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IV.
Ein Blatt aus der Geschichte.

1.

 

Das ist der Tag des Herrn!
Ich bin allein auf weiter Flur,
Noch eine Morgenglocke nur;
Nun stille nah und fern.

Uhland

 

Es war an einem Frühlingssonntagsmorgen; der Himmel wolkenlos, die Lüfte lau und ruhig; Berge, Wälder, Hügel wie andächtige Beter im Tempel des Herrn zum Gottesdienste versammelt und die letzte Glocke des Dorfkirchturmes verklungen.

Ein junger Reiter kam aus dem Dunkel einer dampfenden Fichtenwaldung hervor.

Wie leichte Schleier zogen nach und nach die Bäume ihre Schatten von Ross und Reiter, und feierlich enthüllt erschienen endlich die Züge eines Angesichtes, jung und blühend und wundersam gerührt.

Am Saum des Waldes hielt der Fremde eine Weile still, in Gedanken und Betrachtung, wie es schien verloren; dann stieg er ab, band sein Ross an einen Baum, ging am sonnigen Hügel weiter vor, weinte, kniete hin und küsste den Boden und rief:

»O Muttererde! Heimat! Boden meiner Kindheit! Seh' ich dich wieder?«

Er konnte nicht weiter reden, seine Lippen verstummten, während sein Herz vom Andrang mächtiger Empfindung schwoll; er blieb auf seinen Knien liegen und bedeckte seine Augen mit beiden Händen; voll Weh' und Freude ließ er seine Tränen voll und reichlich fließen …

Einige Dorfkinder waren hinausgegangen auf den Schlehdornhügel, um ihre Andacht unter freiem Himmel, beschienen von der Morgensonne, ernst und spielend zu verrichten; unter Singen und Beten begannen sie die Wallfahrt um das nächste Weizenfeld, neigten ihre Köpfe gegen die Schultern und hielten vor die halbgeschlossenen Augen kleine, mit Heiligenbildern wohlgefüllte Messbüchlein. Wehmütig-fromm klang Wort und Weise aus den jungen Mädchen- und Knabenkehlen und fand im nahen Wald ein sachtes Echo. Vor die Kapelle kommend, setzten die Kinder ihre Gebete und Gesänge leiser und furchtsamer fort, knieten eine Weile hin und schütteten ihre Heiligenbilder vor dem Eingang auf den großen Stein, erhoben sich dann und schmückten mit den Bildern die kleinen Wandvertiefungen, mit kindlicher Geschäftigkeit vor allem den Heiland auf dem Kreuze, dem sie ihre Bilder aus Schultern, Hände und Füße stellten, um ihn so zu ehren. Unter hellem Sang zurückwallfahrend, gelangten sie um ein Kornfeld wieder zu dem Schlehdornstrauch und setzten ihre Wanderung durch Hohlweg, über Flur und Höhen ernst und selig fort.

Sie merkten nicht, dass jemand, in geringer Ferne stehend, ihrem Andachtsspiel gerührt und in Gedanken zusah; vielleicht so sehr von diesem Kindergottesdienste angezogen, weil er ihn selber einst mit glühender Knabenseele auf derselben Stelle mit gefeiert hatte; vielleicht auch von dem Gedanken erschüttert, solche harmlos-süße Kinderspiele hier zu treffen, wo vor zehn Jahren so viel Unheilvolles im Namen der Kirche verbrochen worden war …

Es war der Fremde.

»Mutter, Mutter«, dachte er und blickte vor sich hin, »hast du mich nicht beten und singen und wallfahren gelehrt, wie diese Kinder hier und hast du nicht in frommer Übung deine Seele stets erhalten? Und wo bist du hin, und was ist mein Schicksal doch gewesen durch dieselbe Macht, an die wir uns so selig hingegeben?«

Da stand das erste Haus des Dorfes.

Der Fremde kannte es wohl. Es hatte sich wenig verändert; nur die Bäume des Gartens erhoben ihre Wipfel höher als vor Jahren.

Näher kommend, ließ der Fremde einen freudig überraschten Blick auf der Reihe junger Fichten ruhen, die als lebendiger Zaun den Garten gegen Norden schützten.

»Meine Lieblingspflanzung, meine Knabentat! Wie sie fortwirkt, wie sie gedeiht!« sagte er lächelnd, »es ist keine Lücke in der ganzen Reihe, kein Sprössling verdorrt und keiner umgekommen; Heimaterde, Heimatlüfte! Wie freundlich seid ihr meiner Pflanzung geblieben, nährtet und bewahrtet sie, indes ich ferne war!«

Er trat in den Garten.

Welch ein Schauplatz froher Kinderspiele, wilder Knabenjagden, paradiesischer Jugendträume! Der Fremde musste eilig weiter gehen, um von Erinnerungen nicht zu lebendig ergriffen zu werden.

Er trat bis an die Scheuerecke, und vor seinen Blicken lagen der große Vorhof und das Wohngebäude.

Ringsum alles sonntäglich sauber und stille; die Bewohner alle, wie es schien, im Gottesdienste ferne.

Dort kam nur eine alte Magd, die wohl als Wächterin des Hauses und der Kinder daheim geblieben, aus der Türe ging mit einem Kruge zu dem Nachbarbrunnen; andächtig und halb singend sprach sie ihr Gebetlein vor sich hin:

 

Maria, gnadenreiche, meine Lust und Liebe,
Maria, meine Trösterin bist du;
Ach, Gottes Mutter, Christi Mutter, höre,
Maria, schließe mir dein Herz nicht zu!

 

Sie bemerkte den Fremden nicht, der nun hervortrat und über den Vorhof der Türe des Wohnhauses zuging.

Eine Schar Tauben flatterte lärmend auf und setzte sich mit spähenden Köpfen auf die nächsten Dächer; kam aber bald wieder auf den Hof herab, als der Fremde über die Schwelle des Hauses verschwunden war.

Er stand nun in der Vorflur, vor der bläulich angestrichenen Türe, hatte den Drücker in der Hand, zögerte, bebte, endlich tat er auf; – Erinnerungschauer, durchwühlender Schmerz, erneuertes Bluten alter Wunden; – hier blickte er zum ersten Male wieder auf den Schauplatz seines schmerzlichsten Erlebnisses; hier hatte man die Mutter von ihm, ihn von der Mutter gerissen; die Sporen der Husaren klirrten, die Säbel blinkten durch das Haus, Ringen und Schreien in der Kammer, Wehren und Wüten des Vaters und der Knechte in der Vorflur, während der Graf als Offizier hoch zu Ross im großen Vorhof brüllend kommandierte; – so ist endlich alles getrennt, die Knechte von den Herrn des Hauses, dieser von seinem Weibe und die Mutter von ihrem Knaben, der sich vor Schmerz in den Schenkel eines Husaren verfangen und verbissen; alle werden fortgeführt in verschiedene Länder, um vielleicht niemals wieder sich zu sehen –

Die Stube, wo das vorgefallen war, wie ruhig und feierlich sah sie doch in diesem Augenblicke aus!

