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Es gibt Berliner Straßen, die so finster und schaurig sind, als schaue man in die Mündung einer Kanone. Und so bar aller äußeren Ehren sind diese Straßen, daß diese Ehrlosigkeit selbst auf ihre Kirchen abfärbt, und daß es scheint, als werde hier ein besonderer, auf Formalitäten wenig Wert legender Gott verehrt.

Und so, wie diese titanische Stadt, heute darin schon dem Giganten New York ähnlich, sich ein Slawen- und ein Chinesenviertel anzulegen beginnt, wie es in ihr ethnographisch und regional bedingte Laster, Umgangsformen und Speisekarten gibt: so zeugen auch die Kirchen dieser Stadt, die hier vornehm ist wie alter Brokat und dort gemein wie Preßkristall, von einem durch das jeweilige Stadtviertel geprägten Gottesbegriff.

Daß, wer die Hedwigskirche besucht, vornehm ist, wie ein Maltheserritter, hängt, da Katholiken hier nun einmal rar sind wie Thunfische im Wannsee, mit der Seltenheit der Konfession zunahmen.

Dafür aber gibt es höchst protestantische Kirchen mit vorwiegend weiblichen und adeligen Gemeinden, da steht ein jugendlicher Divisionspfarrer auf der Kanzel mit rosarot polierten Nägeln und weiß eigentlich selbst nicht genau, ob er nicht am Ende ein Gardeleutnant ist. Ist aber der Gott, von dem er spricht, nicht ein anderer als der, der etwa in der Lichtenberger Glaubenskirche verehrt wird?

Ich für mein Teil habe meine eigenen Gedanken über den Gott der im neuen Westen von Geheimen Regierungsbauräten zu schaurigen Gotteslästerungen aufgetürmten Monsterkirchen. Und selbst vor dieser Behauptung will ich nicht zurückschrecken, daß Ehen, die etwa in der Parochialkirche geschlossen sind, anders verlaufen, als die aus der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche stammenden, wo die Brautpaare so vornehm sind, daß sie während der Trauung sitzen und wo auf der Orgelempore ein ausgekrähter Tenor singt: »Wo du hingehst, da will auch ich hingehn.«

Was dann durch den weiteren Verlauf dieser Ehen ja meistens dementiert wird. –

Was nun aber für ein Gott über der Ehe der kleinen Sif gewaltet hat, die an einem anerkannt scheußlichen Oktobersamstag des Jahres neunzehnhundertzweiundzwanzig in der Berliner Marienkirche mit dem kleinen Kunstmaler Robby getraut wurde: dies will ich lieber nicht untersuchen. Daß die Ritter unserer lieben Frau, die einst dieser Kirche den Namen gaben, über den Kurfürstendamm ritten, ist schon allzulange her. Und da steht nun der Dom, umbraust von dem fernen Donner der Lastautomobile und der irrsinnigen Klaviatur der Boschhörner ... steht unzeitgemäß in diesem Berlin wie ein katholischer Märtyrer, der sich's einfallen ließe, mit seinen Folterwerkzeugen die Bar des Adlon-Hotels zu betreten.

Und so wollen wir denn auch lieber von dem alten gotischen Gott, der einst so eine Frauenhand durch die festgefügte kleine Welt leitete von Kindsbetten und Taufen und Sterben und viel Leid und spärlichen Freuden: nein, wir wollen von ihm lieber nicht sprechen. Und von dem anderen, der es zu lieben scheint, daß seine Geschöpfe tief in den Staub fallen und der eigentlich ein Gott der Menschenkinder mit zwei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus ist: von ihm lassen sich einstweilen nur solche höchst einfache Geschichten erzählen wie die dieser kleinen Lithographentochter, die an jenem anerkannt scheußlichen Oktobertage des Jahres neunzehnhundertzweiundzwanzig Robby heiratete.

