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Was nun aber die kurze Geschichte des kleinen Kapuzineraffen »Stepka« anbelangt, so ist zu berichten, daß Stepka insoferne (womit übrigens dem Affenstande nicht zu nahe getreten werden soll) Beamter war, als er den Versuchszwecken eines physiologischen Institutes diente, daß ich selbst aber insoferne als Stepkas direkter Vorgesetzter gelten konnte, als ich mich damals in dem gleichen Institute assistentenhaft betätigte.

Es ist ausdrücklich zu bemerken, daß Stepka, dessen Amtspflichten in der Überlassung seiner Verdauungsdokumente zu Stoffwechseluntersuchungen bestanden ... es ist zu betonen, daß Stepka ein sanfter höflicher Mann war. Daß er alle Türen, die er geöffnet hatte, wieder schloß, daß er mich streichelte, wenn er mich traurig sah, daß er dem Versuchsfoxterrier »Hans«, wenn dieser unglückliche Beamte neue vivisektorische Erfahrungen am eigenen Leibe zu spüren bekommen hatte, zur Erheiterung dieses verwundeten Kollegen alle seine Kunststücke vormachte.

Daß es also ein gutartiges, hilfsbereites Geschöpf war, daß ich in ihm nachträglich, wie heute in meinem schwarzen Pudel, einen der letzten anständigen Menschen des Erdballes erblicken möchte. –

Von den weiteren Schicksalen Stepkas aber habe ich in aller Kürze zu berichten, daß Stepka eines Tages an einer Unterkiefereiterung erkrankte, daß diese Eiterung operativ beseitigt wurde, und daß der Chef des Institutes – ein recht bekannter Gelehrter – die Operationswunde Stepkas zu benützen beschloß, um seinen Studenten die ungeheuerliche Schmerzempfindlichkeit des in der Wunde gerade bloßliegenden großen Unterkiefernerven zu demonstrieren.

Was ja, da für mein Gefühl das irdische Jammertal von Schmerzgeschrei nachgerade genug widerhallt, doch vielleicht nicht unbedingt notwendig gewesen wäre ...

Was mich betrifft, so habe ich Stepka damals angesichts eines Parketts von gut genährten schmißbedeckten jungen Leuten auf meinen Knien gehalten, habe ihm, der vertrauensselig den Arm um meinen Hals legte, wider besseres Wissen und Gewissen gut zugeredet, sah dann zu, wie der bloßliegende große Unterkiefernerv mit elektrischem Strome gereizt wurde, und beschränke mich, im Anschluß daran festzustellen:

daß erstens die nun folgenden akustischen Phänomene nur noch durch das Triumphgelächter des Auditoriums überboten wurden,

daß zweitens der Chef des Institutes – ein durchaus bekannter Physiologe wie gesagt – seinen Hörern das jammervolle Kindergeschrei Stepkas als Beweis für die ungeheuerliche Empfindlichkeit des nervus mandibularis mit bewegten Worten ans Herz legte,

daß ich drittens, nachdem ich den zitternden Stepka auf meinen Armen zu seinem Bette getragen hatte, mich lebhaft danach sehnte, wieder wie einst Rekruten auszubilden, um damit gegen den Fortschritt der Menschheit im allgemeinen und in der Wissenschaft im besonderen zu fechten. –

Was aber Stepka anbelangt, so ist kurz zu sagen, daß er von dieser Stunde an ein boshaftes, zynisches, heimtückisches Geschöpf geworden war, in dessen Augen ich manchmal so etwas wie die Hölle zu sehen glaubte. –

Ich aber, meine Lieben, hatte das Bedürfnis, diese Geschichte des armen Stepka dem vorauszuschicken, was ich über die Erlebnisse eines gequälten kleinen Menschenkindes noch zu sagen habe.

*

Das Haus, in dem der aus dem Dienste der Stadt New York in den von Buenos Aires übernommene Konstabler James Braxton das ohnmächtige kleine Frauenzimmer abgeliefert hat, ist nicht das offizielle Seemannsasyl, das bekanntlich weiter nördlich vom Eingang der Calle da Rivadavia in die Altstadt liegt.

Das Haus, in dem die kleine Sif am Nachmittage des folgenden Tages erwacht, ist ebenfalls ein Asyl ... oh, ich habe gegen die Ehrenhaftigkeit des Hauses absolut nichts einzuwenden. Es ist ein von der sonst sicher untadeligen und auf viele gute Taten zurückblickenden »Confederation of good works« unterhaltenes Haus. Und es hat eben nur an den ungünstigen persönlichen Konstellationen gelegen, wenn die Beglückungsversuche dieses Hauses im vorliegenden Falle auf ungünstigen Boden gefallen sind. –

Item: die kleine Sif erwacht nach abgrundtiefem, ihrer unsäglichen Erschöpfung entsprechendem Schlaf am nächsten Tage. Der Raum, in dem sich das vollzieht, ist ein weißgetünchtes Zimmer mit vergitterten, auf den Hafenkai schauenden Fenstern und einer Photographie der Mosesstatue des Michelangelo als einzigem Schmuck an den Wänden. Die akustischen Phänomene, wie sie nach diesem übrigens nicht vollkommenen Erwachen verzeichnet werden, bestehen in Schreien, in Lachen, dem Singsang von Weiberstimmen, wie sie mehr auf die Isola Maciel, als in ein solches Haus gehören. Dann zerschellt draußen auf der Treppe ein Stoß von Porzellangeschirr, dann kann man energische Mißfallensäußerungen, Weinen, das Maulen einer Weiberstimme hören. Dann hackt jemand unten auf dem Klavier im Dreivierteltakt die Beethoven-C-Moll-Symphonie herunter, dann erfindet das verblödete Hirn dazu einen eigenen Idiotentext: Was ich nicht weiß, was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, macht mich nicht heiß ...

Bis aus Weinen, Schreien, Harmoniumspiel, Beethoven und dem Gedröhn der Lastwagen draußen ein akustischer Sumpf wird, in dem man in seiner großen Erschöpfung tief, tief versinkt.

Nach dem Sonnenkringel zu urteilen, der auf Vater Moses' Hörnern spielt, ist es nun doch schon später Nachmittag, als sie aufgerüttelt wird. Sie erwacht, sieht vor ihrem Bett ein waschleinenes ältliches Frauenzimmer mit weißen Haaren, Pferdegebiß und einer Stimme, die zum akustischen Bestandteil des Jüngsten Gerichts gehören könnte ...

»Ins Bad!«

Da ein Protest gegen diese Stimme überhaupt nicht möglich scheint, so steht die kleine Sif auf, erhält einen blauen Mantel, zu dem nur der Strick fehlte, um sie zu jener, mit Regelmäßigkeit als Öldruck in zahnärztlichen Wartezimmern anzutreffenden büßenden Magdalena zu machen, wozu ihr blondes Haar und das schon mehrfach erwähnte süße Gesicht allerlei beitragen könnten.

Dann also wird man einen Gang entlang geführt. Und hier, wo eben aus den Teeküchen in großen Kübeln das Abendessen geholt wird ... hier also kann man sehen, welcher Art die Insassinnen dieses Hauses sind: alle tragen sie den blau und weiß gestreiften puritanischen Leinenkittel, alle sind es die gleichen müden, frechen, von Berufskrankheiten verschmutzten, stumpfen Gesichter der Isola Maciel ... ja, es ist nicht zu leugnen, daß das Asyl der »Confederation of good works« in erster Linie sich der Besserung aufgegriffener Dirnen widmet. –

Neugierige, spöttische Blicke betasten von allen Seiten die »Neue«, irgendwo im Halbdunkel des Ganges wird eine offenbar ihr geltende englische Zote gehört, der unterdrücktes Gelächter folgt. Dann wird man in ein halbwegs sauberes Badezimmer geschoben, zum zweiten Male angeredet von der Stimme des Jüngsten Gerichts.

»Ausziehn!«

Da ein Vorschlag, sie allein zu lassen, lediglich zu einer dynamisch verstärkten Wiederholung dieser Aufforderung führt, so muß sie eben gehorchen; wird abgebraust, frottiert, als lägen vom Tertiär bis zum Alluvium sämtliche geologischen Schmutzschichten des Erdballes auf ihrem Leibe, muß es sich gefallen lassen, daß das Weib ihr Haar nach Ungeziefer durchwühlt, ihren Leib hin und her dreht, und sie auf unbeschreibliche Weise begafft ... oh, das ist eben das Furchtbarste an all diesen Prozeduren, daß sie viel zu stumpf geworden ist, um auch nur protestieren zu können ...

»Zum Abendgottesdienst!«

Man findet sich in einem Raum, dessen eine Wand von einem riesigen Sternstreifenbanner, den Bildern vollbartbewehrter Priester dieser frommen Sekte, von Tafeln mit puritanischen Sprüchen bedeckt ist. Da ist eine Bank für die Wärterinnen, da ist der ganze Hinterraum angefüllt mit den Insassinnen des Hauses: vor der Holzgalerie die »Gebesserten« mit ordentlich in den Schoß deponierten Händen und erloschenen Augen und den von Schminke und Belladonna und Crême Patachon zerstörten Gesichtern, da ist weiter – je drei und drei Weiber zwischen zwei Helferinnen – das ganze Elend von Unflat und körperlicher Verwüstung aufgebaut, da ist endlich dicht vor dem noch leeren Pult das Armsünderbänkchen, wo man nun als Novizin dieses Hauses hingesetzt, beobachtet wird von hundert frechen Augenpaaren, froh ist, als die »Miß Mary« genannte Alte von vorhin an dem Harmonium Platz nimmt und durch ihre Anwesenheit Ruhe schafft.

Dann beginnt das Harmonium die Melodie des Yorkshire-Marsches zu dudeln, dann wird zu dieser Melodie »Paradise, sweet Paradise« gesungen. Dann ist da auf dem Pulte plötzlich ein älterer wohlgenährter Mann mit kirschrotem bartlosem Gesicht und vollen weißen Haaren erschienen, und dann beginnt, als es ein Ende hat mit Yorkshire und süßem Paradies, dieser Mann seine Predigt.

Da diese Predigt in derjenigen Sprache gehalten wird, deren bekanntlich Gottvater sich selber bedient, da das Englisch der kleinen Sif nicht über das von den deutschen Schulen vermittelte Maß hinausgeht, so sind es ja nur Bruchstücke, die sie verstehen kann. Immerhin ist der Rede zu entnehmen, daß dieser Tag nun der erste Adventsonntag ist, daß die Umwelt sich anschicke, Jesu Christi Geburt zu feiern; daß aber er, Ismael P. Hobson die ihm anvertraute Gemeinde ermahnen müsse, nicht zu viel sich mit Jesus Christus abzugeben. Jesus Christus sei vor zweitausend Jahren als Verbrecher ans Kreuz genagelt, Jesus Christus habe durch seine Lehre von der Vergebung den Sinn der Menschheit abgelenkt von Gottes Gesetz. Gottes Gesetz sei, sich rein zu halten außen und innen, Gottes Gesetz sei Menschheitsfortschritt, Besserung der Sünder durch Erziehung und Buße, Strafe und Belohnung ... er, Ismael Hobson fordere auf, für die schwärzesten Schafe seiner Gemeinde hier zu beten ...

Ach, da man im Augenblick sich ja selbst als die schwärzeste Sünderin aus dieser bußfertigen Versammlung vorkommt, so schlägt man die Hände vor das Gesicht. Aber dann folgt auf das obenerwähnte akustische Signal zu Buße und Reue die optisch wahrnehmbare Ausführung, und da geschieht es, daß alle Anwesenden sich mit einem gewaltigen Ruck auf die Knie, daß sie ihre Gesichter auf die Schemel werfen, daß das ganze Lokal voll ist von ergriffenen, blau und weiß gestreiften Hintern. Da geschieht es denn, daß, wie bei allen Übermüdeten, die Stimmung der kleinen Sif plötzlich umschlägt, und daß sie hinter ihren Händen ganz fürchterlich zu lachen beginnt.

