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Erstes Kapitel.
Ohne Zauber und Liebestränke

Gotthard hatte frühzeitig einsehen gelernt, dass bei der leichtfertigen Art zu wirtschaften seine Eltern schließlich kaum einem einzigen, viel weniger mehreren Kindern genug hinterlassen würden, um ihre Zukunft zu sichern oder auch nur zu erleichtern. Frühzeitig suchte daher sein regsamer Geist nach Mitteln und Wegen, um eines Tages auch ohne elterliche Nachhilfe sein Fortkommen, seine Stellung im Leben zu finden. Diese Mittel und Wege waren in erster Reihe Fleiß und Kenntnisse; beide konnten im elterlichen Hofe geübt und erworben werden, da es an Arbeit daselbst nicht mangelte und im versteckten Bücherstübchen ein reicher Schatz nützlichen Wissens zu heben war. Gotthard machte sich beide Gelegenheiten stille und schweigsam zu Nutze, ohne außer Acht zu lassen, dass der Mensch auch sehr wohl tue, wenn er sich tüchtig in der Welt umsehe; glückliche Erfahrungen und wohlbenützte Gelegenheiten haben oft noch rascher als Fleiß und Kenntnisse zu Ansehen und Wohlsein geführt.

Schon wollte daher Gotthard, kaum siebzehn Jahre alt, seinen Eltern den Entschluss, in die weite Welt zu gehen eröffnen, als eines Tages ein Vorfall diesen Entschluss für immer umwarf und Gotthard veranlasste, einen rasch und tief entworfenen Zukunftsplan in der Heimat selbst auszuführen.

Gelegentlich eines Festes zu Hohengant traf es sich nämlich, dass Gotthard mit seinen Eltern im blauen Bären mit dem Arauer und seiner Tochter zusammen traf und zum ersten Male auf Luzien aufmerksam wurde, die eben angefangen hatte, die Aufmerksamkeit der Gegend auf sich zu ziehen. War sie ja doch die erste Partie im weitesten Umkreis, stach sie doch durch Schönheit und Frische vor allen Mädchen überraschend hervor, und ihr origineller, kecker und zu Zeiten unbändiger Charakter erregte Staunen, Schrecken und Ergötzen.

Der Arauer hatte mit seiner Tochter den blauen Bären kaum betreten, als Luzia der Gegenstand aller Blicke und gespannter Erwartung wurde. Während er Arauer, in seinem weißblauen, langen Rocke, mit kleinen, schnellen Schritten durch die Wirtsstube auf einen Tisch losging, wo für ihn und seine Tocher Platz zu finden war, hatte Luzia alsbald hier mit einer Bekannten, dort mit einem mitunter gar nicht feinen Gaste Blicke, Worte und Witze zu wechseln, welche ihre frische Gewandtheit und ihre derbe Offenheit merkwürdig bekundeten. Noch bevor sie ihren Platz an der Seite des Vaters einnahm, brachte sie bereits mehrere Male die ganze Stube zu hellem Gelächter, und hier und dort erhob sich der halblaute Ausruf:

»Ein Prachtmädel das! Ein Satan! Ja, fang' nur einer mit der da an!«

Eine kaum enden wollende Heiterkeit erregte es, als Luzia einen Burschen, der in aller Stille austrank und sich unbemerkt aus dem Staube machen wollte, lachend zurief:

»Wie geht's, achttägiger Strohwittwer?«

Der Bursche ließ beinahe das Glas fallen und fuhr mit brennrotem Gesichte zur Türe hinaus – denn er hatte vor acht Tagen als Luziens erster Freier eine wahrhaft glänzende Abweisung erhalten!

Dass mit diesem boshaft-lustigen Akt von Rache Luziens Humor und das mit stillem Schauer gemischte Vergnügen der Gäste nicht vorüber war, dafür sorgten alsbald einige andere, in die Unterhaltung zu schlachtende, zudringliche oder vorwitzige Opfer.

