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Also ergeht es denen, die von Europa aus den Atlantik südwärts durchqueren: da hinter Helgoland die Luft noch den taufrischen Duft des Nordens hat, so wird zunächst, allen feierlichen Abschiedsszenen zum Trotz, die ganze Reise nicht sonderlich für ernst genommen, in dem Glauben, daß es drüben schließlich auch nicht viel anders sein werde, wie bei der alten gütigen Mutter Europa.

Beim Kanaleingang, auf jenem vor der Themsemündung gelegenen »Kentish Knock« genannten Grunde sieht man mit geteilten Gefühlen soviel Wracks liegen, daß man zunächst annimmt, es sei ein internationales Malheur geschehn und über Nacht die ganze englische Flotte untergegangen. Man bemerkt, daß das Englisch, das der Kanallotse spricht, erheblich abweicht von dem auf deutschen Schulen gelehrten, daß ihm beim Frühstück zum Kognak auch die Bibel serviert wird, daß die Segel der Fischer hier rostrot und mithin schon etwas exotisch sind, daß die Luft hier schon leise, leise jenes seltsame, nach Sonne riechende und höchst irritierende Parfüm hat, nach dem dann die ganze Übersee duftet, vom Lizzard bis zur Magelhanstraße. Und dann sieht man, wie die riesenhaften Leuchtfeuer von Ushant und Dover und Bournemouth ... beim Zeus, die schönsten der Welt ... mit riesigen Windmühlenflügeln lautlos dem lieben Gott über den Nachthimmel wischen, und dann wird mit einiger Regelmäßigkeit von einem an Deck gekommenen ahnungslosen Maschinenassistenten den Passagieren der Unsinn erzählt, daß dies die letzten Feuer Europas seien, was ebenso nachdenklich stimmt, wie jener hier schon aus einzelnen Kabinen kommende Urlaut, der den Seebefahrenen auf die Note der Schadenfreude stimmt.

Da aber hier der Vater Atlantik seine ganze, zwischen Neufundland und der Biskayasee aufgespeicherte Kraft in den unseligen Winkel zwischen Frankreich und Spanien hineinzwängt, so beginnt hier jenes an das ›dies irae‹ gemahnende Phänomen der Seekrankheit, wobei die Passagiere sich mit schiffsärztlichem Zuspruch, mit Chloralhydrat, Veronal und dem Glauben an den Fortschritt der Medizin zu Bette legen, mit den größten Kopfschmerzen der Welt als räudige, übelriechende Tiere für einige Tage erwachen und zu Menschen erst wieder werden, wenn der Steamer auf wilder See in den großen lauen Nebeln nördlich der Teneriff-Gruppe herumtutet.

Da aber am Tage der Mut noch groß genug ist, so stürmen in diesem Stadium die Passagiere sukzessive das Deck und stellen an den Wachthabenden die üblichen Fragen: erstens, wie tief an dieser Stelle das Meer sei, zweitens, wieviel Knoten der Dampfer gerade laufe, drittens, ob es denn wirklich noch Segler gäbe, viertens, ob der Kapitän schon einmal einen Sturm erlebt habe, fünftens, ob die neben dem Schiff herumspielenden Schweinsfische auch Menschen fräßen, sechstens, ob der Chronometer Berliner Zeit zeige, siebentens, ob die Passagiere nicht manchmal viele dumme Fragen stellten ...

Wenn dann aber nach der Erledigung auch dieser Formalität der Abend gekommen ist, bemerken die Passagiere, daß inzwischen die lieben alten Gestirne ihrer Kinderheimat in vollkommener Geistesverwirrung durchaus ungewöhnliche Stellungen eingenommen haben, daß der Große Wagen als jämmerlich umgekippte Kieskarre dicht über dem Horizonte liegt, daß selbst der gute alte Mond die bekannte, von Gott speziell für die Deutschen zur Erleichterung ihrer Denktätigkeit angeordnete Regel mit dem A beim Abnehmen und dem Z beim Zunehmen sans façon umgekehrt hat. Und nun erst, angesichts der eigensinnigen Kraft, mit der das Schiff vorwärts drängt, merkt diese mit verzweifelten Spekulanten, Mädchenhändlern, verlorenen Söhnen immerhin stark durchsetzte Schar, daß jeder Schraubenschlag sie entfernt von einer altgewohnten, sicheren Basis, und daß man unabänderlich weiter hineingleitet in das Ungewisse, die Heimatlosigkeit. In eine durchaus unbarmherzige Welt, die jedes Versagen mit dem Untergange bestraft. –

Item: am Samstag in der Berliner Marienkirche Robby geheiratet, am Sonntag Hündchen Binky erschlagen, am Montag versehentlich bei Schwager Lex übernachtet, am Dienstag die Witwe Grandjean erwürgt, am Mittwoch ins Exzelsiorhotel geflüchtet, am Donnerstag früh kraft eines tadellosen, nagelneuen Passes verwandelt in die argentinische Staatsangehörige Anita Thesiger, Dolmetscherin und Sekretärin des Obersten Miramon. Sekretärin und nicht etwa Geliebte ... nein, es ist schon jetzt zu betonen, daß der Oberst Miramon ein Ritter und weit davon entfernt ist, ihre Notlage auszunützen ...

Am Freitag also, sechs Tage nach der Hochzeit der nun schon etwas verschollenen kleinen Sif fliegt auf der Fahrt nach Hamburg, eingewickelt in eine alte Vossische Zeitung, das Perlenkollier aus dem Zuge hinaus. Am Abend des gleichen Tages schafft der in Berlin akquirierte russische Diener Theodorowitsch die riesigen Koffer an Bord, die die Akten und die naturwissenschaftlichen Spielereien des Obersten Miramon enthalten. Dann folgt ihr jämmerlich kleines Gepäck, dann reicht ihre Kraft noch gerade dazu, daß man, während das Herz erstarrt in geheimer Angst, seinen Paß kontrollieren läßt, am Arm des Obersten Miramon den Steg der »Manchouria« hinanklettert, seine Kabine erreicht, hier mit dem Gesicht vornüberfällt und, während bei übelstem Spätherbstwetter die »Manchouria« Cuxhaven verläßt, daliegt mit schönem soliden Fieber und nichts mehr recht weiß von dem, was war und was ist.

Eine Erkältung vielleicht, kompliziert durch die Erregungen der letzten Tage, das ist wohl alles. Immerhin: die Feuerschiffe der Elbmündung, die weißen Felsen von Dover ziehen vorüber, im Salon wird geflirtet und getanzt und zuviel gegessen, auf dem Achterdeck steht der Oberst Miramon und schießt in der Stunde mit seiner Repetierflinte vierzig bis fünfzig der weißen Möwen, die im Kielwasser nach Beute fischen. Passat setzt ein, im Zwischendeck stirbt ein alter galizischer Jude, wird in eine alte Persenning eingenäht und bei St. Pauls Rock auf zehn Minuten nördlicher Breite und dreißig Grad westlicher Länge in dreitausend Meter Wassertiefe versenkt, Herr Generaldirektor Kannabich hat seinen Smoking vergessen und darf nicht in den Speisesaal, Frau Higgs aus Philadelphia verpokert zweitausend Dollar: und dort hinten über den Schrauben der »Manchouria« in der zweiten Klasse, wo der Oberst Miramon sie untergebracht hat, um sie vor den indiskreten Blicken der Gesellschaft zu schützen ... dort am Ende des langen, von englischen, frisch aus der Seifenschachtel gestiegenen Nurses, von verkrachten Offizieren und bayerischen Missionskapuzinern mit meterlangen, nie gewaschenen Vollbärten bewohnten Ganges, liegt acht Tage lang im Fieber ein kleines, kleines gehetztes Menschenkind, nennt in ihren Delirien den Schwager Lex einen Auerhahn, schreit zitternd vor Angst den jungen Schiffsarzt an, daß die ganze Tuberkulose nur von der Unsittlichkeit herrühre, sieht die großblumiges Tapetenmuster auf sich zukommen, behauptet, man habe ihr Napoleons Schädel mit einem leeren Schlauch als Hals auf das Bett gelegt.

Dann wieder sieht sie einen kleinen quecksilbrigen Menschen vor ihrem Bette stehn, der dort einen Blumenstrauß niedersetzt, sieht ein konfisziertes Gesicht, hört ein paar fremde Worte: daß es der Diener Theodorowitsch ist, der im Auftrage des Obersten Miramon mit einem Bündel Nelken, einer Flasche Lacrimae Christi gekommen ist, begreift sie in diesem Zustande jedenfalls nicht. Tatsache ist, daß sie in irgendeinem dunklen Instinkt den Menschen fortstößt und nach der Wärterin ruft. Da ist das Phantom verschwunden. –

Am nächsten Tage ist zum ersten Male das Fieber fort. Da liegt sie da mit übergroßen Augen, sieht die Blumen, liest das kleine Billett, das ihr Tänzer aus dem Exzelsiorhotel beigelegt hat: »Oublier, madame, c'est tout.« Und nun jubelt es auf in ihr: Freund ... Vater ... Beschützer! Drüben wird sie unter seinem Schutze eine Stelle annehmen, als nurse, als Sekretärin, man wird ein neues Leben anfangen, alles, alles wird wieder gut werden ...

Ja, ein kleines unentwickeltes Ding hat sich niedergelegt auf sein Krankenbett, es ist aber eine andere Sif, die aufersteht von den Toten: nun ist es der Blässe und den noch ein wenig fiebrigen Augen zum Trotz ein vollerblühtes Weib, das dort unter dem Sonnensegel auf seinem Liegestuhl gebettet wird ... ja, so schön ist sie geworden in diesen Tagen, daß die gentry der ersten Klasse mit Gläsern hinüberlugt nach ihr.

Und die Quartermeister nicken ihr zu im Vorübergehn, und der junge Telegraphist knüpft ein etwas unmotiviertes Gespräch an, in dem er ihr erklärt, daß die Dinger, die da hin und her gleiten in der bleiernen See, Haifischflossen seien. Und Miß Hyde schickt eine pfundschwere Bonbonniere, und ein argentinischer Fleischbaron will sie partout kennenlernen, und in ihrer Kabine warten Blumengrüße von unbekannten Absendern auf sie. Und jedesmal, wenn vor dem Dinner die Stewards trompeten, dann erscheint in Abenddreß bei ihr der Oberst Miramon, küßt seiner Sekretärin, die bislang noch kein einziges Wort geschrieben hat für ihn, die Hand. »Courage mon bon enfant ...«

Ja, alles, alles wird noch gut werden ...