Ach Gott, ein schreckliches krampfhaftes Lachen ist es ... sie kann noch immer nicht aufhören, als das Lokal sich schon leert. Aber da ist es wieder, dieses schreckliche Weib von vorher, das sie sehr hart an den Armen faßt, sie aus dem Saal in ihre Zelle stößt: »Have you laughed?«

Ehe man antworten kann, klatschen ein paar entsetzliche Ohrfeigen in das Gesicht der kleinen Sif ... oh, harte, knochige Hände hat dieser alte Satan, daß rote Streifen zurückbleiben auf den Wangen ... man wird, ehe man sich's versieht, mit einem Fauststoß auf die Pritsche geworfen, hört noch, wie die Tür zugeworfen und von außen abgeschlossen wird.

Welches Ereignis nicht hindert, daß man, obwohl doch bitterliche Tränen über das Gesicht laufen, krampfhaft weiterlacht und lachend vor Elend einschläft und damit diesen ersten Tag im Hause der »Confederation of good works« beschließt. –

Am nächsten Tage wird sie, wozu das von der Behörde mit Fug und Recht protegierte eben erwähnte Haus verpflichtet ist, zur Protokollierung ihrer Personalien von dem Manager Ismael P. Hobson auf die Polizeiwache in der Calle da Rivadavia geführt.

Da sitzt sie, wobei Ismael P. Hobson übrigens von auffallender Freundlichkeit ist, in dieser unbeschreiblich schmierigen Office, ist stumpf und höchst gleichmütig Zeuge, wie der Fletero Francesco Aguilar, der gestern beim Kartenspiel einen Kollegen erstochen hat, beim Verhör einen Wutanfall bekommt und durch Gummiknüppelhiebe beruhigt wird, erzählt mit der denkbar größten Gelassenheit dem dicken, eingeborenen Protokollanten eine lange Räubergeschichte: Anita Thesiger, als argentinische Staatsangehörige in Berlin geboren, Vater in Berlin gestorben, herübergekommen als Sekretärin des Militärattachés, des Obersten Miramon ...

Miramon? Miramon?

Ja, es ist zu bemerken, daß ihre schöne Geschichte an dieser Stelle jäh unterbrochen wird, daß der dicke Mensch für ein paar Minuten in irgendeiner Tür verschwindet, daß sie nach seinem Wiedererscheinen, wobei man übrigens dem Manager Hobson den Zutritt bereitwilligst gestattet, höflich aber sehr energisch in die gleiche Tür genötigt wird.

Es ist ein sauberes, beinahe elegantes Zimmer, in das sie da geführt wird, ein Zimmer mit sauberen Kartotheken und Schubfächern, das man diesem schmierigen Hause gar nicht zutrauen sollte. Der Mann, der in diesem Zimmer hinter seinem Schreibtisch sitzt, und mit dem der dicke Protokollführer von vorhin nun ein paar leise Worte wechselt, ist kein Kreole wie die übrigen ... es ist ein weißhaariger, mit buschigen Augenbrauen und auffallend schmalen Lippen ausgestatteter Nordamerikaner, wie die Polizei von Buenos Aires sie ja vielfach im Dienste hat. Und wenn auch Ismael P. Hobson dem eben erwähnten Manne freundschaftlich die Hand schüttelt, so fühlt die kleine Sif doch plötzlich, daß dieser Mann hier mit jener Polizeiwache am Schlesischen Bahnhof die Atmosphäre der Todesangst gemein hat ...

»Militärattaché Oberst Miramon ...«

Der andere, der Schmallippige lächelt, streift seine Zigarrenasche ab, nötigt mit einer überschlanken, blaugeäderten Hand, ohne ein Wort zu sagen, die kleine Sif zum Niedersitzen und erklärt nach dieser vertrauenerweckenden, chevaleresken Gebärde, daß die Republik einen Obersten dieses Namens nicht in ihren Diensten habe ...

Da sitzt sie in dem heißen, mit dicken Teppichen ausgelegten Raum, hört das infame Ticken einer unsichtbaren Uhr, fühlt, wie ihr die Schweißperlen auf die Stirne treten, sieht die Inschriften der Kartotheken: A bis Be ... Bi bis Co ... Cu bis Gr ... aus diesem dritten Fache dort in der oberen Reihe wird der Schatten der in Berlin erwürgten Witwe Grandjean steigen, sich auf sie stürzen, sie drosseln, bis sie alles gesagt hat ... hier, vor diesem schrecklichen Menschen da ...

»Ihr Paß?«

Unerträglich freundlich beinahe ist diese Stimme, unerträglich diese Lässigkeit, mit der er in ihrem Paß herumblättert, ihn zuklappt, ihn beiseite legt, auf einen Knopf drückt.

»Erzählen Sie also!«

Sie bemerkt gar nicht, daß hinter ihr jemand den Raum betritt, sie erzählt tapfer, ohne dem andern ins Gesicht zu sehen, darauf los: Manchouria ... Fahrt durch die Stadt ... Oberst Miramon ... Villa am unteren La Plata ...

Der andere hat, während sie erzählt, in irgendeinem Fache der Seitenwand herumgewühlt, legt ihr einen dicken Band mit Photographien vor: Gesichter en face und en profil, Herrschaften mit übergroßen Kiefern und fliehenden Stirnen und angewachsenen Ohrlappen und einem Grinsen, das sich bemüht, den Zweck des Photogramms illusorisch zu machen: Taschendiebe, Opiumhändler, Bankdefraudanten, Lustmörder ... auf der dritten Seite dieses Albums in einem simplen Sträflingskittel mit genauer Größenangabe und ein paar geheimnisvollen Chiffren prangt der Oberst Miramon mit den traurigen Augen ...

»Mit diesem da sind Sie gereist?«

Die kleine Sif nickt stumm. Der andere lächelt wieder sein verruchtes Lächeln, die Hand ladet sie ein, weiter zu erzählen.

Oh, die Kriminalpolizei von Buenos Aires hat nicht die geringste Veranlassung sich über den Kokainhändler Agostino Gomez aufzuregen, der ihr seit zehn Jahren ausgezeichnete Spitzeldienste leistet, der sich diesmal als Oberst Miramon einen kleinen Scherz mit diesem blonden Geschöpf da erlaubt zu haben scheint ... o nein, jede Kriminalpolizei hat ihre Miramons und muß sie um ihrer sonstigen Meriten willen gewähren lassen.

Ja, es ist also verständlich, wenn der Schmallippige da von der Identifizierung des Obersten Miramon keine Notiz nimmt und einfach schweigt, es ist aber ebenso selbstverständlich, daß am Schluß ihrer Erzählung die kleine Sif dieses Schweigen nicht mehr ertragen kann, daß sie das tun muß, was in ihrer Lage alle Schuldigen tun: pathetisch oder schluchzend ihre Unschuld beteuern ...

Es ist zu betonen, daß auch dieser Ausbruch den andern unberührt läßt: die beiden vorhin eingetretenen Uniformierten fassen die kleine Sif an, dann werden von den Fingern, die die Witwe Grandjean erwürgt haben, schöne saubere Abdrücke genommen. Dann wird man, während Ismael P. Hobson leise und eifrig mit dem Amerikaner spricht, in ein anderes Stockwerk geführt, en face und en profil photographiert, eingereiht in die großen Listen des internationalen Verbrechertums, nach einer Viertelstunde wieder in das Zimmer des Dünnlippigen gebracht. –

Und nun hat er wieder ihren Paß, diesen schrecklichen Paß in der Hand, den ihr der Oberst Miramon besorgte. »Und Ihr Name ist wirklich Anita Thesiger?« Da geschieht es, daß sie, statt einfach »ja« zu sagen, sich für Anita Thesiger die Seele aus dem Leibe schwört, ihr leibliches und irdisches Wohl verpfändet.

»Sie lügen sehr viel,« sagt sehr ruhig der Dünnlippige, »Sie können jetzt gehen.«

»Ich habe es nicht getan ... nichts, nichts habe ich getan ...«

Es ist zu verzeichnen, daß sie mit diesem unter heftigem Schluchzen vorgebrachten Bekenntnis in Begleitung von Ismael P. Hobson die Polizeiwache verläßt, ohne daß vorerst sich jemand dafür zu interessieren scheint, was sie nicht getan zu haben behauptet.

Am Abend des gleichen Tages wird sie zu einer sehr ernsthaften Unterredung in Ismael P. Hobsons Office gerufen. Und siehe: nun ist es nicht der chevalereske Hobson von heute früh, nun ist es ein anderer, ein schrecklich donnernder Hobson, der ihr auf den Kopf zu sagt, daß sie ihm partout nichts vormachen könne, daß mit ihrem Passe etwas nicht in Ordnung sei, daß er jedes ihrer Worte als freche Lüge betrachten werde, daß er ihr aber dennoch Gelegenheit geben werde, wieder ein anständiger Mensch zu werden. Worauf Ismael P. Hobson urplötzlich am Boden liegt, in Gebetskrämpfen sich windet und Gott mit vernehmlicher Stimme um die Errettung der Sifschen Seele anfleht.

Die kleine Sif steht, da ja alles nun schon ganz gleichgültig ist, mit ernstem und zerknirschtem Gesicht dabei. Sie ändert diese Miene nicht, als Ismael P. Hobson ihr nach Beendigung seiner Gebete eröffnet, daß man gewillt sei, ihr ein bescheidenes Amt in diesem Hause zu übertragen, sie hält ganz still, als die Oberschwester Mary herbeigerufen wird und ihr ihre zukünftigen Pflichten ins Ohr brüllt ... es ist lediglich zu bemerken, daß ihr am Schlusse dieser Szene lächerlicherweise aus dem Zimmer der Witwe Grandjean jene schwarze Spruchtafel einfällt, auf der in Silberdruck »Mit Gott« stand.

Und wenn sie nun auch beinahe wieder in all ihrer Stumpfheit mit ihrem albernen Lachkrampf kämpfen muß, so hat sie mit Gottes Hilfe doch Tränen aufrichtiger Zerknirschung im Auge, verspricht das Blaue vom Himmel herunter holen zu wollen, läßt sich ihr neben dem von Hobson gelegenes Zimmer anweisen und hat für heute endlich ihre Ruhe. –

Nun also, sichtbarlich waltet dieser Gott über diesen Wochen, die nun folgen!

Aufgestanden um vier Uhr ... ja keine Minute später, kleine Sif: die alte Steppenstute Mary, der man direkt unterstellt ist, hat eine Stimme, die weher tut, als Prügel! Aufgestanden, Tee für die Pflegerinnen gekocht, die Schutzbefohlenen des Hauses der »Confederation of good works« geweckt!

Da diese Damen dem Erwachen zu so früher Stunde einigen Widerstand entgegensetzen, da sie andererseits verantwortlich ist für die Befolgung der Hausordnung, so muß sie es sich gefallen lassen, daß undenkbare Scheltworte aller Sprachen sich über sie beim Wecken ergießen, daß sie in dieser frühen Stunde schon kotbesudelt ist, als habe sie eine Kloake gereinigt ...