Daß diese Heirat in der Marienkirche sich vollzog, obwohl sie eigentlich doch in den Westen gehört hätte, lag wohl daran, daß der Bräutigam als Kunstmaler für gotische Dome schwärmte. Und wenn es der abgelegenen Kirche zum Trotz eine ganz erstklassige Hochzeit war mit rotem Plüsch und Palmen, so war es eben eine erstklassige Familie, in die die kleine Sif heiratete ... eine Familie mit Regierungsräten und Staatsanwälten; und selbstverständlich wollte eine solche Familie durch das Äußere der Trauung allein es verdecken oder wieder gutmachen, daß ihr Robby eine kleine verwaiste Handwerkertochter heiratete, deren Vater von irgendwoher, von Schweden, vom Monde oder aus einem Märchen eingewandert war. –

Item: in dem Oktoberwind, unter den Bottichgüssen des Regens fahren die Kutschen auf. Und die Kutschen entleeren Majore a. D. und alte Justizrätinnen, die eigentlich wie freundliche Krokodile aussehen. Und alte hochbetitelte Roués steigen aus, Geheime Räte mit gesteigertem Blutdruck und Orden auf Blinddarm und Milz; Freunde des Bräutigams ... Akademiejünglinge mit Weltanschauung und geliehenem Frack ... Staatsanwalt Alexander, Lex genannt, Robbys Bruder, stattlicher Mann mit Hitlerbart unter der Nase und Peau d'Espagne im Taschentuch.

Und dann wieder Damen ... Brautjungfern und alte Damen mit repräsentativen Staatsroben, deren Silberornamente sicherlich von einem erstklassigen Spezialisten für Flecktyphus und Masernausschlag entworfen sind.

Wie nun die kleine Sif, ohne zu ahnen, wie schön sie ist in ihrer herben Jungmädchenpracht ... wie sie alle Gaffer glücklich passiert hat und das Innere betritt, da eben geschieht etwas höchst Seltsames: daß nämlich in dem Mittelgang, der doch sorgfältig freigehalten ist für den Brautzug, ein Mann steht, der sie allem Anschein nach nicht an sich vorüberlassen will.

Und seltsam ist, daß Robby den Mann gar nicht zu sehen scheint, und sehr seltsam ist dieses bartlose alte Gesicht mit den großen traurigen Augen, das gar nicht zu dem eigentlich knabenhaften Körper passen will. Und höchst sonderbar ist auch das Ding, das der Fremde da in der Hand schwenkt ... eine Halskette oder ein Rosenkranz ... und das allerseltsamste ist, daß er in dem gleichen Augenblick, wo Sif ihn ins Auge faßt, auch schon verschwunden ist.

Eine Sinnestäuschung also und nichts weiter! Sie geht tapfer geradeaus auf den Altar zu, geht über alte in die Fliesen eingelegte Grabsteine, deren Figuren wie Pfefferkuchenmänner aussehn, geht und ist durchaus entschlossen, das alte traurige Gesicht des Nebelmannes zu vergessen. Aber dann eben setzt das volle Werk der Orgel ein, und halb ist das sehr schreckhaft wie die Posaune des Jüngsten Gerichtes, und halb wieder erinnert es sie an die Jahrmarktsmusik zu Schauerbildern, die sie als Kind gesehn: der Dampfer »Titanic« geht unter mit händeringenden Menschen und funkenstiebenden Kaminen und grellen Scheinwerferbahnen ... Raubmörder Sternickel beansprucht sechs Bilder mit türkischrot gemalten Blut- und Leberwursttragödien, und den armen Russen, die gerade in die masurischen Seen springen müssen, geht es auch gar nicht gut bei dieser schrecklichen Orgelmusik.

Und wenn die kleine Braut sich auch gleich erinnert, daß es höchst unpassend ist, mit solchen Erinnerungen vor den Tisch des Herrn zu treten, so muß sie sich doch schon in einer unerklärlichen Mattigkeit auf den Arm des staatsanwaltlichen Schwagers Lex stützen, der als Brautmarschall neben ihr geht. Und dann wieder ist es dieser süßliche Hauch, der aus den unterirdischen Geheimnissen der Domgrüfte kommen mag, und dann wieder diese allzu enge Hochzeitsrobe und endlich wieder die Erinnerung an den rätselhaften Menschen vorhin im Gang.

Noch kämpft sie tapfer mit dem Schwindel, der an ihr zerrt. Aber dann fällt ihr Blick gerade auf das Bild mit dem Totentanz, und da muß sie sehn, wie ein braunbeledertes Totengerippe gerade so eine kleine Sifbraut aus den Armen eines mittelalterlichen Robby reißt, und am Ende verfangen in den Gewölben oben sich diese schreckhaften Posaunen der Orgel und stürzen sich nieder in übermächtigen Tonkatarakten auf eine kleine aufgeregte Braut. Und plötzlich wird vor ihren Augen ein Chaos von Lichtern und Orgeltönen und rotem Plüsch und silberbestickten Krokodilen, und Tatsache ist es, daß auf dieser korrekten Trauung die Braut ohnmächtig vor dem Altar liegt.

