Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Untertitel dieses Buches: »Geschichte eines Massenwahns«, stand auch auf dem Titelblatt der ersten Auflage des »Bockelson« im Jahre 1937. Schon das beweist, daß Bockelson mehr ist als eine historische Studie. Er ist eines der bewußten Dokumente des innerdeutschen Widerstandes gegen das Regime der Jahre 1933-1945. Es sind innerhalb Deutschlands Bücher in dieser Zeit erschienen, die von Hand zu Hand gingen und als solche Dokumente angesehen wurden. Ob hinter ihnen wie bei Reck-Malleczewen der gleiche bewußte Wille stand, die betörten, schwer erkrankten und gleichsam hypnotisierten Massen aufzurütteln, zur Besinnung und dadurch zur Tat zu bringen, bleibe dahingestellt, so wenig die Tatsache geleugnet werden soll, daß es auch literarisch eine Opposition im Reiche gegeben hat. Es genüge hier der Hinweis auf die Leistung der »Deutschen Rundschau«. Wie deren Herausgeber Rudolf Pechel das Regime aus tiefstem Grunde haßte und aus diesem Haß und aus tiefer Liebe zu seinem Volke zugleich immer wieder auf Themen sann, die das Gewissen aufrufen sollten, dessen ständig in uns bohrenden Ruf nicht zu überhören und zur Tat vorzustoßen – so auch Reck-Malleczewen. Ja, er haßte, aber er liebte zugleich. Er selbst schreibt: »Denke ich dieses Hasses, so überkommt mich wohl Grauen, und ich kann es doch nicht ändern und weiß nicht, wie sich anders dieses alles lösen soll. Zeihe mich niemand der Verneinung und täusche sich niemand hinweg über die Tragweite solchen Hasses. Haß drängt zur Wirklichkeit, Haß ist der Urvater der Tat. Glaubt Ihr, es gebe aus unserem verpesteten und entweihten Hause noch einen Ausgang, über dem nicht das Gebot stünde, den Satan zu hassen, um nach dem Weg der Liebe im Dunkeln suchen zu dürfen?«
Und wie ernst es ihm um beides, um Haß und Liebe war, dafür zeugen die letzten, an die Seinen hinterlassenen Worte, die seine Gattin uns am Schluß ihres Nachrufes mitteilt. Auch diese Worte, auch dieser in höchster Selbstverleugnung errungene Durchbruch zu dem größten Gebot des Christentums, in dessen Lehre der Dahingegangene die einzige Rettung für die Befreiung Deutschlands, Europas, der Welt vor der drohenden Vermassung und Verhordung sah – sei uns verpflichtendes Vermächtnis. Deuten wir die zitierten Worte recht, so ist der Haß gegen Unrecht, Lüge, Brutalität, gegen vermessene Selbstüberhebung und Gotteslästerung eine Kraftquelle und gottgewollt, – und schuld daran, daß wir ihn nicht alle zutiefst empfunden, in uns genährt und aus seinen Antrieben die Schmach des nunmehr versunkenen Regimes abgeschüttelt haben, war unsere säkularisierte, relativierte und materialisierte Begriffswelt, unsere Halbheit, unsere Unfähigkeit zu einem starken echten Gefühl.
Hätten wir nun aber nach den bitteren Lehren der Vergangenheit doch auch die Kraft, neben dem tiefsten Abscheu vor dem Bösen auch Liebe zu üben, die allein aus Not, Elend und bitterstem Leid herausführen kann!
