorzeichen gewesen sei. Und der Schwager Lex hat, wenn man ihn nach seiner Schwägerin fragte, zu schnarren begonnen wie ein Abteilungsdirektor von Wertheim, und schon in diesem Stadium ist es geschehen, daß der Kunstmaler Robby Bruckner seine Arbeit an der Madonna mit den schmerzlichen Zügen unterbrochen und genannte Madonna mit dem Gesicht gegen die Wand gestellt hat.
Unter diesen Voraussetzungen, liebe Menschen, ist es dem Ansehen der kleinen Sif bei dieser wohlanständigen und angesehenen Familie durchaus nicht dienlich gewesen, als die Tageszeitungen als verspätete Weihnachtsüberraschung ein gewisses, in Buenos Aires aufgenommenes Protokoll gebracht und plötzlich das eigentlich schon etwas vergessene Verschwinden der kleinen Sif in Verbindung gebracht haben mit einer in der Burgstraße geschehenen Tat, über die, wie schon erwähnt, noch allerlei zu berichten sein wird, ja ...
Und siehe: am selben Abend, als auf der »Mongolia« der Matrose Christian Tams mit schöner ruhiger Stimme die Worte »Füer verrut« gesungen hat, da hat bei Onkel Marzell in der Ansbacher Straße ein Familientag sämtlicher Bruckners stattgefunden.
Und wenn auch seit Weihnachten der Schwager Lex eine auffallende Nervosität an den Tag gelegt, und wenn er auch die Rede immer auf etwas anderes gebracht hat, sowie von seiner Schwägerin die Rede war: ja, da ist es besagter Schwager gewesen, der zuerst das Wort Scheidung ausgesprochen hat.
Und dann haben sie alle das Wort wiederholt, die versammelten Bruckners, die Ministerialräte und die Hofapotheker, die Steuersupernumerare und Studienräte, und haben das Wort einem kleinen dummen Jungen in die Ohren geschrien, der wie ein Angeklagter vor ihnen gestanden hat ... mit Tränen, die ihm über die Backe gelaufen sind. –
Was denn freilich diesen kleinen dummen Jungen nicht gehindert hat, aus irgendeiner schäbigen, mit allerlei erotischen Reminiszenzen versetzten Neugier auf den Lehrter Bahnhof zu laufen und schnell wieder zu verschwinden, als sein angetrautes Eheweib ihn entdeckte, ja ...
Und im Moabiter Untersuchungsgefängnis sitzt die kleine Sif, träumt, als sie es müde geworden ist, sinnlose Worte in die Wand zu ritzen, von ihrer Trauung und schreckhafter Orgelmusik und blutrünstigen Jahrmarktsbildern; wacht auf, besinnt sich langsam auf ihre neue Umgebung, reißt plötzlich in ganz sinnloser Wut aus der Bibel des Laienbruders Franziskus sämtliche Blätter und wirft sie, wofür ihr am nächsten Morgen die Wärterin ihr lebhaftes Mißfallen ausspricht, zusammengeknüllt auf den Boden.
Und in der höchst achtbaren Juristenwelt Berlins gibt es einen ältlichen, heute leider schon vor der göttlichen Appellationsinstanz stehenden Untersuchungsrichter, der bei seinen Kollegen den umständlichen aber bezeichnenden Beinamen »die kleine wütende Blähung am Bindfaden« führt, was gemeinhin übrigens in »der kleine Wütende« abgeändert worden ist.
Es ist neun Uhr morgens und angenehmes mit Regen und Schnee vermischtes Wetter, als die kleine Sif aus ihrer Zelle geholt und diesem Manne gegenübergestellt wird. Das geschieht in einer überheizten Kanzlei, deren wesentlicher Schmuck, wenn man von Aktenregalen 1879 bis 1922 absieht, die große braune Schmutzbahn an der Wand über der Zentralheizung ist. Ein Wachtmann ist dabei, der einmal den Chemin des dames gestürmt hat und eben damit beschäftigt ist, an Hand der letzten Dollarkurse den Goldwert seines Gehalts zu berechnen; und daß drüben auf den Gütergleisen endlose Züge vorbeirollen mit offenen Kohlenwagen, auf denen langsam der Schnee taut, ist eigentlich alles, was zur optischen Abwechslung beiträgt. –
Fünf Minuten später reißt ein ziemlich stark angeschwemmter ehemaliger Neo-Frankone und jetziger protokollierender Referendar dienstbeflissen die Tür auf, der »kleine Wütende«, aufgepeitscht von sechs Prozent Zucker im Blute, stürmt herein, pflanzt sich vor der kleinen Sif auf und schreit sie, den zahnbürstenfarbenen Spitzbart gesträubt, zunächst einmal an, daß er ihr kein Wort glauben werde, nicht ein einziges Wort ...
Item: Sif Bruckner, geborene Bengtson, Kunstmalerfrau, geboren zu Berlin 1901, verheiratet ...
