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* 11. August 1884 in Malleczewen
† 17. Februar 1945 im KZ Dachau
Die Recks, nachweislich seit vierhundert Jahren auf dem Familiengut Malleczewen nahe der russischen Grenze ansässig, waren eine der typisch-ostpreußischen Gutsbesitzerfamilien, deren Söhne von jeher entweder Offiziere oder Staatsbeamte wurden. Hermann Reck, der Vater, war konservativer Reichs- und Landtagsabgeordneter sowie Kreisdeputierter. Die Verhältnisse des Lebens waren durchaus patriarchalisch. »Die Heimat«, so schreibt Reck selber, »das waren die einsamen großen Gutshöfe, die weiten Schneeflächen. Atlasblaue Seen im Geschmeide herbstgoldener Birkenwälder, Novembernebel und Treibjagden, wo am Biwakfeuer im Wald Feudalherren, Richter, Sanitätsräte und sonstige nützliche Zeitgenossen mit burgunderroten Nasen Warmbier, Erbssuppe mit Würsteln und doppel-etagige Schnäpse zu sich nahmen ... Menschenarm sind jene großen Ebenen zwischen den Höhenzügen, die vom Ural bis herab nach Ostpreußen ziehen, menschenleer und angefüllt mit Dämonen und düsteren Göttern: der Westdeutsche und sogar der Mann westlich der Weichsel wird sie nie begreifen, diese Welt. In meiner Jugend sah ich hier die letzten großen Originale dieser an Käuzen wahrhaftig nicht armen Provinz: uralte Standesherren, die, so um 1900, an der Perücke noch das Rudiment eines kleinen Zöpfchens trugen. Alte Gutsherrinnen, die ihre Höfe musterhaft bewirtschafteten und morgens, am Fenster stehend, auf einem Kornett-a-piston den Knechten Signale bliesen, wann zu futtern, wann zu satteln und wann aufs Feld auszurücken sei. Alte Sanitätsräte, die so leidenschaftliche Kunstpfeifer waren, daß sie, um Mozartarien zweistimmig pfeifen zu können, sich einen Vorderzahn ziehen ließen, Gutsbesitzer, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, im hyperboräischen Klima Masurens die Seidenraupenzucht einzuführen und die armen Seidenwürmer so lange quälten, bis sie für die Patronatskirche auch wirklich eine Altardecke zustande gebracht hatten.«
So prägend und bestimmend aber auch die heimatliche Landschaft und das väterliche Erbe für den Knaben waren, von gleich großem Einfluß erwies sich das mütterliche, süddeutsche Blut. Von ihr stammt wohl die tiefe Schwermut, die den ostpreußischen Schnee wachgerufen hatte, die große Liebe für alles Formvolle und Beschwingte, die Abneigung gegen alles Verkrampfte und Erzwungene, alles das, was ihn später in Bayern eine heißgeliebte Heimat finden ließ. Er blieb dort freilich »Emigrant, und Emigranten haben immer das Schicksal, daß ein Stück ihres Herzens in der alten Heimat hängen bleibt und daß dann dieses Herz, solange es schlägt, bluten muß aus diesem Riß«.
Schon der Knabe zeigte jene Mischung von äußerer Robustheit mit innerer Überempfindlichkeit, die in seinem späteren Leben so oft zutage trat. Als Primaner wollte er, unerhört für eine auf Armee und Verwaltung festgelegte Familie, Musikant werden und spielte fünf Stunden täglich Beethoven und Mozart. Aber nach dem Abitur am Lycker Gymnasium trat er doch, wie seine Brüder vor ihm, in die Armee ein und begann als Fahnenjunker bei den 5. Kürassieren in Lissa im Posenschen.
Der außerordentlich freiheitsliebende junge Mensch, der zudem starke geistige Interessen hatte, merkte aber bald, daß die Welt des Kasernenhofes nicht seine Welt war, und so absolvierte er nur sein Einjährigenjahr und begann dann zu studieren. Und zwar nicht Jus, wie es eigentlich die Familientradition erfordert hätte, sondern Medizin. Zunächst einmal an seiner Heimatuniversität Königsberg, dann in Jena, Innsbruck, Wien. Neben dem Studium waren es hauptsächlich Musik und Literatur, die ihn beschäftigten, ferner Geschichte und vor allem Kriegsgeschichte. Es erschienen seine ersten Kritiken und kleinen Abhandlungen in den Zeitungen. In der Familie stießen all diese »Liebhabereien« auf erheblichen Widerstand, wie es denn auch damals in den Augen der Standesgenossen noch für »völlig unmöglich« galt, daß der junge Reck an seinen Musikabenden, an denen neben Kommilitonen auch Professoren teilnahmen, mit einem simplen Regimentsmusiker musizierte, der ein recht guter Klarinettist, war.