Wir haben aber mehr als den Untertitel des Bockelson zum Beweis, wie unendlich schwer Reck-Malleczewen unter der Schmach der Hitlerdiktatur gelitten, wie sehr er sich gegen sie auflehnte und daß er mit diesem Buche aufklärend und politisch wirken wollte. In seinem Nachlaß nämlich fanden sich Aufzeichnungen. In längeren Zeitabständen, meist bei besonderen sichtbaren Einschnitten im Geschehen nach 1933, beim Röhmputsch, den vielen Vertragsbrüchen, den Überfällen, den Kriegserklärungen gab er seinen Empfindungen, seinen politischen Anschauungen, seiner Verzweiflung über das Geschehen unserer Tage Ausdruck. In diesem » Tagebuch eines Verzweifelten«, wie er es nennt, aber setzt er sich zugleich mit allen und jedem Problem der Zeitenwende auseinander, in die unser Geschlecht hineingestellt ist. Vieles, was heute in Diskussionen, Broschüren, Artikeln, Büchern rückschauend als Wege zur Katastrophe allmählich und im Gestrüpp zeit- und oft vorurteilsgebundener Anschauungen vielfach erst unklar und mühsam gesucht wird, ist von Reck in diesen Blättern behandelt in überwältigender Klarheit, gereift in der einsamen Stille seines Gutes als Niederschlag seiner reichen Erfahrungen auf Weltreisen, seiner Freundschaften mit vielen bedeutenden Männern des In- und Auslandes, als Frucht seines Nachdenkens und – seines Leids. Und trotz der Überschrift, trotz alles verzweifelten Wehs, trotz allen Hasses gegen die Vermassung, den »Termitenhaufen«, wie er es nennt, – er glaubte an sein Volk: »Dieses Volk, an dessen innersten, tief verborgenen und kaum mehr sichtbaren Kern ich unentwegt glaube, geht einer gigantischen und heilsamen Subtraktionskur entgegen.« Aber er sieht sehr klar: »Es ist wahr, daß der Süden, skeptisch gegen das preußische Siegesgeschrei, sauberer geblieben ist, es ist wahr, daß der Bauer, seinen alten unabänderlichen Lebensgesetzen und Weisheiten verhaftet, über die Siege die Achseln zuckt und ›stimmungsmäßig‹ nicht mitmacht, es ist wahr, daß die große Masse der Arbeiterschaft und nahezu die ganze Intelligenz in erbitterter Opposition steht. Was will es bedeuten? Die großen Drahtzieher, Industrie und der seit Ludendorff ihr verhaftete Generalstab, haben das Instrument des Terrors in der Hand, sie besitzen das Monopol auf die öffentliche Meinung und haben damit die große unproduktive Masse, Gehaltsempfänger, Büroangestellte, den großen Teil der kleinen Beamtenschaft verdummt bis zur Idiotie. Der Rest, verschmolzen aus Geschäftswelt und depossediertem Adel, aus neukreierten Offizieren und Gelegenheitsmachern ist eingeschmolzen zu einer heillosen Bourgeoisie, die, materialistischer als das verschriene Rußland, nur vom Heute lebt und nicht ahnt, welch grausiges Spiel hier begonnen hat.«
Um der bei der gewissenlosen Herrschaft des Schlagwortes heute so besonders notwendigen Klarheit der Begriffssetzung willen und um Mißverständnissen vorzubeugen – was nennt Reck-Malleczewen Masse? »Nie werde ich die Erkenntnis aufgeben, daß der Massenmensch mit dem Proletariat keineswegs identisch ist ... daß er heute in den Direktionskanzleien der großen Syndikate und in der industriellen Jeunesse dorée weit häufiger angetroffen werden kann, als in der Arbeiterklasse, nie werde ich von der Erkenntnis lassen, daß es sich um einen unbenennbaren diabetischen Prozeß und um eine Seuche handelt, die in den oberen Schichten der modernen Soziologie ihren Anfang genommen haben.« Und an anderer Stelle: »Der Massenmensch heute beschränkt sich ja keineswegs auf die Arbeiterschaft, ja er ist in ihren Reihen vielleicht sogar seltener anzutreffen, als in gewissen, keineswegs auf enges Zusammenleben angewiesenen Bezirken der Bourgeoisie.« Es sei dies schon biologisch begründet, denn die »plötzlich und explosiv einsetzenden« uns historisch bekannten Massenbildungen – im kaiserlichen Rom und im präkolumbinischen Inkastaat – »sind keineswegs als Symptom überschwenglicher Gesundheit, sondern durchaus als Spät- und Verfallssymptom aufgetreten, gebunden an die Zeiten des Carakallischen Abstieges, an die Abnabelung von der Plazenta des Magischen, an die greifbare sittliche und drohende politische Destruktion.«
In dieses Tagebuch nun trägt Reck-Malleczewen am 11. August 1936 die Gründe, Absichten, Gedanken ein, die ihn zu dem Plane seines Bockelson veranlaßt haben.