Mitten in derselben lag ein großer Haushund, dann und wann lebhaft zuckend, als ob er schwere Träume träumte; ein breiter Sonnenstrahl fiel durch ein Fenster und traf auf der einen Seite eine Ecke des großen Tisches, auf der andern eine Tropfenstraße vergossener Milch; nach dem lebhaften Wogen und Wirbeln des bläulichen Staubes in dem Lichtstrom musste jemand eben nach Küche oder Kammer gegangen sein, auch machte die Wiege, in welcher ein schlafendes Kindlein ruhte, noch leise Schwankungen.

Es war ein junges Mädchen, das eben nach der Kirche gegangen war und trotz der Sonntagmorgenfeier allerlei weltliche Liedchen trillerte; es machte Feuer auf dem Herde, goss Wasser in die große Pfanne und stellte sie auf den Dreifuß über das Feuer; dann kam Asche ins Wasser und wurde mit einem Holzsplitter hitzig umgerührt:

 

Feuerlein, Feuerlein, rühr' dich,
Guck über die Pfann' hinein,
Wasserlein, Wasserlein, führ' dich
Erst sachte im Kreise fein,
O Kindlein, Kindlein für dich
Tu' ich nun Mehl hinein,
Wasserlein, Wasserlein, rühr' dich
Und schnalze Feuerlein!

 

Die Kammertüre war offen, der Fremde trat hinein.

Aus der finstern Tiefe des Kellers kam eben ein blonder, fetter Knabe die Treppe herauf, einen großen Milchnapf in den Armen; fast auf jeder Stufe hielt er inne und suchte aus dem Topf zu trinken. Mund und Kinn trieften vom häufigen Nippen und Schlürfen. Oben auf der Kellertreppe setzte er sich förmlich zu Tische neben dem Milchnapf und tauchte alle Finger auf einmal ein, um sie mit Behagen nacheinander anzulecken. Sprungfertig sah ihm eine getigerte Katze von dem Mauervorsprung zu, wagte aber nicht herabzukommen, weil hinter dem Knaben der geheimnisvolle Fremde stand, mit Lächeln auf den kleinen, lieben Näscher blickend.

Wie auch hier in der Kammer alles wie einst in gleicher Ordnung war!

An den Wänden herum die lange Flinte, Sägen, Beile; an den Drammbäumen die kürzeren Handwerkszeuge: Bohrer, Hammer, Sicheln und so fort.

Die Türe nach dem Nebenstübchen war offen, unwiderstehlich zog es den Fremden auch da hinein, und siehe, auch da noch das große Himmelbett, der gelbbraune Fächerkasten von weichem Holze, der Kleiderschrank, der bläuliche Tisch, dort zu den Häupten des Himmelbettes die Glockenschnur, an der die Mutter ums Hahnenkrähen den Knechten und Mägden zur Tagesarbeit läutete.

Weiter und weiter durch alle Räume des Hauses trieb es nach und nach den Fremden; – alles, alles war wieder da beim Anblicke dieser Gegenstände: Erlebnisse, Stimmungen, Bilder, Träume, Schmerzen und Freuden der Jugend, nur noch lebendiger, nur noch wundersamer.

Regt nach langer Trennung der Anblick gewöhnlicher Stellen des Vaterhauses unser Herz im Tiefsten auf, so ist doch der Eindruck unbeschreiblich, den die Lieblingsstelle auf uns macht.

Nicht anders erging es unserem Fremden, als er das Stübchen neben der Kammer verließ, eine nahe Treppe hinaufstieg und nach flüchtigem Umblick in den wohlbekannten Bodenräumen die Türe nach dem hölzernen Vorhang sehnsuchtsvoll, rasch, bebend öffnete.

Mit dem breiten, warmen Lichtstrome drang ihm gleich das ganze Lieblingsbild der Heimat voll und frisch entgegen. Er musste sich an einen Pfosten halten, während sein Blick zu sehen und zu schwelgen begann. Erst bei dem duftig blauen Schlussgebirge drüben hielt das rasch hinfliegende Auge stille; selbst eine sehr bekannte Wolkenbildung aus ferner Kindeszeit schien schwebte wieder über dem Gebirge.

Langsam und behaglich kehrte das feuchte Auge Fremden vom fernen Gebirge nach und nach zum Vordergrunde des Lieblingsbildes zurück; dann trat er vor und sah, über einen Querbalken gelehnt, in das Gemüse- und Blumengärtchen hinab.

Wie zahlreich hatte der Rosenstock in der Ecke seine Familien vermehrt, wie üppig und mit rötlicher Blüte überladen, stand der Apfelbaum am Zaun und ragte mit dem jungen Wipfel an das Dach! Der Müühlbach plauderte geschäftig an der Gartenmauer und hatte schon manche Bresche gerissen, – nebenan: wie frisch gedieh der junge Garten – ein übergras'ter Wall unterm Nussbaum zeugte vom Versuche, einen Rasensitz zu bilden!

Wie war es einst an Wochen- und Sonntagnachmittagen hier und rings im Dorfe laut und lebendig von schreienden Knaben, von singenden Vögeln, von rufenden Eltern und regsamen Leuten! Der Fremde stützte sich auf den Balken des Geländers und bedeckte seine Augen mit beiden Händen; er schien seine ganze Seele in die paradiesischen Tage der Kindheit entrücken zu wollen.

Eine gute Weile harrte er in dieser Weise.

In die Verklärung seiner Träume hatte sich bald ein tiefes Weh gemischt, und seine Tränen flossen wieder.

Er hatte sich den wonnigen Fall gedacht, Vater und Mutter seien nur in der Kirche abwesend, er dürfe sie nur erwarten, um sie wieder zu sehen, zu grüßen, zu umhalsen; allein inmitten dieser seligen Täuschung trat ihm auch das Schreckbild seiner Entführung wieder vor Augen, und so kam es, dass er heftig auffuhr, als er Schritte nahen hörte.

Die alte Magd war's, deren Schritte der Fremde nahen hörte; sie kam zurück vom Nachbarbrunnen.

Der Fremde verließ die Lieblingsstelle seines Vaterhauses, eilte hinab nach der Kammer und Stube und ging mit wogendem Herzen dem Garten, dem freien Felde, dem Walde zu; wie auf eiliger Flucht sein Pferd besteigend, lenkte er wieder ach der Straße hin, woher er eben erst gekommen, und bald warfen die Bäume ihre Schatten wieder über Ross und Reiter, als wollten sie den Flüchtling schützen und verbergen …

Die alte Magd vollendete indes ihr Stoßgebetlein an die Mutter Gottes, ohne eine Ahnung zu haben vom Besuche des Fremden. Über die Schwelle des Hauses tretend, sprach sie ihres Schlussgebetes Worte, lautend:

 

Gegrüßt auch, wenn mein Stündlein angekommen,
Maria, Mutter Christi, bist du mir;
Fällt hier der Leib, die Seel' wird angenommen,
Mein Stern, in froher Himmelfahrt zu dir!