Ja, und wenn nach altem Spruch viel Feind' wirklich viel Ehr' bedeutet, so muß gesagt werden, daß die kleine Sif in diesen Tagen überhäuft mit Ehren durch das Haus der »Confederation of good works« geht! Da sind zuerst diese Pflegerinnen, diese grämlichen alten Jungfern, die nicht gut geschlafen haben und sie anschreien, daß der Tee zu dünn, daß ihre Schuhe nicht genügend gereinigt seien, daß im Zimmer VII auf dem Propheten Hesekiel nicht Staub gewischt sei, und warum Schwester Agathe nicht ihre Verdauungspillen zum Frühstück bekomme.

Und wie soll man fertig werden oben in den großen Sälen mit den eigentlichen Insassen dieses Hauses?

Da sind eines Tages die Insassen des großen Mittelsaales in der Nacht an einem Wäschestrick auf die Straße geklettert, wofür sie vom Manager Hobson mit harten Worten verantwortlich gemacht, von der Oberwärterin Mary mit einem Hungertag bestraft wird. Dann wird sie mit Prügeln bedroht, weil oben in den Strafzellen ein paar Scheiben zerbrochen worden sind, dann wieder beschwert sich die Polizei, daß die Weiber von den nach dem Zollkai hinausgehenden Fenstern aus mit den Straßenpassanten anbandelten. Und auf Nr. 3 finden sich an einem Morgen mit Bleistift an die Wand gemalte allerliebste Zeichnungen, wie sie nicht gerade für die Augen junger Damen bestimmt sind ... Zeichnungen, wie sie in maßloser Vergrößerung sonst Vorstadtzäune und die Wände von Lokalen zieren, die dem ausschließlichen Gebrauch von Männern reserviert sind, und in Nr. 23, wo die Unverbesserlichen, zum Sühnen durch gute Werke partout nicht zu Bewegenden untergebracht sind, hat man an einem andern Morgen als Quittung für eine gestern empfangene Essensentziehung auf unwiedergebliche Weise den Fußboden verunreinigt ...

Daß von dem allen ja nichts zu sehen ist, kleine Sif, wenn eine der Wärterinnen, wenn gar die Steppenstute Mary ihre Morgenrunde macht!

Da liegt sie mit dem Scheuerlappen auf dem Boden, ist nun so stumpf schon, daß sie es selbst zu dem Gefühl des Ekels nicht mehr bringen kann, daß sie in den Berufsjargon der Zimmerinsassen verfällt, wenn man mit ihnen spricht, daß sie kaum mehr zuckt, wenn die gestern von der Polizei eingelieferte und heute von der kleinen Sif zu betreuende Marja Grusczinska die Aufforderung zum Bade dadurch beantwortet, daß sie ihr ins Gesicht speit.

Und da sind die schon bekannten Andachten, bei denen der Manager Hobson die Geschichte des Urvaters Abraham vorliest, den Gott für gute Werke mit dem größten Bankkonto des Landes Chaldäa segnete ... diese Andachten, bei denen man nun selbst ein andächtiges Gesicht zu machen gelernt hat, bei denen man sich aber doch hin und wieder erinnert, daß um diese Zeit in einem kühleren Lande Lieder von einem Kinde gesungen werden, das ganz ohne Herden und Bankkonto in einem Stalle zur Welt kam. Ja, bei diesen vagen, sentimentalen Reminiszenzen geschieht es wohl, daß man nasse Augen bekommt, daß man sich davonschleichen möchte, und daß man dann doch hart angelassen wird von Ismael P. Hobson, der sich derartige Dinge ein für allemal verbittet, ja ...

Und dann, wenn wieder einmal ein Konstabler eine neue Insassin einliefert, dann denkt sie plötzlich an den Schmallippigen, denkt daran, daß er am Ende schon die Berliner Wohnung des Obersten Miramon kennt, daß man sie zusammen im Exzelsiorhotel gesehen hat, daß man früher oder später ja doch erfahren muß, wer sie ist! Dann verkriecht sie sich in ihrer unsäglichen Angst in ihrer Kammer, orakelt, ob der Uniformierte in Hobsons Kanzlei am Ende schon mit Haftbefehl und Handschellen gekommen sei: wenn draußen auf dem Zollkai vor ihren Fenstern in einer Minute mehr Wagen von links als von rechts passieren, so gilt der Besuch ihr, so wird sie heute schon vor dem schrecklichen Dünnlippigen erscheinen müssen ...

Dann schrillt die Stimme der alten Mary durch das Haus, dann ist, während sie sich verkrochen hat, im Badezimmer der Wasserhahn aufgeblieben. Dann, nachdem die Überschwemmung beseitigt ist, hat man für den Manager Hobson irgendein langes Aktenstück für das Mutterhaus in Philadelphia abzuschreiben, dann wird man angedonnert, weil man »irrepressible« mit einem »r« geschrieben hat, dann fühlt man plötzlich, während man sich stotternd entschuldigt, den Atem dieses Menschen in greifbarer Nähe: oh, man kennt diesen Atem, das ungreifbare Od des Begehrens, man erinnert sich des Schwagers Lex, des Obersten Miramon, des Dieners Theodorowitsch ... alle Kavaliere verschmelzen bei dieser Erinnerung zu einer grotesken Fratze der Geilheit ...

Dann, wenn wieder so ein Tag ertragen ist, wenn oben in den Schlafsälen die Weiber nicht mehr schreien, wenn man sich in der Gluthitze seiner Kammer die Kleider vom Leibe gerissen hat, dann kramt man wohl in den Schätzen, die einem verblieben sind aus sagenhaften Zeiten: ein Fetzen des Brautschleiers, den man nach dem Rate der alten Berliner Aufwartefrau als glückbringenden Talisman noch immer bei sich trägt, den Ring, in dem die Worte »Robby und Sif« eingraviert sind, Robbys zerknittertes Bildchen ...

Aufgesprungen plötzlich in der Gewißheit von irgend etwas, was unsichtbar in dieses Zimmer hinein will, nach ihr greift, an ihrem nackten Leibe zerrt!

Unter dem Bette nachgeschaut, das ganze Zimmer abgesucht, das Licht gelöscht, in der Dunkelheit bemerkt, daß aus dem Nebenraum, aus dem Zimmer des Manager Ismael P. Hobson schwacher Lichtschein zu ihr dringt. An die Tür geschlichen, die die beiden Räume verbindet, entdeckt, daß sie durchsiebt ist von Bohrlöchern: feinen Bohrlöchern in allen Blickrichtungen, Gucklöchern, die es dem da drüben gestatten, das ganze Zimmer zu überblicken.

Wieder das Licht angedreht. Leise schleichen sich nach einer Weile Schritte an die Wand, ein Schatten verdeckt den Lichtschein ... oh, sie hat sich nicht getäuscht: es ist Hobson, es ist dieses alte Laster, das nach ihrem nackten Leibe ausspäht.

Da liegt sie, zittert leise, weiß nicht warum. Oben in den Schlafsälen ist, wohl als Reaktion auf einen fabelhaften Witz, Gelächter der Weiber zu hören, zwei Betrunkene gröhlen auf dem Kai draußen, Aasgestank kommt von den Fleischständen draußen ...

Das Loch, durch das der andere zu ihr hineinspäht, ist noch immer verdeckt. Da geschieht es, daß sie aufspringt, mit einem irrsinnigen Gelächter alle ihre Schätze zum Fenster hinauswirft: den glückbringenden Fetzen des Brautschleiers, den Trauring und die Photographie des weichherzigen kleinen Malerjungen, der zu sentimental war, um Hündchen Binky zu töten. –

Folgendes aber ereignet sich drei Tage vor demjenigen, an dem man außerhalb dieses Hauses die Geburt jenes sagenhaften Kindes von Bethlehem feiert.

Dieser Tag beginnt insoferne unglückselig, als in einer der unten noch zu erwähnenden Arrestzellen des Hauses noch vor dem Wecken die gestern eingelieferte Peggy Straker einen hysterischen Anfall bekommt, bei dem sie hemmungslos zu schreien beginnt. Dann ergibt eine Inspektion der Zelle, daß die Insassin in diesem Anfall wie ein junger Hund mit den Zähnen ihre Bettdecke zerpflückt hat ... vollkommen rätselhaft, wie es diese kleine zarte Person zustande gebracht hat, mit der Decke, dem Laken, mit allem fertig zu werden, was das Haus der »Confederation of good works« an Mobiliar für diese Zelle aufwendet.

Dann ist durch das Gekreisch endlich die Wärterin Mary herbeigerufen worden, dann wird man persönlichst für den Inventarverlust verantwortlich gemacht, dann wird man schließlich aufgefordert, den mitgeführten Rohrstock der Wärterin Mary zu einer Züchtigung von Peggy Straker zu benützen. Da die kleine Sif nun zwar alle bisherigen Beschimpfungen stumm hat über sich ergehen lassen, da sie aber unbegreiflicherweise diesen doch eindeutig gegebenen Befehl der Oberschwester Mary mit einem finstern Gesicht und passivem Widerstand erwidert, so wird ihr eröffnet, daß sie schon längst des Einverständnisses mit den weiblichen Insassen dieses Hauses verdächtig sei, daß sie einen falschen Paß habe, daß sie selbst nichts anderes als eine gemeine Straßendirne sei, daß man mit ihr aber fertig werden werde ...

Da man ohne die geringsten Zeichen ernstlicher Besserung von sich zu geben bei seinem finstern, trotzigen Gesicht verharrt, so geschieht es plötzlich hier in Arrestzelle Nr. IV, daß die Oberschwester und Steppenstute Mary der kleinen Sif aus voller Kraft einen Rohrstockhieb über das Gesicht zieht ... über jenes Gesicht, das der Kunstmaler Robby zum Vorwurf einer Madonna in Blau und Gold benutzt hat. –

Es hat einen tiefen Stirnriß gegeben, und zunächst geschieht es wohl, daß sie, halb blind vor Schmerz und Blut, nach dem Stocke greift, ihn zerbricht, daß sie schließlich den pferdezähnigen alten Satan bei den Haaren zu fassen bekommt. Da aber nun einmal die physische Kraft alter Steppenstuten der von blaugoldenen Madonnen gemeinhin überlegen ist, so wird sie sehr rasch überwältigt, wird, während Peggy Straker diesen Teil der Szene mit einem befreienden hysterischen Gelächter begleitet, angespien, mit den Füßen getreten, auf das allerergiebigste verprügelt und schleppt sich schließlich hinkend und mit einem eigentlich als verwüstet anzusprechenden Gesicht aus dem Raum. –

Nicht etwa, daß man von diesem Ereignisse sonderliche Notiz nähme: ach nein, man ist ja so abgestumpft, man ist ja längst ein klein fühllos Stückchen Kot geworden ...

Da nun aber einmal in diesem Tage der Teufel seine Hand hat, so geschieht es, als sie zwei Stunden später in der Office des Manager Hobson ein Verzeichnis derjenigen Gegenstände zusammenstellt, die dem Hause der Confederation of good works von mildtätiger Hand zu Weihnachten überwiesen sind ... vier Paar zerrissener Schuhe, Wolljacken, drei gebundene Exemplare von Reverend Parkers »Goldenen Himmelspfeilen für den Gebrauch im Hause«, zehn Pfund abgeschnittene Zigarrenspitzen und ein verbogenes Papageienbauer ... ja, da geschieht es, daß sie in dieser Arbeit unterbrochen wird von einem Besuch, bei dem sie aufspringt vor Entsetzen, das Tintenfaß über den Bericht mildtätiger Gaben gießt und an dem Eintretenden vorüber zur Tür hinaus in ihr Zimmer rennt. Der da in der Office des Manager Hobson erschienen ist, ist der Schmallippige.