»An meinem Buche über das Münsterer Wiedertäuferreich arbeitend, lese ich in tiefer Erschütterung die mittelalterlichen Berichte über diese echt deutsche Häresie, die in allem und jedem ..., ja selbst in den lächerlichsten Einzelheiten eine Vorläuferin der nun von uns erlebten gewesen ist. Wie das heutige Deutschland, so löst für Jahre sich auch jener Münstersche Stadtstaat völlig aus der zivilisierten Welt, wie Nazideutschland, so verzeichnet er durch lange Zeiten Erfolg über Erfolg und erscheint unbezwinglich, um schließlich in einem ganz unerwarteten Augenblick und sozusagen über eine Bagatelle zu fallen ...«
»Wie bei uns, so ist auch dort ein Mißratener, ein sozusagen im Rinnstein gezeugter Bastard der große Prophet, wie bei uns kapituliert vor ihm, unbegreiflich für die staunende Umwelt, jeder Widerstand, wie bei uns – denn jüngst erst haben in Berchtesgaden verzückte Weiber den Kies verschluckt, auf den er, unser allergnädigster Zigeunerprimas, soeben seinen Fuß gesetzt hatte! – ... wie bei uns also sind hysterische Weiber, stigmatisierte Volksschulmeister, fortgelaufene Pfaffen, arrivierte Kuppler und Outsider aller Berufe die Hauptstützen dieses Regimes. Die Ähnlichkeiten häufen sich in einem Maße, daß ich sie, meinen Kopf nicht noch mehr zu gefährden, direkt unterdrücken mußte. Ein Mäntelchen von Ideologie verhüllt in Münster just wie bei uns einen Kern von Geilheit, Habgier, Sadismus und bodenlosem Geltungsbedürfnis, und wer an der neuen Lehre zweifelt oder sie gar bekrittelt, ist dem Henker verfallen. Wie bei uns im Röhmputsch Herr Hitler getan, so spielt in Münster dieser Bockelson den Staatshenker, wie bei uns gilt die spartanische Legislatur, in der er das Leben der misera plebs einspannt, beileibe nicht für ihn und seine Gangsterbande. Wie bei uns umgibt Bockelson sich, unerreichbar für jedes Attentat mit seinen Tappedürs, wie bei uns gibt es Straßensammlungen und »freiwillige Spenden«, deren Verweigerung die Acht zur Folge hat, wie bei uns narkotisiert man die Masse mit Volksfesten und errichtet unnütze Bauten, um dem Mann von der Straße ja keine Atempause zum Nachdenken zu geben. Just wie Nazideutschland, so schickt auch Münster seine Fünften Kolonnen und Propheten zur Unterminierung der umliegenden Staaten aus, und daß der Münsterische Propagandaminister Dusentschnur, just wie sein großer Kollege Goebbels, gehinkt hat, ist ein Witz, den die Weltgeschichte sich vierhundert Jahre vorwegnahm: eine Tatsache, die ich, vertraut mit dem Rachebedürfnis unseres Reichslügenbeutels, wohlweislich in meinem Buch unterdrückt habe. Aufgerichtet auf den Fundamenten der Lüge reckt sich da, an der Wende von Gotik und Neuzeit für kurze Zeit ein Banditenstaat, der die ganze alte Welt nebst Kaiser und Reichsständen und allen alten Bindungen bedroht und im Grunde nur den Zweck hat, die Herrschergelüste von ein paar Banditen zu stillen, und was uns selbst heute an dem Schicksal der Münsterer von 1534 noch fehlt, – etwa, daß man in der belagerten Stadt vor Hunger seine eigenen Exkremente und schließlich sogar seine eigenen, vorsorglich eingepökelten Kinder verschlang: all das könnte über uns just noch so kommen, wie einst über Hitler und seine Trabanten das unausbleibliche Ende der Bockelson und Knipperdolling kommen wird.