 

Nun herrschte rings dieselbe Sonntagsstille wieder. Selbst die wallfahrenden Dorfkinder waren in einem Hohlwege verschwunden und schienen ihre Gesänge eingestellt zu haben.

Hierauf leise Glockenklänge aus der Ferne; Zeichen der Wandlung der Messe, – ein einsamer Wanderer hätte hinsinken und rufen müssen mit dem Dichter:

 

Anbetend knie ich hier.
O süßes Grau'n! Geheimes Weh'n!
Als knieten viele ungeseh'n
Und beteten mit mir.

 

2.

Gerade an einem solchen Sonntagmorgen, zehn Jahre früher war es, dass zwei katholische Dorfburschen nach der Frühmesse, merklich angetrunken, eine Straße des Salzburger Gebirges daher kamen, und da sie ihr »Stück Gottesdienst ausgestanden, gebeichtet, geopfert und für ein halbes Jahr im Voraus Absolution erworben hatten« der stillen Sonntagsfeier der Natur nicht die geringste Achtung mehr erwiesen.

Auf ihren Absolutionskredit hin hatten sie sich das Räuschchen geholt und schienen wenig bekümmert, ob der himmlische Wirt ihre neue Schuld mit doppelter Kreide schreibe oder nicht.

Trotz des heiligen Hausfriedes in der Natur sangen sie weltliche Lieder, die verwegen gegen das Firmament, den kristallnen Estrich des Himmels stiegen, warfen mit Straßensteinen nach den Vögeln, die sich der Herr im Käfig seiner Wälder hält, brachen die Zeigefinger der Mutter Erde, junge Fichten, nieder, weil sie so andächtig gegen Himmel wiesen; kurz sie verführten eine arge Werktagsausgelassenheit inmitten eines Sonntagmorgens, eines heiligen Feiertages aller Kreatur.

Indem sie nun so weiter gingen und lärmten, kam ihnen aus einiger Ferne ein Wanderer entgegen, der andächtig den Hut in der Hand hielt, stille für sich betete und die tollenden Burschen nicht beachten schien. Als er, ohne aufzublicken, näher kam, blieben die Burschen stehen und schienen dem Begegnenden eine Andachtsstörung zuzudenken, besannen sich aber, gingen an ihm vorüber und sagten nur mit einem forschenden Blick:

»Gelobt sei Jesus Christ!«

Der Wanderer tat, als hörte er diesen Gruß nicht, ging schweigend weiter und schien ungestört der früheren Andacht nachzuhängen.

Aber die Burschen stutzten, hielten wieder inne, sahen dem Wanderer nach, und der eine sagte geheimnisvoll zum andern:

»Ich hab' einen Auftrag von der Beichte – wenn ich dem einen sag': Gelobt sei Jesus Christus – und er sagt nicht gleich und laut: In Ewigkeit, Amen – so soll ich den Mann mir merken und dem Beichtvater melden.«

Der andere sagte:

»Den Auftrag hab' ich auch. Er heißt noch weiter: wenn ich den Mann nicht kennen sollte, so möge ich ihn um der Kirche und meiner Seligkeit willen kennen lernen, absonderlich wenn ich einen, der nicht dankt, im Walde antreffe, solle ich ihm folgen ungesehen von Weitem und seh'n, was er tut und alles dann dem Beichtvater melden.«

Verwundert vollendete er erste sein Bekenntnis jetzt:

»Und nur auf diesen Gehorsam hin habe ich halbjährige Absolution erhalten. Was ist da zu tun? Komm und folgen wir dem Riedesfelder, er ist's ja, der uns nicht gedankt hat: In Ewigkeit, Amen.«

Der Wanderer war indessen von der Straße weg in den Wald getreten und verschwunden; aber die Burschen entdeckten ihn bald im Dickicht und folgten ihm, ohne gesehen zu werden.

Allein sie mussten sich's gefallen lassen, einen ziemlich rauen und weiten Weg über Stock und Stein, durch Gestrüpp und Schluchten zurückzulegen.

Auf einer schauerlich einsamen, von Felsen und Tannen düster umstarrten Stelle war es, wo der Riedesfelder endlich Halt machte – erblasste, angstvoll um sich blickte, horchte, bebend auf die Knie niederfiel, die Hände faltete und stille weinend ein Gebet verrichtete; dann zog er ein langes Messer aus der Seitentasche, schnitt ein Stück Rasen aus dem Boden und arbeitete, tiefer grabend, ein blechernes Kästchen hervor, aus welchem er ein Buch nahm, das er küsste und freudig zitternd öffnete; so auf den Knien liegend, las er wie berauscht von seligem Behagen aus der – Bibel (denn dies war das verborgene Buch), und folgende Stelle war es, welche er ohne Wahl getroffen hatte:

»Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut. Darum sage ich Euch: Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben; aber die Lästerung wider den Geist wird den Menschen nicht vergeben. Und wer etwas redet wider den Heiligen Geist, dem wird es nicht vergeben, weder in dieser, noch in jener Welt, wer etwas redet wider des Menschen Sohn, dem wird es vergeben. Ihr Ottergezüchte, wie könnt ihr Gutes reden, dieweil ihr böse seid?«

Noch lange las der Riedesfelder in dem Buche, bis er es endlich wieder schloss, mitsamt einem Zettelchen in die blecherne Büchse tat und wieder an vorigen Stelle vergrub. Hierauf küsste er das Fleckchen Erde, welches ihm den teuern Schatz bewahrte, stand getröstet und leich auf; und da er keinen Späher rings entdecken konnte, ging er eilig weiter durch den Wald und erreichte die Straße wieder, endlich auch sein Dorf.

Denselben Morgen noch verrieten die zwei Burschen, was sie gesehen hatten und erhielten für ihren Verrat an Geld »über dreißig Silberlinge« und Ablass ihrer Sünden für ein ganzes Jahr.

Die Nachricht war der Priesterschaft gewaltig wichtig; sie hatte nach solchen augenscheinlichen Beweisen gelechzt; jetzt hatte man einen wichtigen Nerv des Geheimnisses getroffen und gedachte ihn behufs weiterer Forschung umfassender bloßzulegen.

Die vergrabene Bibel wurde im Namen des Erzbischofs amtlich von der Waldstelle abgeholt, man fand darin auch Namenslisten und Bundeszeichen, darunter die jüngste Bundesregel: den »liederlichen« Katholiken, wenn sie mit ungeweihten Lippen grüßen würden: »Gelobt sei Jesus Christus«, nicht zu antworten: »In Ewigkeit, Amen«.

Da war der Schleier also unvermutet weggezogen von dem, was lange her so dunkel und rätselhaft gefunden hatte!

