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Minnele hatte den Justus Erdlein, ihren Landsmann wieder gesehen, hatte ihrer Mutter erwähnen und den Namen Wolfgang Granach nennen gehört: Was hätte es mehr bedurft um eine teure Welt von Gedanken und Empfindungen in ihrer Brust zu erwecken?
Das Bild der Heimat lebte wieder farbenhell vor ihrer Einbildung auf, das Liebe in derselben erschien ihr lieblicher, und das Widerwärtige hatte ihren grellen Ton verloren.
Mit der Hast eines entzückenden Gedankens stellte sich der Entschluss in Minneles Gemüt fest: sobald die Baronin abgereist wäre, die Stadt zu verlassen und nach der Heimat zu eilen.
Als Minnele vor der Villa ankam und ausstieg, ließ sie den Kutscher nicht die Glocke ziehen, sie hatte gesehen, dass die Baronin den Schlüssel zum Parktor in den Wagen gesteckt habe, und so benützte sie ihn, um leise zu öffnen und in den Park zu treten.
Rechts unter den Anlagen von Waldbäumen hörte Minnele die tollheiteren Stimmen der Baroness und ihrer Freundinnen; sie ging daher links einen versteckten Sandweg nach dem Hause, um noch eine Weile mit ihren Gedanken allein zu sein.
Auf ihrem Zimmer legte Minnele, glühend vor Bewegung, ihren Hut und ihre Mantille ab und ging so auf und nieder.
Warum hatte Erdlein so heftig gefragt, ob Minnele ihrer Mutter geschrieben, ob sie ihr Geld geschickt habe?
Minnele dachte beunruhigt hin und wider; sollte Erdlein vernommen haben, dass weder Briefe noch Geld an ihre Mutter gelangt seien?
Das wäre freilich entsetzlich gewesen.
Indessen konnte sich Minnele bei ihrem Vertrauen auf die Baronin wohl beruhigen, denn diese hatte die Briefe stets in ihrer Gegenwart gelesen, mit dem Gelde beschwert, geschlossen und auf die Post geschickt.
Wenn auch einer von den Briefen zufällig verloren gegangen, die anderen mussten doch richtig angekommen sein.
Hatte doch die Baronin selber gleich anfangs an die Mutter heim geschrieben, ob sie einverstanden sei, dass Minnele wie ihr (der Baronin) Kind betrachtet und gehalten werde; und auf diesen Brief war, wie die Baronin versicherte, eine freundliche und froh zustimmende Antwort gekommen mit Grüßen und Ermahnungen an Minnele, der neuen Mutter in allem zu folgen und ihr stets Freude zu machen.
Wenn auch Minnele diesen Brief niemals zu Gesicht bekommen, so wär' es ihr doch wie eine Versündigung an Treu und Glauben vorgekommen, an dem Vorhandensein dieses, angeblich im Namen der Mutter vom Pfarrer des Ortes geschriebenen Briefes zu zweifeln.
Minnele beruhigte sich daher und dacht, daheim werde man wohl die Versicherungen nicht recht glauben wollen, dass sie (Minnele) so schnell ihr Glück gemacht, und daher eben kämen die wunderlichen Nachfragen.
Dass Minnele noch keine Antwort von der Mutter erhalten, das war begreiflich genug, da Minnele wohl wusste, wie schwer es mit dem Briefschreiben auf dem Lande geht, namentlich wenn ein Brief einer vornehmen Herrschaft zu Gesicht kommen soll; Minnele hatte daher ihre Mutter der Mühe des Briefschreibens wenigstens während der ersten paar Monate enthoben und nur gebeten, ihr später gelegentlich einmal zu schreiben.
Mehr und tiefer verwirrte Minneles Herz der Name Wolfgang Granach.
Wolfgang musste wie jedermann die Nachrichten über Minneles neue Glücksumstände auch vernommen haben. –
Welchen Eindruck machten sie auf ihn? Freuten sie ihn? Oder schmerzten sie ihn, weil er nun jede Brücke zwischen Minnele und ihm abgebrochen wähnte? Hatte er dem Erdlein geschrieben oder geheime Botschaft geschickt, dass er Minnele auskundschaften und ihm schreiben möchte? War Wolfgang, durch den Gedanken, Minnele schon verloren zu haben oder durch Zögern auf ewig zu verlieren, siegreich gegen seinen Vater aufgetreten und hatte er diesen so weit zu einer Entscheidung bestimmt, dass er seine Einwilligung in die Liebespläne Wolfgangs geben wolle, sofern nur Minnele noch zu haben sei?
