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Auf Schloß Tortuga

Überraschungen. – Das Wiedersehen der Brüder. – Wer die Flibustier waren, und weswegen sie die Spanier haßten. – Vor großen Unternehmungen. – Die Pulverkammer der Festung. – Meuterern auf der Spur.

 

O nein, er hatte nicht übel geruht in dieser ersten Nacht. Das Lager war bequemer gewesen als die Hängematten auf Seiner Majestät Fregatte, und der vorangegangene Tag hatte der Abenteuer wahrhaftig genug gebracht, um ihn sanft einschlummern zu lasten, trotz des schlimmen Wortes, mit dem Lussan ihn gestern verlassen: Flibustier! Wenn man in Europa diesen Namen nannte, so hatte man eben an wildes Raubgesindel gedacht, das da irgendwo in der Nähe der Neuen Welt auf seinen Inseln saß und sich aus aller Herren Ländern zu einer blutgierigen, vertierten Gesellschaft zusammengefunden hatte, die alles Spanische mit unbeschreiblicher Grausamkeit verfolgte. Gewiß, so hatten diese Flibustier gestern die »Santa Maria« überfallen, die ihn und seinen Bruder nach Amerika hatte bringen sollen, so hatten sie den freundlichen Pater getötet und all die tapferen Schiffsoffiziere, und so hatte dieser Seeräuberführer, dieser Morgan, Justus mißhandelt. Und dann wiederum: dieser wie ein europäischer Edelmann aussehende de Graff, der alle Greuel verboten hatte, und den man gar Kommodore und Exzellenz nannte! Nein, es wollte sich eines zum andern nicht finden, und der junge Deutsche konnte des Staunens und Sinnens kein Ende finden.

Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Der Neger von gestern in seinem roten Rock, stumm wie eine Sphinx, brachte ihm das Frühstück auf einem getriebenen Silberbrett und verschwand wieder lautlos, wie er gekommen war. Alles schien verzaubert in diesem Schloß! Georg kleidete sich rasch an und ging zu dem hohen Bogenfenster, das die Formen der neuen italienischen Bauweise zeigte und lustig durch seine Scheiben die warme Frühsonne aus den Steinboden fallen ließ. Sein Blick fiel auf einen Hof, der nach südländischer Art mit steinernen Laubengängen rings umgeben war, dessen Mitte man aber in einen blühenden Garten umgestaltet hatte. Magnolien und seltene Orchisblumen leuchteten aus dem Grün, und aus der Mitte sandte ein Springbrunnen wohl haushoch einen Silberstrahl in die Luft.

Er hörte ferne Tritte auf dem Gang vor der Tür und wollte sich wieder abwenden. Aber da fesselte ihn etwas Neues da unten in dem bunten, kleinen Paradies. Aus den Steingängen heraus traten in lebhaftem, fröhlichem Gespräch Menschen. Neben einer hochgewachsenen jungen Dame, die ein zierliches Mädchen an der Hand führte, und der ein zierliches Bologneserhündchen spielend die Schleppe trug, schritt ein schwarzgekleideter Mann. Es bedurfte keines langen Hinschauens, Georg erkannte sofort de Graff wieder, den rätselhaften Gebieter dieses Schlosses und dieser rotbehemdeten wilden Menschen. Hellebardenträger schritten wie die Leibwache eines europäischen Herrschers hinter dem Paar einher.

In diesem Augenblick hatten sich Schritte auf dem Gange der Tür genähert, in dem großen Eisenschloß drehte sich der Schlüssel, und Lussan stand vor ihm. »Ihr wolltet doch nicht fliehen?« fragte er den sich weit aus dem Fenster Hinausbeugenden. »Versucht dergleichen nicht und meidet auch falschen Verdacht«, fügte er ernsthafter hinzu; »unsere Wachen auf den Wällen haben zu dieser Zeit die schärfsten Befehle. Nun aber bitte ich Euch, mir zu folgen.«

Er öffnete die Tür, und sie gingen den Gang entlang, den sie am Abend zuvor gekommen waren. Hier erwartete den jungen Deutschen eine neue Überraschung. Die dem friedlichen Garten abgewandte Seite dieses Ganges war durch hohe Bogenfenster unterbrochen, und durch diese Fenster sah man auf eine nicht allzugroße Bucht, die auf drei Seiten von hohen Felswänden umgeben war. Georg, der ebenso wie sein Bruder Justus nach des Vaters Wunsch auf der Utrechter Hochschule auch die mathematischen Wissenschaften gepflegt und von des berühmten Festungsbaumeisters Vauban unübertroffener Ingenieurkunst gehört hatte, übersah es sofort, daß diese Seite des Schlosses ganz anderen Zwecken diente als dem Lustwandeln eines glücklichen Paares. Kammern waren in die Felswände gehauen, aus denen, Batterie an Batterie, die Läufe unzähliger Geschütze blitzten. So geschickt hatte man ihre Stellungen gewählt, daß das Spiel dieser Feuerschlünde auch nicht einem einzigen feindlichen Schiff ungestraft die Einfahrt in die Bucht gestattete. Und – eine neue Überraschung – auf dem Wasser lag, Schiff bei Schiff, eine starke Flotte, wohl zwanzig Linienfahrzeuge schwerster Bewaffnung. Gar nicht so weit von dem Auge des neugierigen Beschauers war das alles entfernt, und deutlich konnte Georg die Rothemden auf dem Deck auf- und abgehen sehen. Maler hingen mit ihren Tiegeln an den Rümpfen und tünchten die Wände neu, und flinke Segelmacher liefen wie Eichhörnchen in der Takelung auf und ab, hie und da die Blöcke schmierend oder ein Tau auswechselnd. Bis zum Schloß herauf drang der Lärm der geschäftigen Menschen, die diese Flotte offenbar für eine weite Fahrt rüsteten.