Die Orgel bricht ab mit kläglichem Miauen, der Skandal ist fertig. Daliegend fühlt sie, wie jemand ihren Kopf tief lagert, wie eine Hand, die breite behaarte Hand eines Orang-Utan an ihrer Robe nestelt. Und nun kommt diese abscheuliche Hand, nun legt sie sich mit widerlicher Wärme auf ihr Fleisch, nun weht ein Gemisch von Peau d'Espagne und männlichem Begehren sie an ... ein abscheulich geiler Hauch, der die Mumie einer Isispriesterin aus tausendjährigem Schlaf erwecken würde: neben der Furcht vor dem Skandal ist es eigentlich der Ekel vor diesem Brodem, der sie aufschreckt aus ihrer Ohnmacht. Als sie sich aufrichtet, erkennt sie, daß es ihr Schwager Lex gewesen ist, der sich da um sie bemüht hat.

Dann steht sie wieder an Robbys Seite und klammert sich an seinen Arm. Dann gibt es ein paar halblaute Worte zwischen Brautführer und dem Geistlichen, dann winkt der Geistliche dem Organisten zu wie ein mittelalterlicher Gerichtsherr dem Henker, dann fahren wieder durch die Gewölbe, über die Grüfte der verwehten Toten die Donner des Gerichtes: ein zwanzigjähriges schönes Geschöpf kämpft, da es auf einer erstklassigen Hochzeit keinen Skandal geben darf, ihre tödliche Schwäche nieder und verspricht dem kleinen Jungen an ihrer Seite, ihm treu zu sein, bis daß der Tod sie scheide.

Und dann diese Hochzeitstafel mit den schönen Tischreden ... Onkel Ministerialrat mit dem Hausorden »zum Halse heraus« ... Schwager Lex mit der behaarten breiten Hand und dem obszönen roten Stein im Siegelring: ein stattlicher Mann, ein Mann wie ein Stier ... wie man sich nur hat fürchten können vor solchem Manne!

Und dann endlich Robbys armselige Atelierwohnung nicht gar weit vom schlesischen Bahnhof ... der Morgen, an dem man, die Hand gefüllt mit Herrlichkeiten, erwacht als junges Weib ... dieser Morgen, der alle Regenwolken verscheucht und einen letzten brennend schönen Oktobertag heraufgeführt hat. Und da eines bislang erfolglosen kleinen Kunstmalers Hochzeitsreise sich gerade bis zu einem der kleinen Grunewaldseen erstrecken kann, so sitzen an diesem Nachmittage eng aneinandergeschmiegt die beiden Menschenkinder in dem schütteren Walde zwischen fortgeworfenen Eierschalen und Zigarettenetuis und all diesen häßlichen Residuen der Großstadt, kochen auf Spiritus eine magere Erbssuppe, füttern mit den Resten das Bastardhündchen »Binky«, das Sif als einziges Brautgut in die Ehe mitgebracht hat.

Und Radfahrervereine kommen vorüber auf der nahen Straße, die haben in Form von bunten Fähnchen ihre politische Gesinnung auf ihrer Lenkstange gehißt ... kleine Bureaumädchen dann, die, um nur nicht schon pränumerando den Schreibmaschinenlärm des nächsten Tages in den Ohren zu haben, so jämmerlich laut zu einer zweifelhaften Begleitung Lautenlieder singen. Und brutaler Lärm kommt von der Gartenwirtschaft des Jagdschlosses, das sich inmitten von Weibergekreisch und Kindergequäk nach den Hifthörnern und der Waldesstille vergangener Jahrhunderte sehnt, und unbarmherzig wie gestern im Dom dröhnen von der anderen Seeseite, von den Rummelplätzen die Orchestrione der Achterbahnen, vermengt zu einem abscheulichen Brei mit dem Keifen zankender Ehepaare und dem Hupengeheul der Höllenwagen auf der Straße.

Ja, da sitzen sie und versuchen, die häßlichen Bemerkungen zu überhören, die vorüberziehende halbwüchsige Lümmel ihrer Verliebtheit zuschicken, übertönen mit ihren Zukunftsplänen die geheime Angst vor dem »Knock out« der großen schrecklichen Stadt: morgen schon fährt Robby nach München, verhandelt über seine Graphiken mit einem Verleger ... gib acht, kleine Sif, nach vier Tagen ist er zurück, behangen mit Aufträgen wie ein Weihnachtsbaum ... im nächsten Jahre muß man stundenlang bei Robby antichambrieren, wenn man sich porträtieren lassen will bei ihm ... im nächsten Jahre schon machen sie sich frei von der großen Stadt ... ja, um Gottes willen, wo ist eigentlich Binky geblieben?