Je nach dem längeren oder kürzeren Widerstande eines Gegners verfuhr Luzia auch grausamer oder milder, und es tat nicht selten Not, dass man ihr Gesicht ansah und ihr Lachen hörte, um ihre scharfen Wortpfeile nicht zu bedenklich zu finden. Zwei prächtige Reihen weißer Zähne und das Grübchen im Kinn gewannen viel von dem wankenden Vertrauen wieder zurück, das jetzt und jetzt zu entweichen drohte, und wo auch das helle, herzliche Gelächter nicht gewinnen wollte, stand das merkwürdige, herrliche, von Übermut und schönem Feuer leuchtende braune Auge als Bürge ein, dass Luzia im innersten Wesen trotz ihrer Wildheit eine wackere, gute Natur sei.

Die Familie des Dasselhofes und der Arauer mit Luzien waren an zwei neben einander stehende Tische zu sitzen gekommen, und zwar so, dass Gotthard zu einem harmlosen, ruhigen Gespräche, das der Arauer, ohnehin durch das feurige Temperament der Tochter fort und fort in Sorge und Verlegenheit gesetzt, gerne annahm, da es ihn angenehm ableitete und beschäftigte.

Das ruhig und um manchen nützlichen Gegenstand sich drehende Gespräch bildete einen scharfen Gegensatz zu dem lärmenden oder lauernden Betragen der übrigen Gäste, und selbst zu der ernsten Schweigsamkeit der Angehörigen Gotthards; denn der alte Dasselherr, damals noch in gutem Kredit und Ansehen unter den Leuten, verharrte in regungsloser Würde und mit gekrauster Stirne auf seinem Platze, während seine Frau, halb verlegen und betroffen, bald ihr Oberhaupt und bald die Gäste um sich her ansah.

Konnte der lebhaften und mit ihrem Feuerauge überall herrschenden Luzia das ruhige und gleichgültige Verhalten des ihr beinahe gegenüber sitzenden Gotthard nicht entgehen, so musste ihr dessen Betragen gerade da besonders auffallen, als der alte Dasselherr sich erhob, um das Wirtshaus zu verlassen.

Denn Gotthard blieb noch, als seine Eltern bereits vor der Türe waren, eine Weile neben dem Arauer stehen und vollendete mit aller Muße das kurz zuvor begonnene Gespräch.

Auch nicht ein Blick seines tiefgeistigen, blauen Auges fiel auf Luzien, die, wie es nicht mehr zweifelhaft war, jetzt darauf wartete, von dem seltsamen Menschen angesehen oder angesprochen zu werden. Denn es war das erste Mal, seitdem sie angefangen zu beobachten und beobachtet zu werden, dass ihr ein Mensch weder einen forschenden noch schmachenden noch furchtsamen oder verwirrten Blick zuwarf; Gotthards festes, sicheres Angesicht mit der klaren, runden Stirne schien von der Nähe eines schönen, auffallenden Mädchens auch keine Ahnung zu haben, und wie es ernst und nachdenklich blieb im Verlaufe des Gespräches mit dem Vater Luziens, so blieb es ernst und ruhig, als sich Gotthard – ohne Blick, ohne Nicken, ohne Gruß aus der Stube entfernte.

Luzia folgte dem seltsamen Menschen bis an die Türe mit den Blicken – dann wendete sie sich verdrießlich nach der anderen Seite und dache mit ironischem Lächeln:

»Der ist mir auch das letzte Mal so ohne Weiteres entkommen!«

Indem Luzia in der Stube so mit kühnen Rachegedanken sich befasste, ging draußen Gotthard mit dem Gedanken seinen Eltern nach: – Diese Luzia ist's – keine andere wird mein Weib! …

Acht Tage nach diesem Vorfalle teilte Gotthard seinem Vater mit, dass er gesonnen sei, auf dem gräflich Mannbach'-schen Gute bei Friedheim freiwillige Dienste zu tun, um die Art und Weise der Bewirtschaftung größerer Güter kennen zu lernen und dabei die Fortschritte der Landwirtschaft sich anzueignen; er habe, fügte er hinzu, mit dem Herrn Verwalter bereits alles abgemacht und werde also schon am folgenden Tage seinen Dienst antreten.