»Weshalb ist es hier so kalt?« schreit der »kleine Wütende«, obwohl die Anwesenden sich doch jetzt schon jener Celsiusgrade erfreuen, die sonst nur in römisch-irischen Schwitzbädern erzielt werden. Die Heizung wird weiter angedreht, beginnt asthmatisch zu röcheln ... draußen jagt schön und ruhig der D-Zug Berlin-Hannover vorüber.
»Sie bezichtigen sich selbst des Raubmordes an der Althändlerin Grandjean?«
Die kleine Sif, sehr ruhig, noch immer etwas entstellt durch den Stockhieb der Steppenstute, sieht finster vor sich hin. »Ich habe es getan.« Nichts weiter.
»Sie lügen,« schreit der »kleine Wütende« und schreit, daß der Referendar Thörpolt auffährt von seinen Zeichnungen, in denen er gerade sämtliche Zirkel der im blauen Kreise des Kösener S. C. vereinigten Korps verewigt.
»Ich habe es getan. Ich habe es getan.«
Der »kleine Wütende« zerreißt durchaus nicht seine Robe, er fällt auch nicht wie der Hohepriester Eli vom Stuhl; er nimmt vielmehr das gestern bearbeitete Aktenbündel »Steiger und Genossen wegen Zusammenrottung«, pfeffert es auf den Tisch, daß ihn wie einst den gesetzgebenden Gott auf dem Sinai eine Staubwolke verhüllt, schreit, daß es zu heiß sei im Lokal, und welcher Idiot unten die Dampfheizung bediene ...
»Ein hysterisches Frauenzimmer sind Sie,« beginnt von neuem der »kleine Wütende«, »das verlogenste Weibsbild, das mir begegnet ist ...«
Ohne die Miene zu verziehen, sieht die kleine Sif ihn an und schweigt. Und da weder der Kösener S. C. noch die sechs Prozent Zucker im Blut an der Haltung dieses verstockten kleinen Frauenzimmers da etwas ändern können, so nimmt dieses denkwürdige Verhör seinen Fortgang.
Tag nach der Hochzeit ... gehört nicht zur Sache.
Übernächster Tag, im Zuge belästigt ... gehört noch weniger zur Sache ...
Im Exzelsiorhotel soupiert mit dem Schwager Staatsanwalt Alexander Bruckner ...
Und hier geschieht es, daß Richter und Protokollant sie entgeistert anstarren: »Ihr Schwager?«
Unbeirrt fortgefahren. Soupiert, stark unter Alkohol gesetzt von dem Schwager, Staatsanwalt Alexander Bruckner ...
»Gehört nicht zur Sache!«
» Gehört zur Sache!« Das wird so ruhig gesagt, daß das Forum schweigt und nur das Blasen der Heizung zu hören ist.
Und siehe, zum ersten Male in dieser Stunde, zum ersten Male nach diesen Monaten des Elends und der Wirrnis tauchen sie auf, die Bilder jenes schrecklichen Abends, die Bilder des Fuselrausches: das unsaubere Schlafzimmer mit roten Tapeten und Reformkorps Palaio-Borussia und blaurotem Madonnenbild, die Gerichtsdienerwitwe Meta Brack mit Schlafrock und sittlicher Entrüstung, der brieflich angedrohte, übrigens nie ausgeführte Besuch bei Robby ...
Ja, diese mit Alkohol und sanfter Gewalt inszenierte Verführungsgeschichte, die runde nette Tatsache, daß ein öffentlicher Ankläger indirekt, aber doch reichlich seinen Anteil zu haben scheint an dem Zustandekommen eines Verbrechens! Es ist wohl zu bemerken, daß der »kleine Wütende« alles tut, um die Bloßstellung eines juristischen Kollegen zu vermeiden: sie ist trotzdem nicht einzuschüchtern, die kleine Sif, sie kann sich ohne weiteres ja auch auf das Zeugnis der Zimmerwirtin berufen ... oh, es ist für einen so erfahrenen Kriminalisten wie den »kleinen Wütenden« leider auch ohne dieses Zeugnis klar, daß sie in diesem Punkte die Wahrheit spricht.
Es ist doch nun schon fast Mittag, als sie gesagt hat, was sie zu sagen hatte, und dasteht und schweigt. Und nun ist es vielleicht das Elend dieses seit Monaten übermüdeten, gehetzten kleinen Körpers, vielleicht sind es alle diese Bilder, die aufgetaucht sind aus der Vergessenheit und nun über sie gekommen sind wie die apokalyptischen Reiter ... vielleicht der Kinderlärm der draußen sich leerenden Schule oder die vereinigten Bosch-Hörner auf der Wilsnacker Straße und die entsetzliche Temperatur des Raumes, die der eines Gewächshauses gleichkommt: urplötzlich ist es zu Ende für heute mit ihren Kräften.