Dort unten auf der Straße, wo eben mit flatternden Fahnen der Jungtrupp der politischen Kongregation »Neues Leben« vorübergezogen ist und nach sich eine Wolke von Gegröhl und Staub zieht, dort unten liegt als winselndes kleines Bündel Binky, der es offenbar gewagt hat, einen der Jünglinge anzukläffen, und dem ein Stockhieb das Rückgrat gebrochen hat: langgezogenes Heulen, zierliche weiße Vorderpfötchen, die nach sich den gelähmten Hinterleib schleppen ... arme, um Gnade bettelnde Augen, in denen schon der Tod umgeht ...

»Töte es,« schluchzt die kleine Sif und weiß genau, was hier noch zu tun ist ... »so töte es doch endlich!«

Und da, als Robby nichts anderes kann, als mit hemmungslosem Weinen zu erwidern, da geschieht etwas Seltsames: sie stampft wütend mit dem Fuß, sie fährt Robby an, sie bricht, als alles nichts nützt, einen soliden Knüppel ab, sie schlägt zu ... zweimal, dreimal, bis das kleine Bündel stille liegt. Dann geht sie weinend in den Wald, um dem toten Binky sein Hundegrab zu graben.

Auf der abendlichen Heimfahrt dann der rohe Kampf um die Plätze ... Menschen, die wie Trauben an den Wagen hängen ... Gebrüll der heimkehrenden Fußballmannschaft »Camperdown« ... die Verliebtheit, mit der sie sich dann doch umschlingen inmitten all des rohen Lärmes ... der erste Zwischenfall dieser Ehe scheint überwunden.

Folgendes ereignet sich am nächsten Abend: Robbys Koffer sind gepackt, um sieben sitzen sie in der Stadtbahn, um acht Uhr wollen sie sich mit Schwager Lex in der Bar des Excelsiorhotels treffen, bis um neun Robbys Zug geht. Und dann, während der Fahrt, vom Fluß herauf der frische Wind mit dem Hauch von Teer und Wasser, die Stadt, die ihren Synkopenrhythmus von Trambahnklingeln und Hupenlärm heraufschickt, die schönen Lichterdiademe der stumm vorübergleitenden Fernzüge: Reiselust, Lebensmut ... sicherlich bringt Robby aus München einen ganzen Koffer zurück mit erfüllten Sif-Wünschen.

In der Nähe des Alexanderbahnhofes geschieht es, daß der Herr, der als einziger Mitpassagier ihnen gegenübersitzt, die kleine Sif in höchst unzweideutiger Weise zu fixieren beginnt: guter Verdiener mit vollblütigem Gesicht ... auf der Weste des blauen Anzuges eine fette Hand mit Brillantgeschwüren ... wo sah man schon solche Hand, und wo spürte man schon einmal diesen schweißigen Hauch des Begehrens, der von diesem Menschen nun zu ihr kommt?

Sie steht auf, starrt, um den schmierigen Blicken, den halblaut gemurmelten Bemerkungen zu entgehn, durchs Fenster, fragt, um Unbefangenheit zu heucheln, ob der Börsenbahnhof vor dem der Friedrichstraße komme, setzt sich schließlich wieder.

Es geschieht zwischen beiden Bahnhöfen – hier, wo die Mietkasernen ihre verräucherten Rückfronten schamlos wie kahle Hintern präsentieren mit erleuchteten gardinenlosen Fenstern und aufgeschwemmten Männern in verschwitzten Wollhemden und verhärmten krebskranken Fünfzigerinnen in nie gelüfteten Wohnküchen – hier in dem Halbdunkel des schlecht erleuchteten Coupés geschieht es, daß der andere plötzlich, völlig überzeugt von der Unwiderstehlichkeit seiner Reize, seine Hand auf ihr Knie legt.

Und nun ist es schon geschehn, das Entsetzliche: es ist der kleine überzarte Robby, der dem anderen ins Gesicht schlägt ... einmal, zweimal ... es ist Robby, der im nächsten Augenblick selbst taumelt unter einem Bruststoß, es sind beide Männer, die im nächsten Augenblick ringend am Boden liegen.