Der junge Offizier, der doch am letzten Abend noch so sorgfältig die Geheimnisse dieser Burg zu wahren gesucht hatte, ließ ihn jetzt ruhig eine Weile dieses bunte Bild schauen. »Betrachtet's nur in Muße, Herr, heute ist's mir nicht mehr verwehrt, Euch diesen Anblick zu gestatten. Aber dennoch, kommt nun, der Herr Bruder erwartet Euch wohl.«

An der anderen Seite dieses wohl hundert Meter langen Ganges lag das Gemach, in das man gestern den verwundeten Justus gebettet hatte. Nun lächelte er schon ganz vergnügt, nur ein wenig bleich noch von dem Blutverlust, dem Bruder entgegen. Weniger herzlich, als sie sonst wohl nach den Fährnissen des vergangenen Tages getan hätten, begrüßten sich in Gegenwart des fremden Mannes die Brüder, zumal Lussan sofort mit dem gestern angekündigten Verhör begann. Im Namen des Kommodores aller Flibustier und als sein Beauftragter fragte er sie, wie sie als Deutsche auf das spanische Schiff gekommen seien, ob sie eine Gemeinschaft mit den Spaniern gehabt, und wohin die Reise sie hätte führen sollen.

Da erzählte denn Justus, als der Ältere der beiden, diese sonderbare Geschichte; wie sie aus ihrer westfälischen Heimat hierher verschlagen worden seien, wie sie noch vor Jahresfrist beide Schüler der berühmten Utrechter Hochschule gewesen seien, und wie dann der Vater, des westfälischen Kreises Kaiserlicher Oberrichter Balthasar von Owelglas, es gewünscht habe, daß sie an den Dingen der Neuen Welt ihren Einblick weiteten. Einen älteren Bruder habe der Vater, berichtete Justus weiter, und niemand daheim habe diesen Bruder gekannt; denn er sei schon vor vielen Jahren, als der große Krieg noch Deutschland verwüstet habe, in hispanische Dienste getreten, allwo er nun Gouverneur aller Güter sei, die des spanischen Königs Majestät im Lande Peru und vornehmlich in der Kolonie Panama besäße, von der Herr Lussan gewiß schon gehört habe. Er merkte es nicht, daß Lussan bei diesen letzten Worten ein wenig lächelte, und fuhr dann fort in seiner Erzählung: Der Vater habe nun diesem Oheim geschrieben, und dessen Fürsprache sei es zu verdanken, wenn sie auf der nächsten nach Colon in der Provinz Panama absegelnden Königlichen Fregatte eine Reisegelegenheit gefunden hätten, um den Ohm für ein Jahr oder zwei zu besuchen. Das sei die volle Wahrheit, und wenn man ihnen nicht glaube, so werde man es eben aus dem Begleitbrief sehen, den des Kaisers Majestät ihnen ausgestellt habe.

Aber als Justus nach jener Ledertasche suchte, die er mit dem Schriftstück seit der Ausreise auf der Brust getragen, fand er sie nicht mehr. Lussan lächelte wieder und fragte: »Und jener Priester, auf dessen Wunsch Ihr das Gold der ›Santa Maria‹ versenktet, war Euer Freund?«

»Der geistliche Herr war der Schiffsprediger der ›Santa Maria‹ und war uns beiden ein freundlicher Reisegenosse, dessen Mörder Gott strafen möge! Hätte er es mir nicht befohlen, ich hätte das Gold aus eigenem Antrieb versenkt, damit es nicht in eure Hände fiele.« Er hatte die letzten Worte mit rasch aufflammendem Zorn gesprochen, den die Erinnerung an den gestrigen Tag in ihm aufwallen ließ. Lussan runzelte ein wenig die Stirn. »Ihr sollt nicht glauben, daß wir einzig und allein eures spanischen Goldes wegen auf die ›Santa Maria‹ lauerten; wir haben noch andere Gründe, hispanisches Blut fließen zu lassen, Ihr könnt es mir glauben!«

Justus merkte wohl, daß er den jungen ritterlichen Offizier mit der Anspielung auf die vermeintliche Habsucht der Flibustier beleidigt hatte. Eine peinliche Pause entstand, die schließlich Lussan mit der Liebenswürdigkeit des vollendeten Edelmanns unterbrach. »Es freut uns dennoch, daß Ihr uns nichts verhehlt habt. Was Ihr soeben berichtet, war uns schon heute in aller Frühe bekannt, und ich gebe Euch hiermit zurück, was Euch gehört, und was wir Euch gestern, als Ihr ohnmächtig hier laget, abgenommen haben.«

Er reichte Justus die eben vermißte Ledertasche zurück. Wirklich, da war er ja wieder, der von Kaiser Leopold höchst eigenhändig unterzeichnete Geleitbrief, der »seines vielgeliebten Oberrichters Balthasar von Owelglas Söhne, so sich zu besserer Umsicht und Edukation in das Land Panama begeben, allezeit, zu Wasser und zu Lande, Hilfe und Subvention« erbat.

»Es freut mich«, fuhr Lussan fort, »daß Ihr uns eure Beziehungen zu dem spanisch gewordenen Oheim nicht verheimlicht habt. Seine Exzellenz ist von Eurer Ehrlichkeit hienach überzeugt und bietet Euch infolgedessen statt der Kerker dieser Burg, in die ihr im andern Falle gewandert wäret, ritterlich Gefängnis auf Schloß Tortuga an, bis ein holländisches Schiff die Insel anläuft, das euch in die Heimat zurückbringen könnte. Sollte ein solches Schiff in den nächsten Tagen Tortuga aber nicht anlaufen, so müßtet ihr, so leid es uns täte, uns auf einer Unternehmung begleiten, die dann ihren Anfang nimmt. Außer einer besonders erlesenen Wache darf niemand in der Burg bleiben, wenn Seine Exzellenz selbst abwesend ist.«

Nun hielt es Georg, der bislang Rätsel auf Rätsel dieser sonderbaren Umgebung an seinem Auge hatte vorüberziehen sehen, nicht länger. »Herr de Lussan«, begann er, »Ihr habt uns nach jeder Richtung hin ausgefragt und verhört. Sagt mir nun endlich auch, was es auf sich hat mit euch Flibustiern und dem Herrn dieses Schlosses, den Ihr Exzellenz nennt. Wir hörten bislang nur, daß Flibustier Seeräuber seien, die keines Gefangenen Leben verschonen. Sollen wir jetzo bei Euch ritterlich Gefängnis nehmen, so ziemt es sich wohl, daß Ihr uns aufklärt, mit wem wir es eigentlich zu tun haben!«