Der Verwalter des gräflichen Gutes war ein verehrter Bekannter und nicht seltener Gast des Dasselhofes, und Gotthards Vater hatte also gegen das Abkommen seines Sohnes nichts einzuwenden; nur der Ausdruck »Dienste tun« wollte ihm nicht behagen, da ein geborener Dasselhöfer keine Dienste zu tun brauche; er verbesserte daher den Ausdruck des Sohnes dadurch, dass er sagte:

»Du willst zu Friedheim Landwirtschaft studieren, das sollst Du unbehindert, Gotthard, ich muss Deinen Vorsatz loben!«

Andern Tages befand sich Gotthard bereits auf dem großen Gutshofe zu Friedheim, und zwar einmal, um wirklich alle Vorteile einer höheren Landwirtschaft praktisch kennen zu lernen – zum andern aber, um dem Arauerhofe nahe zu sein, der sich kaum eine Viertelstunde Weges vom gräflichen Gute befindet.

Mit dem Arauerhofe war damals noch der gegenüber liegende Adler und die große weiter unten befindliche Sägemühle verbunden.

Beide Geschäfte gaben oft Anlass zum Besuche des Arauerhofes, und besonders die Schenke machte eine Berührung mit der Familie des Hofes täglich und stündlich leicht. Denn die zu jener Zeit noch lebende Arauerin, eine große, schöne und äußerst rüstige Frau, setzte ihre höchste Ehre darein, das bedeutende und vielseitige Anwesen selbst zu leiten, und bestand darauf, dass auch ihre Tochter, als einzige künftige Erbin, in alles persönlich und rüstig einzugreifen lerne. Die Folge davon war, dass Luzia frühzeitig neben ihrer Mutter auch die rüstige Wirtin spielen lernte und also eine Schule des Lebens durchmachte, welche gerade einige der befremdlichsten Züge ihres Charakters erklären.

Wer da weiß, welches Durcheinander von Gästen eine Wirtsstube Jahr aus Jahr ein bevölkert, welche Freiheit im Reden und Betragen selbst nüchterne und in Familienkreisen bescheidene Personen sich beim vollen Glase erlauben, wie wenig an sich rohe oder angetrunkene Personen an öffentlichen Orten von Mäßigung und Schranken wissen wollen, der wird mit einigen Sorgen eine junge, überraschend schöne Tochter, die noch dazu eine glänzende Heiratskandidatin ist, gezwungen sehen, sich in diesem bedenklichen Lebenskreise zu bewegen. Nun musste zwar dem Adler zur Zeit, wo er noch in Arauers Händen war, das Zeugnis gegeben werden, dass er zu jenen geachteten Wirtschaften gehöre, die einem Gaste den Aufenthalt angenehm machen und ihn unwillkürlich zu äußerem Anstand anleiten; die große Wirtsstube war von musterhafter, niederländischer Reinlichkeit; Tische, Stühle und Bänke waren stets blank, und das Geschirre glänzte anmutend von den Wänden; auch war es zu Zeiten, wo sich ausnahmsweise gar zu unbändige Gäste und Auftritte nicht abwehren ließen, selbstverständlich, dass Luzia freiwillig sich aus dem Schanklokale ferne hielt.