1908, noch als Student, verheiratete er sich mit Anna Büttner, einer jungen Kurländerin, die »im Reich« Musik studierte. Nach dem Staatsexamen war er zwei Jahre als Assistent an der Königsberger Anatomie tätig und trat dann 1912 seine erste große Amerikareise an, die ihn quer durch den ganzen Erdteil brachte. Nach seiner Rückkehr nahm er den Posten eines Feuilletonredakteurs und Theaterkritikers in Stuttgart an der Süddeutschen Zeitung an, übersiedelte aber schon bald nach München.
Erst während dieser Studien- und Nachstudienjahre lernte er westliches Denken und westliche Kultur kennen, und oft erzählte er, wie sehr ihn diese andere Welt überrascht hat. »Was kannte ich denn bis dahin«, schreibt er einmal. »Zahllose Kavallerieleutnants und Kommandeure vom bekannten Typ ›olles Austerngrab‹ ... ostpreußische und kurische Junker, Schiffskapitäne auch, reich mit Stout und Rindfleisch angefüllt, dachsbeiniges Valparaiser Hafengesindel, Londoner Bobbies, demütige Sarmaten, die uns daheim den Rockzipfel küßten und endlich wilhelminische Oberlehrer, die mit hochgezwirbeltem Schnurrbart davon träumten, Gardeleutnants zu sein ...« Und dann schildert er mit viel Humor, wie ihn besonders Bayern in eine strenge Schule nahm und wie ihm in der »Wilden Gungel«, jener bekannten Münchener Kammermusikvereinigung, die allzu preußischen Allüren abgewöhnt wurden.
München, die »Stadt der Jugend und der Freude«, diese bajuwarische Hauptstadt mit ihrer starken Verbundenheit zum bäuerlichen Hinterland, mit ihren Menschen, die noch nicht der Natur entfremdet, mit ihrem angeborenen Sinn für Formschönheit, Anmut, Leichtigkeit, mit ihrer barocken Lebensfreude und vor allem mit ihrer Bereitschaft, ruhig die Dinge reifen zu lassen und den Ablauf der Naturgesetze zu respektieren, München wurde ihm sofort und endgültig Heimat. »Was wäre aus dem im Zeichen des Wirtschaftsliberalismus überhitzten Deutschland geworden«, so schreibt er, »hätte es nicht Bayern gehabt mit seiner unberührten Landschaft und dem großen Reservoir seiner Ruhe? Nein, ich könnte nicht mehr zurück.«
Literarische Arbeiten, kulturphilosophische Vorträge, geschichtliche und kriegsgeschichtliche Studien, Musik, füllen nun sein Leben aus, daneben viele Fahrten und Wanderungen durch die neue Heimat, durch Österreich, Südfrankreich, Italien und den Balkan. 1925 führt ihn eine Reise durch den afrikanischen Kontinent. Schwer erkrankt an Malaria und Schwarzwasserfieber kam er zurück. Jahre der Arbeit folgten, Jahre, die viel Schicksal brachten, Krankheit, Unglück, Verluste. Nur mit rücksichtslosem Einsatz aller Kräfte gelang es ihm, diese schwere Zeit zu überstehen. Zu den persönlichen Schicksalsschlägen kam die tiefe Beunruhigung und Sorge über die politische Entwicklung in Deutschland. Er sah, wie weder die alten Stände noch die Männer der Weimarer Republik es vermochten, den Volksverführern und falschen Propheten entgegenzutreten. Im Jahre 1933 trat er zur Katholischen Kirche über, die ihm als letztes Bollwerk gegen die zunehmende Verrohung und Vermassung erschien. Inzwischen war seine Ehe geschieden worden – seinen besten Freund nahm ihm der Tod. So zog er sich ganz auf seinen geliebten alten Hof im Chiemgau zurück und versuchte hier, nachdem er 1935 eine zweite Ehe eingegangen war, nochmals in aller Stille sein Leben aufzubauen. Aber anererbtes Verantwortungsbewußtsein und sein so ausgeprägtes Gefühl für Ehre und Menschenwürde ließen ihn niemals zu der ersehnten Ruhe kommen. Zeitungen, Radio, Freunde, Behörden, Ämter und nicht zuletzt die Parteistellen führten ihm täglich wieder den grauenhaften Irrtum vor Augen, in den das deutsche Volk immer tiefer hereingeriet. Er sah und hörte täglich, wie die Wahrheit verzerrt und Geschichte gefälscht wurde und mußte dazu schweigen. Er erlebte, wie die Menschen durch