In ihrem Zimmer schleicht sie sich an die Wand, legt das Ohr an den Türspalt. Kann nicht genug Englisch, um jedes Wort der zwischen Hobson und dem Fremden geführten Unterhaltung zu verstehn, kann ab und zu einen Brocken nur erwischen, stöhnt nach den ersten Sätzen schon auf in hilflosem Entsetzen: ihr Name ist es, der da nebenan ausgesprochen worden ist ... nicht Anita Thesiger, nicht der, den die apokryphe Sekretärin eines apokryphen Hochstaplers trug ... es ist ihr alter sauberer, vertrauter Name, der dort genannt worden ist!

Ach, was weiß sie, das kleine verängstigte Ding, zur Stunde von den nach Berlin übermittelten Fragen der argentinischen Polizei nach der Identität jenes jungen Frauenzimmers, das an dem und dem Oktobertage in der Gesellschaft des Agostino Gomez, alias Obersten Miramon im Exzelsiorhotel gesehen sein müsse? Was weiß sie davon, daß gerade dieses von Barmixer, Empfangschef, Portier, weiß Gott von wem beachtete Tanzen in den Akten der Berliner Polizei als die letzte Spur einer seither Vermißten figuriert? Was weiß sie davon, daß zur Stunde die im Oktober verschwundene Kunstmalerfrau Sif Bruckner in diesen Akten keineswegs ...

Nein, es ist nicht meine Mission, den Ereignissen vorzugreifen durch Angabe dessen, was zur Stunde in den heute mir vorliegenden Akten der Kunstmalerfrau Sif Bruckner nicht enthalten ist. Nicht meine Aufgabe ist es, darzulegen, weswegen in dieser Stunde, in der der Schmallippige mit Ismael P. Hobson unterhandelt, warum es die kleine Sif ein einziges Wort kosten würde, um zu Robby zurückzukehren ... nicht meine Sache, zu untersuchen, warum es ihr versagt bleibt, dieses Wort – ihren richtigen Christennamen – auszusprechen, nicht meine Sache, zu fragen, weswegen solch dunkles Geschick über den Wegen schuldloser armer Menschenkinder waltet ...

Alles Weitere versinkt ihr in einem Nebel von Angst. Da liegt sie auf ihrem Bett, gräbt die Nägel in ihr Fleisch, flüstert vergeblich die Worte, die sie schon einmal in einer anderen Stunde ohne wesentlichen Nutzen gesprochen hat ... wollte es nicht tun, wollte es nicht, wollte es ja nicht ...

Und nach drei Tagen ist Weihnachten in Deutschland, und zu Weihnachten wollte man mit Robby ...

Barmherziger Gott, was wollte man denn mit Robby?

Was hat man denn getan, daß man gepeitscht wurde von einer Schuld zur andern, von einer Schmutzpfütze in die andere? Die weißen Wände ringsum wissen es nicht, die Tafel mit dem Puritanergebot, sich rein zu halten außen und innen, weiß es auch nicht. Und ebensowenig mag es über dieser satanischen Stadt der weißglühende Himmel wissen oder die zerlumpten Lancheros auf dem Kai, die jener selbe Gott dorthin gestellt hat, daß sie einen räudigen Köter mit einem Fußtritt ins Wasser befördern, einer schwarzen Wäscherin eine neu erfundene Zote nachrufen und in der Nacht hinter den Zäunen der Isola Maciel ihrem Gegner das krumme Messer in den Unterleib rennen.

Hund, Schinder, Folterknecht ...

Daß die kleine Sif derjenigen Instanz, die, wie gesagt, oft einigermaßen dunkel über den Menschenwegen waltet, in dieser Not mit harten Worten ihr lebhaftes Mißfallen ausspricht, ändert an dem Gange der Ereignisse insofern nichts, als sie nach ein paar Minuten von der alten Mary in die Office geschleppt wird. Da steht sie nun allein drei Feinden gegenüber, hört wie damals in der Berliner Marienkirche bis in den Hals hinauf ihr armes wehes Herz schlagen, weiß, daß es ein Gefecht geben wird auf Leben und Tod. –

Es ist der Schmallippige, der dieses Gefecht beginnt, es ist der Paß der Anita Thesiger, den er in den Händen hat. »Welches ist Ihr wirklicher Name?« fragt der Schmallippige.

Stummes Würgen an zwei ehrlichen Worten, die sie nicht aussprechen kann vor Angst und Trotz; Schweigen –

»Weswegen antworten Sie nicht?« fragt der Schmallippige.

»Was haben Sie angestellt?« fragt fast gleichzeitig Ismael P. Hobson.

»Weswegen lügen Sie?« schreit die Steppenstute Mary.

Schweigen während einer bangen Viertelminute, während schwarz wie das Schicksal solch eine Riesenbestie von Goliathkäfer durch das Zimmer brummt ... Schweigen mit finsterem gesenktem Antlitz, Schweigen, Schweigen –

»Ihr Interesse zu reden,« sagt der Schmallippige.

»Gott hat alles gesehen,« sagt Ismael P. Hobson.

Und vielleicht, wenn es nicht gerade Ismael P. Hobson gewesen wäre, der auf Gottes Auge hingewiesen hätte: vielleicht hätte man wirklich auf die Frage nach dem Namen mit zwei ehrlichen, befreienden und, wie ich schon sagte, rettenden Worten geantwortet. So freilich, als man hört, daß Gott alles gesehen habe, muß man an einen alten, weißhaarigen Unflat denken, der, ohne gerade mit Gott identisch zu sein, durch ein Bohrloch in der Tür auch alles gesehen hat, alles, alles ... Und bei dieser Erinnerung passiert ihr wieder das alte Malheur, daß ihre Angst und ihr Trotz umschlägt in eine verzweifelte Albernheit und daß sie dem Manager Ismael P. Hobson mit einem gellenden, absolut wahnsinnigen Lachen antwortet.

Da zerreißt der Hohepriester sein Gewand, und da hat die alte Mary sie am Kittel, und da hört sie, daß man sie schon zur Vernunft bringen werde. Da ist sie, nachdem sie ihre Angst und ihren Trotz sich von der Seele gelacht hat, wieder die stumpfe kleine Sif, die alles mit sich geschehen und sich willig abführen läßt. –

Der Raum, in den sie zur Besserung gebracht wird, ist eine der im dritten Stock unmittelbar unter dem Dache gelegenen Strafzellen. Da diese Zellen sonst nur der temporären Aufnahmen von Dirnen dienen, die ihr Zimmer besudelt, die Andacht gestört, Schwester Agathe ihren falschen Zopf versteckt und unerlaubte Verbindungen mit ihren in der Außenwelt verbliebenen Freunden unterhalten haben ... da ferner die kleine Sif diese Räume bislang nur zur Säuberung in den frühen Morgen- und Abendstunden betreten hat, so ist sie mit der gleich zu schildernden Eigenart dieser Räume nicht bekannt. Und da sie seit dem letzten Abend nichts gegessen hat, da sie erschöpft ist von Hunger und Erregung, so schläft sie ein und verschläft diesen Tag bis zum Abend.

Am Abend weiß sie zunächst nicht, wo sie eigentlich ist; hat das Gefühl, in einem Sarg zu liegen, tastet nach den Wänden, greift ins Leere, besinnt sich langsam darauf, was heute geschehen ist; fühlt, daß sie ersticken muß in dieser entsetzlich heißen Luft des dunklen, fensterlosen Raumes, tastet sich an das Guckloch in der Tür, um ein bißchen frische Luft zu haben, findet es verschlossen und kauert sich schließlich nieder an der Tür und schläft wieder ein mit einem leisen, hilflosen Kinderweinen, das von der patroullierenden Schwester gehört und der Oberschwester berichtet und von ihr mit befriedigtem Nicken und dem Eindruck von der Zweckmäßigkeit der gewählten Strafe vermerkt wird.

Am Morgen nach dieser ersten Nacht, die noch ziemlich gnädig verhüllt ist von Schlaf, steht die alte Mary vor ihrer Pritsche.

»Wollen Sie sagen, wie Sie heißen?«

Da diese Frage unbeantwortet bleibt, so wird sie für zehn Minuten aus ihrer Zelle in einen der großen Schlafsäle im ersten Stockwerk geführt, dort mit ein paar von den gerade das Zimmer säubernden »Gebesserten« allein gelassen, gebührend begafft und apostrophiert, nach zehn Minuten wieder abgeholt, und in ihre Zelle gesperrt.

Dieser Tag, der ja nun schon der zweite ihrer Haft ist, wird erstens durch die Tatsache gekennzeichnet, daß sie seit fünfzig Stunden nichts gegessen hat und in Kopf und Eingeweiden einen dumpfen, bohrenden Schmerz zu fühlen beginnt ... zweitens durch das Faktum, daß die Zelle, wie gesagt, unmittelbar unter dem ziemlich flachen Blechdache des Hauses liegt, und daß dieses Blechdach unter dem Einflüsse der Sommersonne von Buenos Aires sich zu einem Bestandteil des höllischen Feuers zu verwandeln beginnt. Da reißt sie in der Backofenhitze des dunkeln Raumes sich die Kleider vom Leib, schleicht sich an die Türritze, sucht wie ein Hündchen durch den Türspalt ein wenig frische Luft zu erschnobern, fühlt, daß der Hunger der Lungen noch qualvoller ist als der Hunger des leeren Magens, versinkt schließlich wieder in tierische Stumpfheit, und liegt als Häufchen Elend da an der Tür den lieben langen zweiten Tag.

Ein Wassernapf, der um Mittagszeit hereingeschoben wird, sonst nichts. Keine Leibesnahrung, keine frische Luft. Hunger, Angst vor dem Ersticken ... dumpfe, blöde Verzweiflung ...

Am Abend wieder eingesperrt für zehn Minuten unten in dem Saal der »Gebesserten«, dann wieder zurückgebracht in den Kotter. Die Türe der Nebenzelle steht in dem Augenblick, als sie wieder eingesperrt wird, offen: die kleine Peggy Straker, deren Züchtigung sie gestern morgen verweigert hat, ist ihre Zellnachbarin ... das bißchen schwesterliche Dankbarkeit in dem Blicke der kleinen Hure dort in ihrer Zelle ist eigentlich das erste Symptom von Menschlichkeit, auf das die kleine Sif seit einigen Tagen stößt ...

Da an diesem Abend die Wohltat des Schlafes ausbleibt, so merkt sie erst in dieser Nacht, daß ringsum die Wände, die benachbarten Zellen zu nächtlichem Leben erwachen. Das geschieht, als unten das Harmoniumspiel der Abendandacht verklungen ist, als das Haus in puritanischem Schlafe liegt und dafür draußen auf dem Kai das nächtliche Buenos Aires zu heulen beginnt in unheiligen Melodien.

Da ist es ein seltsames rhythmisches Klopfen in der Nachbarzelle, eine Antwort dann, die von unten, aus einem der dort gelegenen Säle zu kommen scheint ... ja, was weiß so eine dumme an diesen Ort verwehte Kunstmalerfrau von dieser Telegraphie der Unterirdischen, die einst die in den Bleikammern, in der Peter-Pauls-Festung lebendig Begrabenen verband zu einer über die Existenz Gottes, die Bauernbefreiung, den Fluchtversuch von Pjotr Iwanowitsch sich unterhaltenden Gemeinschaft?

Ja, was weiß sie davon?