Da erfuhren denn in der Frühstunde dieses blendend hellen Junitages die beiden Brüder, in wessen Hände sie gefallen waren. Der junge Offizier erzählte ihnen, wie noch vor einem Jahrhundert diese Insel von friedlichen Stierjägern bewohnt gewesen sei, die sich nach ihrem Handwerk »Bukanier« genannt und ihre Hemden mit dem Blut der getöteten Tiere gefärbt hätten, davon noch heute die Flibustier als ihre Nachfolger blutrote Hemden trügen. Und weiter erfuhren sie, wie die Spanier, als die ersten Herren dieser Insel, jene armen Jäger unmenschlich unterdrückt hätten, gerade so unmenschlich, wie sie es heute noch in dem Lande Peru mit den armen Indianern des verfluchten Goldes wegen täten. Lussans Stimme begann plötzlich in seltsamer Erregung zu erbeben. Die Bedrängten hätten sich damals in einem Bündnis zusammengetan gegen die Spanier, und sich Flibustier genannt. Niemand wisse heute mehr, woher dieser Name käme, aber gewiß sei, daß sie an den Spaniern sich blutig gerächt hätten; in den Wäldern dieser Insel stehe so mancher Baum, daran ein hispanischer Blutsauger geknüpft worden sei. Es wäre dann die Zeit gekommen, wo die Republik Holland in Europa für ihre Freiheit mit den Spaniern Krieg geführt habe. Damals habe Holland sich der Flibustier hier angenommen und ihnen Schiffe und einen Admiral und Gouverneur geschickt, damit sie die Spanier angriffen, wo sie ihren Schiffen begegneten. Der Vorgänger des jetzigen Gouverneurs habe dieses Schloß gebaut von holländischem Gelde, und die Kanonen draußen hätten schon einmal die Spanierflotte heimgeschickt. Die Flibustier aber, was sie auch seien, Holländer, Deutsche, Franzosen, Engländer, Wallonen, hätten sich aus allen Teilen der Welt zusammengefunden, um die Unbill zu rächen, die durch den spanischen Golddurst in die Welt gekommen sei, und jeder hätte seinen besonderen Grund, Rache an den Kastilianern zu nehmen.

Immer erregter ging Lussan im Zimmer auf und ab. »Da, wo eure westfälische Heimat im Westen an die meine stößt, stand einst ein Schloß, das den Namen meiner Familie trug. Geht nur hin und seht euch das elende Dorf und die Trümmer an, die geblieben sind. Lest es in den Kirchenbüchern nach, wie vor hundert Jahren die Spanier meinen Großvater folterten, seine Gattin nebst zwei unschuldigen Kindlein verbrannten, das Schloß in Asche legten, die Fluren verwüsteten, alles nur, weil wir unter Wilhelm von Oranien für Hollands Freiheit gegen die hispanische Tyrannei fochten! Geht doch und fragt diese rohen Kerle selbst, die euer Schiff enterten, – dem einen ist's ähnlich ergangen wie meiner eigenen Familie, der zweite ist spanischen Diensten entlaufen, weil er von des Königs Generalen um den kargen Sold betrogen worden ist, der dritte hat gesehen, wie sie drüben in Amerika ihre Zivilisation verbreiten mit Feuer und Schwert und dem Richtbeil. Ich sage euch, da ist keiner, der nicht wüßte, warum er diese Spanier wie den Tod haßt!«

Er hatte sich, des Loses seiner Familie gedenkend, in hellen Zorn geredet. Eine Weile schwiegen die beiden Brüder zu diesem Bekenntnis, bis ein kriegerischer Lärm draußen das Brüten des Tropentages unterbrach. Feldmusik, wie die eines europäischen Heeres, zog unten vorbei, und als Justus, auf Georgs Arm gestützt, ans Fenster trat, füllte sich der schmale Platz, der dort unten zwischen den Bollwerken und den Mauern des Schlosses lag, mit wohlgeordneten Vierecken bewaffneter Flibustier, jedes seinen Führer ein paar Schritte vor der Front. Beide Brüder erbebten im Gedenken an die Schrecken des gestrigen Tages; der ihnen da mit seinen Leuten zunächst stand, in selbstgefälliger Haltung, den Sponton Offiziersstock. in der Hand schwenkend, war kein anderer als dieser Morgan, dessen Blutdurst sie am Tage vorher mit knapper Not entgangen waren. Es schien ihnen übrigens, als erkenne der Mensch da unten die Beobachter dieses Schauspieles.

»Seht ihn euch nur genau an«, sagte Lussan, der neben ihnen stand, »und wenn ich euch gut raten darf, nehmt euch in acht vor ihm. Er ist der älteste Flibustierkapitän, und keiner hat so viele spanische Schiffe versenkt wie er. Aber er ist ein grausamer, roher Mensch, und dürfte es euch nicht vergessen, daß er seine Wut nicht an euch auslassen konnte.«

In diesem Augenblick schmetterte eine Trompete das nämliche lustige Signal, das gestern die Ankunft des Kommodores angezeigt hatte. Und siehe, da betrat auch schon durch eine kleine, im Hintergrund liegende Tür, von einem stattlichen Gefolge und der Leibwache auch jetzt begleitet, de Graff den Platz. Deutlich konnten die Brüder seine blassen, durchgeistigten Züge sehen, als er von Viereck zu Viereck schritt, jedes musternd, an den Führer und wohl auch an diesen und jenen von der Mannschaft ein paar Worte richtend. Mochte es nun eine Täuschung oder die Wahrheit sein, – als de Graff vor Morgan trat, schien sich wieder dies rohe Gesicht mit der tiefen Narbe für einen Augenblick in unaussprechlicher Abneigung zu verzerren.

Dann trat der Kommodore vor die Mitte der versammelten Mannschaft und hielt eine Ansprache, von der der Seewind den drei Beobachtern oben hin und wieder ein Wort zutrug, ohne daß sie indes den Zusammenhang erraten konnten. Wie ein europäischer General vor der Schlacht zu seinen Truppen, so sprach dieser rätselhafte Mann da unten, und brausender Jubel antwortete ihm aus dieser Schar, die aus den verschiedensten Völkern der Welt zusammengeströmt war und sich doch so völlig dem Willen dieses Einen unterwarf.