Wer der Sieger bleibt in diesem Kampf, kann ja nicht zweifelhaft sein: zuerst reißt der andere Robby hoch, wirft ihn mit dem Kopfe gegen die Coupétür, wälzt sich über ihn mit seinem schweren Körper. Es nützt Robby zu nichts, daß er sich in dieser Stellung noch gegen den, der über ihm kniet, mit schwächlichen von unten geführten Schlägen wehrt: am Ende kommt diese feiste Hand, dreht den kleinen Maler einfach um, stößt ihn unter harten Beschimpfungen mit dem Gesicht, wie man einen jungen Hund mit der Nase in seine Sünden stupft, auf den Boden dieses Vorortcoupés, auf dem seit diesem Morgen Arbeiter, Zuhälter, Konsistorialräte und Gymnasiasten ihre Frühstücksreste und alle sonstigen Spuren ihres Erdenwandels hinterlassen haben.

Der Kampf endet unmittelbar vor der Friedrichstraße. Der Sieger hält, als der Zug steht, noch eine freundliche an Robby gerichtete Rede, droht für den Fall der Wiederholung eines solchen Angriffes die Wehrmacht des deutschen Staates, die Polizei, die göttliche Vorsehung in Bewegung zu setzen, widmet der süßen kleinen Sif ein Scheltwort, vor dem ein Hamburger Zuhälter vor Scham in den Boden sinken würde, ist zu sehn, wie er an der Seite einer unwahrscheinlich eleganten Dame im Fond einer Autodroschke verschlungen wird von dem brüllenden Rachen der Friedrichstraße.

Und dann rasselt der Omnibus mit dem verprügelten Robby und seiner Gattin das Riesenthermometer der Friedrichstraße entlang vorbei an dem ganzen unheiligen Getriebe von Schaufenstern und blitzender Talmipracht, an Groschen-Automaten und Barkneipen mit zweifelhaften Würsten und Straßenhändlern mit hochgestellten Sarottikisten und Dirnen und Taschendieben und Inflationsdandys in krachneuen Ledermänteln. Er sitzt geduckt und verprügelt da mit zerknitterter Wäsche und blutender Lippe, er würgt die halblauten spöttischen Bemerkungen der Nachbarn herunter, er weiß, daß sie sich seiner nun schämen muß, die kleine Sif.

»Bleib' hier und warte.« Sie fertigt ihn sehr kurz ab vor der riesigen Drehtür des Hotels, sie überläßt ihn einfach der Neugier des Portiers ... unmöglich, ihn hineinzunehmen in diesem Zustande. Sie fühlt, daß sie eigentlich roh handelt an ihm, sie könnte sich selbst prügeln dafür und weiß es doch nicht anders ...

Da steht sie in dieser Halle mit Geldmachern, Hochzeitspaaren, hundertpferdigen Benzinrittern, Smokingbesitzern und verhüllten Sowjetagenten, klagt ihr Leid dem Schwager Lex, der da in seinem untadeligen Abendanzug sie erwartet hat, schluchzt vor Ärger über den verdorbenen Abend, über die Schmach.

»Unerhört,« sagt der Schwager Lex und zahlt und geht mit ihr hinaus zu dem Häufchen Elend, das da draußen wartet. Und dann wird Robby klargemacht, daß er in dieser Verfassung unmöglich hinein dürfe, daß man doch ebenso gut auf dem Bahnsteig warten könne. Und schließlich wird Robby von dem älteren Bruder – genau wie ein kleiner Schulbube, der mit einem neuen Anzug in eine Pfütze gefallen ist – in die Waschräume des Anhalter Bahnhofs zur Rangierung seines Anzugs geschickt, mit allen seinen Plänen und Hoffnungen, nachdem man noch einsilbig eine halbe Stunde promeniert hat, in den Münchner Schnellzug verfrachtet. Und da geschieht es dann doch, daß sie, die sich des kleinen hilflosen Jungen noch eben geschämt hat, urplötzlich allem Protestgeschrei türenschließender Schaffner zum Trotz das Coupé noch einmal stürmt und ihn weinend umarmt ... ein letztes und noch ein allerletztes Mal, als müßte sie sich trennen von ihm für ewige Zeiten. –

Unendliche Trauer beschleicht sie, als sie die roten Schlußlichter des Zuges verschwinden sieht. Am Askanischen Platz, den sie am Arme ihres Schwagers überschreitet, stoßen sie auf einen Menschenauflauf: ein Blindenhund, der seinen Herrn durch den Wagenstrom hat geleiten sollen, hat, verwirrt von dem Riesenwirbel des Verkehrs, einen einbiegenden feuerroten Höllenwagen übersehn. Der Hund ist unbeschädigt geblieben; von seinem Herrn, der eben wie in einen Backofen ein Stück Brot in den Schlund des schwarzen Unfallwagens geschoben wird, ist nur ein mäßiger, mit Apfelschalen und Ölspuren untermischter Blutfleck übrig.