Trotz der gewaltsamsten Bekehrungen mit Feuer und Schwert waren also seit den blutigen Religionswirren noch einzelne Verirrte vorhanden, die nur äußerlich und nicht mit zerknirschter Seele in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurückkehren wollten?

Mit rachedüsterndem Nachdruck wurde beschlossen, dass es ein Nachgericht ohne Gleichengeben solle.

Am folgenden Tage wurde der Riedesfelder ins Gefängnis abgeholt, grässlich an allen Gliedern zerschlagen, krumm geschlossen und fast dem Hungertode preisgegeben, um ihn zum Widerruf »seiner Ketzerei«, da er die Bibel im Deutschen las, auf diese Art zu zwingen. Aber er blieb fest und widerrief nicht. Und so wie er, ertrugen auch andere, die man eingezogen, ihr Leid und schwuren ihre Meinung nicht ab.

Also begann die Religionsverfolgung ihr beschlossenes Züchtigungsgericht, das in der Tat den größten Schaudertaten der Weltgeschichte würdig an die Seite steht; es hatte auch die »Salzburger Emigranten« im Jahre 1731 zur Folge, eine ebenso entsetzende als teilweise erhebende Erscheinung. Ein dunkles Blatt der Geschichte widmet ihr folgender Bericht.

3.

Tief in den Gebirgen Salzburgs hatte sich von der ersten Reformation her eine fromme Gemeinde erhalten, welche im Geheimen die deutsche Bibel las und einer reinen Lehre eigenen Geistes ohne Priester folgte.

Diese Gemeinde breitete sich bald weiter und weiter aus, wurde endlich, wie wir gesehen haben, ausgewittert, und im Reffereckertale begann 1685 die erste grausame Verfolgung.

Es waren martervolle Versuche, die man machte, um die armen Bauern in den Schoß des Papismus zurückzuführen, allein sie blieben ohne Erfolg, schließlich jagte man die Standhaften von Haus und Hof in die weite Welt gejagt und ließ ihnen nicht einmal den Trost, ihre Kinder mitzunehmen, welche man gewaltsam zurückbehielt, um sie von Jesuiten erziehen zu lassen.

Im zweiten Jahre mussten auch eine Menge Bergleute auswandern, denen ein Standesgenosse namens Josef Schaidberger predigte.

Weit entfernt, dass die geheime Kirche in den Gebirgen dadurch zerstört worden wäre, fand sie im Gegenteil immer mehr Anhänger.

Die Unschuld und Schönheit einer reinen Christenlehre, unentstellt durch entartete Priester, gewann die Herzen des kraftvollen und sittlichen Bergvolkes; die Verfolgungen sowie das, was sie am Hofe des geistlichen Oberherrn sahen, die furchtbare Unsittlichkeit aller höheren Stände, der Pfaffen und der Soldaten, erfüllten sie mit Abscheu und machten ihnen ihr Geheimnis lieb und teuer.

Nur in verschwiegener Nacht kamen die Bekenner zum Gottesdienste zusammen oder im Dunkel des Waldes auf abgelegenen Stellen des Gebirges.

Auch ihre Bibeln hatten sie im Walde vergraben und waren so vorsichtig, dass sie anfangs nicht einmal die Frauen und Mädchen teilnehmen ließen.

Äußerlich hielten die stillen Bibelverehrer sich an die katholische Kirche, und so blieben sie lange, trotz ihrer großen Anzahl, unentdeckt. Endlich aber kam ihre Sache an den Tag. Es fiel einem ein, es für eine Sünde zu erklären, den katholischen Gruß: »Gelobt sei Jesus Christus!« liederlichen Gesellen beim Trinken und Spielen zu erwidern, weil der Name Jesu dadurch entheiligt werde, aber diese Weigerung des Grußes, die plötzlich bei allen Verbündeten allgemein wurde, führte auf die Entdeckung.

Der brutale Erzbischof Leopold Anton von Firmian ließ die Verfolgungen sogleich und ernst durch grässliche Körperstrafen beginnen, die aber ganz und gar nichts fruchteten. Die armen Bauern bildeten sich ein, der damalige Reichstag in Regensburg werde ihnen etwas helfen: aber die Boten der Bauern richteten nicht nur nichts in Regensburg aus, da sich die protestantischen Reichsgesandten ihrer kaum annahmen, sondern wurden auch noch bei ihrer Heimkehr in Kerker geworfen, und die Quälerei dauerte fort.

Als der Erzbischof mit körperlichen Martern nichts ausrichtete, glaubte er die Bauern beim Beutel fassen zu müssen und legte ihnen ungeheure Geldstrafen auf. Aber auch das half nichts. Da schickte er endlich eine Kommission, um zu erforschen, wie viele der Ketzer seien, und siehe da, es meldeten sich über 20 000.

»Tut nichts«, sagte der Erzbischof, »ich will die Ketzer aus dem Lande haben, und sollten künftig nur Dornen und Disteln darin wachsen.«

Die Kommissare frugen das Volk, ob es sich zur Lehre Luthers oder Zwinglis bekenne. Die guten Leute wussten davon nichts, denn sie kannten nur die Bibel und sprachen:

»Wir sind evangelisch.«

Da war ihnen nicht zu helfen. Sie aber vertrauten auf Gott und traten zu Schwarzach am 5. August 1731 in einen großen Bund zusammen und schworen, was auch kommen möge, eher das Leben als ihren Glauben zu lassen. Jeder steckte bei diesem Schwur seinen Finger in ein Salzfass und den Bund nannten sie den »Salzbund Gottes«, anspielend entweder auf den Namen ihres Landes oder auf den Bibelspruch: »Ihr seid das Salz der Erde«, oder was wahrscheinlich ist, auf die Geheimlehre des in Salzburg verstorbene Theophrastus Paracelsus, der im Salze eine göttliche Urkraft erkannt hatte.

Unter den Führern des Bundes tritt nur der Schmied Stillebeer von Hüttau deutlich hervor; er predigte so gewaltig, dass ihn alle Bauern am Schluss seiner Rede zu umarmen pflegten. Auch einen Dichter hatten sie, Loinpacher, dessen Lieder in aller Munde lebten.

Der Bund wäre wohl stark genug gewesen, zumal in den Gebirgen, sich des Erzbischofs und seiner Schergen zu erwehren, aber die Katholischen brauchten die List, diese Bauern, die weder Katholiken noch Lutheraner noch Zwinglianer waren, also zu keiner privilegierten Kirche gehörten, als weltliche Aufrührer zu verschreien, um ihnen den Schutz der protestantischen Fürsten zu entziehen; hauptsächlich aus diesem Grunde, wenn nicht aus einer Schwärmerei religiöser Demut, beschlossen sie, der Gewalt keine Gewalt entgegenzusetzen, zum größten Ärger des Erzbischofs, der schon überall verkündet hatte, das Volk sei in voller Rebellion.