jahrelang wiederholte Propagandalügen überrumpelt wurden und durfte seine Stimme nicht erheben. Er mußte wehrlos dulden, daß alles Edle und Feine herabgezerrt und zertreten wurde, und Roheit und Gemeinheit an ihre Stelle traten. Er sah gute Menschen, die er kannte, an Kummer über dieses alles zugrunde gehen, sah Freunde in die Verbannung getrieben und andere Freunde versagen und demselben Massenwahn zum Opfer fallen und erstand dem allen ohnmächtig gegenüber, wie mit ihm die Besten seines Volkes. Wie sie erlebte er die ersten Anfänge der Expansion jenes Volksverderbers: die militärische Besetzung des Rheinlandes, die Aufrüstung, den Betrug an Österreich und bei jedem dieser Schritte zu einem neuen Kriege dachte er wohl wie sie: werden sie jetzt kommen und dem Spuk ein Ende machen, sie, die die Waffen haben und Macht? Sie, die erwartet wurden, wie in einem von Dieben und Räubern besetzten Hause die Polizei?«
Brutale Gewalt, nackter Materialismus, niederster Ungeist gewannen immer mehr an Boden. Konnten sie sich deutlicher zeigen als bei jenen scheußlichen Szenen während des bestellten. Judenpogroms im November 1938? Der Krieg brach aus, wie lange erwartet. Nach den ersten Siegen konnte man sehen, wie Hitler nunmehr Macht über die Generalität gewann und sie schließlich ganz in seine Hand bekam. Somit schwand die letzte Hoffnung auf eine Hilfe durch eigene Volksgenossen, immer deutlicher zeigte es sich, in welch furchtbare Lage wir geraten waren, in welch schauriges Entweder-Oder. Entweder unser Volk gewann diesen Krieg äußerlich, dann war die persönliche und geistige Freiheit ein für allemal tot, alle Kultur und alles, was dem Menschenleben Wert und Würde gibt, war für immer verloren. Oder wir verloren den Krieg und würden wohl auf lange Zeiten zurückgeworfen' in äußere Armut und Not und in einen Existenzkampf, in dem sehr viele würden erliegen müssen.
Tag und Nacht saß man nun am Radio, vergleichend, erhoffend. Dieser kleine Apparat war ja für uns alle der einzige Ausblick in die Welt, und auch dieser war verboten und wer von ihm Gebrauch machte, konnte sein Leben verlieren. Selbst in unserm einsamen Landhaus stand er mitten im Zimmer auf einem Polster durch Decken abgedämpft, und Hausbewohner und Nachbarn, die kein Radio hatten, lagerten, im Kreis um ihn herum, während draußen die Hunde losgelassen waren, um jene Hitlerbuben zurückzuschrecken, die sogar nachts spionierend umherschlichen und denen es im Dorf auch tatsächlich einmal gelungen war, ein Bäuerlein beim »Schwarzhören« zu erwischen und verhaften zu lassen.
Ein so temperamentvoller und aufrichtiger Mensch wie Friedrich Reck konnte nicht lange für seine Feinde unbekannt bleiben. Schon im Jahre 1934 begann der ländliche Ortsgruppenleiter Material gegen ihn zu sammeln, ja, er schrieb sogar zeitweilig jedes Auto, auf, das den Weg zu dem einsamen Gutshof herauffuhr. Er horchte die Bauern aus nach irgendeinem Wort, das Anlaß zu seiner Verhaftung hätte sein können, aber die Bauern kamen nach Einbruch der Dunkelheit auf Umwegen ins Haus, um zu warnen.
In unausgesetzter körperlicher und geistiger Arbeit sah Reck das einzige Mittel, diese unerträgliche Zeit zu überwinden. In Hof und Garten wurde geschafft, Obstbäume wurden gepflanzt, Brachen aufgeforstet, Brennholz geschlagen und verarbeitet. Dazwischen als kleine Ruhepause ein kleiner Spaziergang, ein Sprung zu den Kindern, eine kleine Musikstunde mit der geliebten Flöte, oder eine anregende Unterhaltung mit auch in schwersten Zeiten immer willkommenen Gästen. Einen halben Tag nahm die geistige Arbeit ein. Sprach- und Geschichtsstudien und dann die literarische Arbeit, die immer mehr erschwert wurde durch geschriebene und ungeschriebene Zensur, und die doch nicht stocken durfte, wollte er den Hof und die große Familie durch die Zeit steuern.