Nun schläft sie doch ein und erwacht erst, als das Klopfen in den Zellen abgelöst wird durch ein anderes akustisches Phänomen: in einer der Zellen beginnt eine Weiberstimme, wohl um die unten schlafenden Wärterinnen zu stören, das unsagbar schöne Lied von »Mary cut« zu singen ... dieses Lied, dessen Text ich lieber nicht wiedergeben möchte, und bei dem die Organisation Theodorowitsch sich die Ohren zuhalten würde vor Scham. Dann, als der letzte von den vierzehn Versen dieses Liedes hinausgegröhlt ist, beginnt auf der anderen Seite einer der Häftlinge auf Englisch das Wort »Hunger« zu schreien. Und da das Gefühl des Hungers zur Stunde wohl keiner der hier Eingesperrten unbekannt ist, so wird rechts und links von ihr in allen Sprachen der Welt dasselbe Wort gekreischt, geschrien, gebrüllt. Und da sie selbst wenig Gründe hat, sich diesem Protest zu verschließen, da das dumpfe Bohren in Kopf und Eingeweiden sich zu einem wütenden Schmerz gesteigert hat, so geschieht es in dieser Nacht, daß die kleine Sif im Chorus mit eingesperrten, kranken Hafendirnen um das bißchen Brot schreit, das man ihr verweigert zur Rettung ihrer Seele.

Dann freilich ist man doch schon so entkräftet vom Hunger, daß man einschläft. Und wie sonst erscheint am Morgen die alte Mary mit ihrer Schicksalsfrage, wie sonst erhält sie auch an diesem Morgen keine Antwort, wie sonst wird die kleine Sif auch an diesem dritten Hungertag während der Säuberung ihrer Zelle herausgeführt. Und daß an diesem Tage die Nachbarin, die kleine Peggy Straker ihr bei der kurzen Begegnung ein blitzschnelles, ein leider unverständliches Zeichen macht, ist alles.

Ja, was weiß die kleine Sif von der Dankbarkeit einer kleinen, von ihr nicht gezüchtigten Dirne, was weiß sie von der Solidarität, die alle Insassinnen dieses frommen Hauses – ob gebessert oder nicht – verbindet zu einer Gemeinschaft von Schwestern ... was weiß sie, wie sehr die Signale dieser Nacht ihr eigenes Schicksal geklopft haben?

Es ist zu bemerken, daß an diesem Tage, am dritten, die Angst vor dem Schmallippigen sie wieder foltert. Heute ahnt man es nur, wer sie ist ... in ein paar Tagen wird man es wissen, wird aus Europa der Haftbefehl da sein, werden an diesen Armen Handschellen sitzen ...

Da, wie gesagt, Peggy Strakers Signale in der letzten Nacht für einen ganz anderen Verlauf gesorgt haben, so geschieht folgendes: als sie an diesem dritten Abend von der halbblinden und ziemlich wackligen Schwester Marguerite in den Saal der »Gebesserten« gebracht ist, wird sie, als sich besagte Schwester zur Säuberung ihrer Zelle entfernt hat, in einem abgründigen Deutsch angesprochen von irgendsoeiner breithüftigen, resoluten Veteranin des Hauses: »Haste was angestellt?«

Schweigen, verängstigtes, mißtrauisches Schweigen ...

»Haste was angestellt, denn mußte verdampfen ...«

Ja, wie und wann herauskommen aus diesem Hause? Und da, als die Frage mit einer gänzlich ratlosen rührenden Handbewegung beantwortet wird, da geschieht es, daß die andere sie einfach am Arme nimmt, den großen gemeinsamen Schrank des Schlafsaales öffnet, und sie hineinbugsiert: »Da hältste dich ruhig, bis die Alte durch is. Nachher machste, daß du wegkommst.«

Ja, was weiß die kleine Sif, weswegen, als die sowieso halbblinde Schwester Marguerite sie holen kommt, in allen oberen Etagen das elektrische Licht plötzlich nicht brennen will? Was weiß sie, wer heute an ihrer Statt die Strafzelle Nr. 4 bezieht, was weiß sie, wie gesagt, von dem Korpsgeist, der kleine Novizinnen und diese alten Routinièren verbindet zu einer einzigen, gegen Ismael P. Hobson und die Schwester Mary gerichteten Front?

Da wartet sie, eingesperrt zwischen der Wäsche, den Kleidern dieser armseligen Dirnen, kann kaum atmen in dieser Enge, muß lange, lange warten, bis sie befreit wird. Mehr als elf Uhr ist es, als die Tür geöffnet wird: »Jetzt machste rasch, daß du fortkommst ...«

Ein Posten bei der nach dem Gange führenden Tür, im Fenster ein zweiter Posten, der nach etwaigen Passanten ausspäht ... der ganze Saal der »Gebesserten« hilft bei dieser Flucht. Eine Wäscheleine ist am Fensterkreuz befestigt, und wie man die Mittelstange des Fenstergitters entfernen kann, wissen die »Gebesserten« aus alter Praxis, und der Platz vor dem Zollkai dort unten ist um diese Stunde nun schon ganz still ...

»Unten bei den Schlächterbuden bleibste 'ne Weile, biste siehst, daß die Luft rein ist. Nachher machste, daß du weiterkommst ...«

Der Versuch einer Dankesrede. »Quatsch nich und verschwinde schleunigst ...« Dann schindet man den Körper glücklich hindurch durch die Eisenstangen, dann ist ein leiser Signalpfiff zu hören, dann wird man zur Abfahrt ermuntert mit einem leichten Stoß. Dann ist's ja nicht allzu weit hinunter bis auf das Pflaster, dann sieht man sich noch einmal um nach dem Hause der »Confederation of good works« und setzt über die Straße und kann sich gerade noch zur rechten Zeit, während da eben zwei Wachtleute um die Ecke biegen, verkriechen in eine der verlassenen Fleischerbuden ...

Appetitliche Stätten sind es nicht, die Fleischstände dieser südlichen Städte ... hier, wo tagsüber die Sonne niederprasselt und die Luft füllt mit unbeschreiblichen Gestänken und Aasfliegen. Große Ratten, vor denen man sich doch so entsetzlich fürchtet, balgen sich um fortgeworfene Rinderdärme, und was hier dicht neben ihr so klebrig den Boden bedeckt, ist wohl eine halb eingetrocknete Blutlache, und dann sind es wieder die Schritte Unsichtbarer, die um die Bude schleichen, weiß Gott, was hier suchen ...

Nein, nicht hier bleiben ... drüben, jenseits der Straße beginnt der Zollkai, beginnt das unübersehbare Feld der Eisenbahnwagen, in dem man sich leicht wird verstecken können ...

Ein Uhr nachts ist es schon, als sie sich hinüberschleicht. Am Tor ist ein Wächter mit schiefsitzendem Käppi eingenickt, zwei deutsche Steuerleute tragen ein Grammophon in eine der nahen Kneipen, rufen ihr ein paar deutliche, aber von Herzen kommende Worte nach. Da beginnt sie zu laufen und verschwindet zwischen den langen Reihen der Güterwagen ...

Ein Wagen steht da mit offener Schiebetür ... es schadet nichts, daß er nach Chilesalpeter riecht: man schwingt sich auf das Trittbrett, kriecht in eine Ecke, rollt sich zusammen, und ist fertig mit diesem Tage. Und jetzt erst, nachdem die Erregung der letzten Stunden abgeklungen ist ... jetzt erst ist es Hunger, der entsetzliche Hunger, der schmerzhaft in den Eingeweiden wühlt, ihre Träume steigert zu wütenden Halluzinationen: zwei Baumstämme, wie Walzen gegeneinander gepreßt, drehen sich ... splitternackt, behaart am ganzen Leib wie ein Affe steht oben der fast schon vergessene Schwager Lex, schüttet aus einer Tüte Massen von Schmetterlingen in die Walzen ... greulicher Brei zerquetschter Leiber bedeckt den Boden ...

Aufgefahren, für drei Minuten erwacht, wieder eingeschlafen.

Im Traum an der Hand geführt von einem großen, hageren Mann in hechtblauem Mantel ... an der Hand geführt bis zu einer weiten Wiese. Riesige fleischfarbene Blumen wachsen mit dicklichen, obszön geöffneten Blütenblättern, in einem Bachbette fließt etwas, was träge schwappt wie geschmolzenes Fett. Und Schläfer liegen ringsum, haben ihre Oberkleider von sich geworfen, liegen verdauend da mit geblähten Bäuchen und gespreizten Beinen: Männer, kreisrund beinahe vor Feistheit wie große Wanzen, schmatzend mit speckigen, im Schlafe noch geilen Gesichtern, mit riesigen Hintern, die sich wie geblähte Ballons zum Himmel strecken ... »Fatalada,« sagte der Mann im blauen Mantel, »du mußt ›Fatalada‹ rufen, wenn du Hunger hast ...«

»Fatalada,« schreit, noch im Traume, die kleine Sif, »Fatalada!«

Aufgewacht von dem eigenen Geschrei und dem wütenden Hungerschmerz der Eingeweide. Dagelegen mit offenen Augen. Dann gehen Schritte die Reihe der Wagen entlang, kommen heran, sind ganz nahe, enden auf dem Trittbrette des Wagens. Dann erscheint dort jemand, der mit schmieriger Öllampe das Innere des Wagens ableuchtet, das kleine schmutzige, vom Boden sich nicht sonderlich abhebende Sif-Bündel nicht einmal bemerkt, verschwindet, weitergeht. Schritte verhallen.

Heulen einer Dampfsirene weit draußen, wo die Schiffe liegen, die morgen am Weihnachtsabend nach Europa fahren werden ... betrunkene Matrosen, die gröhlend an Bord zurückkehren, Dirnengelächter, das Brüllen einer Rauferei ...

Hunger, Hunger, Hunger.

Leichte Schritte trippeln heran, irren herum unter dem Wagen. Dann hört man es von dort unten, von jenseits des Bretterbodens leise wimmern. Aufgestanden mit irren Sinnen, mit zitternden Gliedern, die so schwach sind, so schwach ... Da beginnt es unten laut zu heulen, lange und kläglich zu heulen, und da ist es unten einer der räudigen Hunde, die am Tage von den Fußtritten der Passanten leben und nachts hier nach Abfällen suchen. »Fatalada« wiederholt die kleine, vor Hunger halluzinierende Sif ihr Traumwort, kriecht zwischen den Rädern hindurch zu der wimmernden Kreatur, fängt an, das Tier zu locken. Der Hund, auf die unglaubliche Tatsache stoßend, daß es Geschöpfe gibt, die nicht mit Füßen treten, kriecht demütig heran, krümmt sich in unseliger Verprügeltheit. Da legt sich das Weib neben das zitternde Tier, schmiegt sich an das verwahrloste, übel duftende Fell, denkt, daß sie Klein-Binky vor sich hat, beginnt die Kreatur zu streicheln.

Es ist, wie gesagt, ein herrenloser armer Köter; und da ist vielleicht in dem struppigen Fell eine Messerwunde, vielleicht hinkt man auch, da eines gebrochen ist, auf drei Beinen, indem man das vierte nachschleift, vielleicht haben auch kleine braune Halbgötter, die sonst auf dem Kai die Zeitungen »Mercurio« und »El Sur« anbieten, eine Freude daran gehabt, einem ein Ohr abzuschneiden: in jedem Falle aber geschieht es, daß das Tier bei der Liebkosung der Menschenhand zusammenzuckt und wieder sein langgezogenes entsetztes Heulen beginnt. Und da das Menschenkind ja selbst halb toll ist vor Hunger, und da es ein bitteres, vor Gehetztheit halb wahnsinniges Menschenkind ist, so geschieht es, daß der Mensch das Tier versteht, daß beide sich als eines Schöpfers Kreaturen bekennen: daß Klein-Robbys in die Welt hinausgestoßenes Weib neben dem räudigen Hunde liegt und einstimmt in das Heulen des Tieres. Da heulen sie denn beide hinaus in die einsame Nacht. –

Es ist höchst natürlich, daß die große Stadt, beschäftigt mit Weizenpreisen, mit Kaffeetransit, mit den Ideen von Menschheitsfortschritt und Humanität nicht weiter Notiz nimmt von Geräuschen, wie sie allnächtlich zu hören sind in Buenos Aires. Und ringsumher, während die kleine Sif eingeschlafen ist zwischen den Gleisen, und das Hündchen sich längst davongeschlichen hat, setzt sich nach ein paar Stunden ruhig das große Uhrwerk des Hafens in Bewegung.