Ein Polizist notiert die Zeugen, zwei Droschkenchauffeure raunzen halblaut auf die unerwünschte Erfindung des Fußgängers, unter den herumstehenden Sachverständigen des Publikums haben sieben mindestens acht verschiedene Meinungen: in der Mitte untröstlich, daß ihm das hat passieren müssen, steht mit schwefelgelben, ratlos nach dem verschwundenen Herrn suchenden Augen der große schwarze Königspudel, hebt hilflos die Pfote, bricht in ein langgezogenes klägliches Heulen aus, das den ganzen Höllenlärm des Platzes übertönt.

Sie streichelt den wolligen Negerkopf, der Jammer der kleinen armen Kreatur greift nach ihr, aus Kinderzeiten ein unendlich trauriger Vers fällt ihr ein:

Der Mond, der scheint,
Das Kindlein weint.
Die Uhr schlägt zwölf,
Daß Gott doch allen Kranken helf ...

Da hat der Hund urplötzlich die Witterung des Fleckes auf der Erde in die Nase bekommen, drängt sich vorüber an zwei halbwüchsigen Burschen, empfängt einen Fußtritt, quittiert mit schmerzlichem Jaulen, setzt im Galopp dem Wagen nach, der inzwischen auf seinem Wege nach Norden, nach den großen Krankenhäusern verschwunden ist im Gewühl der Straße.

Nein, unter keinen Umständen läßt es der Schwager Lex zu, daß sie in dieser trüben Stimmung nach Hause geht: hinein noch einmal in die Bar und mit weißem Burgunder den Abend eingerenkt I

Und wieder sitzt sie in den weichen Klubsesseln des niederen Raumes, gießt, um die Traurigkeit loszuwerden, zwei große Kelche Hautes Sauternes herunter, sucht sich zu zerstreuen an dem Theater der großen Halle: Generalkonsul Studemund aus Hamburg hat doch zwei Zimmer ohne Bad vorausbestellt zum Donnerwetter ... Herr Perzinski aus Wien wird von einem Dreikäsehoch in Hoteluniform ans Telephon dirigiert ... Frau Generaldirektor Kruse ist die Handtasche nebst Bargeld und Schmuck abhanden gekommen ...

Irgend jemand in der Nachbarloge muß sie wohl fixieren! Sie kann nichts sehn, ihr Rücken ist dorthin gewandt ... sie fühlt trotzdem deutlich, daß in das Fleisch ihres tiefen Nackenausschnittes sich gierige Männerblicke bohren. Und wie sie erneut trinkt, um die Verlegenheit herunterzuspülen, als sie wohltuend das schwere süße Gift durch das Hirn schleichen fühlt, da spürt sie, wie ein Lackschuh auf dem ihren ruht, wie ihr Fuß geliebkost wird von diesem Männerfuß ...

Der Schwager Lex! ... nein doch, unmöglich: ist er's gewesen, so ist's eben aus Versehn passiert! Sie ist blutrot geworden, sie zieht den Fuß zurück. Der Schwager Lex erzählt mit sehr harmlosem Gesicht, daß er verwundet worden sei, er zeigt ihr, von russischen Reiterattacken und dem vernichtenden Feuer seiner Batterie schwadronierend, eine Schrapnellnarbe am Arm ... der Schwager Lex hat es bestimmt nicht getan, der Schwager Lex stößt erneut mit ihr an und schmiegt, während er trinkt, sein Knie dicht an das ihre ...

Das ist zuviel, und nun wird sie sich einfach der Situation entziehn, indem sie aufsteht und in den Tanzraum geht! Und da, wie sie sich umdreht und den Schwager Lex bittet, sie zu begleiten, da eben entdeckt sie den, der sie die ganze Zeit über fixiert hat: es ist ein Mann mit einem fast knabenhaft zierlichen Körper und frauenhaft feinen Händen, die resigniert und höchst lässig mit irgendwelchen Münzen spielen ... ja, alles wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn dieses faltige und doch wieder knabenhafte Gesicht mit den großen und eigentlich traurigen Augen ihr nicht schon einmal begegnet wäre.

Wo denn nur ... wo?