Am vierten Tage ihrer Rekonvaleszenz, zwei Tage vor dem Ende der Reise geschieht es, daß der Oberst Miramon ihr die erste Arbeit, die Durchsicht irgendeines für Berlin bestimmten Aktenstückes auf korrektes Deutsch überträgt. Froh, endlich zu einer Betätigung zu kommen, sitzt sie vier Stunden im Damensalon, ist gegen zwölf Uhr nachts erst fertig, will sich zur Ruhe legen, findet auf dem Kopfkissen ihrer Kabine, dort, wo sie es finden muß, einen Zettel mit ein paar gekritzelten Worten. Es sind überkorrekte, etwas ungelenke Schriftzüge, es ist nicht die Handschrift des Oberst Miramon. »Prenez garde!« steht auf dem Zettel.

Sie sitzt auf ihrem Bette, starrt ins Leere. Was soll die Warnung? Vor wem denn soll sie sich in acht nehmen? Und vor allem: wer ist der geheimnisvolle Warner? Der enge heiße Raum beginnt zu drücken auf ihr, Unbehagen foltert sie: sie kleidet sich an, geht wieder hinauf.

Sie klettert aufs Bootsdeck, wo wenigstens etwas wie ein Luftzug zu spüren sein könnte. Unerträglich schwül ist diese Nacht. Die »Manchouria«, durch eine dicke Nebelwand gleitend, läßt ab und zu die Mammutstimmen ihrer Sirenen aufbrüllen, aus dem Nichts draußen antwortet es aus unsichtbarem Munde, als liefe da draußen in den Nebeln ein Geisterschiff. Einsam liegen unten die Promenadendecks, im Schein der Kompaßlichter sieht man den lautlosen Schatten des Wachthabenden hin und her gleiten wie einen ruhelosen Geist.

Gewillt, sich abzulenken, macht sie vor der Office des Telegraphisten halt, knüpft ein Gespräch an, indem sie arglos fragt, ob man oben die Funken in die Antennen fahren sehn könne, wird von dem jungen Menschen ein wenig ausgelacht, erfährt die allerneuesten Neuigkeiten: daß er heute die Verlobung von Maud Prentice an ihren mit seiner Jacht bei den Bermudas kreuzenden Vater gefunkt habe, daß in Buenos Aires heute nacht ein Putsch von farbigen Desperados niedergeschlagen sei, daß er soeben einen Haftbefehl der Pariser Polizei für den Bankdefraudanten Bonnaut weitergegeben habe, der dreihundert Meilen vor ihnen auf der »Santa Barbara« nach Rio fahre ... frisch weg vom Dinner verhaftet, in Abenddreß und Lackschuhen in Eisen gelegt, in Rio in Empfang zu nehmen von der Hafenpolizei ...

Sie fragt möglichst harmlos, ob dergleichen oft vorkomme, verabschiedet sich rasch, ohne die Antwort anzuhören; geht wieder hinunter, wandert, zum ersten Male seit ihrer Erkrankung wieder umgetrieben von ihrer Angst, um das kleine, der zweiten Klasse reservierte Promenadendeck, wandert und wandert, weiß nicht, daß es schon zwei Uhr nachts ist. Hinten das Kielwasser leuchtet, als würde es aus den Tiefen des Atlantik von einem unsichtbaren Scheinwerfer bestrahlt, der lange Schweif verliert sich in der neblichten See: man läßt sich einfach hinunter, das Schiff rast inzwischen weiter, man versinkt ins Unendliche mit aller Schuld ...

Ach, man ist ja doch nun einmal zu feige für das Sterben! Und nun hämmern die Nachzügler des Fiebers in ihrem Blute, nun reden wieder die Stimmen unsichtbarer Plagegeister zu ihr: prenez garde ... ja, vor wem denn ... mein Gott vor wem?

Weitergepeitscht von den Furien, stehngeblieben vor dem offenen Maschinenschott. Niedergeschaut in den tiefen leeren Raum mit seinen gespenstisch-einsam arbeitenden Eisenarmen. Urplötzlich neben sich eine kleine graue Gestalt entdeckt mit an den Schädel geöltem spärlichem Grauhaar: kichernd erzählt ihr diese seltsam verkleinerte Witwe Grandjean, daß sie sich augenblicklich auf dem Meeresgrunde befinde inmitten von allerlei Krimskrams untergegangener Schiffe, viertausend Meter tief, genau unter der »Manchouria« ... ob sie vielleicht ein allerliebstes Wrack hinaufschicken solle, um dem Steamer den Bauch aufzuschlitzen?

Da fühlt sie, daß es der Wahnsinn ist, der nach ihrem armen Hirne von neuem greift, faßt mit dem Aufgebot aller Tapferkeit die Dinge ihrer Umgebung ins Auge, sagt sich laut vor, daß dies da das Häuschen der Rudermaschine und dort rechts die grüne Positionslaterne des Schiffes ist, daß die Witwe Grandjean in Wirklichkeit nur ein kleiner Schiffsjunge ist, der jetzt auf den Pfiff des Wachthabenden zur Brücke läuft: geht nach vorn, läßt sich vom Arzt eine Veronaltablette geben und findet endlich Ruhe. –

Am nächsten Morgen erwacht sie davon, daß der Pulsschlag der Schrauben, der sie in ihren Fieberstunden, in den Tagen der Rekonvaleszenz begleitet hat, plötzlich stillesteht. An etwas Außergewöhnliches, an eine Katastrophe glaubend, die dieser Fahrt ein Ende machen könnte, kleidet sie sich rasch an, tritt hinaus, sieht, daß der Gang voller Menschen ist.

Nein, es ist nichts: was diese vor den Badekabinen, vor der Office des Friseurs wartenden Kontor Jünglinge beschäftigt, sind lediglich die über Nacht eingetroffenen Einzelheiten über die Straßenkämpfe in Buenos Aires: bolschewistische Funken, die von Europa herübergeflogen sind ... schwere Kämpfe auf der Avenida da Rivadavia ... Tanks sollen auf der Plaza del Mayo verwendet sein ... urplötzlich, als sie passiert, verstummen die Shopkeeper, tuscheln leise her hinter ihr ...

Oben auf dem Deck sieht sie, daß die »Manchouria« stille liegt in dem dicken Lehmwasser, das der La Plata Hunderte von Meilen hinausschwemmt in den Atlantik. Ganz weit rechts liegt als schwacher Hauch die Küste über der trägen See, vor ihnen tauscht ein kleiner grauer argentinischer Kreuzer Flaggensignale mit der »Manchouria« aus: Formalitäten, die wegen der Straßenkämpfe in der Stadt geboten sind, keine Aussicht auf eine Katastrophe im letzten Augenblick ... heute abend wird man trotz allem in Buenos Aires sein ...

Beim Maschinenschacht kommt ihr, irgendeinen einheimischen Dorftanz pfeifend, Hände in den Taschen, der Diener Theodorowitsch entgegen: »Oberst wartet hinten ...« der Kerl bläst ihr aus seinem Spitzbubengesicht den Dampf seiner Zigarette entgegen ... irgendwo muß ihr doch diese Gestalt eines shakespeareschen Mörders schon begegnet sein!

»Hinten.«

Hinten, wo sie gestern auf ihrem Gange von der Witwe Grandjean begleitet worden ist, drängen sich die zum Deckscheuern bestimmten Mannschaften um irgendein Spektakel. Was dort über den Köpfen zu sehn ist, ist ein halb ausgeschwenkter Ladebaum der »Manchouria«, daran baumelnd, die ganze Gesellschaft mit Schlamm überschüttend in verzweifeltem Hin- und Herschlagen, die Schwanzflosse eines Riesenfisches. Streit dann in der Mitte dieses Menschenknäuels, deutlich erkennbar die Stimme des ersten Offiziers: »Eine Tierquälerei, die wir nicht dulden auf unseren Schiffen ...«

Oh, der Oberst Miramon hat ihr in Berlin erzählt von seinen kleinen naturwissenschaftlichen Dilettantereien ... ja, es ist ihr Freund, ihr Vater und Beschützer, der, ein Arsenal von Instrumenten neben sich, als blutbespritzter Metzger mit dem Schiffsarzt vor dem ausgeweideten, mit dem satanischen Leben des Kaltblüters noch immer zappelnden Hai steht und in eine lebhafte Auseinandersetzung mit dem Offizier da geraten ist.

»Bei lebendigem Leibe, Herr ...«

»Haie,« sagt sanft der Oberst Miramon und zieht mit der Injektionsspritze irgendeine Flüssigkeit auf, »Haie pflegen Ihresgleichen doch auch nicht zu betäuben, bevor sie Sie fressen, Steuermann?« Die Leute ringsum lachen dröhnend, der Haß gegen den alten Feind hat die Oberhand, der Offizier wird um eine Nuance blasser und verläßt brummend den Kreis.

Die Leute gaffen. Der Hai hat es inzwischen aufgegeben, hin und her zu schlagen mit den Flossen, hängt demütig und starr da wie der Gefrierochse eines Metzgerladens, dünnes Fischblut, mit Lymphe vermischt und Seewasser rinnt in trübseligem Bach über die Deckplanken.

Der Oberst handhabt seine Spritze, redet auf den Schiffsarzt ein, der mit beruflichem Interesse zuschaut. »Ein wenig Ringersche Lösung auf die Herzmuskulatur, Doktor ... Sie werden sehn ...«

Er unterbricht sich, er hat seine Sekretärin bemerkt: »Ein Aspekt für Sie, Madame! Sie werden sehen,« nun haben die toten Augen sie erfaßt, »daß der Tod ... oh, daß das alles nur ein Vorurteil ist.«

Stille ringsum, die Wand der gaffenden Leute, die sich gierig um das Spektakel da drängen. Dann senkt sich die kleine blaugeäderte Hand in das blutige Fleisch des Fisches, der Arzt fühlt sich verpflichtet, ein paar Fachausdrücke zu murmeln, die Spritze klirrt.

»Das Herz, Madame, Sie werden sehn ...«

Die Leute flüstern erregt, auf den vierzig hier zusammengedrängten Menschen lastet das erwartungsvolle Grauen, mit dem man dem Öffnen einer Gruft zusieht. Und plötzlich geschieht es, daß dieser blutige bloßgelegte Muskel da zu beben beginnt, daß die zerfetzte wehrlose Kreatur von neuem sich aufbäumt in erneuter Todesqual ...