Und dann ist es wohl gar schon voller Mittag, als sie von einem starken Geräusch erwacht. Da sieht sie, daß das fahrbare Haus, in dem sie Zuflucht gesucht hat in dieser Nacht, über ihr sich zu bewegen beginnt, daß rechts und links von ihr langsam die Räder zu rollen beginnen, daß über ihr der lange, lange Zug der Güterwagen hinweggleitet. Da erinnert sie sich dunkel daran, daß Eisenbahnzüge von Lokomotiven in Bewegung gesetzt werden, daß hinter diesen Eisenbahnwagen die Maschine kommen muß mit einem Aschenkasten, der tief genug greift, um sie zu zerschmettern. Da bleibt ihr wohl nichts anderes übrig, als sich hindurchzuschwingen zwischen den Rädern des schneller und schneller gleitenden Wagenzuges. Da rafft sie sich denn auf, benützt die Lücke zwischen zwei Räderpaaren, wirft sich über die Schienen. Da ist, während sie die Schienen passiert, mit messerscharfen Kanten ein riesiges, blankes Rad, das auf sie zukommt ... oh, ich kann versichern, daß es etwas anderes ist, solch Rad von einem sicheren, mit Steinfliesen ausgelegten Perron zu sehn, als in der gegenwärtigen Situation der kleinen Sif ...

»Gibt es Gott?« schreibt die kleine Sif, als sie das Henkersbeil auf sich zukommen sieht, »Gibt es Gott oder gibt es ihn nicht?«

Da die eben erwähnte Instanz andere Absichten mit ihr hat, so gelingt es ihr, sich hinüberzuschwingen in den ölbeschmutzten Kies zwischen den Gleisen. Da steht ein Mann vor ihr mit dem Signalhorn und einer roten Flagge in der Hand, schreit sie, während er mit der einen Hand seine rote Flagge schwenkt, auf spanisch an. Da taucht wieder die Angst auf, daß der Mann den Unterschied zwischen Anita Thesiger und Sif Bruckner kennen könnte, da springt sie auf und läuft davon.

Das geschieht um drei Uhr mittag. Und am Abend dieses Tages jährt sich die Stunde, in der in gemessenem Abstand von dieser Christenstadt ein Kindlein zwischen Ochs und Esel in der Krippe lag. –

In den schon mehrfach erwähnten und, wie gesagt, in der Strafrechtspflege ziemlich bekannten Akten der kleinen Sif sind nur spärliche Angaben über die nun folgenden Stunden zu finden. Man geht eine breite elegante Straße mit maurischen, gotischen, barocken Giebeln entlang, mit Cabs und Tandems und breitkiefrigen eleganten Kavalieren und Niggerdandys mit grellroten Schlipsen und Hamburger Handelsbübchen, die von Weizenpreisen reden, und Polizisten, die all das Getriebe in Sitte und Ordnung halten: vielleicht ist es die Calle da Rivadavia, die man entlang streicht.

Der Hunger ist nun nicht mehr so sehr zu spüren, es ist nun ein eigentlich ganz angenehmes Gefühl ungemessener Gleichgültigkeit da, das subjektiv vermerkt wird. Objektiv freilich will der junge Körper sein Recht haben, und wenn das Menschenkind, die kleine Sif selbst, auch überhaupt nichts spürt, so ist es doch der Körper, der sich in durchaus animalischer, eigentlich unangemessener Weise benimmt.

Da ist es beispielsweise an der »Mercado del II. de Settembre« ein großer, monokelbewehrter älterer Mann, der die Würde des britischen Imperiums im Knopfloch trägt und besagten Körper an der Mauer lehnen sieht. Und wie dieser Körper eine Bettelhand ausstreckt, da trifft ihn aus dem Monokelauge ein Blick, bei dem der ganze Ozean zwischen Steinbock und Krebs seinen hohen Temperaturen zum Trotz gefrieren könnte: Altengland, die Bettelei und Verkommenheit der weißen Rasse hier unter Halbniggern mit Verachtung strafend, geht langsam weiter, widmet sich dem Ankauf nie gesehener kleiner Orchideen mit violetten Farbtupfen, welche Orchideen nebenan hinter Scheiben von Scheunentor-Größe zum Verkauf geboten werden. Dafür taucht ein Konstabler auf, der die Bettlerin bemerkt hat. Da läuft Klein-Körperchen davon.

Dann wieder findet sie sich in buckligen kleinen Straßen mit Metzgerläden und Garküchen. Fortgeworfene Bananenschalen wären hier zu finden, auch ein im Maultierkot liegender Kälberdarm könnte verwertet werden, wenn besagter Körper auf diese Speise nicht mit deutlicher Übelkeit reagierte. Dafür gibt es da fragwürdige Würste, die vor den Häusern in Öl gebraten werden, und da dieser Duft ihr in die Nase steigt, so streicht sie gierig im Verein mit den bettelnden Kötern um diese Stelle, greift, während der Besitzer sich in einer Verkaufspause der Lektüre des abendlichen »Sur« hingibt, hemmungslos nach dem, was köstlich ist wie eine Fata Morgana und auch wirklich nur Realität besitzt, wenn man einen Fünftel-Peso in der Tasche hat. Da wird der Verkäufer in der Lektüre der Kammer-Interpellation über den neulichen Putsch jäh unterbrochen, springt auf, sendet der Davonlaufenden sämtliche Segenswünsche des Christentums nach ...

Dann findet man sich wieder auf einem Platz, auf dem man schon einmal gewesen ist. Da steht man, als suche man noch seine Aussteuer aus vor großen Scheiben mit gelben und blauen und violetten Pyjamas, vor Scheiben mit blitzenden Parfümflaschen und Silberstoffen für große Abendtoiletten, vor Fenstern mit Servicen für Automobil-Frühstückskörbe und solchen mit rotgoldenen Bedientenlivreen und Polojacken und weißledernen Hosen für Fuchsjagden ... Da wird, während sie so dasteht und hineinstiert, das große Himmelslicht gelöscht, und da fällt ihr, als es so dunkel wird mit einem Schlage, ein Wort ein, das »Fatalada« heißt, und von dem sie gar nicht mehr weiß, wo sie es schon einmal gehört hat. Und hier geschieht es denn, daß sie urplötzlich überwältigt wird von ihrer Schwäche und nicht mehr weiter kann; und sich unter den großen Kandelaber des Platzes setzt und dasitzt mit an den Leib gezogenen Knien.

Sieh mal, kleine Sif, da ist eine Kathedrale mit einem Christus, der verzweifelt seine Glieder krümmt, und da ist ein Platz, auf dem man schon einmal gestanden hat, und auf dem man um zerfetzte Tote weinte ... weiß nicht mehr wann, weiß nicht mehr warum ... Und wieder besteigt eine Musikbande das Podium, und wenn es auch heute das »O sanctissima« ist, das der Kapellmeister statt des Freiheitsmarsches entfesselt, so finden sich da doch wieder alle die Gestalten ein, die auf diese Bühne gehören: diese Offiziere, die Europa imitieren, und die Haciendaros, die nachher in etwelchen Lupanaren von Florida Christi Geburt feiern werden, und die Gott am nächsten stehende Menschenrasse mit schönen, angelsächsischen Langschädeln und dem Smoking für einen Klubabend mit Mistelzweig und Plumpudding, und die orchideenhaft schönen Frauen kreolischer Hautfarbe, die aufgewacht sind aus ihren Hängematten von der Hitze des Tages und nun langsam herumgefahren werden vor dem dinner.

Und wieder steht da vor ihr so ein Mann mit Filzhelm und Gummiknüppel und macht ihr klar, daß man unter diesem Kandelaber nicht sitzen dürfe. Da steht der Körper auf und begibt sich dahin, wohin er gehört: nicht auf den legitimen Korso vor die Musikkapelle mit Schellenbaum und Weihnachtshymnen, beileibe nicht vor die Säulenfront der Kathedrale mit Christus und angeklebter Standrechtsverkündigung: nein, auf den breiten Bürgersteig vor den Cafés begibt er sich, dorthin, wohin er sich zu begeben hat, wenn er sich ein Abendessen verdienen will als Heilmittel gegen den wütenden Hungerschmerz in den Eingeweiden ... der Körper, wohlgemerkt, meine Lieben, nicht die kleine Sif, die zuerst Hündchen Binky und dann die Witwe Grandjean tötete und dann um die Toten dieses Platzes geweint hat ... nicht die, ach nein, nicht die ...

Da ist also zuerst ein Uniformierter, ein Hauptmann der republikanischen Infanterie ... ein fetter Mann, ein schöner Mann, ein Mann, umgeben von einer wohlriechenden Wolke von Juchten ... Mann mit Monokel und Seidenhemd.

Unter dem Mondschein der Bogenlampe diesem Adonis in den Weg getreten, verheißungsvoll, wie man es so sehr schnell bei den andern lernt, getroffen im selben Augenblick von einem verächtlichen Monokelblitz, der beinahe eine physische Wunde im Fleische hinterläßt: ja, vergiß gefälligst nicht, kleine Sif, daß du ein abgemagertes, vom Hunger entstelltes Gesicht, daß du von den Prügeln der Oberschwester Mary eine Schmarre auf der Stirn hast, daß ein Mann dieser Qualität zu anderen Ansprüchen berechtigt ist. –

Hunger, Hunger, Hunger ...

Da man angewiesen ist auf bescheidenere Kundschaft, so kann man es vielleicht mit den kleinen Kontorhengsten versuchen, die eben, als alte Überseeleute sich fühlend, mit geschweiften Sakkos und spitzigen Zuhälterschuhen und abgründigem Spanisch den Korso betreten haben und von dem Weihnachtsbankett im Klub sprechen.

Den Weg dieser Adonisse gekreuzt, mit jener ebenfalls leicht zu erlernenden Geste, leis und aufdringlich den Onestep »O Katherina« gepfiffen, den eine kleine, rotbackige, nun längst verstorbene Sif einmal in der Halle des Exzelsiorhotels getanzt hat. Da geschieht es, daß die jungen Leute, künftige Blüten des Welthandels und durchaus königliche Kaufleute, in ein starkes Unisonogelächter ausbrechen über das verwahrloste Wesen, das nicht einmal auf dem Dirnenkorso von Beriditscheff oder Minsk oder Treptow, geschweige denn auf dem von Buenos Aires Beachtung finden könnte. Da fühlt sie ihre Unzulänglichkeit, krümmt sich in ganz ähnlicher Weise zusammen wie heute nacht der Hund und schleicht sich davon.

Da die Plazza del Majo kein geeigneter Schauplatz ist, so verliert sie sich in dem Bratenrost der südlich der Calle da Rivadavia gelegenen Teile, läßt die Neustadt hinter sich, langt endlich in dem Elendviertel an, das hier beginnt und bis La Bocca sich erstreckt.

Es gibt keine Stadt auf diesem Erdballe, die an Öde, an Architektur gewordener Borniertheit mit diesem Teile von Buenos Aires konkurrieren könnte; und vielleicht ist es die Trostlosigkeit dieser endlosen Straßen, die ihre Gleichgültigkeit zur vollen Apathie, zum Stupor steigern. Einmal bleibt sie mitten auf den Gleisen des Tramways stehen, stiert gedankenlos in das große böse Auge des Scheinwerfers, ist in diesem Augenblick ganz weit fort von hier: bei kleinen galanten Rokokobildern, auf denen eine unvollkommen bekleidete junge Dame einen nackten dickbäuchigen Amor mit Köcher und Bogen auf dem Schoße liebkost, bei Bildern, die ein alter weißhaariger Mann vor vielen Jahren lithographierte, zu welchem Mann sie Vater sagte, welcher Mann dann eines Tages in eine Kiste gelegt wurde und irgendwo verschwand, hunderttausend Meilen von hier.