Nichts desto weniger blieb von dem Leben und Treiben einer Wirtsstube noch eben genug übrig, um Luzien Gelegenheit zu geben, ihr Ohr und Auge wohl in Acht zu nehmen und mit ihrem Gemüte auf der Hut zu sein. Aber von ihrer elastischen und gesund-energischen Natur glitten Reden und Zudringlichkeiten wie von einem glatten Panzer ab, und an dem Beispiele der wackeren, kurz angebundenen Mutter hatte sie bald genug gelernt, gegen Unlauterkeit oder Rohheit eine Lanze einzulegen und den Versuchen so heimzuzahlen, dass sie ihre Späße ein zweites Mal für sich behielten. Bei Luzien kam dann noch die hervorragende Gabe eines schlagbereiten, treffenden Witzes hinzu, der sich bei der leisesten unwillkommenen Anspielung wie der elektrische Schlag eines Aales entlud.

Aber während Luzia so die verwegensten Gäste in die gehörigen Schranken zurückwies, verfehlten doch ihre Schönheit, die natürliche Frische ihrer Natur – und namentlich die Aussicht auf ihre noch zu erwerbende Hand keineswegs, die größte Anziehungskraft auszuüben.

Väter, die gerne Luzien in Verbindung mit ihren Söhnen gesehen; Söhne, die gerne einem so schönen und reichen Weiblein eigen geworden wären, selbst auf die Gefahr hin, den Pantoffel in ihr Hauswappen aufnehmen zu müssen; Vettern und Basen, die eine Luzia trotz ihrer gefürchteten Eigenschaften gar zu gerne in ihre Verwandtschaft eingereiht hätten; Witzbolde, die durch einen Sieg über Luziens Humor nach Beförderung lechzten, geschlagene Witzbolde, die mit einer Niederlage zufrieden, voll glühender Schadenfreude neue Unglücksbrüder stempeln sahen – solche und manche andere, mehr oder weniger interessierte Gäste, waren in dem Adler zu jeder Gelegenheit zu treffen.

Das eigentlich Gefährliche im Rufe Luziens wurde erst überwiegend, als deren Mutter plötzlichen Todes starb und ihr, da der Vater nur das stille, mit allem zufriedene und in nichts sich mischende Jajamännchen blieb, die nicht geringen Sorgen eines schwer zu übersehenden Anwesens überließ.

In Luziens Benehmen kam jetzt ein tieferer Ernst, eine erhöhte Energie der Tätigkeit, eine schneidendere Schärfe des Urteils und des Witzes, uns als sie einerseits die Unterwürfigkeit bemerkte, welche ihr die Leute ihres Geistes wegen bezeigten, andererseits die Schmeicheleien zu kosten bekam, die ihr von Bewerbern und deren Verwandten zuteilwurden, da regte sich außerdem eine starke Versuchung zu Hohn und Verachtung der Menschen überhaupt, welche mitunter auf höchst originelle und zum Landesgespräch werdende Weise ihren Ausdruck fand.

Schmählicher und lustiger zugleich ist noch kein Freier einer übermütigen Schönheit in das Netz gelaufen und wieder mit einem Kunstkorbe daraus vertrieben worden als der erste Bursche, welcher um die Hand Luziens anzuhalten wagte; diesem in ihren Jungfernzorn geschlachteten Opfer folgte bald ein zweites und nach einem kurzen Schreckensintervalle ein drittes – bis die Lebensgefährlichkeit dieser Freierei ein allgemeiner Glaubenssatz wurde und die Eroberung Luziens als platte Unmöglichkeit erschien …

In diese Zeit fiel Gotthards Bekanntwerden mit Luzien und sein Entschluss, sie als Gefährtin seines Lebens heimzuführen …

Der Punkt, von welchem aus er wirken wollte, war ohne Frage gut gewählt.

Das nahegelegene gräfliche Gut hatte manche Beziehungen zu Friedheim und zum Arauerhofe insbesondere, und wenn sich's Gotthard angelegen sein ließ, manche Gänge und Geschäfte dahin selbst zu besorgen, so hatte er Gelegenheit genug, Luzien zu sehen und auf seine Weise zu behandeln.

Und dies beschloss er auch.