Die Leute ringsum beginnen zu murmeln, man hört nun doch ein paar unterdrückte plattdeutsche Flüche. Und nun ist es geschehn, daß die kleine Sif erwacht aus ihrer Erstarrung, daß sie dem andern die Spritze aus der Hand geschlagen hat, sie auf die Planken schmettert: »Sie werden das lassen ... ich dulde es nicht, nein ...« Es ist anzunehmen, daß sie im nächsten Augenblick den Schlächter da anspringen, ihm das Gesicht zerkratzen wird mit den scharfen Weiberkrallen.

Erwartungsvolle Stille ringsum, ein paar sehr massive Bemerkungen unter den Leuten, unterdrücktes Lachen ... Der Oberst Miramon bleibt eiseskühl, die überdünnen Lippen lächeln ein wenig nachlässig: »Und ich bildete mir ein, daß Dinge wie diese da Ihnen geläufig seien, Madame?«

Sie senkt den Blick, sie ist wehrlos.

»Sie können ihn nun töten,« sagt der Oberst Miramon zu den Leuten an der Winde, »wenn Ihnen das gelingt ... Sie können ihn auch ins Wasser werfen.«

Er wendet sich ab, taucht seine Hände in das Wasser, das der Russe herbeigebracht hat, trocknet sie, mit dem Schiffsarzt redend, ab. Die Winde rasselt, das gemarterte Tier fliegt ins Wasser zurück, die Leute drängen an die Reeling, sehen zu, wie sich ein Schwarm wartender Bestien da unten auf die verwundete Beute stürzt, sie im Augenblick verschlungen hat. Der erste Offizier, der den Schauplatz eben von neuem passiert, speit aus in weitem Bogen ...

Nach einer halben Stunde, als die Maschinen wieder anspringen, wird die kleine Sif von dem Russen in die Kabine ihres Herrn gerufen. Der kleine schlecht livrierte Mensch, Leporello halb und halb Lustmörder, lächelt, als er die Tür vor ihr öffnet, sein anzügliches Lächeln: »Achtung ... Vorsicht ...«

Unmöglich, über diese Warnung, unmöglich, jetzt über den Zettel von gestern abend nachzudenken: die Portiere vor ihr wird zur Seite gerissen, der Diener Theodorowitsch schiebt sie mit sanfter Gewalt vorwärts, schließt hinter ihr die Tür. Sie ist allein mit dem Obersten Miramon.

Ein künstlich verdunkelter, kreideweiß von irgendeinem Scheinwerfer beleuchteter Raum, ein scharfer chemischer Geruch, vor dem man beinahe zurückprallt. Dann auf dem großen Tisch in Gläsern mit schleimigem gelbem Spiritus präparierte Kriechtiere mit aufgeschlitztem Leib, sauber auf Glasplatten gespannte Salamander, bunte kleine Schlangen, die ihre injizierten Eingeweide präsentieren. Reagenzgläser dann mit Anilinfarben, Schälchen mit undefinierbaren Flüssigkeiten, ein Wall aufgeschlagener Bücher: endlich das Mikroskop, hinter dem man den Obersten Miramon erst nach einiger Zeit entdecken kann.

Sie steht eine Weile, wartet. Drüben die Hand schaltet die Linsen des Instrumentes um, das Auge entfernt sich nicht vom Okular während des Gespräches: »Wir haben eine kleine Differenz gehabt, Madame, wir sind aneinander geraten vor der crapule. Ich meinerseits hoffe auf Frieden zwischen uns ... ich hoffe darauf in Ihrem eigenen Interesse.«

Das Weib steht und schweigt, es ist unerhört still in dem kleinen Raum.

»Sie haben gemordet, Madame?« Urplötzlich erscheint über dem blinkenden Instrument das Gesicht mit den gestorbenen Augen.

Schweigen in Wehrlosigkeit.

»Sie werden das mir nun wohl erzählen müssen, mit allen Einzelheiten. Sie betreten nach einigen Stunden ein fremdes Land, Madame, ein Land mit allerlei Bestimmungen und allerlei Möglichkeiten. Ich habe,« nun trifft sie ein unverhohlen drohender Blick, »die Aufgabe übernommen, Sie zu schützen vor diesen Möglichkeiten. Die Einwanderungsbehörden ... vielleicht ein Berliner Telegramm, das Sie erwartet ... Sie verstehen, daß ich gewappnet sein muß.«

Sie steht, würgt an den ersten Worten.

»Es fällt Ihnen schwer, Madame. Ich bin ein Beichtvater, wollen Sie bedenken, ein alter Freund ...«

Oh, diese ersten Sätze, diese Geschichte vom Schwager Lex, bei der man sich verkriechen möchte vor Scham! Der Oberst spielt mit der Mikrometerschraube: »Passons ça ... Sie sollen nicht denken, daß ich mich für derlei Intimitäten interessiere ... Die Tat, Madame, der Mord ...«

Weiter erzählt mit geballten Fäusten und verbissenem Gesicht.

»Halte-là, Madame!« Als habe er gar nicht zugehört, als habe er nicht aufgehört, sich mit seinen Tierleichen da zu beschäftigen, unterbricht er ihre Erzählung, hält liebevoll ein Glas mit einem kleinen Schlänglein gegen das Licht: »Die ›german flag‹, Madame. Ein liebes Tier, ein elegantes Tier! Nicht länger, als ein Damenfederhalter ... trotzdem tödlicher als alle Gifte der Welt: ein Biß, wie ein Stecknadelritzer ... trotzdem in drei Minuten den Tod bringend. Aber fahren Sie fort, Madame, bitte, fahren Sie fort.«

»Wollte es nicht, wollte sie ja nicht töten ... griff ja nur so zu.«

»Gewiß, Madame, man kennt derlei: mangelhafte deutsche Technik, selbst im Morden. Sehn Sie her ...«

Die kleine Sif bleibt unschlüssig stehn, wo sie steht.

»Ich bat Sie soeben, hierher zu kommen, Madame!« Plötzlich klingt die Stimme drohend. Nun kommt die Hand, umspannt ihren Arm mit einem Griff, der sie durchzuckt, zerrt sie heran an das Mikroskop. »Ein Auge zu, meine Liebe, wenn ich bitten darf: ein Schnitt durch die Giftdrüse meines kleinen Lieblings da. Diese Zellen, die Sie da sehn: eine kleine chemische Fabrik, in der der Tod fabriziert wird ... ein etwas eleganterer Tod, als Sie ihn zu geben vermochten, Madame ... Dilettantin, die Sie sind!«

Die kleinen violett gefärbten Zellhaufen, die da im Mikroskop zu sehn sind, tanzen vor ihren Augen. Da hinter ihr steht der Satan, spielt Klavier auf ihrer armen Seele ... sie kann nicht mehr, läßt stöhnend den Kopf fallen.

Im Augenblick ist er wieder bei ihr: »Aber was denn nur, meine Liebe? Wir verschwachen? Ja, wir sind wirklich eine kleine Anfängerin, die sich fürchtet vor ihren eigenen Taten. Josephe!«

Der Russe erscheint, präsentiert auf den Wink des Obersten Miramon ein alkoholisches Ingredienz, das sie gierig trinkt. Dann verschwindet er wieder.

»Weiter also, Madame ... wir sind heute abend in Buenos Aires, wir haben keine Zeit zu verlieren!«

Mit dem Mute der Verzweifelung, während der andere, der Satan, lässig eine winzige Tasse Kaffee trinkt, eine lange Rosenholzpfeife anzündet ... mit der letzten Verzweifelung weitererzählt.

Endlich fertig. Steht da mit hilflosen Händen, die gefüllt sind von Menschenschuld, wehrlos ausgeliefert dem andern.

»Josephe!« Er gibt dem Russen ein paar Anweisungen für das Packen der Koffer, das spätestens um zwölf Uhr beginnen muß. Dann fängt er an, in seinen Papieren zu suchen: »Sie sind also fertig, Madame. Ich bin nun orientiert. Ich bin Ihnen sehr dankbar, in Ihrem Interesse ... durchaus in Ihrem Interesse. Was Sie anbetrifft, meine Liebe: Sie werden die nächsten Stunden dazu benützen, das hier,« er übergibt ihr ein Aktenbündel, »in Ihr geliebtes korrektes Deutsch zu übertragen. Sie werden es aufmerksam studieren, Sie werden die Güte haben, bis drei Uhr nachmittags fertig zu sein damit.«

Eine Stimme, die so sanft befiehlt, daß Widerspruch tödlich wäre!

»Und nun: wir werden gute Freunde sein. Sie werden vor allem lernen, nicht zu widersprechen! Ich werde die Ehre haben, Sie heute an Land zu bringen.«

Damit ist die Unterredung zu Ende. Sie ist, als sie ihre Kabine erreicht, so zerprügelt von dieser halben Stunde, daß sie sich schluchzend vor Demütigung und Wut auf ihr Bett wirft und schließlich einschläft.

Draußen zieht nun schon der Dunststreif vorüber, unter dem man Montevideo vermuten kann, Wachtschiffe werden sichtbar, ab und zu kracht aus der alten Donnerbüchse eines Forts ein Signalschuß los. Und dann erscheint schon der Leuchtturm, der die endlose Bojenreihe des Zufahrtskanals eröffnet, dann überholt die »Manchouria« einen asthmatischen Raddampfer, der mit Vieh beladen den Strom hinankeucht, und dessen halbnackte Mannschaft massive Unanständigkeiten hinaufruft zu den eleganten Damen des Promenadendecks.

Die kleine Sif aber schläft ...

Und während die »Manchouria« zu fiebern beginnt in der Unruhe der bevorstehenden Landung, während die Stewards schon die erhaltenen Trinkgelder vergleichen, während Stadtpfarrer Pfleiderer aus Pfullingen seinen Koffer nicht zu bekommt, im Zwischendeck neben ihrem Krimskrams optimistische kleine Galizierinnen herumschnattern und einfach ein Loch in ihre graue Umgebung brennen mit ihren anilinfarbenen Kopftüchern, während mit unglaublichen Schauergeschichten über die gestrigen Straßenkämpfe der Binnenlotse an Bord kommt ... ja, da liegt die kleine Sif, träumt in ihrer heißen Kabine den Traum, den sie schon einmal geträumt hat: Weiber in Fesseln werden geführt von Bewaffneten ... Bewaffnete ziehen an den Ketten, unter Wehegeheul beginnen die Weiber zu tanzen ...

Dann aber ist es ein abgrundtiefer, gesunder Schlaf, der bis in die ersten Nachmittagsstunden dauert. Und wenn nach dem Fieber der ersten Tage körperlich eine andere Sif auferstanden ist, so ist es vielleicht dieser Schlaf, der zum mindesten für diesen in ihrem Leben einigermaßen bedeutsamen Tag eine mutigere kräftigere Sif erwachen läßt.