Inzwischen war Kaiser Karl VI., der für seine eigenen Untertanen in den Gebirgen das ansteckende Beispiel fürchtete, gerne geneigt, an die erlogene Rebellion zu glauben, um unter diesem Vorwand die strengsten Maßregeln zu ergreifen.

Er ließ die Abgeordneten der Salzburger Bauern, die sich in frommem Vertrauen an ihn wandte, in Linz verhaften und in Kerker werfen, und machte ein Patent bekannt, worin er den Salzburgern unbedingte Unterwerfung befahl; um diesem Befehle Nachdruck zu verleihen, ließ er 6 000 Mann Soldaten in die Gebirge schicken.

Die Soldaten, von ihren Obern und von den Pfaffen gehetzt, fielen unter die Bauern wie Jagdhunde unter das Wild.

Sie schleppen sie nicht nur gefangen mit sich fort, sondern prügelten sie auch mit Weib und Kind aufs Entsetzlichste durch und plünderten sie aus.

Über einen Monat lang ließ der Erzbischof diese Schandtaten andauern, indem er die Häupter der Gemeinden im Kerker quälte, während die Soldaten in den Dörfern jeden Unfug trieben.

Doch dies alles beugte die Standhaftigkeit der Bauern nicht; es kam ihnen zu Statten, dass der König von Preußen endlich drohte, er werde die Katholiken in seinem Lande so behandeln wie Firmian die Protestanten in dem Seinigen. Diese Wandlung ließ den Letzteren fürchten, die armen Bauern könnten am Ende doch wohl bei ihrem Glauben geschützt werden. Er beschloss also, alle Protestanten aus dem Lande zu jagen.

Dies war das bequemste Mittel, dem Papst zu gefallen, die Ketzerei in den Gebirgen auszurotten und zugleich den König von Preußen zu beschwichtigen, dem daran liegen musste, seine vielen noch unbebauten Ländereine durch Einwanderer zu kolonisieren.

Eh' man aber zu der förmlichen Vertreibung schritt, wandte man noch alles an, so viele Bauern als möglich zu bekehren, damit das Land nicht ganz durch die Auswanderung entvölkert würde.

Zu dieser Bekehrung bediente man sich der schändlichsten Mittel.

Man verbrannte drei Tage lang zu St. Veit lutherische Bibeln, man führte vor den Kerkern der Unglücklichen Schauspiele auf, indem man Puppen auf die sonderbarste Art marterte, um die Gefangenen zu schrecken.

Als aber auch diese Mittel nicht zu dem gewünschten Erfolge führten, so wurde der Befehl zur Auswanderung erteilt.

Obgleich die Reichsgesetze den um des Glaubens willen Ausgewandernden freien Abzug mit allem Vermögen gestatteten, so kehrten sich doch weder der Erzbischof noch die kaiserlichen Truppen an diese Gesetze, und man unternahm ein allgemeines Treibjagen auf die Bauern.

Wo man einen auf dem Felde traf, wurde er auf die Grenze gebracht und durfte nicht mehr sein eigenes Haus betreten, wenn er in bloßen Ärmeln war, nicht einmal den Rock holen. So wurden Männer von ihren Weibern, Kinder von ihren Eltern getrennt. Herdenweise trieb man sie zusammen, Soldaten und fanatisierte Einwohner sammelten sich um sie, um sie auf jede erdenkliche Art zu verhöhnen. Außer dass Beklagenswerte alle ihre Güter mit dem Rücken ansehen mussten, nahmen ihnen die Kommissare auch noch alles Geld ab, das einige bei sich trugen, und gaben ihnen nur so viel davon zurück, als ihnen beliebte.

Grässlicher als alles andere war auch hier wieder der Kinderraub.

An tausend Kinder wurden den Eltern mit Gewalt entrissen.

Einigen Vätern und Müttern brach geradezu das Herz, sie vergaßen ihres Bundes-Schwures und wollten bleiben, nur um nur die Kinder nicht zu verlieren.

Aber nur mit ausstudierter Grausamkeit prügelte man sie von dannen und gestattete ihnen das Dableiben nicht, ja, einige Eltern mussten zusehen, wie man vor ihren Augen ihre Kinder schlug, zwickte und auf die boshafteste Weise misshandelte.

Keine Klage half. »Der Kaiser befiehlt es«, war die brüllende Antwort, die man den Jammernden gab.

Der König von Preußen, Friedrich Wilhelm I., war der einzige deutsche Fürst, der sich kräftig der Salzburger annahm und dem Erzbischof sogar drohte, aber er war zu entfernt; die Barbarei des Kinderraubs erregte im Herzen des Königs einen solchen Unwillen, dass er einen eigenen Kommissar nach Salzburg schickte, um unter seiner Autorität einige Kinder zu retten, aber man willfahrte ihm nicht. Nur einigen herzhaften Knaben gelang es später, den Jesuiten zu entspringen, um sich ihren fernhin gewanderten Eltern glücklich bis an die Ostsee nachzubetteln.

Den ersten fortgetriebenen folgten bald große Haufen freiwilliger Auswanderer nach, namentlich aus Berchtesgaden.

Zwar wurden sie unterwegs in einigen Ländern noch gehöhnt und misshandelt, aber schon in Württemberg, Nürnberg und Hessen fanden sie freundliche Aufnahme.

Ein Teil ging nach Holland und Nordamerika, die meisten aber, 16 300, wandten sich nach Preußen und nahmen die neuen Wohnungen ein, die ihnen der König am Niemen bei Tilsit anwies, wo ihre Nachkommen noch jetzt im Wohlstande leben …

So weit des Geschichtsschreibers Mitteilungen, wir überlassen es dem Herzen des Lesers, über solche Schaudertaten noch weiter zu Gericht zu sitzen; unsere Absicht kann hier nur sein, aus tausend erschütternden Fällen jener unseligen Zeit nur einen herauszunehmen und besonders vor Augen zu führen …

Die Erinnerung an jene Salzburger Schreckenszeit war es also, welche unsern jungen Fremden beim Wiedersehen der Heimat und des Vaterhauses so tief erschüttert hatte.

Auch er war als Knabe von acht Jahren gewaltsam von seinen Eltern getrennt und fortgeschleppt worden; ein Trupp Fliehender führte ihn mit sich und schlug den Weg nach Preußen mit ihm ein.

Dort in der Gegend von Tilsit lange schon angekommen und dienend, konnte er von seinen unglücklichen Eltern nichts erfahren; überall wo sich Auswanderer niedergelassen hatten, war von seinen Eltern keine Spur zu finden. Er musste sich nach und nach an den schmerzlichsten aller Verluste gewöhnen und dachte endlich nicht mehr anders, als Vater und Mutter seien vor Elend umgekommen.