Aus diesem Traum wird sie von einer harten knochigen Hand im letzten Augenblicke, dicht vor dem schreienden, klingelnden, pfeifenden Tram von den Gleisen gerissen, fühlt, daß die Hand ihre armselige dünne Bluse zerfetzt hat, sieht in ein kürbisgroßes, gelbes Gesicht mit tiefen Augen und breiten Backenknochen. Chinaman steht im Lichtkreis der Bogenlampe, Chinaman steht und gafft sie sehr eindeutig an: Chinaman hat wie alle seiner Rasse Hunger nach weißem Weiberfleisch. Da sieht sie, daß es eigentlich ein Totenschädel ist, der sie angrinst, sieht sich in irgendeiner Urangst nun doch durch Stumpfheit und Hunger und Elend mit durchschnittener Kehle auf einem Schuttplatze liegen, reißt sich los, galoppiert davon.

In der Calle Los tres Chorillos, hier, wo La Bocca beginnt mit kobaltblauen und kanariengelben Mietkasernen, mit Grammophongedudel und nächtlichen Messerorgien, tagt unter zinnoberroten Gartenlampen ein politisches Meeting ... man sieht, wie ein tagsüber mit Salpetersäcken umgehender Kavalier mit Händen und Füßen rhetorisch seine Gegner niedersäbelt. Weiter südlich, wo verlassene Hafenarme mit böse schillerndem, giftigem Wasser schlafen, haben sich zwanzig braune Christen um eine verendende Mula gesammelt, der der Besitzer mit einem Eisenknüppel das Kreuz gebrochen hat: nun, ist es mein Maultier oder euer Maultier, und überdies, warum hat es Gott zu einem Maultier gemacht?

Weitergelaufen bis zu diesem nach übeln Abwässern, nach ranzigem Fett und Rinderdung duftenden Viertel der Schlachthäuser und Konservenfabriken. Nimm dich in acht, kleine Sif: es ist nicht gut, diese einsamen, fußtiefen Sandwege, die tagsüber nach Geld und Beeftrustkursen brüllen, zu einer Stunde zu passieren, wo das halbwüchsige, im Keim verfaulte Gesindel von La Bocca und Baraccas, wo die Bewohner des anliegenden Chinesenviertels, die Neger aus den Schweinemetzgereien die einzigen Korsobesucher sind.

Oh, etwas Seltsames ist es um die Peripherie der großen Städte. Vor dem Kriege sah ich in Petersburg, dort, wo das Höllenbiest sich auflöst in den Urwald und Sumpf, aus dem es einst stieg: dort also sah ich menschliche Wohnungen, die nichts waren, als in Kehricht und Düngerhaufen gewühlte Höhlen. Es gibt in dem südöstlichen, der zivilisierten Welt ja eigentlich unbekannten London Straßen, wo von einem zwerghaften, verkrüppelten und durchaus atavistisch erscheinenden Geschlecht ein Englisch gesprochen wird, wie es vielleicht Richard III. gesprochen haben mag. Und selbst da, wo bei Five points die Ausläufer meines alten Lieblings New York verschlungen werden von der Steppe: selbst dort, in der Stadt der Einheitsgesichter und Einheitshirne, habe ich ein in halbeingestürzten Kellern, in den verlassenen Ankleidehäusern verschollener Sportklubs wohnendes Geschlecht von freundlichen, hilfsbereiten Shakespeare-Mördern gefunden, die, wofern der Auftraggeber ihnen einigermaßen sympathisch war, für Geld alles besorgten, was man seinem Gegner angetan wissen wollte: zwei Dollars für simples Verprügeln, ebensoviel für Abschneiden eines Rockzipfels, ebensoviel für Übergießen mit einer unsympathischen Flüssigkeit. Zehn bis fünfzehn Dollars für leichtes Verstümmeln, fünfzig bis zweihundert Dollars für Beseitigen ...

Es mag sein, daß in der City die Romantik stirbt: dort aber, wo die ungeheueren Moloche ihre letzten Fangarme hinausstrecken in das immer öder werdende Land: dort eben ist ein Boden bereitet, aus dem in gleicher Weise wie die der Lustmörder, die Geschlechter der Käuze, der Volkshelden, der Heiligen unserer Tage erwachsen ... das Chaos, das einst die Übermechanisierung verschlingen wird. –

Was geschehen soll, geschieht in der Calle Chascomus vor einer der großen, der Fry-Bentos-Company angegliederten Gerbereien. Hier nun, wo in den Lohteichen Tausende von Rinderfellen wässern, wo die Luft voll ist von pestilenzialischem Gestank, von Mücken, deren Stich tödlich ist, wie der Biß einer Klapperschlange: hier sieht sich die kleine, gedankenlos in die Pampa hinauslaufende Sif von einer Gestalt verfolgt, die sie zuerst für eine Frau hält ... klapp, klapp ... Schritte hallen auf den Bretterstegen längs der Zäune, man kann den Verfolger nicht loswerden ...

Es geschieht unter einer miserabeln Petroleumlaterne, daß die kleine Sif sich umdreht und den Unbekannten erwartet. Da ist es ein knochiges, ein mittelalterliches Gesicht, in das sie blickt: ein Mensch mit Kutte und Strick ... es ist wohl einer dieser verlotterten Straßenmönche, der sie in den letzten zehn Minuten verfolgt hat.

Da auf dem Leidenswege der kleinen Sif eine Reihe gewichtiger Instanzen – angefangen von dem Geistlichen in der Marienkirche bis zu Ismael P. Hobson – ausgiebig von Gott geredet hat, da mithin die Kutte dieses Menschen da in dem übermüdeten Hirn so etwas wie Verachtung und Todfeindschaft weckt, so hat sie im Augenblick nur den einen Instinkt, daß dieser da hinunter muß in den Schmutz, in dem sie selbst nun untergeht: o ja, ich will euch lehren, von Gott zu reden ...

Und wie sie mit dem frechsten Dirnenlachen, dessen sie fähig ist an diesem Tage, ihm den Weg vertritt, da ist es eine magere Hand, die mitleidig wie den eines armen Hundes ihren Kopf streicht: »Nun was denn schon, armes Tier, hast du Hunger?«

Sie steht noch immer mit demselben schmutzigen Lachen, das sich so schnell erlernt in des Leibes Not, so schnell, ach so sehr schnell.

Da geschieht es, daß der andere sie in dem Laternenschein lange ansieht, mit traurigen, mit dunkeln, mit wissenden Augen.

»Komm!«

Da geschieht es, daß er seinen Arm legt in den dieser kleinen Amateurdirne und sie ein wenig stützt und sie mit sich führt. –

Oh, dies ist ein wunderlicher Gang, dessen Wunder in den Akten der kleinen Sif nicht verzeichnet sind! Ja, die Nacht ist es, in der einst während einer Stunde den Tieren gegeben ward, in der Menschensprache zu reden von dem Jammer und dem Sehnen der stummen Kreatur. Und in dem alten Europa, das nun begraben liegt unter Automobilstraßen und Schrebergärten und den Schutthalden der Braunkohlengruben, da zogen einst auf Ochsenwagen langbärtige Könige durch die Winternacht, und Domglocken dröhnten durch den Frost, und Herr und Knecht beugten ihr Knie vor der großen Himmelsfrau und dem Kinde und wußten, wozu es gut war, zu leben und zu sterben.

Hier aber, in den Außenbezirken des großen, schrecklichen Buenos Aires ... hier zwischen einsam liegenden großen Schlachthäusern: hier ist es ein ganz anderer Weihnachtsgang!

Domglocken läuten wohl von ferne ... ja, aber es sind die Glocken der Innenstadt Florida, die Glocken der Kathedrale mit verlogenem Christusbild und verlogener Marmorpracht ... seht, die Glocken der Korrekten, der Korsobesucher sind es: es ist mit diesen Glocken nichts! Ein Mönch wird hier gesehn mit einem verwüsteten Weibe am Arm ... und da ziehen sie denn vorbei, die Gespenster dieser Nacht: Neger, betraut, in den Schlachthallen kleinen frommen Schafen die Kehle zu schlitzen ... Schnitt um Schnitt ... vom Morgen bis zum Abend. Verbitterte Proletarierweiber dann, aus den Tingeltangeln ringsum die Preisboxer ... halbwüchsige, mit vierzehn Jahren verfaulte Lümmel ...

Und Scheltworte fliegen hinter dem Paare her ... giftige, abgründige Worte, die dem Priesterkleide und der vermeintlichen Dirne gelten, und wie sonst dröhnen durch diese Nacht die Orgeln der Achterbahnen, die Saxophone der Jazzbanden, das Geschrei von Liebe und Geld auf den Rummelplätzen, in den Kneipen, den Bordellen ringsum. Bis es dann doch, weit hinter den Kehrichthalden und den Sportplätzen und den großen Pferchen mit ihren aufs Messer wartenden Rinderherden eine kleine armselige Glockenstimme ist, die durch die Nacht ruft.

Es ist ein durchaus morsches, ein brüchiges, ein unehrenhaftes Bauwerk, vor dem sie haltmachen: vor Jahrhunderten vielleicht für Mendozas Söldner gebaut, verwahrlost nun und verludert ... vielleicht nicht einmal verzeichnet auf den Pharosplänen von Buenos Aires. Und hier, als sie merkt, daß der Gang mit dem Fremden da bei einem ganz andern Ziele endet, als sie sich gedacht hat: hier geschieht es, daß sie sich losreißen will von ihm in frechem Trotz, daß sie vor der Seitenpforte dieser kleinen ehrlosen Kirche ... hier, wo verliebte Katzen und illegitime Paare ihre Liebesorgien feiern in den heißen Nächten über den zertretenen Gräbern ... ihn anschreit.

»Ich will nicht ... ich spucke auf deinen Gott!«

Da kommt wieder die harte, magere Hand, die sie ganz sanft beim Arme nimmt: »Hast ja Hunger ... komm.«

Da ist ein Ministrant, mit dem er ein paar Worte wechselt, da ist es eine unerhörte Luftspiegelung, die auftaucht vor den Augen der kleinen Sif: es sind ein paar Schnitten altes steinhartes Brot, das der Mensch da in seinem schwarzen Rock mit sich geführt haben mag auf dem weiten Weg nach dieser Vorstadtkirche ... ein wenig Wein, der sonst wohl für andere Zwecke bestimmt sein mag. Da beginnt sie zu schlingen und bekommt blutunterlaufene Augen vor Gier und ißt und trinkt und wird nicht satt. Und schweigt in Trotz und Bitterkeit.

Da schrillen nebenan im Kirchenschiffe die Meßglocken, da nimmt der Fremde in der Kutte sie bei der Hand, führt sie hinein ...

Oh, es ist eine seltsame Versammlung, die hier in den letzten Ausläufern der Millionenstadt Weihnachten feiert!