Eines Tages kam er, um eine namhafte Bestellung für den gräflichen Hof in der Sägemühle zu machen; obwohl er wusste, dass der Arauer zu früher Morgenstunde niemals im Gebäude des Adlers zu treffen war, so trat er doch zuerst in die Wirtsstube, um ihn daselbst zu suchen. Der Arauer war richtig nicht da – aber dafür Luzia, die er suchte – und zwar in einer Verfassung, wie er voraussetzte, dass er sie um diese Stunde finden müsse.

So wenig auch Luzia sonst von Geldstolz wusste oder wissen wollte, so war ihr doch das verzeihliche, in seiner Art sogar lobenswerte Bestreben eigen, sich einem Fremden niemals anders als in gutem sorgfältigen Anzuge zu zeigen. Auch betrachtete sie es als Ehrensache, in allen Wohn- und Geschäftsgelassen ganz so, wie ihre selige Mutter, am frühesten Morgen die beste Ordnung und Reinlichkeit herzustellen.

Wie also jenes morgens Gotthard plötzlich in die Wirtsstube trat, fand er Tische und Stühle von ihren Plätzen gerückt und selbst die Fenster zum Reinigen ausgehoben; – Luzia selbst aber – stand in einem Anzug unter den kommandierten Mägden da, der wohl für die laufende Arbeit, keineswegs aber für das Auge eines vielleicht empfindlichen Fremden geeignet war. Ein lächelnder, dann ernster Blick Gotthards flog über Luziens Gestalt und Angesicht hin, worauf er sich lautlos zur Base Luziens wendete, die in einer Ecke unter Trinkgläsern hantierte, und fragte kurz und ruhig:

»Den Arauer such' ich – find' ich ihn nicht hier?«

Die Base erwiderte arglos:

»Der Schwestermann ist drüben im Hof« – und mit dieser Antwort zufrieden, ging Gotthard grüßend wieder fort, ohne Luzien noch einmal anzusehen.

Diese, weit entfernt, sich durch eine solche Überraschung außer Fassung bringen zu lassen, stand doch hoch errötend zwischen Tischen und Bänken da und sprach beim Erteilen der folgenden Befehle etwas hastig und verdrossen.

Nicht gerade der fremde Besuch überhaupt fiel ihr empfindlich, sondern der Umstand, dass derselbe junge Mann, der sie schon einmal unbeachtet zu lassen im Stande war, sie in diesem schwachen Augenblicke ihres Anzugs hatte überraschen müssen.

Was dachte er im ersten Momente, als er sie so dastehen sah? Und was meinte er mit den zwei so ganz verschiedenen Blicken aus den in der Tat überraschend schönen blauen Augen?

Dies war's, was Luzien wohl zu denken gab; sie blieb länger verdrossen als sonst ihre Gewohnheit war und ärgerte sich endlich gerade darüber am meisten, dass sie sich »einer Dummheit wegen« so ungebührlich habe verstimmen lassen.

Dieser unwirschen Stimmung gab sie den rechten Ausdruck, als sie später auf die Mitteilung des Vaters, Gotthard habe zehn Lagen Bretter und Blanken aus der Sägemühle bestellt, erwiderte:

»Hätte mir das der Mensch nicht gleichfalls sagen können?«

Der feine Pfeil des Verdrusses, der schon früher unwillkürlich in ihrem Herzen sich festgesetzt hatte, drang jetzt etwas tiefer, und Luzia beschloss mit wirklich bedenklicher Heftigkeit, sich an Gotthard, wann und wie es auch sei, zu rächen. Jedenfalls sollte ihm bei der ersten Gelegenheit der Kopf verrückt – und wenn er einmal im Netze ihrer Verlockungen zappelte, eine Enttäuschung bereitet werden, an die er Zeit seines Lebens denken sollte.

Zu ihrer nicht geringen Freude glaubte sie bald genug aus allerlei Zeichen zu entnehmen, dass Gotthard anfange, Luzien mit ganz anderen Augen zu betrachten als bisher.