»Betroffen stehe ich vor diesen vierhundertjährigen Akten, befallen von der Ahnung, daß diese Ähnlichkeit keineswegs durch einen Zufall, sondern durch die schaurige Periodizität seelischer Abszeßentleerungen bedingt sein könnte. Denn was wissen wir schon von jenen unterirdischen Schluchten und Gewölben, die sich unter dem Lebenshaus eines großen Volkes ins Unbekannte verlieren – von jenen Katakomben, in denen einst alle unsere trüben Wünsche, unsere Angstträume und Plagegeister, unsere Laster und vergessenen und ungesühnten Todsünden eingesargt sind seit Generationen? In gesunden Zeiten durchziehen sie als albischer Spuk unsere Träume, dem Künstler erscheinen sie als satanische Visionen – dann stecken an unseren Kathedralen die gotischen Wasserspeier obszöne Hintern in die Luft, und es ziehen über Grünewalds heilige Tafeln mit geschnäbelten Fratzen und Krallenfüßen die Symptome aller Laster und jene Geißler, die, auf daß das Gesetz erfüllet werde, auf den Salvator einschlagen, und siehe, fast tun sie in der Automatie dieser Gesetzerfüllung dem Beschauer leid ...«
»Wie nun aber, wenn nun alles dies, was sonst in unseren Verließen verborgen gehalten wird, in der blutreinigenden Funktion eines Furunkels nach außen drängt, wenn jene Unterwelt von Zeit zu Zeit den Satan gebiert, der ihre Gruftdeckel sprengt und die bösen Geister der Pandorabüchse entweichen läßt? War es nicht just so in dem vorher und hinterher so konservativen Münster, und erklärt sich nicht dort wie bei uns die rätselvolle Tatsache, daß dies alles ohne Widerstand der Guten in einem an sich ordentlichen und nüchtern-fleißigen Volke geschah, durch die nämliche schaurige und unbrechbare kosmische Drehung, die eben, seit der ersten Stunde dieses Hitlerregimes, durch Sonnenflecken das Wetter, durch unentwegt verregnete Sommer die Ernten verdirbt, mit unbekanntem Ungeziefer die alte Erde überzieht, und in einem unvorstellbaren Ausmaße die Begriffe von Recht und Unrecht, Mein und Dein, Gerade und Ungerade, Tugend und Laster, Gott und Satan verwirrt?«
Und am gleichen Tage gibt er in seinem Tagebuch der Unerträglichkeit des Daseins unter dem Hitlerregime Ausdruck: »Mein Leben in diesem Pfuhl geht nun bald ins fünfte Jahr, seit mehr als zweiundvierzig Monaten denke ich Haß, lege mit Haß mich nieder, träume Haß, um mit Haß zu erwachen ... ich ersticke in der Erkenntnis, der Gefangene einer Horde böser Affen zu sein und zermartere mir das Hirn über das ewige Rätsel, daß dieses nämliche Volk, das vor ein paar Jahren noch so eifersüchtig über seinen Rechten wachte, über Nacht versunken ist in dieser Lethargie, in der es diese Herrschaft der Eckensteher von gestern nicht nur duldet, sondern auch – Gipfel der Schande! – gar nicht mehr imstande ist, die eigene Schmach als Schmach zu empfinden ...