Lussan blickte stolz auf das glänzende Bild. »Seht nur auf diese Leute da unten. Die Waffen haben uns die Holländer gegeben, gewiß, aber der Wille, der jeden beseelt, und die Zucht, die sie zusammenhält, ist unser Werk. Die Flibustier sind heute so mächtig wie ein europäischer Staat, und was sie morgen unternehmen, wird vielleicht eure alte Welt da drüben staunen machen. Möglich, daß ihr Zuschauer werdet dabei.«

Unten setzte abermals die Feldmusik ein, und de Graff verließ den Platz wieder durch die Pforte, durch die er gekommen war. Gedankenvoll blickte Georg der schlanken, schwarzgekleideten Gestalt nach. »Gewiß«, sagte er, »Euer Herr hat als Edelmann an uns gehandelt und mag es auch sein. Aber nun haben wir am Ende ein Recht darauf, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen und ihm zu danken für seine Gastfreundschaft.«

Lussan war sehr ernst geworden, und fast streng blickten seine Augen. »Wer wie dieser Mann da unten Tausende verschiedensten Blutes zusammenhalten will, darf sich so oft nicht zeigen, wie ihr denkt und wünscht. Monate vergehen, ehe ein Flibustier ihn sieht. Vor seinen Türen stehen mehr Wachen als vor denen des Kaisers in der Wiener Hofburg. Erinnert ihr euch vielleicht, daß wir schon, bevor euer Schiff gestern gekapert wurde, wußten, daß die ›Santa Maria‹ Gold führte?« Er weidete sich einen Augenblick an dem Erstaunen der beiden jungen Leute, die sich dieser Tatsache wieder erinnerten. »Ermeßt daran, wieviel geheime Agenten wir in den europäischen Kanzleien haben, und wieviel Fäden in den Händen jenes Mannes zusammenlaufen. Ich glaube nicht, daß er in den nächsten Tagen Zeit finden wird, euren Dank anzuhören. Aber ich sagte euch schon, läuft in den nächsten Tagen kein Schiff der holländischen Marine diesen Hafen an, so werdet ihr uns wohl oder übel begleiten müssen. Dann werdet ihr den Kommodore vielleicht handeln sehen und Dinge erleben, die ihr den ›Seeräubern‹ nicht zugetraut hättet.«

Georg wollte erwidern und noch einmal versuchen, irgend etwas über die Pläne zu erfahren, die Lussan immer wieder andeutete, und zu denen diese Parade da unten im Hofe nur den Auftakt zu bilden schien. Aber da war wiederum der geschmeidige junge Offizier mit seinem leichten Gruß zur Türe hinaus, und abermals blieben die beiden Deutschen mit einer Reihe unbeantworteter Fragen allein.

 

In den Aufzeichnungen des Justus von Owelglas über seine merkwürdigen Abenteuer – Papieren, die einer seiner Nachkommen vor noch nicht so langer Zeit auf Schloß Papenbrook im münsterischen Kreise sorgfältig geborgen in dem alten Kirschholzschreibtisch des Ahnen fand, – in diesen Papieren ist verhältnismäßig wenig verzeichnet über die folgenden Tage, die die beiden Brüder auf Tortuga verbrachten. Sicher ist, daß sie beide sich vollkommener Freiheit erfreuen durften, daß Justus' Wunde rasch heilte, wie eben die Wunden Zwanzigjähriger zu heilen pflegen, und daß er bald den Bruder begleiten konnte, wenn Lussan ihnen eine müßige Stunde widmete und mit ihnen Wälle und Bollwerke, Gewölbe und unterirdische Verliese des Schlosses Tortuga besuchte. Diese Verliese – ach, es waren furchtbare Räume, jetzt noch voll stummen Grauens, wo doch kein Spanier mehr hier unten saß! Bis tief unter den Meeresspiegel schienen die unterirdischen Kammern des Schlosses zu gehen, denn deutlich hörten die Brüder, als sie einst die zweihundert Stufen zu den Gefängnissen hinabstiegen, die Meereswellen an die triefenden Felswände schlagen. Dann leuchtete der junge Offizier mit der Fackel auf den Boden dieser Räume, in denen sie nur gebückt stehen konnten; enge Schächte öffneten sich dort zu grausigen Tiefen, auf deren Grund ein Wasserspiegel den Schein des Lichtes matt zurückwarf. »Ihr habt gesehen«, sagte Lussan, »daß es heute bei uns ohne Blutvergießen abgeht. Früher aber, unter dem Vorgänger de Graffs, hat mancher spanische Blutsauger da unten sein ruchloses Leben gebüßt.«

So vergingen den Brüdern die nächsten Tage unter den vielen neuen Eindrücken rasch. Schmerzlich blieb nur, daß jenes holländische Schiff, das man erwartet hatte, nicht zu kommen schien. Es war am sechsten Tage ihres Aufenthaltes auf Tortuga, als sie bei drückender Schwüle, die ein heraufziehendes Wetter befürchten ließ, am Hafen standen und ein ungewöhnlich reges Treiben bei den Schiffen wahrnahmen; die ehemalige Mannschaft der »Santa Maria« lief mit schweren Lebensmittelsäcken zwischen den in den Bollwerken untergebrachten Vorratskammern und den Schiffen hin und her. »Herr«, antwortete einer der ihnen bekannten Matrosen auf Justus' Frage, »es scheint, daß sie heute oder morgen auslaufen wollen; meiner Treu, sie nehmen Vorräte für ein Jahr mit, wie mich dünkt! Uns aber will man heute, wenn wir die Schiffe beladen haben, nach einer andern Insel schaffen, weil hier in der Burg kein Fremder bleiben darf.« Die beiden Brüder sahen sich betroffen an. Auch Lussan hatte ihnen ja gesagt, daß nur eine erlesene Besatzung in des Kommodores Abwesenheit auf Tortuga bleiben dürfe. Als sie, ungewiß über ihre eigene Zukunft, nach ihrem Zimmer zurückgingen, stießen sie auf Lussan, der sie eben hatte aufsuchen wollen. »Der Herr Kommodore«, sagte er, »läßt euch bitten, sich sofort reisefertig zu machen. Er ist entschlossen, schon heute aufzubrechen, und da ihr, wie ich euch schon sagte, nicht hier bleiben könnt, so habt ihr die Wahl, euch der Unternehmung anzuschließen oder mit der Mannschaft der ›Santa Maria‹ auf eine andere uns gehörige Insel hier in der Nähe bis auf weiteres überzusiedeln. Allerdings möchte ich euch sagen, daß ihr dort nicht so gute Unterkunft finden werdet wie hier; auch ist die Aussicht, daß ein Holländer jene andere Insel anläuft, nicht groß. Am Ende sind wir früher zurück, als ihr von dort aus eine passende Gelegenheit findet, nach Europa zurückzukehren.«