Ja, es ist das Gesicht des Mannes, der sich gestern in der Marienkirche ihr in den Weg gestellt hat, und der dann plötzlich verschwunden war ...

Unsinn, kleine Sif: Phantome trinken nicht in der Bar des Exzelsior-Hotels Capkognak ... Es ist, wie auf ihre Bitte der Schwager Lex beim Barmixer erfragt, irgendein exotischer, im Hotel wohnender Militärattaché ... es ist eine höchst zufällige Ähnlichkeit mit jenem Phantasieprodukt von gestern, nichts weiter! Aber dann sieht sie doch wieder diese entsetzlichen stillen, traurigen Augen unverwandt auf sich gerichtet, und dann ist es, als vereinigte sich alles männliche Begehren im Saale ringsum ... die Gesichter dieser besmokingten Halb- und Vollkavaliere, der heiße Atem ihres Schwagers, die Wärme seines Knies ... alles, alles in diesem Blicke. Es ist zu bemerken, daß sie sich noch bis zum Bartisch rettet, daß der Schwager Lex es noch fertig bekommt, hier, unter den Blicken dieses Fremden da ihr irgendein Höllengebräu einzuflößen. Sie kann es aber nicht ändern, daß sie sich im nächsten Augenblick in einem ihrer Herzanfälle, zu dem die Hitze des Raumes, der Zigarettenqualm, der überschwere Burgunder beigetragen haben mag, in ihren Stuhl retten muß.

Der Schwager Lex hat sofort einen Wagen besorgt ... hinaus und fort von hier!

Als sie hinaustritt in den scharfen Schneewind, vorübergeht an den Zeitungsverkäufern, die sich frierend die Hände reiben, merkt sie, daß sie viel zuviel getrunken hat ... die Lichtreklame des Potsdamer Platzes, die Feuerwürmer der Trambahnzüge, die scheinbar schweigend in die Innenstadt flutenden schwarzen Menschenmassen: alles mischt sich zu einem sinnlosen Brei.

»Nach Hause ... ich bitte, nach Hause ...«

Als sie bei dieser Bitte den Arm ihres Schwagers fester faßt, wird ihre Bewegung durchaus mißverstanden, und wieder fühlt sie seinen Lackschuh auf dem ihren. Und dann geschieht es am Brandenburger Tor, wo der Wagen für ihren Weg in die Linden einbiegen müßte, daß eine häßliche Angst nach ihr faßt, daß sie ihn noch einmal flehentlich bittet, sie nach Hause zu bringen.

»Pflicht!« sagt der Schwager Lex und scheint auf jeder Haarspitze seines Hitlerbartes ein Atom Pflichtgefühl sitzen zu haben. Und dann setzt er ihr auseinander, daß er eben pflichtvergessen an Robby handeln würde, wenn er sie in diesem Zustande allein ließe. Sie hat den Eindruck, daß der Chauffeur, den sie vergebens anders zu dirigieren sucht, und der eben, ohne sich um sie zu bekümmern, die Marschallbrücke überquert, verstohlen grinst bei den Worten des Staatsanwaltes: nach fünf Minuten halten sie vor Lex' Wohnung in der Ziegelstraße.

Die drei mattenbelegten Treppen eines schäbig-eleganten, verwohnten und muffig riechenden Hauses, auf jeder Zwischenetage je eine Gipsbüste von Moltke über Bismarck sich steigernd bis zum alten Kaiser ... ein fünfunddreißigjähriges Frauenzimmer, das oben öffnet und mürrisch sie mustert.

Eine elegante Wohnung, die Wohnung eines Ritters: ein Wohnzimmer mit Diwan und Kastengrammophon und Plüschvorhängen, die an wagerechten Messingspießen befestigt sind ... mit Mützen und Rapieren des Reformkorps Palaio-Borussia an der Wand und Leuchtern aus gekreuzten Bajonetten und einer hochberühmten Strafrechtlehrerbüste auf dem Schreibtisch, die sich hier wie ein in ein Bordell verirrter Mathematikprofessor ausnimmt.

Der Staatsanwalt dreht das Licht ab: er wird nebenan Kaffee bereiten, sie wird sich derweil hier auf dem Diwan ein wenig erholen, er läßt sie diskret allein.