Da die gräflichen Gutsgebäude für sich abgeschlossen außer Firedheim lagen und nach letzterem Orte eingepfarrt waren, so mussten die Bewohner derselben, auch Gotthard, den Gottesdienst in Friedheim besuchen. Dieser Umstand musste also in Kurzem ein Wiedersehen veranlassen, und Luzia konnte, ohne dass es auffiel, durch ihren Anzug und durch ihr Auftreten, Gotthards Aufmerksamkeit unerbittlich auf sich ziehen.

Wirklich geschah es schon am nächsten Sonntagmorgen, dass Gotthard, in Gedanken am Adler vorübergehend, plötzlich wie betroffen stehen blieb und nach einem offenen Fenster blickte, wo Luzia, für den Kirchgang gekleidet, wirklich blendend schön dastand und ein Eichhörnchen an der Kette fütterte.

Luzia erwiderte seine Blicke scheinbar nicht, allein es entging ihr auch nicht, dass Gotthard nach einigen Schritten wieder stehen blieb, Anstalt zu einem Gruße machte und erst nach einigen Sekunden wieder weiter ging.

»Aha!« dachte Luzia triumphierend, »so bin ich endlich dennoch für Dich auf der Welt? Ich sage Dir, Du sollst mir noch wie dieses rothaarige Tierchen Futter aus der Hand nehmen!«

Sonntag nachmittags pflegte der gräfliche Verwalter mit seinen Leuten, wie überhaupt die Honoratioren aus der Umgegend, in den Friedheimer Adler zu kommen und bis nachts beisammen zu bleiben.

Gleich den ersten Sonntag nach seiner Ankunft auf dem gräflichen Gut erschien auch Gotthard an der Seite des Verwalters. Luziens Auge flammte, ihre Seele jubelte, das ersehnte Opfer heute und wahrscheinlich jeden künftigen Sonntag in ihr Bereich kommen zu sehen.

»Ich hab' ihn – hab' ihn!« dachte sie und rückte selbst die Stühle des Tisches zurecht, an welchem die Herren zu sitzen pflegten.

Die Herren traten ein; der Verwalter, ein dicker, immer heiterer und im Gesicht braunroter Herr, grüßte Luzien wie immer mit einem gutmütigen, oft gehörten Scherze, nahm dann seinen Platz ein, den er gewöhnlich bis zum Aufbruch gegen neun Uhr inne zu haben pflegte.

Gotthard, der an der Seite des Verwalters eingetreten war, schien ebenfalls die Absicht zu haben, ein Wort an Luzien zu richten, allein er merkte – keineswegs zu seiner Unruhe – dass Luzia sich seinem Gruße rasch entzog und selbst nach dem Keller eilte.

Als sie aus dem Keller zurückkam, hatte sich die eben angekommene Gesellschaft bereits gesetzt; Luzia stellte die vier Gläser, die sie brachte, auf den Rand des Tisches, schob das erste dem Verwalter, das zweite einem Gutspächter aus Forbach, das dritte dem Postmeister aus Lüttern hin und schien gesonnen zu sein, das vierte Glas aus ihrer Hand Gotthard zu widmen; allein da dieser sich in einem freundlichen Gespräche mit der hübschen Schwester des Postmeisters, die mitgekommen war, nicht stören ließ – schob Luzia das Glas dem Schreiber des Verwalters hin und ließ Gotthard durch eine ihr auf dem Fuße folgende Magd bedienen.

Somit begann der Nachmittag für die Absichten Luziens keineswegs so erwünscht, als sie dachte, und sie musste es erleben, dass Gotthard wie verblendet an der Unterhaltung der hübschen Schwester des Postmeisters festhielt und kaum einmal einen Blick auf Luzien übrig hatte.

Eine Weile gelang es Luzien, ihre verdrießliche Aufregung ruhig in sich zu verschließen, dann aber machte sich ihr Herz durch lebhaften Verkehr mit den Gästen und durch ihren gewohnten Humor Luft, der so beliebt und gefürchtet zugleich war.