Er ließ die beiden Brüder zur Beschlußfassung allein. In Justus begann sich die Abenteuerlust mächtig zu regen, und wenn auch der bedächtigere Bruder einwandte, daß sich hinter dieser Liebenswürdigkeit, mit der man sie hier behandelte, am Ende irgend eine unangenehme Überraschung und zum mindesten ein gefährliches Abenteuer bergen könne, so war doch auch ihm die Aussicht, auf einer öden und vielleicht vom Fieber heimgesuchte« Insel eine ungewisse Frist abwarten zu müssen, wenig verlockend. So kam es denn, daß sie am Nachmittag noch durch den farbigen Diener Lussan mitteilen ließen, sie wollten sich beide der Flibustierunternehmung anschließen.

Es war Abend schon, und am Osthimmel stand das erwartete Gewitter, als das Schiff mit der Mannschaft der »Santa Maria« den Hafen verließ. Die Flotte selbst schien reisefertig. Jedenfalls lagen vor den beiden größten Schiffen, dem »Egmont«, von dessen Großmast die Kommodoreflagge wehte, und vor dem fast ebenso großen »Ulenspeegel« Ruderboote, um beide Fahrzeuge aus dem Hafen zu schleppen. Eine kleinere, schnellsegelnde Kuff Stumpf gebautes Schiff. lief zu dieser Stunde schon aus, ohne daß die Brüder von den schweigsamen Flibustiern etwas über den Grund dieses Aufbruchs erfahren konnten. Die übrigen Schiffe schienen erst später aufbrechen zu sollen, denn sie lagen noch fest vertäut an ihren Ankerplätzen.

An Bord der beiden zur Abfahrt bereiten Linienschiffe summte es wie in einem Bienenkorb vor dem Schwärmen. Die Wachen waren schon verteilt und hatten ihre Posten bezogen, die Segel wurden losgemacht, und über die Laufstege trug jetzt ein langer Zug von Rothemden andere Lasten als Lebensmittelvorräte: einen schwarzen Ledersack hatte jeder auf dem Rücken, und an dieser damals üblichen Packung erkannten die beiden leicht, daß die Schiffe ihr Pulver faßten. Ah, da blitzten sie auch schon in den letzten Strahlen der von der Wetterwolke halbverdeckten Sonne, diese furchtbaren Geschütze, von denen der junge Offizier der »Santa Maria« gesprochen. So gewaltig erschienen Justus diese Feuerschlünde, daß es ihm sehr bald klar war, weswegen man sie aus Messing gegossen hatte, und nicht, wie sonst üblich, aus Eisen: allzuschwer hätten sonst diese im Bug untergebrachten Rohre den Rumpf der auf schnellstes Segeln und Überholen des Gegners gebauten Schiffe belastet. Kopfschüttelnd blickten die Brüder auf die ungeheuren Pulvermengen, die man an Bord schaffte. »Sie scheinen sich nicht für ein paar Wochen, sondern für einen ganz langen Seekrieg vorzubereiten«, sagte Georg nachdenklich.

 

»Wo diese Mengen nur herkommen«, meinte Justus, den langen Zug der Leute mit ihren, Lasten überblickend. »Sieh nur dorthin, es scheint, als kämen sie mit ihren Säcken aus der Erde. Ich will mir doch diese merkwürdige Schatzkammer einmal ansehen! Geh nur in unser Zimmer voraus«, fügte er hinzu, als der erste Donner über die bleigraue Bucht grollte, »ich komme sehr bald nach.« Er war im Gestrüpp am Fuß der Burg verschwunden, ehe Georg ein Wort erwidern konnte. Dieses Gestrüpp flankierte zu beiden Seiten den Weg, den die Pulverträger entlangkamen, so daß er sich unbeobachtet vorwärtsschleichen konnte. Einmal machte dieser Weg eine Biegung und senkte sich dann, immer tiefer in den ebenen Boden einschneidend. Er schien auf einen Hügel zuzuführen, aus dessen Grün hin und wieder graues Felsgeschröff hervorsah, und dessen Haupt von Bollwerken der Burg gekrönt zu sein schien, die Justus gänzlich unbekannt vorkamen. Wie er vermutet hatte, führte der Weg an seinem Ende nicht in ein Gebäude, sondern in ein Gewölbe, das offenbar in die Felsen dieses Hügels gehauen war. Übrigens hatte es jetzt den Anschein, als sei das Pulverholen nun beendet; denn der lange, ununterbrochene Zug der Sackträger war zu Ende, und nur noch ein weißhaariger Alter kam mühsam mit seiner Last eine Strecke hinter den anderen seines Weges. Dennoch, obwohl keiner mehr diesem Alten folgte, blieb die schwere Eisentür, mit der der Eingang verschlossen werden konnte, weit geöffnet. Irgend jemand muß doch noch drinnen sein, dachte Justus. Das Abenteurerblut, das er wohl von seinem Großvater selig geerbt, der unter Wallenstein und sogar noch unter Tilly gefochten, ließ ihm beim Anblick dieses geheimnisvoll in die Tiefe führenden Einganges keine Ruhe, er benützte diesen Augenblick, in dem der Weg ganz einsam blieb, schwang sich blitzschnell von den erhöhten Seitenrändern des Weges zur Pforte hinab und stand gleich darauf in der unterirdischen Vorratskammer.