Allein es gibt Zeiten und Umstände, welche das menschliche Herz, nachdem es längst auf gewisse Hoffnungen verzichtet, wieder von Neuem und lebendiger als je für dieselben erwärmen.

So erging es auch hier.

Der frisch aufgewachsene Bursche hatte sein Glück im Hause eines wohlhabenden Gutsbesitzers gemacht, dessen einzige Tochter er nach zehn Jahren als Braut begrüßen durfte. Inmitten dieses wogenden Glückes aber erwachte die Sehnsucht nach seinen Eltern aufs Neue; die Hoffnung, dass seine Eltern am Ende doch noch in der Heimat leben könnten, vermochte ihn, bald nach seiner Hochzeit die Heimat zu besuchen und über seine Eltern Erkundigungen einzuziehen. Hoffend und bangend nahm er Abschied von der Frau, um auf den Boden seiner Kindheit zurückzukehren und sein Vaterhaus wieder zu betreten. … Wir haben seine Ankunft, seine Freude und seine Erschütterung, aber auch seine Vorsicht gesehen, mit der er Heimat und Vaterhaus betreten – und wahrlich, Vorsicht tat immer noch not, denn die Gefahr und Rache, namentlich des geistlichen Regiments, war noch nicht zu Ende …

Der Erzbischof Firmian hatte wegen der Verfolgung und Austreibung der Ketzer vom Papst große Lobsprüche und den Ehrentitel »Exzelsus«, der Erhabene, erhalten.

Eine verschärfte Inquisition war rastlos bemüht, den letzten Rest von Glaubensfreiheit in den Gebirgen zu ersticken.

Missionare zogen von Haus zu Haus, belauerten die unschuldigen Reden der Weiber und Kinder und verfügten sogleich Konfiskationen, Stäupenschlag, Kerker oder Verbannung.

Auf dem festen Schlosse Werfen war der sogenannte Reckturm ausschließlich für Ketzer bestimmt, die man an langen Ketten in eine große Tiefe hinab hängen ließ. Und vor solchem Schicksal waren diejenigen, welche bereits die kirchliche Glaubensprobe bestanden hatten, keineswegs sicher, sondern mussten stets gewärtig sein, aufs Neue verdächtigt und des Ihrigen beraubt zu werden …

Dies waren wenig ermunternde Umstände für unsern Fremden, seine Eltern wieder zu finden; nach dem ersten flüchtigen Betreten des Vaterhauses beschloss er, das Dunkel des Abends abzuwarten und das Elternhaus dann abermals zu betreten.

In einem fernen Waldwirtshause stellte er sein Pferd ein und schritt dann, um ungestört und ungesehen freien Blick über seine Heimat zu gewinnen, einer waldlosen Höhe zu, von wo aus er alsbald die bunten Kirchengänger aus dem Gottesdienste eilen sah.

Wer war das stille Paar, das langsam und bedächtigen Schrittes dort aus dem Gottesdienste kam?

War es das gesuchte Elternpaar des Fremden? Hatte er es vor Augen, ohne es der Ferne wegen zu erkennen? Ähnliches dachte auch der Fremde – und wogende Hoffnung, Sorge, Erwartung, süße Pein bewegten seine Seele …

4.

Der Sonntagnachmittag blieb heiter; nur einzelne oder Gruppen von Menschen belebten bunt, aber geräuschlos die Gegend.

Einige umschritten, froh des kommendes Feldersegens, ihre wohlbestellten Gründe, andere saßen in heiteren oder ernsten Gruppen vor den Häusern oder in den Gärten umher.

Es mochte vier Uhr nach Mittag sein, als ein bejahrter Mann, groß und rüstig, aber gebeugten Hauptes, das erste Haus im Dorfe verließ und nach kurzer harmloser Wanderung um ein Weizenfeld seine Schritte gegen den Schlehdornhügel und die Fichtenwaldung lenkte.

Es schien mehr aus Zerstreuung als Absicht zu geschehen, dass er endlich bis in die Nähe des Waldes gelangte; er hielt noch nie und da vor einem Felde stille, blickte aufmerksam vor sich nieder, trat wohl auch manchmal zwischen die Furchen, hob Steine auf und warf sie auf den Fahrweg hinaus – aber auf einmal – kaum hätte man sagen können, wie, war er verschwunden, die Bäume deckten ihn eilig mit leise rauschendem Dunkel, als fühlten sie, wie dringend ihm Schutz und Schirm vonnöten sei.

Der Greis war kaum umringt von den Bäumen des Waldes und, wie er glaubte, den Augen der Menschen entzogen, als sein gebeugtes Haupt sich kräftig hob, sein Auge leuchtete und seine Schritte eilig vorwärts drängten; dabei eilte er durch das wildeste Gebüsch und über Steingerölle seines Weges, bis er eine der wildesten Waldestiefen erreichte, so entlegen und finster, dass sie selbst ein vorbereitetes Gemüt kaum ohne Schauer betreten konnte.

Der Greis war hier kaum angekommen, als er sich, aus tiefster Brust aufatmend, umsah – erbleichend auf die Knie stürzte, weinte, mit den Fingern seiner Hände zitternd die Erde aufwühlte, ein blechernes Kästchen hervor grub, es öffnete, ein Buch herausnahm – die deutsche Bibel und unter halblautem Gemurmel und Schluchzen Stelle um Stelle, Kapitel um Kapitel begeistert las!

Eine Stunde mochte in dieser Weise hingehen, bis der Andächtige endlich das Buch wieder schloss, es wieder in die blecherne Büchse tat, diese mit bebender Sorgfalt vergrub, Moos über die Stelle breitete und verklärt vom Schimmer freudiger Andacht aufstand und von dannen ging.

Je näher er dem Wege kam, wo ihm Menschen begegnen konnten, desto langsamer wurde sein Schritt, und als er aus dem Waldesdunkel trat, ließ er auch das Haupt wieder sinken, blieb hie und da vor einem Felde stehen oder bückte sich und warf Steine aus den Furchen, um jeden Schein unerlaubten Gebahrens fern zu halten.

Und dennoch war er gesehen und in allem, was er getan, erraten worden.

Dieser ungesehene Beobachter was unser junger Fremder.

Er hatte, getrieben von der Unruhe seiner Seele, die dunkelste Waldesstelle aufgesucht, um hier seinem Gram wie seinen Hoffnungen ungestört nachhängen und das schützende Dunkel der Nacht abwarten zu können. So traf es sich denn, dass er den geheimnisvollen Bibelfreund schüchtern herankommen, schluchzend seine Andacht verrichten und getröstet wieder von dannen gehen sah.

Der Vorfall erschütterte ihn aufs Tiefste.

Obwohl er den stillen Beter nicht kannte, so war doch die Wahrnehmung ergreifend genug, dass hier nach so furchtbaren Verfolgungen ein Volksgemüt dennoch immer noch an seinem Glauben mit Unerschütterlichkeit festhielt.