Leider waren aber selbst der Beifall und das häufige Gelächter der Gäste nicht im Stande, Gotthards ruhige Unterhaltung mit der hübschen Therese einen Augenblick zu unterbrechen, vielmehr schien es, als schätze sich die Letztere besonders glücklich, einen jungen, anziehenden Mann mit ihrer naiven Geschwätzigkeit unterhalten zu können.

Dies war für die Geduld Luziens zu viel; und ebenso der Schwester des Postmeisters als Gotthard zum Possen, beschloss sie der »unerträglichen Murmelei« gewaltsam ein Ende zu machen.

Als sie daher das nächste Glas nach dem Herrentische zu bringen hatte, setzte sie sich plötzlich neben Theresen auf einen Stuhl und zwang diese durch allerlei Fragen und Andeutungen zu einer Unterhaltung mit ihr.

Gotthard, der es in der Hand hatte, Theresen alsbald wieder in das frühere Gespräch zurückzuführen und Luzien aus dem Felde zu schlagen – überließ dagegen sofort mit bescheiden lächelnder Miene Luzien das Feld und führte Theresens Aufmerksamkeit, die immer gerne wieder zu ihm zurückgekehrt wäre, wie ein wohlgebildeter, artiger Mann entgegen, wobei er sich anstellte, als wäre ihm selbst nichts lieber, als den Worten Luziens mit großer Teilnahme zu horchen. Seine Blicke nahmen dabei eine Milde, eine Achtung, eine so süße, wohltuende Verehrung an, dass Luzia, die in diesen Augen Verdruss und Kampflust erwartet hatte, ihren Humor in Unordnung geraten sah und deshalb das Gespräch mit Theresen früher, als es ihre Absicht war, wieder aufgab.

Eine wohltuende, geflügelte Stimmung hob ihre Brust eine Weile, und wie das Bild der Sonne, in die man flüchtig geblickt, schwebten die schönen, kräftig-süßen Blicke Gotthards vor ihr in der Luft.

Allein, was war denn auf einmal los?

Wollte Luzia denn in den abscheulichen Menschen, wie sie Gotthard oft in Gedanken genannte, verliebt werden, oder wollte sie für seine früheren Unachtsamkeiten Rache an ihm nehmen?

Diese wohl aufzuwerfende Frage war es, welche Luziens Herz in der Tat bald stellte, und die Antwort war der Beschluss, den unerträglichen Menschen, da er ihr nun einmal mit unbewachten Blicken eine Art von Liebeserklärung gemacht – sofort tiefer in Liebe durch Eifersucht hineinzujagen – natürlich mit dem Vorbehalte, sich selbst von Liebe frei zu halten.

Glücklicher Weise hatten sich die nötigen Bedingungen zu diesem Werke soeben in der Person des späteren Adlerwirts Glaner mit seinem Sohne Heinrich eingefunden.

Letzterer hatte von seiner Wohlbeleibtheit in der Gegend den spaßhaften Namen »Speckheinrich« erhalten; allein er war doch unbestritten einer der schönsten Menschen, die man sehen kann und jedenfalls das Meisterstück der Männerwelt rund herum.

Der Speckheinrich war erst vor Kurzem aus der Hauptstadt heimgekommen, wo er als Oberkellner sein Geschäft betrieben und städtische Manieren angenommen hatte, er war daher hübsch und sorgfältig gekleidet, und sein, von der Sonne wenig berührtes Gesicht hätte nach Form und Färbung seine beste Stelle in dem Schaufenster eines Haarkräuslers gefunden.

Speckheinrich hatte daher mit seinem Vater an einem Tische kaum Platz genommen, als Luzia beschloss, ihn als Mittel zu benützen, um Gotthard eifersüchtig zu machen und so für immer zu fangen.