Das geschieht um ein Uhr nachmittag, als die »Manchouria« schon die gelbe Quarantäneflagge hat und oben schon alles durcheinander läuft in Aufregung und Erwartung. Sie hat noch keinen Federstrich an der Arbeit gemacht, die sie in zwei Stunden abliefern soll ... ja, aber was fürchtet sie sich denn eigentlich vor jenem Mann? Er kann sie den Behörden ausliefern, das ist alles ... was aber ist eine Freiheit wert, wenn sie sie verleben muß in der unabänderlichen Gesellschaft der Witwe Grandjean?

An den Dämon, den Satan dort drüben die Seele verlieren, das ist die Hölle, und von ihr allein hängt es ab, ob sie sich von ihm weiterhin soll vergewaltigen lassen! Während sie es denkt, fällt ihr Blick auf ihren kleinen finnischen Damendolch mit dem Birkengriff: ein Spielzeug eigentlich, aber doch scharf und wehrhaft genug, um nötigenfalls einen Nachtalb sich vom Leibe zu halten ...

Es klopft. Der Russe kommt, um ihre Habseligkeiten zusammenzupacken, streift sie mit einem schmierigen Blick, wagt es, als er das auf dem Tische liegende Toilettenbesteck nehmen will, seine Hand auf ihre Schulter zu legen.

»Hund ...«

Sie fährt auf wie eine Natter, stößt ihn zurück. Die Kreatur duckt sich wie ein geprügelter Hund, grinst unverschämt, wagt aber nicht, sie auch nur anzuschauen in der nächsten Stunde ...

Und nun also das Herz in die Hand genommen und tapfer hineingegriffen in die Arbeit, kleine Sif! Sie liest. Ein Fall, wohlberechnet für ihre Situation, geschickt ausgewählt, um ihr ihre Abhängigkeit von dem Manne da vor Augen zu führen: zwei aus Berlin nach irgendeinem mißlungenen Attentat entkommene politische Desperados, nach Argentinien geflüchtet, von der deutschen Behörde zur Auslieferung reklamiert, vom Oberst Miramon begutachtet. Präzedenzfall des Bankdefraudanten Dispeker aus dem Jahre neunzehnhundertsieben, zwei völkerrechtliche mit aller juristischen Dialektik gegeneinander abgewogene Paragraphen. Beschluß: Auslieferung an dem und dem Termin, Bedingungen der Übergabe, formalistischer Kleinkram ...

Sie liest es, als sie fertig ist, Wort für Wort noch einmal. Damit also soll sie endgültig unter seinen Willen gezwungen werden ... Quälgeist, Satan ... oh, es ist der Protest gegen diesen Einschüchterungsversuch, es ist die Demütigung von vorhin, die dieses kleine Weiberherz nun aufpeitscht zu einem verbissenen, wütenden Widerstand.

Und siehe, als sie um die anbefohlene Stunde, als die »Manchouria« schon mit Viertelkraft durch den Kanal gleitet ... als sie mit ihren Akten seine Kabine betritt, da kommt ihrem jungen Mute ein neuer Bundesgenosse: sie findet den Oberst Miramon schlafend auf dem Bette, der Oberst schnarcht, so unnatürlich laut schnarcht er, daß er den Gang der Maschinen unten übertönt, daß die noch immer auf dem Tisch herumstehenden Gläser leise klirren. Und nun schleicht sie vorsichtig näher, sieht, daß der Mensch da auf eine unheimliche Weise verändert ist, daß das Antlitz, auf dem nun grünlich-weiße Bartstoppeln erschienen sind, sich verwandelt hat in eine hilflose Greisenfratze, daß aus den hängenden Mundwinkeln einiger Speichel tropft. –

Was ist? Was geschah mit diesem da?

Ein Schälchen steht auf dem Taburett neben dem Lager, eine Injektionsspritze liegt daneben, das Morphiumglas ist der dritte Bestandteil dieses Regenerationswerkzeuges ...

Und zuerst ist es nur die Überraschung über dieses dem Manne da abgelauschte Geheimnis, der Hohn, das Lachen über einen alten Hund, der scharfe Zähne vorgetäuscht hat. Dann aber ist es die Empörung, die Wut des von einem Schwächling gedemütigten Weibes, die sie beinahe zu einer Dummheit treibt.

»Satan, Feigling ...«

Und nun hat sie wirtlich, eine kleine, etwas komische Lucrezia, den mitgebrachten albernen Dolch gezogen ... nein, es ist gut, daß der eintretende Russe allen weiteren Möglichkeiten ein Ende macht.

»Wecken Sie ihn auf!« herrscht sie den Diener an. Dann speit sie aus vor dem Schlafenden und verläßt den Raum. –

Sie hat es übersehen in diesen letzten zehn Minuten, daß die »Manchouria« inzwischen vor Anker gegangen ist. Unten im Zwischendeck mustert bereits der an Bord gekommene Hafenkommissar die in Reih und Glied angetretenen Einwanderer mit einem Blicke, vor dem ein überhitzter Dampfkessel zu einem Eisblocke erstarren könnte. Und da drüben unter einer senkrecht, in der stillen, heißen Luft aufsteigenden Rauchwolke liegt nun das Ungeheuer, das auf sie wartet: rechts der Palermo-Park, die Kuppeln der Kathedrale, bei der man gestern gekämpft hat, die Dockinsel, links das Verbrecherviertel Baraccas ... der kleine Telegraphist, der die letzten Minuten zu einem harmlosen Flirt benützt, erklärt ihr eifrig die Topographie der gewaltigen Stadt.

Und Zollbeamte sind an Bord gekommen mit den neuesten Nachrichten von dem Putsch: dreihundert Tote, standrechtlich erschossen auf der Plaza del Mayo ... Russen darunter, europäische Einwanderer, meuternde Truppen ... Ein eingeborener, wie ein Bordellbesitzer aussehender Industriemagnat mit Brillantgeschwüren an den dicken Fingern eifert für Freiheit und Fortschritt gegen den von Europa eingeschmuggelten Bolschewismus ... Herr Juan Carlos Möller will wissen, ob an der Calle Rivadavia, in der Nähe seines Schuhladens gekämpft worden sei ... irgendwoher, von der Vorstadt La Boca wohl, hört man das Bellen eines einsamen Maschinengewehrs ... der Hafenoffizier, der die Pässe kontrolliert, ist jetzt bei den Passagieren der zweiten Klasse angelangt ...

Herr Rickert, in Sachen der Telefunken-Gesellschaft von Hamburg kommend ... Rabbiner Doktor Vogelsang, weiter reisend über Mendoza nach Santiago ... Senjor Sorolla aus Bahia nebst Gattin und Baby ... donde està Senjor Sorolla?

Eben, als der die Namen aufrufende Offizier bei ihr angelangt ist, sieht sie den Oberst Miramon, wie er rasiert, korrekt gekleidet, in guter Form kraft einer neuen Morphiumspritze wohl, die Treppe der zweiten Klasse heraufkommt. Und nun, während der Offizier ihren Paß in den Händen hält, ist sie doch blaß geworden. Gleichviel, besser den argentinischen Behörden als diesem Menschen da in die Hände geraten ...

Nein, nicht doch: der Offizier nimmt zwar nicht sonderlich Notiz von einer so erlauchten Persönlichkeit, wie es der Oberst Miramon doch zu sein scheint ... er klappt aber zufrieden den Paß zu, salutiert, die Formalität ist erledigt. Nach einer weiteren Viertelstunde klettert sie, während der kleine Telegraphist ihr mit einer sorgfältig studierten Abschiedsrede einen Veilchenstrauß überreicht, während sie das Geländer als ein letztes Stück Heimat liebkost, die Fallreeptreppe hinunter in das wartende Boot.

Und dann schiebt der La Plata seine unheiligen Lehmfluten vorüber mit Bananenschalen und aufgetriebenen Tierkadavern, den Unratwolken der Stadt und den kleinen schwimmenden Fetzen sumpfiger Erde, die mit Dornbüschen und kleinen grünen Giftschlangen abgerissen sind oben in der fernen Waldheimat des Stromes. Schlepper schießen vorüber mit dachsbeinigen braunen Arbeitern, die nun schon zur Nachtschicht hinüberfahren nach den großen Weizendampfern, ein weißer Kreuzer der Staatsmarine zeigt mit soliden Zehnzentimeterkanonen hinüber nach den Spelunken von Barracas, und da steht nun schon, schreckhaft hervorspringend aus einem knallgelben Abendhimmel, die Silhouette des murrenden Ungeheuers, das bis hierher seinen Duft von exotischen Odeurs und Unrat und Verwesung und Weiberfleisch und Begehren herüberschickt.

Der Oberst Miramon erzählt von seinem Besitztum am unteren Strom ... ein Juwel, Madame, ein Refugium für kleine weibliche Raskolnikoffs ... man wird, wenn man heute die zerschossene Stadt besichtigt hat, ein paar Tage dort verbringen. Und dann erzählt er ihr, während sie anlegen an den Landungstreppen, von der mexikanischen Revolution, wo man die Minister von Maultieren durch die Straßen habe schleifen lassen ... aus der Deputiertenkammer geholt, im Frack und mit dem Großkordon des Guadelupe-Ordens, Madame ...

Mag er seine Radamontaden erzählen: er hat keine Macht mehr über die kleine Sif!

Und dann steigt man die morschen Holzstufen hinauf, sieht einen Trupp von gestern gefangenen Desperados, der mit Kolbenstößen wie eine Hammelherde auf einen Leichter getrieben wird und seine Flüche hinüberschickt zu den höhnenden Dandys auf dem Kai. Und dann die Flut des nach Geld und Liebe brüllenden brutalen Lebens: Niggerelegants mit grellroten Krawatten, die halblegitimen Agenten des Frauenhandels, Zeitungsverkäufer, zehnjährige künftige Hochfinanziers, die unter Ausnützung der Konjunktur mit Kugeln und anderen Kampfandenken von gestern handeln ... der Oberst Miramon endlich, der sich den Weg bahnt durch dieses Gewühl, mit der Stiefelspitze einen sich sonnenden räudigen Köter fortstößt, seinen hierher bestellten Chauffeur instruiert, mit der Reitgerte einem kleinen Halbgott, der auf dem Trittbrett des Wagens noch sein Orchideensträußchen loswerden will, einen Jagdhieb über das Gesicht zieht: Motor angeworfen, eingekuppelt, die Fahrt ins Ungewisse beginnt.