Daß der »kleine Wütende« ihr für morgen den Beweis für ihre »hysterische Verlogenheit« ankündigt, kann sie noch mit leidlich klaren Sinnen vermerken. Aber dann fängt das Regal mit den Strafakten 1879-1922 zu kreisen an, und dann erscheint der protokollierende Referendar Thörpolt plötzlich unmäßig vergrößert wie ein Plesiosaurus, und es ist kein Tschako, den der Wachtmann neben ihr auf dem Kopfe hat, sondern eine umgekehrte Kaffeemaschine. Und dann bringt man es noch zu einem hilflosen und vielleicht etwas infantilen Lächeln, und dann fällt man urplötzlich hintüber auf die alten splittrigen Dielen, auf denen sich schon allerlei Dramen abgespielt haben mögen, und fühlt lauwarmes, ekelhaft fades Wasser an den Lippen und erwacht erst zu leidlichem Bewußtsein, als man wieder in der Zelle Nr. 376 auf der Pritsche liegt. –
Und während am Nachmittage mit Blitz und Donner ein formidables Wintergewitter niedergeht über Berlin, und während der Gefängnisarzt Dr. Vonneilich die kleine Sif besucht und sie nach der Todesursache ihrer Eltern und der Anzahl der täglich von ihr geleerten Schnäpse und nach ihrer Ansicht über politische Morde befragt und ihre Kniesehnen beklopft und ihre Pupillen beleuchtet: da arbeitet das Räderwerk der preußischen Rechtspflege, das langsame, ausgeschliffene und unaufhaltsame, weiter. –
Dieses aber muß gesagt werden zum Verständnis dieses Räderwerkes, daß nämlich der Staatsanwalt als öffentlicher Ankläger vor dieser Öffentlichkeit notwendigerweise unanfechtbar dastehn muß in seinem Lebenswandel und mithin im Gegensatz zu jedem anderen Beamten es sich gefallen lassen muß, daß sein Privatleben der Kontrolle seiner vorgesetzten Behörde unterliegt. –
Da starrt also, nachdem die kleine Sif in ihre Zelle abgeführt ist, der »kleine Wütende« ratlos zwei Stunden lang in das Protokoll, das, so viele Überraschungen seine Fortsetzung auch noch bergen mag, doch nun einmal auf den Staatsanwalt Alexander Bruckner ein eigentümliches Licht wirft. Und wieder zwei Stunden später, da läßt sich dann der »kleine Wütende« bei so einem weißhaarigen, in Ehren ergrauten Amtschef zu einer sehr, sehr ernsthaften Unterredung melden, zu der er jenes Protokoll mitgebracht hat. Und nach abermals zwei Stunden kann man diesen in Ehren ergrauten Behördenchef sehn, wie er vor dem bewußten Hause in der Ziegelstraße aus dem Wagen und jene schmierigen, muffigen Treppen hinansteigt, die einmal in einer Oktobernacht die betrunkene kleine Sif hinangeklettert ist am Arme ihres Schwagers ...
Und wenn dieser Schwager auch augenblicklich noch nicht zu Hause ist, so gibt es doch zwischen dem Ersten Staatsanwalt und der Gerichtsdienerwitwe Meta Brack über des Schwagers Lex Lebenswandel im allgemeinen und über jene Oktobernacht und den Besuch der kleinen Sif im besonderen eine angeregte Unterhaltung: eine Unterhaltung, bei der die Witwe Brack auf den Kronenorden vierter Klasse ihres seligen Mannes und ihre somit vorauszusetzende Glaubwürdigkeit hinweist, bei der sie in ihrem roten Schlafrock, furchtbar prächtig wie ein Vulkanausbruch oder wie der Sonnenaufgang vom Pilatus aus gesehn, doch den Ersten Staatsanwalt darauf aufmerksam macht, daß schließlich ja alle Zimmerherren so etwas täten, und daß das ja wohl auch so sein müsse und daß sie doch nichts dafür könne, wenn ein solcher Herr wie der Herr Staatsanwalt ... ein lieber und feiner Herr sonst ... auch seinerseits ...
Da wird bei diesen Beteuerungen unter dem in Ehren ergrauten Haar der Besuch leicht rot und macht sich noch ein paar Notizen über die Aussagen der Witwe Brack und klettert wieder in seine Droschke, die des einsetzenden Frostes wegen die Wachstuchdecke vorsorglich über den Kühler gelegt hat. Und dann braust er, dieses Mal ohne sein Mittagessen eingenommen zu haben, in sein Amtszimmer mit dem Porträt des deutschen Strafrechtslehrers Kohler auf der einen und dem Farbendruck der Interlakener Promenade auf der anderen Seite; und dann bedient sich der alte Herr des Telephons und läßt den Herrn Staatsanwalt Alexander Bruckner zu einer dienstlichen Unterredung zu sich bitten: jetzt, auf der Stelle, unabhängig von seinen sonstigen dienstlichen Obliegenheiten ...
»Quatit ungula campum« aber heißt auf deutsch, daß jemand mit dem Fuße den Boden stampft, während wir als junge Leutnants, wenn wir gesündigt hatten, es schlicht mit »der Herr Oberst läßt bitten« übersetzten ...
Der Schwager Lex erscheint ... ja, es ist zu betonen, daß er diese Unterredung mit seinem Chef seit langem befürchtet hat – eigentlich schon seit der Nachricht von dem Auftauchen der kleinen Sif und von ihrem Geständnis in Buenos Aires. Und es sprechen allerlei Gründe dafür, daß der Mißmut und die Schweigsamkeit des Schwagers Lex während der letzten vier Wochen im wesentlichen zurückzuführen sind auf diese im Wachen und im Traum als Luftspiegelung vorausgesehene Szene.