Da liegt sie, kauert sich zusammen in unbestimmbarer Angst, das Herz geht wie das eines jungen Singvogels, nach dem die Hand eines Schulbuben greift: Mann mit blaucheviotenem Spitzbauch streichelt ihr Knie ... Robby verprügelt auf dem Boden ... Schwager Lex' Knie an das ihre sich schmiegend ... Männerfratzen ringsum ... Onestep »Where is Mary« ... die Augen, die schrecklichen toten Augen des Menschen vorhin in der Bar ... Angst, entsetzliche Angst ...

Sie fährt auf mit einem Schrei, sie ruft, umnebelt, wie sie ist, Robbys Namen. In das Zimmer tritt der Schwager Lex mit dem zerhackten Beefsteak-Gesicht ... hinter ihm dieses schlampige Weib mit dem Kaffeetablett. Diese neugierigen Blicke dann, die ihr einfach die Kleider vom Leibe reißen ... der widerliche Hauch des Peau d'Espagne aus dem Schlafzimmer nebenan ...

So geht es nicht weiter, sie ist verloren, wenn sie sich nicht zusammennimmt! Sie ordnet ihr Haar, die zerknitterten Kleider, richtet sich auf, der Duft des Kaffees hilft ein wenig, sie sitzt ihrem Schwager gegenüber ...

Und nun erzählt der Schwager nicht mehr von den Schlachten bei Lodz, er zeigt nicht mehr Schrapnellnarben auf dem Arm, er langt den giftgrünen Benediktiner herbei, gießt ihr ein, erzählt einen giftgrünen Witz: Pariser Dame bietet einem Kavalier Likör an, Kavalier antwortet: »Moi, madame, je préfère les affaires, qui commencent par le cœ;ur et finissent par le lit« ... sieh mal an, sieh mal an, sie ist gar nicht so unzugänglich, die kleine Schwägerin, daß sie so lacht ...

O ja, sie lacht überlaut ... exaltiert lacht sie, um ihre Angst, ihre Betrunkenheit zu übertönen ... um ja nicht schwach zu erscheinen, um sich ja keine Blöße zu geben, muß man wohl auch diesen widerlichen grünen Schnaps herunterschütten!

Und der Schwager Lex ist geistvoll, und der Schwager Lex sagt, daß derartige Zynismen diese Zeit ebenso charakterisierten, wie früher etwa die Choräle des Mittelalters ihre Zeit. Und dann sagt der Schwager Lex, während sie ihn mit ein wenig stieren Augen ansieht, daß man nun einmal in einer Zeit der Auflösung lebe, und die moderne Malerei gehöre dazu und der ganze Expressionismus und die sozialen Verschiebungen und der Untergang des Abendlandes, und man müsse wahrhaftig sein und das alles ruhig anerkennen; und tragisch, geradezu tragisch sei es, unter solchen Umständen eine Pflicht zu haben wie er: berufsmäßig die alten Sittengesetze predigen zu müssen.

»Die Pflicht,« sagt der Staatsanwalt und gießt ihr einen neuen Benediktiner ein und macht ein Gesicht wie der heilige Sebastian, wenn er von Pfeilen durchbohrt wird.

Dann das verworrnene Brausen der Großstadt in der Pause, die diesem markanten Worte folgt ... das entsetzliche, hörbare Pochen des eigenen Herzens ... aufreizende Schreie Betrunkener, das Rasaunen einen Straßenzwistes ... Gott schütze dich, kleine Sif ...

»Die modernen Tänze,« sagt der Schwager, »die Auflösung der alten Tanzkunst ...« Der Schwager stellt das Grammophon an.

Ja, tanzen: vielleicht, daß das so etwas wie Rettung bringt. »Nicht unsicher sein,« schreit es in ihr durch die funkelnden Radamontaden des Foxtrotts, »keine Verlegenheit jetzt ...«

In diesem Bestreben, den Schub des neuen Benediktiners im Hirn, beginnt sie zu tanzen, tanzt die wütende Angst in Grund und Boden, tanzt mit scheinbarer Leidenschaft, mit Gebärden, die sie kompromittieren und die durchaus mißverstanden werden müssen ... will es einfach nicht fühlen, wie der andere sie an sich zieht ...

Nichts sehn, nichts hören! Der Sirenenschrei eines Schleppers, lange, lange durch die Nacht heulend, die überhohe, keifende Hupe eines vorbeifahrenden Motorrades ... wieder das Streiten von Betrunkenen ...

Hier drinnen die breite behaarte Hand, die nun den Schalter ausdreht. Die Dunkelheit, der Schwindel, der Duft des widerlichen Parfüms, heißer Männeratem ...

Zu Ende ist es mit der kleinen Sif.

 

* * *


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