O, was war es nur, was war es?
Minnele stand, als sie dieses dachte, am offenen Fenster stille, ihre Fragen gleichsam durch ihr nachdenklich stilles, herrliches Auge an das stille, tiefe Blau des Himmels richtend. Den Zeigefinger ihrer rechten Hand legte sie dabei über die Lippen, und ihr schwanenweißer, runder, süßer Arm wurde zur Hälfte zwischen dem schwarzen Spitzenärmel ihres Kleides sichtbar.
Welch ein Bild aus Himmelshöhen zwischen dem irdischen Rahmen eines Fensters hingestellt!
Ohnehin konnte sich jede Stunde dort ein übles Gerücht über ihre Vermählung verbreiten – Minnele musste persönlich erscheinen, um die Wahrheit auszusprechen, bevor sich die Unwahrheit breit machen konnte.
Minnele beschloss also, nach der Baronin ohne Verweilen heimlich abzureisen. Sie wollte heut' Abend den Justus Erdlein bitten, ihr eine zuverlässige Landsmännin als Begleiterin auszusuchen; von Daheim erst wollte sie an die Baronin alles aufrichtig schreiben und sie um ihr Zeugnis wie um die feierliche Aussage des Priesters, des Doktors und Advokaten über die stattgehabte Vermählung bitten.
Mit solchen Aktenstücken in der Hand gedachte sie jedwede Unwahrheit zu Boden zu schlagen.
Mitten unter Gedanken und Entschlüssen war es, als Minnele, wieder auf und ab gehend, die Baroness Eleonora die Treppe heraufkommen hörte.
»Nun, Minnele«, rief diese ins Zimmer tretend, »ei, das ist ja abscheulich, dass Sie heimkommen, ohne mich und die Freundinnen ein Sterbenswörtchen wissen zu lassen. Wo bleiben Sie denn? Was treiben Sie! Hätte uns der Gärtner nicht verraten, dass Sie hier sind, wir wüssten noch immer keine Silbe davon!«
Minnele entschuldigte sich, so gut es ging.
»Nein, nein«, fuhr Eleonora fort, »Sie müssen die vornehme Gräfin nicht so einsam spielen; kommen Sie herab in den Park, die Freundinnen sind hier, auch die junge Baroness vom Lande ist hier; sie wünscht so glücklich zu sein – der schönen Herrin des Hauses vorgestellt zu werden.«
Minnele ging mit der Baroness hinab.
Von den Waldbaumgruppen herüber tönte noch immer das helle Rufen und Lachen der Freundinnen.
Die Baroness, vielleicht besorgt, Minnele könne, wenn sie plötzlich auf dem Spielplatz erschiene, manches Unziemliche sehen, sagte daher:
»Minnele, es wird Ihnen angenehmer sein, hier im Schatten der großen Linde die jungen Damen zu empfangen; habe Sie daher die Güte, hier zu warten, ich rufe sie her.«
Minnele fühlte keine Versuchung zur Eile und sagte daher zustimmend und halb in Gedanken:
»Gut, gut, ich warte hier.«
Die Baroness eilte fort, und Minnele setzte sich auf eine Bank unter die Linde, indem ihre früheren Gedanken bald wieder in Bewegung kamen.
Da Eleonorens Freundinnen Verstecken spielten und sich im Park ziemlich weit zerstreut hatten, so war es nicht leicht, sie bald zusammen zu bringen.
Indem sich nun Eleonora die Mühe gab, Generalmarsch mit ihrer Zunge zu schlagen, traf es sich, dass zufällig die angekündigte »Baroness vom Lande« in der Absicht, sich zu verstecken, durch den Park hinschlich – und zuletzt bis vor die Linde herankam, unter welcher Minnele saß.