« und sagt einige Absätze weiter über Hitler: »Ich glaube nicht einmal daran, daß dieser Mann von Hause besonders amoralisch veranlagt war – die Qualifikation eines großen Verbrechers täte ihm der Ehre zuviel an. Hätte eine deutsche Regierung durch Errichtung eines Monstreateliers, durch Bezahlen einer Presse, die ihn als größten Maler aller Zeiten feierte, beizeiten seiner maßlosen Eitelkeit genügt, ich glaube, er wäre auf ein höchst ungefährliches Gleis rangiert worden und wäre nie auf den Gedanken gekommen, die Welt in Brand zu stecken. Nein, ich glaube nicht an seine Borgia-Eigenschaften, ich glaube, daß hier der Verdrängungstrieb einer freilich aus Abfall gemachten und tief mißratenen Persönlichkeit sich zusammenfand mit einer Laune der Geschichte, die diesen, wie einst den Gerber Kleon, an den Hebeln ihrer großen Maschinerie eine Weile spielen läßt. Ich glaube, daß dieses alles sich zusammenfand mit einer Fieberstunde dieses Volkes. Ja, ich glaube, daß dieser armselige aus einer Strindbergschen Kothölle entlassene Dämon wie einst jener Bockelson sich zusammenfand mit einer Stunde der Abszeßentleerung, daß er kam als Verkörperung aller trüben sonst wohl gebändigten Massenwünsche ... oh, wahr und wahrhaftig wie sein Münsterischer Vorgänger als die Figur einer deutschen Gespenstergeschichte.«
Diese Auszüge aus dem »Tagebuch eines Verzweifelten« zeigen, was Reck-Malleczewen innerlich dazu getrieben hat, den Bockelson zu schreiben. Im Jahre 1936 will er warnen vor der längst klar vorausgesehenen Katastrophe. Es war seine tiefe Überzeugung, daß das Zeitalter der Masse zu einer solchen, und nicht nur in Deutschland, führen müsse. Das zeigen seine Jahre zurückliegenden Auseinandersetzungen mit Spengler, auf die er in dem Tagebuch bei der Nachricht von dessen Tode zu sprechen kommt, das beweist viel stärker noch der große Plan, an dessen Ausführung er im letzten halben Jahre vor seiner zweiten Verhaftung intensiv arbeitete. Das Manuskript des ersten Kapitels dieses unvollendeten Buches ist eine Auseinandersetzung mit Spengler und Ortega y Gasset. Es war nur der Auftakt zu einem Werk, das zusammenfassen sollte, was sein leidenschaftliches politisches Interesse, sein selbständiger unabhängiger Geist, sein Einblick in die Gebrechen der Zeit an klaren Erkenntnissen in ihm hatten reifen lassen. Es erscheint für die, die von dieser Arbeit wußten, ein unersetzlicher Verlust, daß sein grausames Ende uns um die Vollendung dieses Buches gebracht hat. Er, der als Landwirt mit der Natur und ihren Gesetzen vertraut war, er, der zugleich Arzt war, war berufen wie kein anderer, nicht nur die Diagnose unserer Zeit zu stellen, sondern auch den Weg zur Therapie zu zeigen. Denn mit naturwissenschaftlichen medizinischen Kenntnissen verband sich bei ihm ein überdurchschnittliches historisches Wissen. Beides ging ineinander über: es waren die prüfenden Augen des Arztes, mit denen er bei seinen gewissenhaften, gründlichen historischen Studien die Geschicke der Staaten, Völker und großen Persönlichkeiten betrachtete. Ein drittes, Wesentlichstes, kam hinzu. Der unbestechliche Blick des Arztes, das sichtende Auge des Historikers – sie richteten sich immer wieder vom Objekt ihrer Forschung nach Oben. Der zürnende Gott war ihm Wirklichkeit, wie ihm Seine gerechte Lenkung alles Geschehens innerhalb der Menschheit Gewißheit war.