Die kleinen Gassen des Hafens zuerst mit den fliegenumsummten Fleischgewölben, dem entsetzlichen Gestank halbierter Ochsenkadaver, uralten Kotes, unreiner, brüllender, schnatternder Menschen. Ein paar Bettler mit Gesichtern, die eine abgründige Krankheit zerfressen hat. Niggerweiber in entsetzlichen blauroten Kostümen, Kokotten aus Galizien, Kokotten aus Sachsen, an der Ecke ein mit den Pockennarben frischer Kugelspuren übersätes Haus, die blutroten Plakate des Standrechts, eine Wache mit einem Maschinengewehr, um das zwei monokelbehaftete Offiziere herumpendeln.

Und dann eingebogen in die Calle da Rivadavia, die die ganze Stadt zerschneidet mit ihrem geraden Messerschnitt ... tiefer hinein in den großen Bratenrost des eben zum Korso erwachten Buenos Aires!

Hamburger Kommis sind da, die von den Weizenpreisen sprechen, und argentinische Fleischbarone, in Cabs und Tandems paradierend, besichtigen mit ihren Damen die Kampfspuren des gestrigen Tages. Franziskanerpriester ziehen vorüber auf elenden Kleppern, und fette eingeborene Weiber, von der Tageshitze, dem Hängemattendasein erlöst, schmiegen sich in die Polster lackstrahlender Viktorias; und unter der Wagendecke benützt, was sie übrigens nicht beachtet, der ihr gegenübersitzende Diener Theodorowitsch die Gelegenheit, um sein Knie an das ihre zu pressen.

Und unzweideutige Bemerkungen schwirren von Mund zu Mund, und Parfüme sind da, die beinahe schon einen flandrischen Gasangriff bedeuten, und alles ... Männerblicke und Lachen und der Duft des Weiberfleisches und das Knie der Kreatur da mit dem Hundehalsband des Oberst Miramon: alles staut sich in der heißen stillen Luft zwischen der gotischen, barocken, maurischen Barbarenarchitektur dieser Häuser zu einer Wolke von Wollust und Sündhaftigkeit, saugt sich fest an dem Fleisch des schönen blonden Geschöpfes, das davongefahren wird als die Beute eines gierigen Revenants und eines geilen Knechtes.

Oh, es ist nicht mehr der Oberst Miramon, den sie fürchtet: es ist das Gefühl, dem brutalen Leben dieser Stadt nicht gewachsen zu sein, es ist die Vorahnung irgendeines unbekannten Grauens, das sich zu bergen scheint in dem Dunkel der hereinbrechenden Nacht.

Neue Kampfspuren jetzt, eine Straßensperre, die man nach einigem Aufenthalt passieren darf, ein neuer Trupp politischer Verbrecher, der unter Trommelschlag abgeführt wird. Und dann wird, wie es immer so geht in den Tropen, mit einem Schlage der Schalter des großen Himmelslichtes umgedreht, und vor ihnen liegt unter aufzischenden Bogenlampen die Plaza del Mayo.

Die Trümmer einer gestern von den Aufständigen besetzt gewesenen und nun zerschossenen Wannamaker-Filiale schwälen in der Dunkelheit, der Duft verbrannter Wolle mischt sich mit dem Duft des Peau d'Espagne ... wie sonst um diese Zeit schmettert von ihrem Podium die Militärkapelle den Freiheitsmarsch über den Korso.

Dann wechselt der Oberst Miramon ein paar Worte mit dem Chauffeur, und dann, vorüber an den Marquisen der Straßencafés, an Soldaten, die zum Weitergehn mahnen, forciert der Wagen die Promenierenden, biegt hinüber zu der Säulenfassade der Kathedrale, hält.

»Ihren Arm, Madame ...«

Ein von Bewaffneten notdürftig abgesperrter freier Platz, darüber die bleichen Monde der Bogenlampen. Diesseits der republikanischen Infanterie mit den nachgeahmten Europa-Uniformen der schwatzende, girrende Korso, jenseits auf dem harten, heißen Bette des Asphaltes die dreihundert Toten, die man nach Landessitte ausgestellt hat ...

»Wenn ich Sie bitten darf ...«

Eine lange, lange Reihe, sich verlierend vor der Front der Gaffer, scharf beleuchtet von dem kreidigen Lichte. Junge und Alte, Menschenkinder aller Rassen: schmächtige, vor acht Tagen vielleicht eingewanderte und ahnungslos in die politische Maschinerie hineingezogene Laufdiener aus irgendeinem kleinen sächsischen Nest und pockennarbige Lancheros mit dem im Tode noch unveränderten Blutdurst ihrer Rasse auf grinsenden Gesichtern. Aus verwehten europäischen Armeen Abenteurer mit dem prachtvollen Trotz des Jünglingstodes, und Neger dann und wieder Neger: herkulische Stiere mit anthropoiden Schädeln, aus deren Zügen der Haß gegen die knechtende Rasse auch im Tode noch nicht gewichen ist ... jeder einer Menschenmutter Sohn, die in ihren Wehen an den Welterlöser dachte, hingepfeffert auf den Asphalt von andern Menschensöhnen. Steife Arme, die in der Totenstarre noch zu drohen scheinen ... andere, kindliche Glieder, die um Erbarmen bitten ... oh, Gnade, Menschensöhne, Gnade, Gnade ...

Mit ihren nackten Hälsen die großen stummen Geier, die wie versteinert auf den Häuserfirsten warten – die Geier wissen schwerlich um Erbarmen, und ebensowenig weiß es der Korso dieser Stadt, und vielleicht weiß darum nicht einmal der steinerne Sohn Mariä, der vor dem Kirchenportal seine barocken Glieder krümmt: o ja, aus allerlei höchst persönlichen Gründen bin ich der wahrscheinlich sehr unpopulären Anschauung, daß selbst einmal erbarmungslos gewesen sein muß, wer Erbarmen wirklich kennen will ...

Und während der Korso gaffend und schwatzend vorübergleitet an den Justifizierten, während der Oberst Miramon die Soldaten ausfragt und erfährt, daß die drei Jungen hier ... diese da, Senjor ... sich umfaßt und die Gebete ihres Landes gesprochen hätten, daß der Neger Guzman Sayavadra dem Feuerpikett verächtlich die Rückseite gezeigt und im Tode noch »Merde« geschrien habe: ja, währenddessen steht das kleine Weib, das die Witwe Grandjean erwürgte, gerade unter einem der Kandelaber da mit dicken Tränen in den Augen und gerungenen Händen, und in einer Haltung, die von der des Korsos jedenfalls erheblich abweicht.

Und am Ende ist es nur jenes Entsetzen über das, was hier zu sehen ist, und vielleicht auch aus Kindeserinnerungen jener Vers von dem Gott, der allen armen Kranken helfen soll: sicher ist jedenfalls, daß sie auffällt inmitten dieser Umgebung, daß die Offiziere halb mokant und halb bewundernd sich gegenseitig aufmerksam machen auf sie, und daß es dann plötzlich eine wohlbekannte Stimme ist, die sie aufschreckt aus dieser deplacierten Stellung ...

»Sie beten, Madame?«

Ja, vielleicht ist es diese unverhohlene Ironie, die ja schließlich recht hat vom Standpunkte des Korsobesuchers aus, vielleicht das verletzende Lachen der Dame in Schwarz dort oder der »Crachat«, den der Infanterist Horatio Azucar in seiner Verächtlichkeit für dieses Mitleid auf den Asphalt setzt. In jedem Falle aber geschieht es hier, daß sie zum ersten Male offen sich auflehnt gegen den, der sie bislang wehrlos machte in Grauen und Vergewaltigungskünsten: Empörend, den Anblick da ihr zuzumuten, empörend und unritterlich ...

So laut schreit sie es, daß es die ganze Plaza del Mayo hört, sie hat höchst wehrhafte Hände ... es steht durchaus zu befürchten, daß sie ihm ins Gesicht speit vor lauter Protest und Ekel.

Da man, ohne ihre Worte zu verstehen, ringsum zu lachen beginnt, da dieses kleine Geschöpf laut genug protestiert, um auf die Dauer das Orchester da an der Fortsetzung der Freiheitshymne zu hindern, da endlich der Oberst Miramon als Mann von Welt nichts so fürchtet, als eine Szene auf der Plaza del Mayo, so tut er das Klügste, was er hier tun kann: er gibt dem Chauffeur einen Wink, reicht der kleinen Sif den Arm ... der Wagen verläßt die Plaza mit ihrem Duft von Blut und Kokottenparfüm.

Das einförmige steinerne Elend dieser stupiden, New York imitierenden Straßen, die schmierigen Kneipen des Dockviertels, die endlosen Zäune der Lagerplätze von La Boca, die letzten unheiligen Häuser, in der die ungeheure Stadt zerfasert und sich auflöst.

Und dann die Straßen längs dem Damm der La Plata-Bahn, die Lichter der Schiffe zur Linken, die Gewitterbank über der See, die neunzig Stundenkilometer der Maschine ... Ja, es ist eine seltsame Fahrt: der Diener Theodorowitsch, der Zeuge des Auftritts gewesen ist, unterläßt es jetzt durchaus, sie zu belästigen, der Oberst Miramon, auf der Plaza, unter den Augen des Korsos angeschrien und abgekanzelt von seiner Sekretärin, schweigt in der Rolle des für dieses Mal jedenfalls an seinem Opfer vorbeigesprungenen Löwen. Und die kleine Sif hat jedenfalls zum erstenmal den unmittelbaren Triumph über ihn erlebt ... ja, nun hat sie das sichere Gefühl, sich wehren zu können gegen ihn, oh sich zu wehren, wenn es not tut mit scharfen Weiberkrallen ...

Zwanzig Minuten nach den letzten Häusern – sie merkt sich gut die Zeit – endet diese Fahrt inmitten der ungeheuren Sumpfwälder vor einer Pforte mit zwei Stein-Sphinxen. Ein Gartenweg dann, auf dem die Scheinwerfer allerlei künstliche Grotten und Porzellanvögel beleuchten, dahinter mit vergitterten Spitzbogenfenstern das übliche, rot angestrichene spanische Haus.

Ein halbnacktes männliches Individuum öffnet und bemächtigt sich stumm der Koffer, dann schließt sich, als sie auf dem Hausgange sind, hinter ihnen die Tür, der Schlüssel wird mehrfach herumgedreht, ein Riegel gehandhabt.

»Ich habe die Ehre, Sie auf Ihr Zimmer zu begleiten.«

Der Gang führt direkt in das Patio, in diesen rundum von dieser Hausfestung umbauten Innenhof mit seinem obligaten Brunnen. Exotisches Federvieh schläft angekettet in seinen Ringen, vor der Gesindestube, wo noch Licht brennt, sind in ihren Käfigen die armen Versuchstiere des Obersten Miramon untergebracht.