Stockdunkel war es hier unten, und erst allmählich, als seine Augen sich ein wenig an das schwächere Licht gewöhnt hatten, gewahrte er einen schwachen Schimmer, der von oben durch einen eingehauenen Schacht in den Raum fiel. Natürlich: mit Licht darf man in diesem Raum nicht hantieren, dachte er sich und sah auf die ungeheuren Wände jener schwarzen Säcke, die man hier aufgestapelt hatte. Diese Holländer schienen die Burg für eine Jahre währende Belagerung versehen zu haben. Er dachte darüber nach, auf welchem Wege dieses Lager wohl von oben, von der Festung her, erreichbar sei, als er heftig zusammenschrak. Zwei Menschen schienen außen den Weg entlang zu kommen, und gleich darauf, während er sich dicht an die Innenwand des Raumes drückte, hörte er die zornige Stimme eines Flibustiers, der offenbar einen lässigen Kameraden schalt. »Du hattest strenge Weisung, Jan, dich nicht von dieser Tür zu rühren, und hast natürlich wieder einmal bei den Frauenzimmern deine Zeit verschwatzt. Unaufmerksame Wachen hing man früher auf Tortuga schon beim erstenmal an den Galgen, merk dir das!« Justus hörte noch, wie dieser Scheltende, der den unaufmerksamen Türhüter mit so strengen Worten anließ, irgend etwas über das neue Regiment auf Tortuga brummte, unter dem alles drunter und drüber ginge. Aber dann fuhr Justus in eisigem Schrecken zusammen; dicht neben ihm fiel die zentnerschwere Eisentüre in ihre Fugen, und gleich darauf drehte sich kreischend der Schlüssel in dem rostigen Schloß. Er war allein in dem unterirdischen Gewölbe, das man wegen seines gefährlichen Inhalts nicht allzu oft betrat.

Was tun? Er sah nach der Öffnung hinauf, durch die jener spärliche Lichtschein drang. Aber er erkannte sofort, daß dieser Schacht gut haushoch über dem Pulverkeller lag, unerreichbar für ihn. Der schwarze Raum gähnte ihn au und jagte ihm die eisigen Schrecken des Lebendigbegrabenseins ins Blut. Und er gedachte mit Grauen jenes schaurigen Fundes, den man kurz vor ihrer Abreise daheim auf Schloß Papenbrook gemacht hatte; dort lag unter dem täglich benützten Keller ein zweiter, der früher Wein geborgen, dann aber, als Deutschland nach dem Krieg so verarmt war, allenfalls mit Gerümpel gefüllt und aus diesem Grunde seit Jahrzehnten nicht mehr betreten worden war. Als man ihn vor kurzem geöffnet, da hatte man neben einem der großen leeren Mutterfässer einen der Diener des Großvaters gefunden, der, so erzählten die Ältesten im Schlosse, vor Jahrzehnten spurlos verschwunden war. Möglich, daß dieser arme Bursche dort noch einen guten Tropfen vermutete; man hatte unversehens die Tür oben verschlossen und die Rufe überhört. Nun hatte man in verrotteten Lumpen sein Skelett gefunden, die herabgebrannte Leuchte noch in der Hand.

An diese nicht eben ermutigende Geschichte mußte Justus denken, als er von neuem zusammenschrak. Waren das nicht Stimmen, Worte, die hier in diesem Raume, in weiter Ferne scheinbar, gesprochen und von den Deckgewölben des Raumes seinem Ohre wie in einer Flüstergrotte zugeworfen wurden? »Egmont?« ... Ganz deutlich hatte er jetzt die Worte verstanden, »Egmont«! Hier konnte es doch wohl nur den Namen des Admiralsschiffes bedeuten, das de Graff nach dem berühmten, von den Spaniern hingerichteten holländischen Freiheitshelden so benannt hatte. Da horch! Wieder ein paar geflüsterte Worte, unverständlich diesmal, weil der Donner des draußen niedergehenden Wetters sie verschlungen hatte. Vorsichtig begann Justus nach jener Richtung zu kriechen, aus der die Worte zu kommen schienen. – Du mußt dir für alle Fälle den Rückweg sichern, dachte er und tastete nach einem Halt in diesem Dunkel. Ihm zur Rechten griff wohl die Hand ins Leere, aber zur Linken fühlte er, hart und fest, einen sicheren Leiter für den Notfall, die Mauer der aufgestapelten Ledersäcke. Deutlich spürte er jetzt, als der Wind draußen mit dem einsetzenden Regen um die Hügel fuhr, einen kalten Luftzug. Offenbar hatte dieser unterirdische Raum mehrere Spalten, durch die er mit der Außenwelt in Verbindung stand.

Plötzlich, als draußen für einen Augenblick der Lärm des Unwetters schwächer wurde, fuhr er zusammen: in allernächster Nähe hatte er jetzt sprechen gehört!

Vorsichtig schob er sich noch einen Schritt weiter vor. Die Wand zur Linken hörte plötzlich mit einer scharfen Biegung auf. Als er den Kopf hob, sah er einen neuen Lichtschimmer von vorn aus der Wand kommen, mit der der Raum hier zu enden schien. In diesem Halbdunkel sah er jetzt die Schattenrisse von zwei Menschen, deren Gesichter freilich ganz und gar unkenntlich blieben.

»Verstopf doch das Loch droben, zum Teufel, ich sitze gerade unter der Regentraufe!« Holländisch waren diese Worte gesprochen worden. Dann erhob sich einer der Menschen, reckte sich zu dem Lichtspalt empor und schien der unwirschen Aufforderung des ersten nachzukommen. Es wurde plötzlich wieder dunkel, und der Luftzug, der vorher durch den Raum gefahren war, hörte auf. Den Kopf vorgebeugt, ganz dicht an das Ende des Sackstapels gedrückt, lag Justus da. Wo hatte er nur diese Stimme schon einmal in seinem Leben gehört, die da vorhin gesprochen? Vergebens strengte er sein Gedächtnis an; immer wenn er zu dieser Stimme, die er ganz gewiß schon einmal gehört, den Menschen gefunden zu haben vermeinte, ließ ihn plötzlich das Erinnerungsvermögen im Stich und er stand vor einem unlösbaren Rätsel. Dann war es wieder eine andere, höhere Stimme, die auf den ersten einredete: »Ich sage Euch, laßt jetzt lieber die Hand davon! Noch schwört außer Eurer Mannschaft die ganze Flotte auf ihn.«

»Unsinn!« unterbrach der erste. »Sie sind alle, auch die von den übrigen Schiffen, oft genug um ihren Lohn betrogen worden. Seit wann ist es auch Art des Bundes, sich solche Schätze ruhig entgehen zu lassen wie die von dem Spanier neulich! Glaubt mir, keiner vergißt ihm das! Ist er aber erst einmal besiegt, so fällt die ganze Flotte von ihm ab. Und daß das geschieht, dafür laßt mich und meine Leute sorgen!«