Das, was ihn im Leben und Schaffen am meisten bewegte, war das alte, unmenschliche Problem von Schuld und Sühne. Auch die meisten seiner Novellen und Tropengeschichten sind im Grunde nur Paraphrasen dieses Themas, freilich nicht langweilig und lehrhaft vorgetragen, sondern bunt und tönend wie das Leben selbst und auch ebenso tief ernst wie dieses. Mehr Freude machten ihm geschichtliche und kulturphilosophische Studien. »Ich stehe im Beginne einer Reihe geschichtlicher Arbeiten«, schreibt er einmal. »Ich möchte wohl einmal, wenn mir die Zeit bleibt, den großen Roman Altpreußens, sein Hinsterben in der Caprivizeit, den Untergang der alten Familien, den Einbruch des Neuwilhelminismus ... ich möchte das alles gern schreiben. Aber ich gestehe, daß vorerst mich andere Dinge beschäftigen. Die Gedanken kreisen um die Probleme des alten Reiches, um den Einbruch der Renaissance in die gotische Welt, um das Auftauchen des Sachlichen Neuzeitmenschen, um 1789, um das Auftauchen und Verblassen des girondistischen Weltbildes ... Um die seit 25 Jahren für mich unumstößliche Gewißheit neuer geistiger Evolutionen. – Das bißchen Arbeit war Arbeit eines Menschen«, so heißt es weiter, »der an der Lötfuge zweier Zeiten geboren wurde, es war in diesem Sinne Symptom, Ahnen, Ertasten der Zukunft. Erkenntnis, daß es »Erkenntnisse‹« – im Sinne des 19. Jahrhunderts! – »nicht gibt, daß das, was wir so nennen, abhängig ist von unserem metaphysischen Mitschwingen, daß, in diesem Sinne, unsere entscheidenden persönlichen Erlebnisse wohl noch vor uns liegen.«
Das, was schon wie ein Schatten über seiner Kindheit durch Ahnungen gelegen hatte und ihn durch sein ganzes Leben begleitete und bedrückte, war das Wissen von der Grausamkeit des Lebens, von der Brutalität und Roheit der immer mehr aus verschüttet geglaubten Tiefen zur Herrschaft gelangenden Urroheit, von der Bedrohtheit und Hilflosigkeit alles Edlen und Feinen. Je mehr ihn diese Probleme quälten, desto mehr verfestigte sich in ihm die Gewißheit, daß Selbstlosigkeit und Selbstaufopferung im Sinne des Christentums der einzige Weg zur Rettung seien, sowohl der Rettung des Einzelnen, als auch der unserer bedrohten Kultur. Und er wußte, daß Worte verpflichten und daß er die Erkenntnisse, die er in all seinen Arbeiten, großen und kleinen, vertrat, mit dem Tode würde besiegeln müssen. Wie sehr ihn die Vorahnung seines so grausamen Endes beherrschte, erfand man nach seinem Tode unter anderem auch in seiner Bibel, in der er jene Stelle des Gespräches Christi mit Petrus drei- und vierfach an- und unterstrichen war, in der es heißt:
»Wahrlich, wahrlich, ich sage Dir: Da du jünger wärest, gürtetest du dich selbst, und wandeltest, wo du hin wolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein Anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst.«
Sein Schicksal erreichte ihn ganz kurz vor dem Zusammenbruch des Regimes, Irgendein schnöder Denunziant brachte die Lawine ins Rollen. Am letzten Dezembertag wurde er verhaftet und nach Dachau verschleppt. »Ein Urteil? Ein Urteil gibt es nicht, denn es handelt sich ja um keine Strafsache«, so erklärte man seinen Angehörigen auf der Gestapo wörtlich. Sie erfuhren, daß er unter »Soriderbehandlung« stehe, und im März teilte man ihnen mit, er sei bereits im Februar »gestorben«. Einen Teil seiner Sachen händigte man seiner Frau aus. Vieles fehlte, aber ein Brief war dabei, der zeigte, daß er am Ende doch vermocht hatte, Haß und Verbitterung, jenen »Krebsschaden der Seele«, der ihn all die letzten Jahre verfolgt hatte, zu überwinden und sein Leben dem zu opfern, dem zu dienen stets sein tiefstes Streben war. Im Schluß dieses Briefes heißt es:
»… wollt ihr mein Andenken ehren, so vergeltet Böses mit Gutem, ja, mit tätiger Hilfe.«
Gut Poing, Oberbayern, im September 1946.
Irmgard Reck-Malleczewen