Dann die Steintreppe, die aus diesem Hof hinanführt zu den oberen Stockwerken, dann ein altes, traumhaft häßliches farbiges Weib, das oben wartet, ihnen leuchtet über den Gang mit den knarrenden Dielen. Dann am Ende dieses Ganges, der wie in eine Grabkammer führt, öffnet die Alte ein entsetzlich dumpfes enges Loch mit vergitterten, auf das Patio hinausführenden Fenstern, mit einer Luft, die seit Fernando Cortez nicht mehr erneuert worden ist, mit einem riesigen Bett, das wie ein Schafott aussieht ... murmelt etwas, verschwindet, läßt sie allein mit ihrem Herrn und Gastgeber.

Der Oberst läßt sich in einem der zerfetzten Rohrsessel nieder, zündet sich höchst umständlich eine Zigarette an: »Sie sind von etwas kurzem Gedächtnis, Madame. Sie sind durch meine Hilfe in Freiheit geblieben, und Sie geben mir zum Dank eine Probe von Ihren barbarischen Sitten, indem Sie mir auf der Plazza eine Szene machen! Ich fuhr mit Ihnen dorthin, weil ...«

»Weil Sie mich quälen wollten, wie es heute früh an Bord Ihre Absicht war, mich zu quälen, weil Sie ...«

»Weil es meine Absicht war, Sie an diese Dinge zu gewöhnen. Weil Sie sich in Zukunft nicht vor Dingen fürchten sollen, die Ihnen in Zukunft noch oft begegnen werden. Weil Sie vorerst eine kleine Anfängerin, eine kleine Mord-Dilettantin sind, der hinterher ihre Opfer leid tun. Weil ich Ihnen Ihre verfluchte deutsche Sentimentalität abgewöhnen will, weil,« nun ist er aufgestanden und steht dicht vor ihr, »weil Sie begabt und entzückend sind, weil ...«

Pause, in der man draußen im Patio den Diener Theodorowitsch in etwas deplacierter Weise die vergessene Zarenhymne pfeifen hört, in der durch das offene Fenster das spezifische Parfüm dieses Hauses – Heliotrop, Blumenduft, mit mephistophelischen Gestänken vermischt von Tierkot und prähistorischem Unrat – Pause, in der man die physische Nähe dieses Menschen da, den heißen begehrlichen Atem spürt ... entsetzliche Pause, in der im Patio eine dieser angeketteten Vogelkreaturen aufkreischt, der Oberst Miramon das Fenster schließt, zurückkommt, die Hand langsam ausstreckt nach seinem Opfer ...

Stille gestanden, dicht an die Wand gepreßt, mit verbissenem Mute die Hand des andern im Auge behalten: »Wagen Sie es doch nur ... oh, wagen Sie es ...«

Im selben Augenblick ist es freilich schon geschehn, daß diese Hand zufaßt, einen Sekundenbruchteil auf (ihrem Fleische liegt, daß der kleine Frauenkörper sich zusammenkrampft zu einem im Grunde ja doch verzweifelten Widerstande, daß grüne und rote Funken vor ihren Augen tanzen, daß diese kleine Faust mit der gleichen jähen Wut, mit der sie die Witwe Grandjean erwürgte, den Nachtalb da vor die Brust trifft ... ja, so energisch, so mit dem Einsatz der ganzen Persönlichkeit, daß der Oberst Miramon auf den schmutzigen Dielen dieses ehrlosen Raumes liegt.

Lächerlich auf jeden Fall ist ein von einem Weibe niedergeworfener Mann ... ja, es ist nicht zu leugnen, daß sie nun wirklich lachen muß, daß ihr letztes bißchen Mut einen erheblichen Sukkurs erhält durch den Anblick des Daliegenden: »Wer sind Sie denn eigentlich ... ah, wer denn? Sie spielen den Dämon, den Satan ... ich glaube, daß Sie manchmal hinken und Hörner tragen! Ich fürchte Sie nicht,« schreit sie, um sich Mut zu machen, mit doppeltem Forte, »ich fürchte Sie durchaus nicht. Ich verachte Sie ... oh, wie ich Sie verachte!«

Der Oberst Miramon hat sich sehr ruhig erhoben. Er ist nicht im mindesten beeindruckt von diesem Ausbruch: er ist, während er leise einen der Onesteps aus dem Exzelsiorhotel pfeift, zunächst damit beschäftigt, seinen beschmutzten Rock zu säubern.

»Ich fürchte Sie durchaus nicht,« schreit, da sie keinen Widerhall gefunden hat, noch einmal die kleine Sif, »ich werde Sie schlagen, wenn Sie sich mir nähern ... o ja, wagen Sie es doch nur noch ein einziges Mal ...«

In diesem Augenblick steht der Oberst Miramon vor ihr. Und nun ist es eigentlich nicht das, was ihr unmittelbar und physisch drohen mag von dem Manne da in diesem einsamen Raum ... es ist doch etwas anderes, was ihr den exaltierten Mut wieder nimmt: die Unverletzlichkeit des andern, die tödliche Ruhe, diese eiseskühle Bereitschaft zu foltern, wie einst in diesem blutüberströmten Lande seine Vorfahren gefoltert haben mögen ...

Ganz sanft läßt sich die Stimme da drüben hören: »Sie bilden sich ein, daß ich mich Ihnen auf eine primitive, eine etwas abgebrauchte Weise nähern will ... ja, ich sagte Ihnen ja schon, daß Sie eine Dilettantin sind. Es ist mir, Madame, nicht geläufig, selbst eine Flasche zu entkorken, die ich auszutrinken gedenke. Es gibt,« nun hat er sich ihres Handgelenkes bemächtigt, hat sie an das Fenster gezerrt ... »ja, es gibt in jedem Falle elegantere Methoden, eine Frau zu besitzen, die widerstrebt. Die Leute da unten,« er zeigt nach dem erleuchteten Gesindezimmer des gegenüberliegenden Flügels, wo man eben seine zerlumpten Leute bei der Abendmahlzeit sehen kann, »werden Sie gegebenenfalls zur Raison bringen, meine arme Kleine. Wissen Sie, was ich tun werde? Ich werde mir erlauben, Sie diesen Kavalieren und katholischen Christen zu überlassen ... ja, früher, als Sie denken. In jedem Falle habe ich die Ehre, für heute Ihnen eine gute Nacht zu wünschen, Madame ... eine durchaus gesegnete Nacht.«

Als er, um zu gehn, die Tür öffnet, ist draußen die Sattelnase des Dieners Theodorowitsch sichtbar, der hier wohl gelauscht hat. Der Oberst Miramon geht, ohne sich darum zu kümmern ... die Schritte verhallen auf dem Gange. –

Allein gelassen in dieser heißen Grabkammer, allein mit seiner würgenden Angst, von der man ja nun doch überwunden ist. Am geschlossenen Fenster gesessen mit brennenden Augen, errechnet, daß heute ein Samstag ist, daß man heute vor drei Wochen geheiratet hat: Robby ... Münchner Hoffnungen ... Häuschen in den Bergen ... oh, wie das alles doch wehe tut, wie entsetzlich weh das tut ...

Kopf hoch, kleine Sif, keine Tränen in die Augen gelassen ... nein, vor allem nicht geweint!

Fenster geöffnet. Käferschwärme summen plötzlich auf bei dem Geräusch, ekelhafte fremdartige Bestien, die wie Kontrabässe brummen. Dann krächzen wieder diese Vögel in ihren schmutzig-rosa Federn, dann spürt man diesen nach uralten, unbeschreiblichen Untaten duftenden Geruch des Hauses, dann sieht man im Lichtschein, der von dem Gesinderaum drüben bis hierher kommt, daß hier jemand in das Glas die Schriftzüge »Anita M.« und ein vorjähriges Datum eingeritzt hat ... dann fragt man sich, was für ein Schicksal wohl der Folterknecht da dieser Anita M. bereitet haben, ob sie als wurmzerfressene Leiche unter den Steinfliesen da unten liegen mag, wie man selbst vielleicht im nächsten Jahre als armer Menschenrest dort zu finden sein wird ...

Aufgesprungen, stöhnend im Zimmer herumgelaufen. Schließlich Licht gemacht vor Angst, die Wände abgeleuchtet: die Tür ist verschlossen. Dann ist da in der Seitenwand eine Tapetentür, die man ebenfalls verschlossen vorfindet und durch die weiß Gott welch Grauen in der Nacht hier eindringen wird ...

Dann die vergitterten Fenster untersucht, durch die man ja doch nicht entkommen kann, und die überdies hinunterführen in diesen verfluchten stinkenden Hof, aus dem es dann als einzigen Ausgang wieder nur den Hausgang und das große verrammelte Portal gibt: was soll man tun ... mein Gott, was soll man denn nur tun?

Lachen da unten im Gesinderaum: das zerlumpte Individuum von vorhin, das jetzt dort einen kleinen verhungerten Fuchs verzweifelte Kunststücke vormachen läßt. Dann ein alter Sünder mit einer abenteuerlichen, das Gesicht abscheulich entstellenden Krankheit, der seine Kumpane damit unterhält, daß er die eine Hand mit gespreizten Fingern auf dem Tische rasch hin und her bewegt und geschickt mit dem spitzen Dolchmesser, ohne die Finger zu treffen, in die Zwischenräume sticht: schmierige Hunde, die auf das Weib dressiert sind und auf sie gehetzt werden sollen ...

Zusammengefahren bei einem feinen von der Tür kommenden Geräusch: nein doch ... nichts ... eine Täuschung ...

Dagesessen mit diesen weit aufgerissenen Augen, in die immer wieder diese verfluchten Tränen kommen wollen: nein, nicht weinen ... mutig bleiben und Widerstand leisten, solange es geht ...

Wieder das Scharren an der Tür! Nein, nun hat sie sich nicht getäuscht: nun hat sich draußen ganz leise der Schlüssel gedreht, nun sieht sie den Türdrücker langsam, ganz langsam sich senken, nun schiebt sich der Kopf des Russen Theodorowitsch in den Raum.

Sie greift nach diesem lächerlichen Dolch, sie steht wieder da wie eine kleine, ihre Ehre rächende Lucrezia. Da macht der Mensch da eine Gebärde, daß sie schweigen solle ... ganz stille ... schließt behutsam die Tür, hält sich vorsichtig im Schatten des Lampenschirmes, macht ein umständliches Zeichen: hinaus ... ruhig mitkommen ... durch die Tür, über den Gang, durch das Patio, hinaus durch den Hausgang ... die Hand deutet energisch nach der Richtung der Stadt ...