»Und dieser Menschen seid Ihr ganz sicher?«

Der erste, dessen Stimme Justus so bekannt vorkam, lachte auf. »Ihr seid ein Hasenfuß, sage ich Euch. Beim ersten Schuß sind seine Geschütze unbrauchbar, und er wird von dem Spanier zusammengeschossen, ehe er den Schaden überhaupt merkt. Und nun kommt aus diesem verdammten Kellerloch heraus, sonst vermißt man uns und schöpft Verdacht. Vorderhand jedenfalls scheint er mir noch ganz und gar nichts zu ahnen.«

Justus fühlte, wie das Blut in seinen Ohren sauste. Die Leute vor ihm erhoben sich. Nahmen aber diese Menschen, deren Stimmen nicht gerade auf Sanftmut schließen ließen, den Weg zur Tür zurück, so wurde er, der Zeuge eines offenbar sorgfältig gehüteten Geheimnisses, kaltblütig beseitigt und blieb für immer verschwunden in diesem Verlies. Dicht vor ihm regte es sich jetzt, und er fühlte die Nähe eines menschlichen Körpers. Tat der Mann jetzt nur einen einzigen Schritt rückwärts, so ... Doch nein! Schritte schlurften wohl über den rauhen Steingrund, aber sie schienen sich zu entfernen, und gleich darauf wurde es wieder hell. Wie ein Wurm krümmte sich Justus zusammen, um jetzt nicht entdeckt zu werden. Die beiden schienen es einigermaßen eilig zu haben. Er sah, wie der Größere den Kleineren, Untersetzten stützte, und wie sich dieser dann zu dem wieder geöffneten Spalt ächzend hinaufzog und mit einiger Mühe den nicht eben schlanken Körper hindurchzwängte. Der zweite schien behender und war in wenigen Sekunden dem Beobachter entschwunden. Gleich darauf vernahm Justus ein Scharren und Schieben, als wälzte man von außen etwas über den Spalt. Es wurde wieder dunkel wie zuvor, dann kamen die Stimmen der Männer wie aus einer anderen Welt, und endlich war alles still. Er war nun ganz allein in dem unterirdischen Raum.

Noch als es hell gewesen war, hatte er sich, so gut es ging, die Richtung eingeprägt, die er einhalten mußte, wenn er aus dem gleichen Weg wie diese Unbekannten entkommen wollte. Langsam, am Boden kriechend, schob er sich vorwärts. Einen Schritt und dann noch einen – seine Stirn stieß gegen die Wand des Raumes; hier mußte der Ausweg zu suchen sein. Er tastete die Wand ab. Sie bot ganz gute Tritte und Griffe, um daran emporzuklettern. Dort oben mußte er den Spalt finden. Er faßte aus dem kleinen Vorsprung, aus dem er stand, möglichst fest Fuß und fand bald, mit aller Kraft nach oben drängend, die Stelle, wo in der Decke ein platter Stein für einen Augenblick nachgab, so daß ein Lichtblitz die Umgebung erhellte. Noch einmal! Was den anderen geglückt war, mußte ihm auch gelingen! Und schließlich hatte er wirklich die lose Steinplatte, die den Ausgang zur Außenwelt verschloß, so weit zur Seite geschoben, daß er sich mühsam hindurchzwängen konnte.

Sie haben's mir schwerer gemacht als sich selbst, dachte er, als er aufatmend diesen Zugang von außen sich näher betrachtete. Offenbar sollte er keinem andern bekannt werden als denen, die eben durch ihn gekommen waren; lockeres Erdreich war auf die an sich nicht einmal so schwere Platte gestreut worden, und auch diese frisch aufgewühlte Erde hatte man sorgfältig mit grünen Zweigen bedeckt. Er blickte um sich; von dieser Seite kannte er die Burg jedenfalls nicht. Über ihm fielen die Mauern der Bastionen ganz steil in ungeheurer Höhe ab und streckten drohend die Langhälse ihrer Kanonen aus. Um ihn aber war dichtes Grün, das nach dem Tropengewitter in dem dichten Nebel der aufsteigenden Feuchtigkeit lag. Nun, war er aus dem Verlies da unten entkommen, so würde er sich auch unbemerkt aus dieser grünen Wildnis stehlen können! Da waren auch noch die Spuren der andern: geknickte Zweige und niedergetretenes Grün. Langsam folgte er den frischen Spuren.

Jetzt erst konnte er über die merkwürdigen Dinge nachdenken, die er eben belauscht hatte. Ein Anschlag war hier im Spiel, gewiß. Geschütze, die unbrauchbar gemacht werden sollten, – eine Mannschaft, die meutern wollte, die Spanier, der Flibustier geschworene Feinde, denen man trotzdem einen dieses Bundes ausliefern wollte, – nein, er konnte sich zunächst aus allen diesen Dingen keinen Vers machen. Gewiß, daß dieser eine, von dem die ganze Flotte abfallen sollte, nur de Graff sein konnte, das ließ sich wohl mit einiger Bestimmtheit annehmen. Wer aber war der, der diesen Mann zu Fall bringen wollte? »Er wird von den Spaniern zusammengeschossen, ehe er es merkt!« Diese fette, rauhe Stimme, die er doch schon irgendwo gehört hatte, klang ihm noch immer in den Ohren; und dann war es ihm doch wiederum, als wischte ihm eine Hand diesen unbekannten Menschen aus dem Gedächtnis, dessen Gestalt ihm soeben schon aus dem Dunkel irgendeiner vergessenen Begegnung aufzutauchen schien.

In diesem Nachdenken war er, mechanisch der Spur in dem nassen Grün folgend, dicht vor die Mauer gekommen. Eine ganz schmale Holzstiege führte hier, dicht an die Mauer angefügt, wohl dreißig Fuß hoch zu einer kleinen, schmalen Falltür. Er ging sie, noch immer in seine Gedanken versunken, hinauf und schrak dann zusammen, als die Tür dicht vor ihm aufgerissen wurde und ein paar nicht eben Vertrauen erweckende Gesichter ihm entgegenblickten. Rothemden, Flibustier waren es, und einen Augenblick schien es ihm, als wäre er auch diesen Leuten schon einmal begegnet. Der Raum aber, in den er sah mit seinen Holzpritschen und den an der Wand lehnenden Büchsen, war unverkennbar der Wachraum jener Bastion, die er eben über sich gesehen hatte.