Da steht er und bemüht sich, alle Sünden wieder gutzumachen durch die stramme Haltung des weiland Reserveleutnants Alexander Bruckner, durch den allein seinerzeit vor soundso viel Jahren die Schlacht bei Lodz gewonnen wurde. Und wenn zunächst sein Chef unnahbar und gemessen wie ein altrömischer Prätor ist, so ist doch zu bemerken, daß das anfängliche Piano dieser Unterredung allmählich anschwillt zu einem zunächst nur mit zwei, dann aber mit mindestens fünf »f« auszudrückenden machtvollen Fortissimo. Die Gerichtsdiener aber, die in dieser Stunde des abgeflauten Verkehrs müßig auf den Gängen stehn, hören mit erfreuten Gesichtern das Brausen dieses irdischen Gewitters, das sich in das zur gleichen Stunde niedergehende himmlische mischt. Und es hören es die aus den Stämmen der Saxonen und Trans-Rhenanen hervorgegangenen Referendare, und selbst die Scheuerfrauen hören es, die unentwegt um diese Stunde die Residuen der Rechtspflege fortschwemmen mit ihren Wasserfluten: Butterbrotpapiere und Bananenschalen und die an den Justizrat Manasse II in Sachen »Krause wegen Widerstandes« gerichteten Terminsbenachrichtigungen ...
Und zu gar nichts nützt dem Staatsanwalt Alexander Bruckner der Hinweis auf die Tatsache, daß sein Bruder Robby in eine eigentlich nicht standesgemäße Familie geheiratet, daß es sich somit, in den Jargon des Korps Neo-Borussia übersetzt, um »ein kleines Mädel« gehandelt habe ... zu nichts nützt es ihm, zu gar nichts! Alles prallt ab an der Feststellung des alten Herrn, daß der Staatsanwalt Alexander Bruckner selbst ein Teil des Staates sei, daß auf ihm ein Teil der Autorität dieses Staates beruhe. Daß er, der alte Herr sich Mühe geben wolle, dieses Mal die Angelegenheit wieder einzurenken, daß es aber fern von Madrid, nämlich in Lyck in Ostpreußen unter dem vierundfünfzigsten Grad nördlicher Breite das größte Landgericht des Staates gäbe, wo der Herr Staatsanwalt den Versuchungen der Großstadt nicht in dem gleichen unerwünschten Maße ausgesetzt sein werde ...
Da endet mit dem Vergrollen des Wintergewitters draußen auch diese Unterredung, und da verläßt denn der Schwager Lex als gebrochener Mann das Zimmer seines Vorgesetzten.
Unaufhaltsam aber drehen sich in dieser Nacht neben den gut geölten der preußischen Rechtspflege die Räder der Berliner Rotationspressen. Weswegen die kleine Sif, die bei ihrem Verschwinden eine Angelegenheit von sieben Zeilen gewesen war, nun zu einem dreispaltigen Artikel angewachsen ist, weswegen die illustrierten Blätter in der letzten Nacht bei der alten Aufwartefrau am Schlesischen Bahnhof sich ihr Bild besorgt haben: ja, sie werden gleich zu nennen sein, die Gründe für die Eintagsberühmtheit der Damen Sif Bruckner und Wilhelmine Grandjean.
In dieser Nacht jedenfalls, in der die kleine Sif seltsam friedlich schläft, hat bei dem »kleinen Wütenden« ununterbrochen das Telephon geläutet: Daily Mail, Corriere della Sera, Wiener Journal ... von den Korrespondenten der Weltblätter angefangen bis zu jenem des Reichsboten, dessen Lektüre bekanntlich Sündenvergebung und ungehinderten Eintritt ins Paradies gewährleistet: alle erbitten sie eine Unterredung mit dem Untersuchungsrichter über den Fall Bruckner. Und wenn man hineinschauen könnte in die Telephonkabinen des Exzelsiorhotels: man würde einen alten guten Bekannten dort finden, der noch um ein Uhr nachts Ort und Stunde der heutigen Vernehmung zu erfahren sucht ...
Und während an diesem kalten blau-goldenen Februarmorgen Automobil auf Automobil vorfährt vor der Fassade des Moabiter Kriminalgerichtes und Herren mit und ohne Klappkamera entleert und Herren mit und ohne Bügelfalte und sitzungsfreie Reichstagsabgeordnete mit und ohne Tantiemenprozente und berühmte Verteidiger mit allen Namen der großen und kleinen Propheten, da findet in dem sorgfältig abgesperrten Zimmer des »kleinen Wütenden« unmittelbar vor der Fortsetzung des Verhöres eine sehr ernsthafte und für das Schicksal der Gefangenen außerordentlich bedeutungsvolle Unterredung statt.