Unwiderstehlich zu dem Bibelverehrer hingezogen, verließ daher der junge Fremde seine Ruhestelle und folgte jenem in einer Entfernung, die nicht auffallen konnte. Erst am Saume des Waldes suchte der Fremde einen Vorsprung zu gewinnen und schlug dann eine Richtung ein, die wie zufällig zu einer Begegnung führen musste.

Die Sonne war eben im Untergehen; Ton um Ton aus dem Choral der Lerchen und Waldesvögel verstummte; die Menschen kehrten erquickt vom Duft und Farbenspiel des Frühlings in ihre Behausungen zurück.

Da grüßte unser Fremder jenen frommen Wanderer freundlich, und neben ihm hergehend, suchte er ein Gespräch anzuknüpfen, das auch leicht gelang, da der Greis in froher, gehobener Stimmung war.

Das Gespräch hatte anfangs nur gleichgültige Dinge zum Gegenstande und schien erst da zu wichtigeren Fragen überzugehen, als die Schatten des Abends nach und nach über beide Wanderer niedersanken.

Es war nicht aus der Stärke ihrer Stimme, die im Gegenteil immer leiser klang, wohl aber aus der unbewachten Lebhaftigkeit ihrer Gebärden zu ersehen.

So geschah es endlich, dass die Wandernden, statt den kürzesten Weg nach dem Dorfe einzuschlagen, einen bedeutenden Umweg wählten und im Eifer des Gespräches sogar sich wendeten und – dem Walde wieder zugingen …

Aber was war das auf einmal?

Weinte da jemand?

Die Wanderer blieben plötzlich stehen – und wie? Sie umarmten sich? Sie schluchzten und nannten sich – Vater und Sohn? … Hatte der Zufall, das Glück, ein Wunder, die Vorsehung, eingegriffen und zusammengeführt, die sich schon verloren gaben, sich längst nach unerträglichen Leiden unter den Toten suchten? …

Aber stille; – Achtung vor der süßen, ergreifenden Begrüßung kurz gemessen – niemand sollte Zeuge derselben sein – und schon erhebt sich Lärm in der Nähe und spät Heimkehrende drangen von mehreren Seiten heran …

Die Widergefundenen scheiden auch sogleich – sie geben sich das Wort des baldigsten Wiedersehens – der Sohn eilt dem Walde zu, um sich einsam auszuweinen, und der Vater eilt dem Dorf entgegen mit gehobenem Haupt und eiligeren Schritten, als er je zu gehen pflegte – nur das Dunkel der Nacht verbarg, wie selig er lächelte und wie sein tränenschweres Auge glänzte! …

5.

Gegen Mitternacht klopfte eine zager Finger ans Kammerfenster des ersten Hauses im Dorfe, bald darauf wurde das Fenster sachte geöffnet, und eine schluchzende Stimme heraus:

»Bist Du's? Bist Du's wirklich, mein Kind?«

Und zwei Mutterarme suchten zitternd nach dem Haupte des draußen Stehenden, und als sie es fanden, umschlangen sie es krampfhaft, und mit einem Schrei des Entzückens und des Schmerzes.

Hierauf wurde das Haus leise geöffnet, der nächtliche Ankömmling geräuschlos durch Stube und Kammer in das entlegene Stübchen geführt, dieses sorgfältig verschlossen, das Fenster dicht verhangen und dann erst Licht gemacht.

Unser junger Fremder stand vor Vater und Mutter.

Es war ein Wiedersehen von tief ergreifender Art.

Kind und Eltern, die sich für verloren gehalten, fanden sich an einem Orte wieder, wo sie es einst am wenigsten erwartet hätten.

Es war eine wunderbare Nacht voll Weh und Jubel, voll froher und schmerzlicher Erinnerungen, voll Klagen und Freudentränen. Und je gefährlicher die Zusammenkunft bewachter katholischer Eltern mit ihrem protestantischen Sohne war, desto heißer war die Freude des Wiedersehens …

Wie aber war es möglich, dass Kind und Eltern nach solchen Leiden und Gefahren sich wieder sehen konnten? War ein Wunder geschehen, hatte Gottes Hand sichtbarlich eingegriffen?

Ein Vorfall, einzig in seiner Art, hatte die Eltern im Augenblick der schwersten Prüfung vor Verbannung und Beraubung gesichert, der Fall war folgender.

Die Menschenjagd hatte jenes Tages ihren Höhepunkt erreicht, scharenweise waren Männer, Weiber, Kinder aus den Häusern getrieben worden, alles schrie und jammerte durcheinander, dort suchte noch mitten unter Hieben und geschwungenen Säbeln der Mann sein Weib, die Mutter ihr Kind, der Nachbar seine Verwandten; ohne Rock oder Schuhe, mit fliegenden Haaren floh hier eines vor schnaubenden Pferden, dort vor einem gespannten Gewehrhahn aus dem Dorfe, das Elend hatte einen Grad erreich, so herzzerreißend, dass einige der amen Flüchtlinge augenblicklich dem Wahnsinne verfielen; auch der Vater unseres Fremden, nachdem er vergebens nach Weib und Kind gerufen hatte, suchte weniger um sein trostloses Leben zu retten, als aus Betäubung vor sich hinlaufend die Grenze zu erreichen, verfolgt von einem Trupp Reiter, der, wie Schäferhunde pflegen, immer auf und ab jagte, um die verzweiflungsvolle, schreiende Menschenmenge vor sich her zu treiben.

Der Jammer der Flüchtenden hatte den höchsten Grad erreicht und – »das Jüngste Gericht«, erzählte der Vater seinem Sohne jetzt, »das Jüngste Gericht ist nichts, mein Sohn, ist eine Lustbarkeit dagegen, was ich gesehen und ausgestanden habe. Beim Jüngsten Gericht läuft jeder seinem ewigen Schicksale in die Arme, der eine froh, der andere traurig, jeder hat nur auf sich selbst zu seh'n; Vater, Mutter, Kinder, alle nur für sich, wer weiß, sieht eins das andere im letzten Augenblicke wieder – aber, o mein Sohn, was haben wir damals eines für das andere ausgestanden; zehntausend Schwerter, zweischneidig und feurig, sind nichts dagegen, sie machen doch eilig aus und Amen!

So bin ich dahin gelaufen, ich weiß nicht mehr, wie, ich weiß nicht mehr, wie lange. Ich habe nicht mehr schreien können, wie zugeschnürt ist mir mein Hals gewesen, und jeden Augenblick ist es schwarz vor mir geworden, als ging es geraden Weges in einen Abgrund.

Einmal nur noch, ich hab' es nicht vergessen, hat mein Herz ein neues Weh erlitten in meinem allergrößten Schmerz – o mein Sohn, lache nicht dazu, aber Du kannst nicht glauben, was mich das noch jetzt betrübt!