Sie steht noch immer unschlüssig mit ihrer Waffe. Er hebt beteuernd die Hände hoch ... in den von einem viel größeren Manne wohl für alt erstandenen Reithosen, deren Beutel ihm bis auf die Knöchel herunterhängen, sieht er eigentlich mehr lächerlich als bedrohlich aus.

»Licht aus!« Ganz leise gewispert. Sie versteht, daß er hier nicht gesehn werden darf, gehorcht, behält ihn scharf im Auge.

Hastig auseinandergesetzt, daß er das Schweigen der andern da unten erkaufen müsse ... der Türschließer, die Alte ... morgen schon, wenn sie nicht mehr da sei, werde der Oberst ihn verantwortlich machen ... ja, wieviel Geld sie eigentlich geben könne?

Sie atmet die Stickluft dieses verfluchten Gefängnisses, überlegt: am Ende doch eine Aussicht, zu entkommen ... oh, großer Gott, im Notfalle alles wagen, sei es auch nur für ein Ende außerhalb dieses Menschenkäfigs ...

Ihre ärmlichen drei Zehnkronenscheine hingereicht – ihre ganze kleine Barschaft – hilflos dann die Gebärde der leeren Hand gemacht. Der Diener Theodorowitsch schüttelt bedauernd den Kopf über eine so lächerliche Summe, der Diener Theodorowitsch ist trotzdem ein Kavalier, der ihr helfen wird ... alle andern da unten sind ebenfalls verschwiegene hilfsbereite Kavaliere.

Und der Diener Theodorowitsch steckt das Geld ein, bedeutet ihr, daß sie warten, daß sie sich fertigmachen solle, verschwindet geräuschlos wie ein Geist.

Sie steht am Fenster des dunklen Zimmers, wartet. Ein Schatten schleicht nun durch das Patio: das ist wohl schon der Russe. Dann, wie auf ein schon verabredetes Zeichen, erlischt dort drüben das Licht. Dann schlurfen die Schritte von zwei, von drei Menschen über den Kies. Dann beginnt in seinem Käfig einer der armen Versuchshunde zu heulen ... sehr lange und kläglich. Dann werden alle Geräusche verschlungen von dem ersten Donner des heranziehenden Gewitters.

Robbys Bildchen aus der Handtasche genommen, im Viertellicht des verdeckten Mondes die Züge eines kleinen lieben Jungen betrachtet: nun ja, leb' also wohl, wenn es das letztemal sein sollte ... leb' wohl, leb' wohl ... Dann die Schuhe ausgezogen, dann das verzagte kleine Sif-Herz wieder einmal fest in die Hand genommen. Türe geht: der Diener Theodorowitsch ist zurück.

Leise durch den Gang, wo die Dielen so verwünscht knarren ... leise, um Gottes willen leise! An der Ecke, wo nun bald die zum Patio hinabführende Treppe beginnen muß, legt er warnend die Hand auf ihren Mund, deutet seitwärts, wo aus einem Türspalt ein Lichtschimmer kommt: »Oberst ...«

Dort wacht das Grauen, der Henker, der Tod ... oh, so entsetzlich ist die Furcht vor dieser Tür, daß sie am liebsten anpochen, sich selbst angeben würde, nur um diese entsetzliche Angst und Spannung loszuwerden ...

Ach nein, alles ist ja so gut vorbereitet, der Russe hat wirklich nicht zuviel versprochen: die Treppe mit den Steinfliesen, die nicht knarren, der Gang durch den Hof, der dunkle, nach der Haustür führende Korridor, den man eben erreicht, ehe ein theatralischer erster Blitz diese verfluchte Steinfestung und ihre Flucht grell beleuchtet. Weiter, weiter ...

Die Außentür dann und endlich, immer auf Strümpfen noch, der Gang über den heißen Gartenkies. Hinter dem Gartenportal mit den zwei Steinsphinxen, als man außer Hörweite ist, ein Lauf, was die Füße hergeben wollen. Vor ihnen auf der ungeheuren stillen Wasserfläche schwimmen die Lichter der fernen Stadt ...

Oh, unheilig können die Nächte dieses Landes sein, dessen Erde mehr Blut gesoffen hat, als irgendein anderer Teil des Erdballes ... unheilig ... unheilig und voller wispernder Dämonen, als könnten sie nicht zur Ruhe kommen, die vor vierhundert Jahren geschlachteten Opfer jener spanischen Eroberer: manchmal raschelt in dem dichten Eukalyptus, in dieser heillosen Botanik rechts und links von dem Wege etwas, was man lieber nicht sehen mag. Manchmal, wenn auf diesem ihr unendlich erscheinenden Wege die Blitze des verfolgenden Gewitters aufflammen, dann ist es ihr, als habe sie da in der sekundenlangen Lichtpause ein rätselhaftes Ding gesehn, das unabänderlich neben ihr geht: ja, dann klammert sie sich angstvoll an ihren Begleiter, versichert sich, daß der Diener Theodorowitsch wenigstens ein Mensch von Fleisch und Blut, ein Mensch mit zu langen Breeches und ihren armseligen Schwedenkronen in der Tasche ist.

Dann wieder versinkt der Weg in dem Walde, der Mond ist völlig verschwunden hinter der aufsteigenden Gewitterbank. Und da ist es denn wieder die Angst vor dem Lebenden, die Angst vor diesem geilen Lümmel, der sie weiß Gott wohin lockt. Dann nimmt sie einen verzweifelten Anlauf zu Mut, faßt wieder nach dem Dolche, befiehlt dem andern, gefälligst voraus zu gehn. Der kleine Kerl duckt sich, pfeift vor sich hin, gehorcht.

Um zwölf Uhr holt das Gewitter sie ein: ein ungehöriger Regensturz mit Wassermassen, die ihr fast den Atem benehmen, sie in wenigen Sekunden durchnäßt haben, die alte Erde fortzuschwemmen drohen. Dann ist das alles urplötzlich, wie es gekommen ist, vorüber, ein greulicher roter abnehmender Mond geht auf, der so aussieht, als erhänge sich jemand in dieser Stunde.

Dann werden vor ihnen die Büsche merkwürdig fahl, dann zerschneiden die Scheinwerferbahnen eines lautlos hinter ihnen herankommenden Automobils die Nacht. Der Diener Theodorowitsch reißt sie vom Wege fort in das Dickicht hinein. Sie ducken sich, bis es vorüber ist, warten das Passieren von zwei aus der Richtung der Stadt kommenden, ein gänzlich unbekanntes Idiom sprechenden Individuen ab, forcieren die tropfnassen Dornbüsche, stoßen auf eine im vollen Mondlicht liegende Kiesgrube, die den Wald von der Straße trennt, hören es dort unten sich regen, schürfen und schaben auf dem Gestein wie ein Riesenkorb gefangener Krebse: Konvolute peitschendünner Schlangen, die den ganzen Grund der Grube bedecken, die Luft verpesten mit ihrem Moschusgestank, sich umschlungen halten in atemloser Begattung. Weiter, um Gottes willen, weiter ...

Es ist wenige Minuten nach ein Uhr, als sie die ersten Ausläufer der Stadt erreichen: ein dunkles Gebäude zuerst, lichtlos mit verrammelten Läden wie ein verlassenes Mordhaus. Dann eine einsame Fläche mit ein paar Wohnungen und wütend kläffenden Kötern, dann die Tore eines Fußballplatzes. Dann mit qualmender Petroleumlampe, offenen Fenstern, Urgestank von Knoblauch und Schöpfungsdreck eine kleine Kneipe, in der miteinander junge braune Burschen einen phantastischen Tanz tanzen, dann die schönen klaren Lichter eines schweigend den Strom hinaufgleitenden Europadampfers, zu dem man so gerne hinüberschwimmen möchte, so gern, so gern ...

Weiter geht der nächtliche Marsch.

Hufschläge hinter ihnen: ein einsamer Reiter, der mit wehendem Mantel an ihnen vorüberbraust wie ein Gespenst. Dann ein Stück Kai, an dem kleine, flache La Plata-Dampfer schlafen, ein grasverwachsenes Gleis, dann plötzlich ein von alten Bretterzäunen eingefaßter Engpaß ...

Nichts weiß die kleine Sif von den Geheimnissen der Rua Chacabuco, der Isola Maciel, des Viertels Baraccas, den schmutzigen Eingeweiden dieses ungeheueren Hafens: nichts weiß sie und fühlt doch instinktiv zwischen diesen endlosen mit gröblichen Unzüchtigkeiten beschmierten Bretterwänden, daß hier Schlimmeres noch geschehen könnte als in dem Hause des Oberst Miramon! Irgendwo gellt ein Schrei durch die Nacht, wird von Flüchen beantwortet, von Männerlachen, Kreischen. Dann der einsame Mond einer Bogenlampe, darunter eine abgründig häßliche Negerkokotte; ein paar Schritte weiter, hingestreckt zwischen Kothaufen, zertrümmerten Margarinefässern und verfaulten Getreidesäcken ein Berauschter oder Sterbender, mit den Lauten stöhnender Bewußtlosigkeit.

Die kleine Sif sieht ihren Begleiter verstohlen an: Was will dieser Mensch, was hat er, dieser Leporello eines fragwürdigen Don Juans eigentlich für eine Veranlassung, sie zu retten? Und wohin führt dieser endlose Weg?

Sie denkt verzweifelt nach ohne einen Ausweg zu finden, wird sehr mutlos in dem Bewußtsein der raschen rohen Taten, die hier hinter diesen verfaulten Brettern geschehen sind und noch geschehen werden ...

Dann endlich endet der Engpaß auf einem morschen Holzkai, über dem eine zweite Bogenlampe brennt. Schmierige, greulich grün bemalte Küstenschoner schlafen hier in scheinbarer Verlassenheit. Der Fluß, stagnierend in diesem toten Arme, liegt als giftige schwarze Brühe zwischen dem faulenden Holz. Ein riesiger Eisenarm – man kann es nicht unterscheiden, ob es der Arm eines Ladekrans oder ein Tor ist – versperrt den Weg. Und hier, wo man ganz von ferne kreischende Saxophone, das Klagen liebestoller Katzen, wo man Geschrei hören kann, von dem man nicht weiß, ob es von einer Messerstecherei oder einer Vergewaltigung kommt: hier geschieht es, daß der Diener Theodorowitsch ganz merkwürdig unmotiviert zwei Takte mitten aus einem modischen Gassenhauer pfeift, daß es gleich darauf mit der Fortsetzung dieser Takte antwortet, daß da zwischen den Schiffsrümpfen ein Kahn sichtbar wird, den ein Mann mit einer langen Stange heranstakt. Dann legt sich das Boot an den zerfallenen, halb eingestürzten Kai, dann werden ein paar hastige spanische Worte zwischen den beiden gewechselt, und dann fordert der Diener Theodorowitsch sie kurzerhand zum Einsteigen auf.