Er war konservativ, »aber zwischen der Haltung des konservativen Mannes und dem Nationalismus klafft ein Abgrund. Konservativ sein, heißt, an die unabänderlichen Gesetze der alten Erde glauben. An die alte Erde, die zu beben beginnt, wenn sie eines Tages sich von allem Unrat säubern will«, sagt er in seinem Tagebuch. Er bekämpfte allen Rationalismus, die bloße Herrschaft des Verstandes, die Säkularisierung aller jenseitigen Werte. Bei dem Ausbruch des Krieges mit Rußland sagt er vom deutschen Volke: »Nie ist ein Volk blöder, hilfloser in eine Katastrophe getaumelt«, denn »die deutschen Technokraten werden in den weiten hyperboräischen Ebenen dem begegnen, was sie in ihre Kalkulation nicht aufnehmen können: der Dämonenwelt eines nicht nur in der Propagandaphrase jungen, von seinen Göttern trotz allem noch nicht losgelösten Volkes«, denn »wir stehen mit diesem anhebenden Kriege dicht vor dem Zeitpunkt, in dem die Slawenwelt erstmalig dem Westen ihre Visitenkarte überreichen wird. Bei Licht betrachtet ist dieses Deutschland, das durch Hitlers Mund bei jeder Gelegenheit vom ›Allmächtigen‹ und der ›Vorsehung‹ redet, so skeptisch, wie es heute ein angealtertes Westvolk nur sein kann – bei Licht betrachtet ist dieses Rußland, das vor vierundzwanzig Jahren sein Kreuz auf sich genommen hat und um abwegiger Ziele hungert, friert und leidet, der Fall jenes Gottesleugners, der nach einem Dostojewskiwort Gott näher ist als der Skeptiker.«
Reck-Malleczewen glaubte an Gott. Als Arzt, als Naturwissenschaftler, als Historiker und als überzeugter Christ war er tief durchdrungen von dem Unheil, das der Zerfall von Leib, Geist und Seele heraufbeschwören mußte. Er glaubte an die Macht des Geistes, den unabdingbaren Untergang des rein Materiellen, von Geist und Seele Losgelösten. Und so ruft er Hitler zu: »In jeder Deiner Reden verhöhnst Du den Geist, den Du mundtot gemacht hast und vergißt, daß der einsam gedachte – in aller Leidenschaft gedachte Gedanke tödlicher wirken kann als alle Deine Folterapparaturen ... Du bedrohst jeden Widersacher mit dem Tod, aber Du vergißt, daß unser Haß als tödliches Gift in Dein Blut sich schleicht und daß wir jauchzend sterben, sofern wir nur Dich mit uns in die Tiefe ziehen können durch unseren Haß. Mag das Leben sich erfüllen in diesem Zeichen, mag es untergehn in dieser Aufgabe, im Schoß des Volkes, das Du heute überfällst, wurde ein Wort geboren, und ich schreibe es auf in dieser Stunde, da es Dir so gilt wie uns: Wenn sie Gott von der Erde verbannen, so werden wir unter der Erde ihm begegnen. Und dann werden wir, die unterirdischen Menschen, einen Trauergesang anstimmen zu Gott, der die Freude ist.«
Nach Lessing soll eine Vorrede nichts enthalten als die Geschichte des Buches. Die Geschichte des aus innerster Not entstandenen Bockelson war nicht bei seinem Erscheinen beendet. Sein Verfasser mußte sich mancherlei Beschränkungen auferlegen bei seiner Niederschrift. Für ihn selbst war Bockelson nur der Auftakt zu einem großen Werke über den gewaltigen Zusammenbruch aller Werte in einem Zeitalter der Massenbildungen, der unbeschränkten Herrschaft von Technik, in einer Zeit eines überheblichen Nationalismus und Fanatismus, eines entarteten Preußentums. Er sah den Weg zur Gesundung in neuen sittlichen Bindungen, in der Rückkehr zur demütigen Anerkennung der – dem Verstande allerdings unzugänglichen – irrationalen Kräfte. Drei Tage vor seiner Verhaftung tippte er an dem dritten und vierten Kapitel dieses Buches. »Am 1. 1.«, so schrieb er am 27. 12. 1944, »lege ich es aus der Hand, um Abstand zu schaffen.« Wenige Wochen später verlangte Gott das Opfer seines Todes.
Seine »in aller Leidenschaft gedachten Gedanken« werden wirken. Das ist der sichere Glaube aller, die ahnend etwas von der Macht des Geistes wissen, wie sie ihm Gewißheit war, und die sich nicht nur vor dem zürnenden Gott beugen, wie er es tat, sondern auch gleich ihm den liebenden Gott kennen, »zu dem jede Epoche unmittelbar ist« nach dem Wort Rankes. Möge auch unsere Generation vor diesem liebenden Gott »wie alle Generationen der Menschheit als gleichberechtigt erscheinen«. Dann erfüllt sich auch der Sinn des Opfertodes, den Reck-Malleczewen lange vorausahnte.