Die aber, die sich eingefunden haben zu dieser Unterredung, sind die gleichen Personen, mit denen sie begonnen hat, diese in der Strafrechtpflege nun ziemlich bekannte Geschichte der kleinen Sif: der Onkel Ministerialrat ist da, und wenn er auch heute keinen Hausorden »zum Halse heraus« trägt, so weiß der »kleine Wütende« doch durchaus, was er einem Zeugen dieser Stellung schuldig ist, und läßt ihm den sonst für prominente Sachverständige bestimmten Lutherstuhl hereintragen. Dann steht da noch der gestern vom Blitz gestreifte und heute ein wenig blasse Schwager Lex, dann ist endlich als unwesentliches Anhängsel des Familienchefs sämtlicher Bruckners Robby erschienen.
Und während in der Zelle Nr. 376 die kleine Sif von der Wärterin angefahren wird, weil sie ihre Bettdecke nicht richtig gefaltet hat, während sie mit Wasser ihr Haar zurechtstreicht und im Spiegel eine verhärmte ... ach, eine um so viele Jahre gealterte Sif erblickt: da schlägt der »kleine Wütende« mit der flachen Hand auf das gestern aufgenommene Protokoll und erklärt, daß er hier einfach vor einem Rätsel stünde, und daß er zwecks Rätsellösung die Herren als nahe Verwandte noch einmal zu dieser Besprechung habe bitten lassen, die er als gewissermaßen außeramtliche Ergänzung ihrer schon fixierten Zeugenaussagen aufzufassen ersuche ...
Und wenn es auch nicht meine Mission sein kann, jetzt schon das den »kleinen Wütenden« beschäftigende Rätsel zu lösen, so erklären doch, während Robby hoffnungslos in den Wintertag hinausstarrt, die übrigen Bruckners, daß eine Scheidungsklage längst eingereicht sei; daß sie also die Insinuation einer Verwandtschaft mit der kleinen Sif eigentlich zurückweisen müßten, daß sie aber im Sinne ihrer früheren Aussagen nochmals die, wohl auf hysterischer Basis zu suchende Fabuliersucht der kleinen Sif erwähnen müßten. Daß sie außerdem als kleines Kind vom Mädchen einmal fallen gelassen worden sei, und daß sie als Braut einmal nachweislich zehn Mohrenköpfe nacheinander verzehrt und in der Potsdamer Straße einmal einen Polizeileutnant mit »Schutzmann« angeredet habe ...
Da knurrt der »kleine Wütende«, daß diese Fabuliersucht dem Staate durch die Kosten des Rücktransportes von Buenos Aires soundso viel hunderttausende Papiermark gekostet habe, zum Donnerwetter ja ... Und dann bittet er die Herren, zunächst abzutreten, und ordnet an, daß die sonstigen, heute noch einmal geladenen Zeugen im Nebenzimmer bereitzuhalten seien.
Und während draußen vor der Tür der Gang voll ist von Neugierigen und Journalisten und dienstfreien Referendaren, und während an Zelle 376 die telephonische Weisung ergeht, daß die Untersuchungsgefangene Bruckner vorzuführen sei, da sind es drei in dieser Sache schon vor Wochen vernommene Personen, die der Gerichtsdiener Palleske II unter dem Aufgebot einer für diesen Ort ungewöhnlichen Geheimniskrämerei in das Nebenzimmer des Untersuchungsrichters eintreten läßt: wenn man von dem Gerichtsarzt Dr. Vonneilich absieht, so muß angesichts der zweiten Persönlichkeit an jene auf die Ermordung der Witwe Grandjean folgende Nacht erinnert werden, in welcher Nacht die kleine Sif an den Tatort zurückgeschlichen ist und im Treppenhause sich in den Schatten geduckt hat vor einem Manne, der sie beinahe gestreift hat in ihrem Verstecke. Und wenn auch die Wichtigkeit dieses zweiten Zeugen, des damals mit der Erhebung des allerersten Tatbestandes betraut gewesenen Kriminalkommissars Kerschlach nicht zu unterschätzen ist, so darf noch weniger unterschätzt werden die Wichtigkeit der dritten Person, die, gestützt auf irgendein ältliches Weiblein in Kapotthut, ins Nebenzimmer geleitet wird und von Schals und Schleiern verhüllt ist wie das Schicksal. Und vielleicht auch ein Stück Schicksal darstellt in dieser Stunde ...
Es ist eine merkwürdige und eigentlich erfreuliche Verfassung, in der um die gleiche Minute die Untersuchungsgefangene Bruckner aus ihrer Zelle über den von Neugierigen vollgestopftem Gang ihrem Richter zugeführt wird.
Zum ersten Male seit Monaten ... ja, zum ersten Male seit jenem Tage, an dem sie Hündchen Binky tötete, hat sie friedlich und tief geschlafen, und wenn sie in aller Frühe dieses bitterkalten Tages erwacht ist, so geschieht das doch in einem Frieden, der ihr unbekannt ist seit so langer, langer Zeit. Daliegend und ein wenig klappernd vor Frost in der Stille ihres Gefängnisses sieht sie an diesem Morgen ihr Leben mit einer fast graphisch darstellbaren Klarheit vor sich: hier ist ein großes tiefes Loch im Leben, das ist die Schuld. Hier aber ist dafür ein großer, großer Berg, das ist die Strafe und das Leiden. Berg wälzt sich über den Abgrund, füllt ihn aus. Da ist alles gut. Und wenn man noch ein gutes Wort hört aus Klein-Robbys Munde, dann wird die Strafe nicht gar so schlimm, dann wird alles, alles erträglich sein. Und darauf allein kommt es jetzt an, daß man wahrhaft ist und sauber und einen großen Berg von Buße sich aufbaut ... ja, sieh, kleine Sif, alles wird noch gut werden ...