»Es geht nicht weiter hier ...«

Ja, daß es hier nicht weiter geht, daß dieses Eisengitter da den Weg versperrt, und daß der einzige Rückzug durch jenen heillosen Engpaß zwischen den Zäunen führt: das alles sieht sie selbst. Wohin aber fährt dieses Boot, wohin?

Sie sieht ein, daß sie für den Notfall wehrlos ist gegen die beiden Männer, sie zögert einen Augenblick. Da hat der Mann im Boot kurzerhand ihren Arm gefaßt ... ganz sanft, ohne die Geste der Gewalttat schiebt der Diener Theodorowitsch sie nach vorne: sie ist wohl oder übel ins Boot gesprungen, das Boot hat sich in Bewegung gesetzt, die Fahrt über den Styx beginnt.

Ganz beieinander üble kleine Segler. Irgendwo brennt hinter einem trüben Bullenauge eine Petroleumlampe ... man kann im Vorüberfahren für einen Augenblick ein Mannsbild und ein ältliches grauhaariges Frauenzimmer in einer Stellung sehn, vor der man lieber die Augen schließt. Und Harmonikatöne und Hundegebell kommen von den großen Salpeterbarken, unter deren Bug sie durchschwimmen, und die wie große schwarze Särge auf dem Wasser liegen; und dann, während sie um die Ecke einer verlassenen Fortinsel biegen und der Diener Theodorowitsch unter Verpfändung seiner Ehre versichert, daß sie direkt zum amerikanischen Hafenasyl führen ... ja, da taucht endlich unter grell im Nachthimmel schwimmenden Bogenlampen und einer Wolke von Gegröhl, Glockenschrillen und Orchestriongedudel die Isola Maciel auf.

In zehn Minuten legen sie drüben an. Braune zerlumpte Kavaliere schnarchen auf den Steinstufen, die zu dieser Insel der Seligen hinanführen. Und der schwer betrunkene Steuermann einer russischen Bark, rosig und strahlend wie ein gigantischer Cœ;urkönig, stößt Urlaute der Freude aus inmitten der kleinen Japanerinnen, die an ihm wie Muscheln an einem morschen Pfahl hängen. Dann passiert man ein Kino, dessen Auslagen alle Freuden der Hurigärten versprechen, dann sieht man eine englische Dampfermannschaft mit starken fröhlichen Liedern heimkehren, und dann endlich öffnet sich zwischen Tabogantürmen und Achterbahnen und Glücksbuden das, was man das Paradies auf Erden nennen muß: ein freier Platz, dessen Korso im wesentlichen von Dirnen und ihren Beschützern bestritten wird.

Ältliche, freche Dirnen und zaghafte Novizinnen, die den Provinzschick von Ungarn und Polen noch immer nicht ganz verleugnen ... gelbe und rote und grüne, aus Annam und Tonkin importierte Weiber und solche wiederum mit jenem zwischen der Lausitz und dem Vogtlande gesprochenen Idiom, das ja schon Gott-Vater zur Befehlsübermittelung bei der Weltenschöpfung benützt hat.

Daß sie diesen ungeheuerlichen Fleischmarkt ohne Aufenthalt passieren, daß der Diener Theodorowitsch nochmals seine Seele für das Hafenasyl verpfändet, ist eine Tatsache, die die kleine Sif zunächst beruhigt. Weniger beruhigend ist, daß der Weg wieder in das menschenleere Labyrinth der Stapelplätze und Silos und Holzzäune führt, daß die beiden Männer plötzlich, als wollten sie mit ihr zu siamesischen Drillingen verwachsen, sich fest bei ihr einhängen, und daß endlich vor einer der verfallenen kleinen Kneipen der Diener Theodorowitsch von neuem seinen verruchten Gassenhauer pfeift.

Und an dieser wenig einladenden, von einer einsamen Petroleumlampe erleuchteten Stelle, wo riesige Ratten unter den Brettern hervorkommen und vorüberhuschen, hier, wo es nach Chilesalpeter und den Bedürfnisstätten der Männer riecht, hier geschieht es, daß sich plötzlich ihre Gesellschaft auf den Pfiff des Russen um eine weitere gewichtige Persönlichkeit vermehrt: ein eleganter Mann in einem Cutaway, aus dessen Klappen man sicher eine nahrhafte Kraftbrühe kochen könnte, ein schöner Mann mit Bartflechte und verfaulten Zahnstummeln und einem Mundgeruch, der die Zentralmächte befähigt hätte, die ganze Fochsche Reservearmee in die Flucht zu jagen.

Und während der Diener Theodorowitsch mit diesem Edelmann in einem nicht näher zu diagnostizierenden slawischen Idiom verhandelt, während sie in den Lichtschein geschoben wird von ihren Begleitern und begafft als die Ware, zu der sie geworden ist ... hier, wo sie urplötzlich fühlt, was ihr droht: hier geschieht es, daß da aus dem Dunkel eine Frauengestalt auftaucht und sie im Passieren streift und ihr in einem wohlbekannten Dialekt etwas zuflüstert:

»Wat willste hier? Mach', daste fortkommst ...«

Ein Hut, auf dem alle Papierblumen des Paradieses blühen, ist zu sehn, ein Stück Menschenelend, behangen mit allen Berufsemblemen der Rua Chacabuco ... ja, aber es ist eben das Weib, das vor Jahren einmal von ähnlichen Kavalieren den gleichen Weg geführt sein mag und die Schwester warnt.

»Mach', daste fortkommst ...«

Da ist die Dirne auch schon verschwunden aus dem Lichtkreis der Laterne. Es ist zu verzeichnen, daß sowohl der Diener Theodorowitsch wie der neu Hinzugekommene in dem Weib sofort den unerwünschten Warner erkennen und ihr nebst Worten, die im Sprachschatz der Christenlehre nicht enthalten sind, Steine ins Dunkel nachsenden. Aber es ist dieser, von den genannten Männern nicht wahrgenommene Augenblick, in dem sie sich von dem dritten losreißt und besinnungslos davonrennt.

Oh, sie kennt nicht die Zunftgeheimnisse der einschlägigen Gegend, sie weiß nicht, daß sie bewohnt ist von einer auf Gedeih und Verderb miteinander verbundenen großen Familie, deren jedes Glied das gleiche Gewerbe treibt. Ein Pfiff gellt und dann noch einer, und dann hört man das Schlagen von Türen in der Kneipe da hinten und Rufe in fünfundzwanzig Weltsprachen. Und dann fühlt man, daß man die ganze Hölle hinter sich hat.

Verzweifelte Jagd ein paar Minuten lang, Jagd, bei der sie schließlich ganz dicht hinter sich einen der Verfolger spürt ... zehn Schritte, neun ... immer näher ... Oh, es ist das Gefühl der von der Viper gejagten Maus, dieses aus Kindertagen bekannte Gefühl, in dem man sich schließlich dem Verfolger ergibt, nur um die Angst vor dem Eingeholtwerden los zu sein ... Es geschieht schließlich an einem Knick dieses Weges, daß sie über irgend etwas stolpert und vornüberfällt. Da liegt sie, hat wenigstens den glücklichen Instinkt, hier, wo es finster ist wie in einem Kohlensack, zur Seite zu kriechen. Da duckt sie sich nieder auf diesen besudelten Erdboden, der beinahe schon eine Kloake ist, schließt die Augen vor der Meute, die an ihr vorüberhetzt, richtet sich auf, starrt um sich ... weiß nicht mehr wohin ... mein Gott, mein Gott ... weiß ja gar nicht mehr, wohin ...

»Mutter, Mutter ...«

Ob es für die kleine Sif in dieser Situation einen Sinn hat, eine Instanz anzurufen, die sie nie gekannt hat, und die seit zwanzig Jahren eingegraben ist an der Berliner Chausseestraße ... ja, das mag mehr als zweifelhaft erscheinen: sie hetzt mit ihrem Geschrei ja nur die Organisation Theodorowitsch von neuem auf ihre Spur. Aber da ist, während sie den Weg zurückwankt mit Gliedern, an denen alle Sehnen durchschnitten zu sein scheinen ... ja, da ist hinter dem Bretterzaun eine schöne helle Bogenlampe, und wenn es überhaupt noch so etwas wie Ruhe und Sicherheit gibt für eine gehetzte Kreatur, so muß sie eben in diesem Lichtkreis dort zu finden sein.

Hinüber über einen mit rostigen Nägeln besetzten Zaun, an dem man sich das armselige Straßenkleid vollends zerreißt! Und nun sieht sie wieder, daß die Hölle hinter ihr ist, und nun muß man ja noch über einen Stapelplatz mit alten Balken und Stacheldraht, und dann muß man, um diese Lampe da zu erreichen, noch einen zweiten Zaun überklettern. Es ist zu bemerken, daß es hier, als sie sich schon hinaufzieht an den Bohlen, noch ein letztes, ganz verzweifeltes Spiel gibt. Da sieht sie unter sich den Diener Theodorowitsch, der eben Hand an sie legen will, da stößt sie mit den Absätzen in dieses verfluchte Gesicht, stößt zu mit der ganzen verzweifelten Wut dieser Stunde. Da taumelt der andere zurück, und da hat die kleine Sif glücklich den Oberkörper hinübergeschwungen über den Zaun.

Auf der anderen Seite aber ist wirklich das Paradies. Da ist wieder die Wasserfläche, auf der man mit schönen klaren Lichtern die große Stadt schwimmen sehen kann. Und da ist dicht vor dem Zaun ein sauber gemauerter Kai, und auf dem Kai der Cherub, der dieses Paradies hütet ...

Es ist zwar nur ein nach New Yorker Muster mit Filzhelm und Gummiknüppel ausgestatteter Konstabler, der dort steht: aber es sind schöne große Silberpappflügel, die er auf dem Rücken hat ... ja, es ist wirklich der Engel einer Konfirmationspostkarte. –

Da springt die kleine Sif herab und läuft zu auf dieses Phantom und kugelt zu seinen Füßen um und fällt nieder mit dem zerschundenen Gesicht auf die harten Granitquadern des Kais.

 

* * *


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