Hier fehlen die goldgestickten Uniformen der Republik, es gibt hier keine Klubfähigen mit Abenddreß und Gott und den Kursen von Baltimore und Ohio im Herzen: es sind Zerlumpte, es ist hierher aus Europa verspritzter Abschaum. Es sind keine Bibliotheks-, keine Universitätsstifter dabei, und ich bin sicher, daß die Domschweizer des Heiligen Vaters diesen Christen den Zugang zu Fußkuß und apostolischem Segen verwehren würden ... ja, ich glaube sogar, daß kein gut gezüchteter Scotch-Terrier ein Stück Leberwurst aus ihrer Hand nehmen würde: Bankdefraudanten und verkrachte Duellheroen mit einst berühmten Skandalaffären ... Mediatisierte, die wegen Falschmünzerei im Zuchthause saßen, und Weiber, die ihren Neugeborenen die Kehle hinterm Zaun zudrückten. Andere, die einen lästigen Gatten mit Arsenik unter die Erde schafften ... Priester, die aus Abendmahlskelchen sich betranken ... abgetakelte Hetären, und Gardeoffiziere in zerrissenen Bastschuhen und mit Ungeziefer im schmierigen Hemd ...

Und in der vordersten Reihe dieser Verlorenen von La Boca und Barracas, höchst trotzig und verbissen und durchaus nicht gewillt, sich beikommen zu lassen, duckt sich das Weib, das den Mord beging. Da steht er auf der Kanzel mit dem zerbrochenen Geländer, der Mönch ... ach, selbst die schimmernde Stola fehlt in diesem Gottesdienst der Verlorenen! Und es ist vielleicht eine unheilige, eine für sein Ordenskleid vielleicht durchaus ungehörige Predigt, die da zu hören ist. –

»Ich will euch nicht von jenem Jesus sprechen, von dem man euch sprach, als ihr Kinder wart. Ich will euch nicht sprechen von »du sollst und du darfst nicht« und von Todsünde und Gericht. Brüchig sind der Menschen Gesetze geworden, und ihr alle, die ihr hier sitzt, seid vereint in Schuld und Jammer. Nicht das einmal verlange ich von euch, daß ihr glaubt, er habe gelebt. Ob er gelebt hat als Mensch wie ihr, oder nicht: dies ist gleichgültig. Ihr alle, die ihr tief gefallen seid, wißt, daß Roheit und Sünde ewig sind und unausrottbar. So aber wißt gerade ihr, daß ebenso ewig und unausrottbar die Liebe ist und das Erbarmen. Und weil niemand so wie er die Liebe war und das Erbarmen: seht, so hat er denn doch gelebt und lebt ewig. Euch aber, die ihr morgen ja doch wieder sündigen werdet und tief im Staube liegt und auf eine Stunde nur gekommen seid, um zu sehn, wie hoch Gott ist: euch will ich von dem Christus sprechen, vor dem ihr euch nicht zu fürchten braucht.«

Und sieh, während man dasitzt und sich wehrt mit aller Kraft gegen das, was hier geschieht, und gerne ein freches Wort hineinschreien möchte, da ist es doch diese simple Geschichte von Todsünde und Vergebung, die ihr den Mund verschließt. Da sitzt gebückt und traurig der Herr und zeichnet Figuren in den Sand mit dem Stab und mag selbst wohl an die Roheit denken, die ewig ist wie jene Liebe, die er predigt. Und da ist die, die ihre Ehe brach oder ihr Kind oder am Ende auch so ein altes gehässiges Weib mit geöltem dünnem Haar erwürgte ... ja, da steht sie mit ihrer Schuld allein vor dem Herrn und weiß nichts zu sagen, hat die Hände voller Menschenschuld. Und siehe, da ist es doch nur diese eine Stimme des Großen, des Reinen: »Geh und sündige hinfort nicht mehr.«

Es ist durchaus zu bemerken, daß die kleine Sif in dieser Stunde nicht aussieht wie eine reuige Sünderin. Da singt diese seltsame Gemeinde ein Lied zum Schluß, ein Lied, das herüberklingt aus verwüsteten Gärten der eigenen Jugend, da sitzt das Weib und schickt die dummen Tränen zurück, die durchaus kommen wollen, und versucht, die Melodie der »Mary cut« hineinzuschicken in diesen Gesang.

Und kann es doch nicht und bleibt sitzen auf seiner Armensünderbank, als langsam die Kirche sich leert.

Da geschieht es, daß der andere, der Mönch plötzlich vor ihr steht, sie anschaut. Da will sie aufspringen, ihm ins Gesicht lachen und ihm sagen, er möge sich seinen Lohn für die Predigt holen hinter dem nächsten Zaun, hier vor dem Altar in Teufels Namen, schnell ... schnell ...

Da ist es aber nur die traurige sanfte Stimme des andern, die Hand auf ihrer Stirn: »Und du, was hast du getan?«

Da geschieht es, daß sie endlich das sagt, was sie lange sagen wollte, in allem Schmutz und Elend dieser Wochen: »Ich habe ein altes Weib erwürgt.«

Und es ist zu bemerken, daß sie es nicht sanft und leise tut wie die Insassen eines Beichtstuhls: o nein, sie schreit es, daß es widerhallt in diesen schimmeligen Gewölben, daß hinten der Ministrant, der die Lichter löscht, zusammenfährt bei diesem Bekenntnis. Und die Aasgeier mögen es gehört haben, die draußen um die Abwässerkanäle der Schlächtereien streichen, und die Zuhälter und Preisboxer draußen auf der Straße, und vielleicht die ganze erbarmungslose Stadt mit ihrem Gebrüll nach Geld und Liebe. Der andere aber, der gewohnt sein mag, die mannigfachen Stimmen von Menschenleid zu hören, der andere steht vor ihr und sieht sie an mit leichtem, mit traurigem Lächeln. »Und?« fragt der Mönch.

»Du sollst mitkommen,« sagt das Weib.

Da gehen sie beide aus der dunkel gewordenen Kirche. –

Es ist ein langer Weg von diesem letzten südlichsten Ausläufer der Schlächtervorstadt Barracas el Norte bis hinauf zu der Calle da Rivadavia. Ich weiß von diesem langen, langen Wege nicht viel und glaube auch nicht, daß sich an dem großen Buenos Aires irgend etwas änderte, weil da ein trotziges Beichtkind ging mit seinem Beichtiger. Ich glaube, daß deswegen in dieser Nacht nicht eine Gewalttat weniger geschah hinter diesen Zäunen, daß eine Zote weniger gebrüllt, ein Messer weniger gezückt, ein Maultier nicht zu Tode geprügelt wurde, daß oben in den eleganten Straßen von Florida irgendein Haciendaro sich um einen Bettler kümmerte, der gerade unter die Räder seines Cabs gekommen war ... Eine große, schreckhaft tönende Jahrmarktsorgel ist diese Welt, und blut- und kotbespritzt sind die Figürchen, die auf ihrer Platte tanzen, und keines Weibes, keines Menschenkindes große Stunde hemmt den Arm dessen, der diese Orgel dreht.

Und wie sonst werden in dem Polizeigebäude der Calle da Rivadavia Taschendiebe und Lustmörder und Zuhälter abgeliefert und en face und en profil photographiert und gemessen nach dem System Bertillon und einregistriert in der großen Liste des internationalen Verbrechertumes. Und da steht denn in später Nachtstunde vor der Barriere jener Polizeiwache der Laienbruder Franziskus aus Pfullingen in Württemberg und die Kunstmalerfrau Sif Bruckner, die ein wichtiges Geständnis hat. Der Schmallippige ist nicht da ... er ist wirklich im Klub, wo er zur Stunde eine puritanische Predigt und seinen Weihnachtspudding verdaut; er muß erst gerufen werden, und es ist unumgänglich, derweil hier auf und ab zu wandern in dem übelduftenden Wachtlokal mit nach wie vor trotzig verbissenem Gesicht. Es geschieht in dieser durchaus qualvollen Pause, daß der Mönch der kleinen Sif etwas zusteckt: oh, nur ein kleines höchst abgegriffenes Testament ... eine Konterbande eigentlich für sein Ordenskleid, ein gut gemeintes Geschenk trotzdem. Da verschwindet, als sie es nimmt, der Hohn durchaus nicht von ihrem Gesicht, sie dankt nicht einmal. Aber sie behält es doch. Und in diesem Augenblicke tritt der Schmallippige ein.

Da steht er also in Smoking und einer durchaus formidablen Hemdenfront. Ein Dolmetscher ist zur Stelle, der sich bei dem nun folgenden Verhör unentwegt in der Nase bohrt; und Freudenschüsse zu Ehren Christi werden auf der Calle da Rivadavia abgefeuert, und wie sonst studieren unentwegt während der ganzen nun folgenden Szene hinter dem Mönch und der Mörderin die beiden diensthabenden Konstabler die Abendausgabe des »Mercurio«.

»Sie wünschen?« fragt der Schmallippige.

»Ich bin mit falschem Passe hierher gekommen. Ich heiße Sif Bruckner.«

Der andere kramt gleichmütig in ein paar Papieren, zieht ihren unglückseligen Paß heraus: »Das ist mir bekannt. Sie werden von Berlin gesucht.«

»Ich habe in Berlin die Althändlerin Grandjean erwürgt.« Da ist er denn doch vom Stuhle aufgefahren, der Schmallippige, sieht entgeistert das unscheinbare, zarte Geschöpf an, faßt sich gleich darauf wieder, sitzt gleichmütig und korrekt auf seinem Stuhl.

»Davon ist in Berlin ...«

Er bricht plötzlich ab und hat selbst keine Ahnung, daß er mit diesem Abbrechen den Dingen, wie ja leider noch zu erzählen sein wird, eine ganz andere, eine vielleicht selbst im Sinne der Polizei unerwünschte Wendung gibt.

»Ich weiß nichts davon,« verbessert sich kühl bis ans Herz hinan der Schmallippige.

»Ich habe es getan, ich habe es trotzdem getan ... ja, ich habe es getan,« schreit grimmig die kleine Sif und ist ihr Geheimnis los.

Der Schmallippige zuckt kühl die Achseln, der Schmallippige winkt dem Protokollanten, der Finger des Protokollanten verläßt des Protokollanten Nase: die Maschinerie, in die die kleine Sif soeben trotzig ihre Hand gesteckt hat, setzt sich in Bewegung. –

Die Gefängnisse der südamerikanischen Staaten aber sind elende Kotter, Löcher mit unbeschreiblich verschmutzten Böden und Zeichnungen an den Wänden, auf deren Obszönität ein europäisches Hirn so leicht nicht kommt.

Es ist nicht so leicht, in diesen stinkenden Löchern zwei lange Wochen zu warten, bis ein Telegramm hinübergeflogen ist von Buenos Aires nach Berlin, bis die Antwort da ist, bis das Auslieferungstelegramm zurück ist, bis ein paar heimatliche Kriminalbeamte da sind, um sie den gleichen Weg zurückzuholen, den sie mit der »Manchouria« gefahren ist als Sekretärin eines fragwürdigen Obersten.

Und derweil geschieht es an diesem ersten, am Weihnachtsabend in diesem kotbesudelten Loch, daß die kleine Sif aufs Geratewohl jenes abgegriffene Buch ihres Begleiters aufschlägt im Scheine eines kläglichen Talglichtes.

Aufs Geratewohl, wie gesagt. Geschrieben steht auf der Stelle, auf die ihr Auge fällt: »Wer überwindet, dem will ich geben mit mir auf meinem Stuhl zu sitzen. Wie auch ich überwunden habe und bin gesessen auf meinem Stuhl.«

Da wirft sie wütend und trotzig das Buch beiseite. Aber es geschieht doch hier in diesem Kotter, wo niemand es sieht, daß in dieser Stunde die kleine Sif auf diesem Boden liegt, auf dem ganze Generationen von Häftlingen Spuren ihres Erdenwandels hinterlassen haben ... daß sie daliegt und ein bitterliches Weinen weint, das trotz des Hupenlärms und der Freudenschüsse draußen weit zu hören ist auf den Gängen der Polizeiwache in der Calle da Rivadavia.

 

* * *


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