Ja, in dieser beinahe bräutlichen Feierlichkeit hat man nun die Spießrutengasse der Reporter und der Neugierigen zu passieren. Da klappen wohl die Verschlüsse der Kameras, und da sind diese Justizräte und Syndikusse der Landgerichtsdirektoren mit Blutdruckgraden von einhundertundzwanzig bis einhundertundachtzig, und kritische Bemerkungen über ihre mutmaßlichen weiblichen Reize und Grinsen und Referendarzoten. Und da man wohl so eine Kokottenschönheit mit Blick und Busen erwartet hat und nur so etwas wie eine magere kleine Heilige zu sehn bekommt, mit großen, ein wenig fiebrig glänzenden Augen: so ist man mit einem Male ganz stille und verlegen und macht Platz und läßt sie unbehelligt hindurch. Es ist nun schon zwölf Uhr, als sie vor dem Untersuchungsrichter erscheint. –
Da wäre also wieder das Zimmer unseres lieben »kleinen Wütenden« mit bronchitischer Zentralheizung und dem Parfüm uralten Tabakgestankes und der sorgfältig geheimgehaltenen großen Sensation im Nebenzimmer. Da sitzen nun aufgereiht der mit dem Erlaß des Haftbefehles betraut gewesene Staatsanwalt und der Gerichtsarzt und der Kriminalkommissar Kerschlach. Und da steht nun die Gattin Robbys, die gewesene Sekretärin des Obersten Miramon und Insassin des Hauses der »Confederation of good works« gegenüber einer geschlossenen Front von Makellosigkeit und Würde.
Im Gegensatz zu gestern ist es ein merkwürdiges, ein beinahe unheimliches Piano, mit dem der »kleine Wütende« sein heutiges Verhör beginnt, und man hört ordentlich das Kreischen der seelischen Westinghouse-Bremsen, die er anzieht: »Sie bleiben dabei, die Witwe Grandjean getötet und beraubt zu haben?«
»Ich habe es getan. Ich wollte es nicht tun. Aber ich habe es doch getan.«
Der »kleine Wütende« winkt wie ein Operninspizient, der im Tannhäuser das Versinken des Venusberges anordnet. Ein Uniformierter erhebt sich, verschwindet im Nebenraum, erscheint nach ein paar Sekunden wieder mit jemand, der vor fünfzehn Minuten dorthin verbracht worden ist mit aller Heimlichkeit: vor der kleinen Sif, gestützt auf irgendein altes, nach Kampfer duftendes Weiblein, steht die Witwe Grandjean.
Eine erschreckend gealterte, eine zur Mumie eingetrocknete Witwe Grandjean mit einem blöden Greisenlächeln und so einer alten Base, die die etwas unzulänglich gewordene Zeugin hierher hat führen müssen ... alles gut und schön, und trotzdem das Weib, das man erwürgt hat in der Burgstraße neben dem verfallenen Hotel »Neldener«, in dem zu des jungen Bismarcks Zeiten der brandenburgische Landadel abstieg ...
Die kleine Sif ist nicht gespenstergläubig, die kleine Sif taumelt nicht zurück und wird nicht bleich. Die kleine Sif steht und starrt und murmelt nur leise vor sich hin, daß sie es trotzdem getan habe, trotzdem ... trotzdem ...
Schweigen ist eine Weile im Raum und dann das asthmatische Keuchen einer Rangiermaschine draußen und dann wieder Schweigen.
»Was haben Sie zu sagen?« fragt der Richter die kleine Sif. Der »kleine Wütende« wendet sich, da eine Antwort nicht erfolgt, an die Witwe Grandjean, stellt fest, daß sie nach dem Überfall an dem bewußten Oktoberabend zwar eine Viertelstunde lang bewußtlos gewesen sei, daß sie dann aber die Attentäterin genau beschrieben habe. Daß man sie jetzt der Untersuchungsgefangenen Bruckner gegenüberstelle und daß sie sagen müsse, ob die Gefangene da identisch sei mit der Attentäterin ...