»He, wo kommt Ihr her, und was treibt Ihr hier unten?« Der eine der beiden Leute hatte ihn beim Arm ergriffen. Er konnte die Frage nicht beantworten, weil der andere gleich von neuem zu fragen begann: »Und wie schaut Ihr aus? Ihr scheint in der Erde gewühlt zu haben.«

Justus sah in das mißtrauische Gesicht des riesengroßen Menschen, der ihn am Arm hielt, und blitzschnell fuhr es ihm durch den Sinn, daß er unter allen Umständen auch vor diesen da verheimlichen mußte, was er eben erlebt hatte. So antwortete er rasch, er sei von dem Unwetter auf dem Hügel da unten überrascht worden, und er habe sich unter einem Busch auf der Erde verborgen, sei aber durchnäßt und beschmutzt worden. »Im übrigen solltet Ihr mich loslassen«, schloß er, »ich bin am Ende Gast Seiner Exzellenz des Gouverneurs! Saht Ihr mich denn noch nicht?«

Der andere lachte roh. »Verflucht, ich habe Euch gesehen, kann ich Euch sagen, ich habe Euch gesehen! – Mir scheint, daß er lügt, Brandy«, wandte er sich zu seinem Gefährten, dessen feuerrote Nase nicht weniger rot als sein Hemd, dem Namen alle Ehre anzutun schien.

»Führe ihn vor den Kapitän und laß mich ungeschoren«, antwortete der Kerl und gähnte und reckte sich faul auf der Pritsche, auf die er sich gleich nach Justus' Eintritt wieder geworfen hatte.

»Den Kapitän fragen!« gab der erste zur Antwort. »Der Kapitän macht ein Gesicht heute, als müßte er einen noch aufknüpfen lassen. – Lauft in Teufels Namen noch diesmal«, wandte er sich an Justus, »aber laßt Euch nicht wieder in dieser Gegend hier blicken. Der Kapitän hat Weisung gegeben, daß niemand hier durchkommt.«

»Wer ist denn Euer Kapitän?« fragte Justus rasch; aber da hatte der andere ihn schon unsanft aus dem Wachraum gedrängt, und der junge Deutsche fand sich auf einem düsteren, verkommenen Hof der Festung, den er bisher noch nie betreten hatte. Schnell schritt er zwischen niederen, schmutzigen Baracken hindurch. Hie und da hörte er das rohe Schreien zechender Menschen. Die Leute, die ihm mit verkommen ausschauenden Weibern hier begegneten, sahen so wenig vertrauenerweckend aus, daß er ihnen in weitem Bogen aus dem Wege ging. So geordnet und freundlich fast diese seltsame Burg ihm bisher erschienen war, so verwahrlost schien dieser Teil und die Horde, die ihn bewohnte, und er war herzlich froh, als er durch einen Torbogen endlich einen der ihm bekannten Höfe erreichte.

Als er in das Zimmer trat, fand er Georg in begreiflicher Erregung über seinen Verbleib. Dennoch erschien es ihm geboten, das, was er dort unten gehört, zunächst den Nächstbeteiligten, Lussan, wenn nicht de Graff selbst, mitzuteilen, und so antwortete er dem Bruder auf seine Fragen ausweichend, daß er sich bei dem Unwetter unter einem Busch verborgen gehalten habe.

Georg merkte die Notlüge nicht. »Es ist hohe Zeit, daß wir an Bord gehen. In einer Stunde, heißt es, sollen wir auslaufen. Du weißt wohl schon, daß wir auf dem ›Egmont‹ selbst untergebracht werden?«

Justus zuckte heftig zusammen bei dem Schiffsnamen, den er vorher aus einem ganz anderen Munde gehört hatte. »Und Lussan?« fragte er hastig. »Lussan führt den ›Ulenspeegel‹, der mit dem Admiralsschiff zusammen ausläuft. Aber was ist dir eigentlich?«

Justus stand voller Gedanken. Lussan war schon an Bord, ihm nicht mehr erreichbar. Tat er aber gut, de Graff selbst einen Anschlag zu unterbreiten, für den er, Justus, doch am Ende keinen anderen Beweis als seine Aussage hatte? Würde er nicht selbst schwere Gefahr laufen, wenn er einen, den er nicht kannte, eines Verrates bezichtigte? Sinnend sah er zum Fenster hinaus und merkte es kaum, daß Georg neben ihm lehnte. Dann schrak er fast zusammen, als er unten in dem Garten, aus den sein Blick fiel, Stimmen hörte. Wirklich, da stand er, auf dessen Leben und Freiheit und Herrschergewalt über diese Insel man es offenbar abgesehen hatte, da stand dieser de Graff und bereitete sich zum Abschied von den Menschen vor, die ihm nahestanden; neben ihm, das schlanke Kind an der Hand, ging gebeugten Hauptes und mit traurigem Gesicht jene Dame, die Georg am ersten Morgen seines Aufenthalts in Tortuga an der Seite des Kommodore gesehen hatte.

Die Brüder blieben unbemerkt und waren selbst zartfühlend genug, nicht diesen Abschied belauschen zu wollen. Aber für einen Augenblick, als er sich eben abwandte, sah Justus in das totenblasse, schwermütige Gesicht dieses Mannes, der einen Räuberstaat beherrschte und doch an Gebärde ritterlicher und an Edelmut reicher zu sein schien als daheim in der europäischen Heimat manch großer Herr. Nun war es Justus, als triebe ihn nicht nur das Abenteurerblut zur Teilnahme an der großen Unternehmung dieser Menschen; er schien sich berufen, diesen Mann dort, den er bedroht wußte, zu schützen und unversehrt wieder den Seinen zurückzugeben. So kam es, daß er an diesem Abend das Fallreep Strickleiter, die an der Bordwand herabgelassen wird, damit man an oder von Bord gehen kann. des »Egmont« mit bewegtem Herzen emporstieg, als habe er auf den Planken dieses fremden Schiffes doch eine ernste und heilige Aufgabe zu erfüllen.


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