Im Eifer des Spieles hatte die, wie es schien, trefflich heimische »Baroness vom Lande« nicht bemerkt, dass jemand unter der Linde saß, und Minnele selbst war zu lebhaft in Gedanken, um das Nahen der Fremden zu gewahren; erst als diese und Minnele sich auf sechs Schritte einander gegenüber standen, blickten beide fast im gleichen Momente auf und sahen sich an.
Von Minneles Wangen wich alle Lebensfarbe.
Auch die »Baroness vom Lande« wurde blass wie die Wand, starrte Minnele eine Weile an und griff nach einem jungen Lindenstamme, um sich aufrecht zu erhalten.
Aber nur kurze Zeit dauerte dieses Erblassen, Wanken und Erstarren.
Dann schlug »die Baroness vom Lande«, indem sie bis unter die Stirnhaare kirschrot wurde, ein gellendes Gelächter auf, welches wohl angetan war, durch den Park hin mit großem Befremden gehört zu werden.
Die Fremde oder besser »die Baroness vom Lande« – war niemand anderes als die Toni Fähringer, Minneles Landsmännin, liebholden Angedenkens von der Reise her.
»Hast du geglaubt«, begann diese jetzt, als Minnele sich nicht zu regen und zu fassen vermochte – »hast du geglaubt, du allein könntest tugendhaft sein und in Samt und Seide gehen? Hast du geglaubt, dein schönes Gesicht habe Patent genommen auf Ohrringe und Spangen, Brillanten, Atlasschuhe und Spitzen? Ha! Ha! Ha! Wir sind auch noch da! Lass fahren Sittsamkeit und guten Namen; lass fahren Angst und Sorge um deinen Ruf, unsere Tugend hat ein Gesicht und einen Namen – Minnele, sieh' her, wir gehen in einer Farbe und in einem Stoff von Samt und Seide!«
Dabei warf sie ihr Kleid nach der Seite, dass es sich vor Minnele ausbreite, und lachte eine Weile ohne Unterbrechung.
Und in der Tat, überraschend genug musste es sein, dass Toni Fähringer in demselben Anzuge vor Minnele stand, in welchem diese bei ihrer letzten Domfahrt der eifersüchtigen Landsmännin erschienen war.
Die Fähringer-Toni wollte eben fortfahren, ihre Wortgeisel zu schwingen, als in einiger Entfernung die Stimme Eleonorens gehört wurde, welche rief:
»Antonia! Liebe Antonia! Baroness Antonia!«
Und nach wenigen Augenblicken erschien die Ruferin selbst unter der Linde, begleitet von einigen Freundinnen.
»Ei! Siehe da!« fuhr sie fort: »Wie ich sehe, hat die neue Bekanntschaft der Frau Gräfin und der Baroness schon ohne mich begonnen; und zur großen Freude der Freundin vom Lande. Ich habe Ihr freudiges Lachen vernommen, Antonia, nun was hat Sie denn auf einmal so außerordentlich lustig gestimmt, was hat es denn gegeben?«
Während Eleonorens Freundinnen mit Befremden auf Schön-Minneles leblose Mienen blickten, nahm Toni Fähringer die Baroness bei der Hand, führte sie lachend einige Schritte seitwärts, um ihr zu sagen, welche seltsame Zusammentreffen zwischen ihr und Minnele stattgefunden; aber da hörte man plötzlich ganz in der Nähe die Stimmer der Baronin, welche aufgeräumt rief:
»Kinder! Kinder! Nun, liebes, lustiges Volk, was macht ihr, was treibt ihr denn da? Geht es wieder toll und lärmend genug her?«
Sie kam näher und gab, weil ihr vor Eile warm geworden war, rechts und links an die herzuspringenden jungen Damen Hut und Sommershawl ab; dann hier und dort herzlich die Hände drückend, sagte sie, ganz unter die Linde tretend:
»Nun, Minnele? Nun, Eleonora! Wie steht's? Ist die neue Bekanntschaft gemacht? Nun, ich hoffe, sie wird wachsen, blühen und Früchte tragen, zur Freude meiner Freundin, der Frau Baronin auf dem Lande!«
Diese Worte waren kaum gesagt, als Minnele, das Bewusstsein verlierend, ohnmächtig auf die Bank hinsank...