Die Witwe Grandjean, immer gestützt auf die Alte im Kapotthut, wird dicht vor die kleine Sif geführt, von ihrer Begleiterin leise instruiert, starrt die kleine Sif an, murmelt ein paar Worte. Die Alte im Kapotthut übersetzt diese Worte dahin, daß die in Frage kommende Person viel jünger und wohl auch größer gewesen sei, und daß jedenfalls die Witwe Grandjean die ihr gegenüberstehende Untersuchungsgefangene Bruckner nicht kenne. Ein brauner vorzeitiger Schmetterling ... ein sogenannter »Rotmantel«, der hier eigentlich nichts zu suchen hat, wird von dem Referendar Thörpolt beobachtet, wie er ganz nutzlos gegen die Fensterscheiben fliegt bei dieser denkwürdigen Aussage der Witwe Grandjean. –
Oh, eigentlich kommt es keinem der Anwesenden, wenn man absieht von der kleinen Sif selbst ... eigentlich kommt es keinem besonders überraschend, das Resultat dieser Konfrontation. Verdächtig ist einem alten Praktiker wie dem »kleinen Wütenden« von vornherein die Hartnäckigkeit gewesen, mit der die kleine Sif in einem Falle, wo doch das Weiterleben der Überfallenen durch die Zeitungen allgemein bekannt geworden sein muß, sich des Mordes bezichtigt ... auffallend bei so einer nach Amerika durchgebrannten. Frauensperson, der das Geld für die Rückreise fehlte. Es wird nach dieser Konfrontation vollends klar, daß der junge Kollege von der Staatsanwaltschaft einen argen Bock geschossen hat, als er auf die Selbstbezichtigung der ersten besten Hysterikerin einen Haftbefehl erließ. Und wenn man hier unter Zuziehung dieses Kollegen eine höchst beschleunigte Untersuchung durchführt, so geschieht es, weil man die ohnehin alarmierte Öffentlichkeit mit der Blamage der Staatsanwaltschaft nicht länger füttern, weil man die Angelegenheit möglichst rasch aus der Welt schaffen will. Und klar ist das eine, daß alles Weitere eigentlich nur noch in Formalitäten und einer schleunigen Enthaftung bestehn kann, und dunkel ist nur das eine, was denn ja auch die Öffentlichkeit so aufregt in diesen Tagen: die Hartnäckigkeit, mit der die kleine Sif festhält an ihrer Schuld. –
Und so läuft es denn nun ein wenig leer, das Räderwerk der Rechtspflege, soweit es sich nach dieser Konfrontation überhaupt noch zu drehen hat. Der »kleine Wütende« wendet sich an den Kriminalkommissar Kerschlach, der Kriminalkommissar Kerschlach verliest das Protokoll der allerersten Vernehmung, wonach damals die Witwe Grandjean die Attentäterin als ein Meter und fünfundsiebenzig Zentimeter groß geschildert habe. Der Gerichtsarzt Dr. Vonneilich, um sein Gutachten gebeten, sagt aus, daß die Witwe Grandjean durch Auswirkung des seelischen Shoks in ihrer Merkfähigkeit zwar erheblich nachgelassen, daß aber dieser Prozeß viel später eingesetzt habe, und daß ihre volle Zurechnungsfähigkeit bei der ersten Vernehmung außer allem Zweifel sei.
Und dann übernimmt der junge übereilige Kollege von der Staatsanwaltschaft einen letzten Vorstoß und richtet seinerseits ein paar Fragen an den Kriminalkommissar Kerschlach. Und dann antwortete der Kriminalkommissar Kerschlach, daß der Parteienverkehr im Geschäftslokal der Witwe Grandjean außerordentlich rege gewesen sei, und daß die gewonnenen Fingerabdrücke einen Schluß auf die Identität der Untersuchungsgefangenen mit der Täterin nicht zuließen. Und dann erstattet noch der Doktor Vonneilich seinen Bericht und spricht von »Clavus« und »Globus hystericus« und »transitorischen Bewußtseinsstörungen« und endet mit der Diagnose der typischen hysterischen Fabuliersucht. Da klappt der junge Kollege von der Staatsanwaltschaft resigniert seine Akten zu. Und dann hört man eine Weile draußen das große schreckliche Berlin grollen. Und dann begibt sich der Gerichtsdiener, um die etwas peinliche Pause auszufüllen, an die Tür und steckt den Kopf heraus und ersucht die draußen Wartenden um etwas mehr Ruhe.
Der »kleine Wütende« aber wendet sich nunmehr an die Untersuchungsgefangene Bruckner, der »kleine Wütende« fragt, ob sie das, was hier eben verlesen sei, verstanden habe, der »kleine Wütende« will wissen, was sie dazu sagen wolle.
Die kleine Sif ist so perplex, daß sie gar nichts verstanden hat. So verwirrt von dem Erscheinen der Witwe Grandjean ist die kleine Sif, daß sie im Augenblick gar nicht darauf kommt, das fortgeworfene Perlenkollier genau zu beschreiben und auf diese Weise ihre Täterschaft nachzuweisen. Die kleine Sif ist nicht einmal imstande, sich ein wenig zu freuen über die Tatsache, daß sie nun doch keine Mörderin ist. Im Hirn der kleinen Sif erhält sich im Augenblick mit aller Hartnäckigkeit nur ein einziger Gedanke: daß sie eigentlich es ja doch getan hat, daß die Witwe Grandjean ja nur durch einen Zufall am Leben geblieben ist, und daß man trotz allem büßen muß, wenn man zurück will zu seinem Frieden. Da steht sie denn da mit hilflos am Leibe herabhängenden Armen. »Ich habe es trotzdem getan,« sagt schließlich ganz leise die kleine Sif.