Ddenk' Dir, unser schwarzer Haushund, der Liebling von uns allen, der hat sich bestechen lassen und hat von einem Husaren ein Stück Fleisch genommen und hat sich hetzen lassen gegen mich und hat mir nachgesetzt und hat mich feindlich angefallen und hat mir nur so im Laufe ein Stück von der Hüfte gerissen; das hat mir den letzten Wehschrei abgedrungen; dann bin ich still geworden und geblieben hab' alles hingenommen.

Gut, o gut, Du wirst noch hören; aber wie ich jetzt so weiter laufe, immer das Schnauben, Fluchen, Säbelklirren hinter mir, kommt die Grenze und ein Graben, er ist breit und vom kürzlichen Regen halb voll Wasser.

Da soll's auf einmal hinübergehen und ist doch ganz unmöglich; die Reiter hinter uns die halten den Graben nicht für breit und das Wasser nicht für tief und fluchen heran und wollen uns mit Gewalt hinüber haben – und unter den Reitern, die ansprengen, ist auch unser Herr Graf.

Jetzt laufen wir hin und her und wissen nicht, wie hinüberkommen, und ich suche den Rand auf dieser Seite hin und möchte einen Steg entdecken und entdecke keinen und laufe so weiter und weiter. Da vermeinen die Husaren und der Graf darunter, ich wollte nach dem Walde zu entkommen, und sie reiten mir nach, und ich werde am Achselbein verwundet und denke, es sei Amen.

Da will ich eben als tot hinfallen und bitte still für meine arme Seele – o mein Sohn, auf einmal blick' ich nur noch so halb empor und seh' einen Zügel fliegen, ein Pferd ledig werden und einen Reiter überhängen, dass er geraden Weges in den Graben fallen und zu Grund gehen muss.

Ich nehme alle Kraft zusammen, fasse mit Macht nach dem Zügel, habe das Pferd auch bald am Gebiss, erbändige es und helfe dem Reiter zu Sicherheit und Halt – aber laufe alsbald wieder, um ein Brücklein zu finden, um vorm Grafen nicht eingeholt, vom Feinde nicht erreicht zu werden.

Da hör' ich eine Stimme hinter mir, die meinen Namen ruft und anbefiehlt, mich um jeden Preis zu fassen; ich denke, jetzt ist es aus mit mir, keine Gnade, mein Ende ist da, und ich werde erfasst und niedergeworfen – und erfahre jetzt erst, ich solle gerettet werden, ich hätte den Grafen gerettet, und auch mein Weib und mein Kind und mein Gesinde und meine Verwandten sollten gesucht und heimgebracht werden, sie wären auf einmal nicht mehr schuldig, nicht ketzerisch im Verdacht – und alles zwar, weil ich den Grafen vom Tode gerettet!

O mein Sohn, Du kannst denken, wie mir da gewesen ist, ich bin als ohnmächtig hingefallen und habe lange nichts mehr von mir und der Welt gewusst.

Wie ich wieder erwach', stehen Deine Mutter, stehen Verwandte, Knechte und Mägde um mich, weinen, schreien vor Freude, und ich mein gestorben zu sein, und wir sähen uns im Paradiese wieder!

Wo aber ist mein Kind? ruf' ich, da ich nur Dich nicht sehe, Sohn. Da stürmt Deine Mutter hervor und fällt mir um den Hals und jammert: du seist gesucht, aber nicht gefunden worden, man hatte Dich noch zu erfragen.

Da ist mein Glück nur halb gewesen, und wir sind traurig heimgegangen und haben unser Haus wieder bezogen; aber siehe da – wer stellte sich auch wieder ein? Der Donau, unser Haushund.

Wie die Türe aufgeht und er hereinspringt, sag' ich: Bist da? Gut, dass Du da bist, Du hast wohl andere Hausleut' erwartet?

Er knurrt, tut trotzig dazu und zieht sich gegen die Eck' hin, und ich sag: Gleich mein Freund, meine Wunde ist ja schon verbunden, wir haben einen Gang miteinander.

Ich nehm' drauf meine alte Flint' und sag': Jetzt komm, ich hab'da aber einen gesehen, der um ein Stück Fraß aus einem Freund und Feind geworden ist, den helf' mir suchen.

Und also werf' ich ein Stück Brot hin, und die Bestie wird freundlich und geht mit mir.

Im Freien sag' ich: Kennst Du sie noch nicht eine Bestie, die um Fraß eine Hand leckt und gleich darauf um Fraß dieselbe Hand vom Gelenke reißt? Und ich werfe wieder ein Brot hin rufend: Sieh', sieh', er kommt – und wie er so dem Brot nachspringt, schieß ich das Schandtier nieder, dass es die Füße bäumt – und hab's gnädig getan – es hat nicht lange zucken dürfen.

Weinend bin ich heim.

Meine Wund' ist lange heil gewesen, aber nicht der Undank dieses sonst so lieben Tieres.

Dieses Tier, hab ich gerufen, stellte sich bei mir ein, und mein Kind soll ich nimmer finden?

O Kind, o Sohn …

Lass mich verschweigen, was gekommen ist, was wir um Dich geklagt und um die Religion im Herzen geduldet haben – die Erlösung von diesem Übel wird kommen, es kann nicht so bleiben, der Himmel muss sich seiner eigenen Sach' noch einmal annehmen – jetzt sind wir erzbischöflich, katholisch – und auch gebrandschatzt und bewacht – aber der Herr ist groß, und ein Herz muss standhaft bleiben!«

So schloss der Vater des Fremden, als ein grauer Lichtstreif im Osten dämmerte und zur Trennung mahnte.

Es musste geschieden sein.

Man trennte sich und trennte sich vielfach getröstet.

War man sich doch am Leben und wohl erhalten geblieben – »und gibt es doch im Herzen eine Stelle, wo man die Bibel nicht entdecken und verbrennen kann«, sagte der Vater leise beim Abschied. –

Mehr als hundert und zwanzig Jahre sind seitdem verflossen. Der Geist des Evangeliums ist durchgedrungen durch Waffen und Mauern und braucht sich nicht mehr in einsame Wälder, hinter Schloss und Riegel und in einsame Herzen zu flüchten; frei aus geht er zwischen den Schildwachen kirchlicher Verfinsterung hindurch und predigt wie einst der Herr und Meister vor allem Volke, auf Höhen und im Tal, in Tempeln und in Hütten, und seine Worte dringen über Land und Meer. Nicht lange mehr, und die Kirche muss sich verjüngen, und die Kirchen werden sich versöhnen im Geiste des Evangeliums, einig werden im Herrn.

Friede, Freude, Versöhnung!

Ehre jenen Armen, aber Starken im Geiste, die standhaft blieben und dem Geiste zur Brücke dienten in unsere Zeit herüber, die dem Geiste huldigt, wo er sich zeigt in erhabener Gestalt und mit dem Banner der Liebe – ja der Liebe –

Denn Gott ist die Liebe!

 

Ende des zweiten und letzten Bandes.

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