Da aber geschieht es, daß der Hohepriester sein Gewand zerreißt, und daß im Tempel der Vorhang klafft, und daß der »kleine Wütende« ohne Anwendung seiner Westinghouse-Bremsen sie anfährt: daß sie eine schlimme, eine verlogene hysterische Person sei, daß sie sich wichtig machen, daß sie sich mit ihren Schwindeleien eine kostenlose Überfahrt nach Europa habe verschaffen wollen ...
Und da, als sie zu Ende ist, diese väterliche Ermahnung, die Wort für Wort noch zwei Etagen tiefer im Keller gehört wird, da ist es eine schreckliche Klarheit, die sich aufbaut vor der kleinen Sif: daß alles Leid und alle Qual umsonst gewesen ist, daß sie beschmutzt ist von einer häßlichen Alberei des Lebens, daß sie beschmutzt und lächerlich weitergehen soll samt ihrer Schuld. Und nun ist es an ihr, aufzuschreien in ihrer Not, und nun ist es die große Empörung, die über sie gekommen ist ... ach, was wissen sie denn, diese schmissebedeckten Klötze und Stöcke ringsum von dieser Wut, die geboren ist aus dem guten, dem anständigen Bedürfnis nach Sauberkeit und aus dem sinnlosen Leiden der Kreatur: » Und trotzdem habe ich es getan! Und wenn es nicht so geworden ist, so ist das mein Verdienst nicht. Und weil es nicht mein Verdienst ist, so ist es meine Schuld. Und weil es meine Schuld ist, so muß ich mein Recht haben. Mein Recht ... ja, sagt doch, was ihr wollt!«
Dagestanden mit blitzenden Augen und geballten Fäusten und einem heiligen Zorn, der schließlich erstickt in krampfhaftem, wütendem Schluchzen.
»Hinaus!« schreit der »kleine Wütende« und springt auf und verhakt sich mit seiner Robe an der Tischecke, daß es einen Ruck gibt und einen wirklichen Riß in der schwarzen Toga vom Saum bis zu den Hüften. Da müssen die anderen, der Zeuge Kerschlach und der Doktor Vonneilich, der Referendar Thörpolt und der Gerichtsdiener Krause II ... da haben sie allesamt plötzlich grade mal was unter dem Tisch zu suchen und fangen merkwürdig zu zittern an mit ihren Rücken und haben rote Köpfe, als sie nach einer Weile wieder auftauchen. Da wird, geschüttelt von einem Weinkrampf, die kleine Sif aus dem Saale geführt. –
Da liegt sie auf ihrer Pritsche und sieht den roten Sonnenfleck nicht, den der grimmig kalte Tag hineinschickt in die Zelle Nr. 376. Das Schluchzen aber dauert volle zwei Stunden an ... oh, so entsetzlich ist dieses Schluchzen, daß es die Wärterin selbst erbarmt, und daß dieses alte Weib an dem Lager der kleinen Sif sitzt und tut, was sie noch nie getan hat, und das blonde Haar mit der dicken weißen Strähne streicht. Menschenweib zu Menschenweib, und Schwester zu Schwester.
Die kleine Sif aber merkt es nicht. Sondern ist eingeschlafen in tiefer Erschöpfung.
Schläft und sieht nun ein merkwürdiges Bild: sieht einen Pfahl und daran einen schönen nackten Knaben hängen, und Pfeile haben den Jünglingskörper durchbohrt ... in der Hüfte lange gefiederte Pfeile, kurze dicke Pfeile in der mageren Brust. Und Tiere ziehen heran, ein langer, langer Zug: Öchslein mit zerstriemtem Fell und alte blinde müde Pferde mit tiefen eiternden Wunden im Rücken und hinkende fromme Esel mit gebrochenem Rückgrat. Und neigen sich in die Knie vor dem Marterpfahl, ein jedes eine kleine Weile, und ziehen weiter.
Und verhüllte Menschenkinder kommen ... ratlose Mütter mit toten Kindern im Arm, und alte Dirnen mit stumpfem Blick, und die verlorenen Söhne aus der weihnachtlichen Vorstadtkirche Santa Semana in Barracas el Norte und beschmutzte kleine Sifs – ein langer, langer Zug von Menschenleid. Und neigen sich alle eine kleine Weile stumm vor dem Pfahl und ziehen weiter. Und liegen bleibt auf den Knien nur ein verhülltes Weib, das hebt die gefalteten Hände empor zu dem Gefesselten in unfaßbarem Schmerz. Da zerfallen plötzlich die Schleier, und da sieht sie, daß sie es selbst ist, die da liegt. Und dann zerfallen auch die Stricke des Gefesselten, und da ist der magere schöne Knabe vorüber gesunken in ihre Arme. Und sie hält ihn auf ihren Knien, wie ein anderes schmerzliches Weib den Sohn.
Da wacht sie auf und liegt im Untersuchungsgefängnis Moabit in der Zelle Nr. 376, die nun schon bitter kalt ist.
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