Da Speckheinrichs Vater schon seit einiger Zeit wegen Ankauf des Adlers mit dem Arauer unterhandelte, so war es Luzien leicht, ihren sonst nur flüchtig in der Gaststube ab- und zutrabenden Vater zu veranlassen, sich bei Herrn Glaner niederzulassen und längere Zeit mit ihm zu unterhalten.

Als der Vater am Tische neben dem schönen, jungen Menschen saß, durfte natürlich Luzia sich auch ohne aufzufallen sich länger in der Nähe aufhalten, und es gelange ihr in der Tat, mit dem wie Milch und Blut aussehenden Burschen ein Gespräch zu führen, das derselbe allen Ernstes, Luzia aber mit neckischer Lebendigkeit führte. Also machte auch sie es ihrem Gegner Gotthard vortrefflich nach, indem sie ihre ganze Aufmerksamkeit dem schönen Heinrich scheinbar widmete; – allein sie erzielte doch nur einen Erfolg, welcher für den Augenblick sehr zweifelhaft und für die nächsten Tage gerade für Luzien sehr peinlich werden sollte.

Denn als Luzia nach einiger Zeit die boshaften Früchte ihres Benehmens in den Mienen Gotthards suchen wollte – fand sie ihn, statt mit gespannten Blicken ihre Betragen zu beobachten, wie früher in eine harmlose Unterhaltung mit der Schwester des Postmeisters vertieft, welche nur dann und wann durch ein Gespräch mit dem Verwalter und dessen Begleitung unterbrochen wurde. Diese Entdeckung trieb Luzien mit gewohnter Leidenschaft auf dem einmal betretenen Wege weiter und weiter, und dies war wieder Schuld, dass trotz der arg misslungenen Freiereien anderer und trotz des gefährlichen Rufes der Arauerin – Glaner und Sohn den Gedanken an eine Werbung ernsthaft anfassten und nächstens damit hervorzutreten beschlossen.

Als abends gegen acht Uhr die Gesellschaft des Herrentisches sich erhob, um sich auf den Heimweg zu begeben, entging es Luzien nicht, das Gotthard einige Augenblicke bald den jungen Glaner und bald sie aufmerksam betrachtete und dann mit ruhigen, aber seltsam leuchtenden Blicke Abschied nahm.

War das Eifersucht, was aus dem letzten Blicke Gotthards sprach? War's Geringschätzung oder gar Verachtung?

Zu letzterer Annahme war in der Tat ein Anlass dadurch gegeben, dass der junge Glaner zwar als musterhaft schön galt, aber leider zugleich auch – als ausnehmend dumm bekannt war.

Ein Gefühl von Reue beschlich Luzien, als Gotthard sich entfernt hatte, es kam ihr vor, als ob sie sich in seinen Augen viel vergeben habe, da sie an einen notorischen Einfaltsmenschen so viel Zeit und Unterhaltung verschwendet habe – sie fing sogar an zu befürchten, dass Gotthard wenig Lust mehr bezeigen könnte, an Sonntagnachmittagen in den Adler zu kommen.

Und in der Tat vergingen jetzt nicht weniger als vier volle Wochen, ohne dass Gotthard, der sich in seine Geschäfte und an freien Tagen in der Bibliothek des Verwalters vertiefte, wieder zum Vorschein kam.

In diese Zeit fiel das erste Auftreten des diplomatischen Sendbotens, Sechter von Namen.

Er erschien eines Tages im gräflichen Gutshofe, um eine Meldung bezüglich der Sägemühle zu machen, und als er bereits wieder im Fortgehen war, raunte er dem Schreiber des Verwalters zu:

»Herr Lambert, seht doch zu, dass Ihr ja als Hochzeitsgast nicht vergessen werdet – die Arauer Luzie soll mit dem jungen Hartinger versprochen sein!«

Das Geheimnis wurde natürlich nur mitgeteilt, um Gotthard nebenher zu Ohr zu kommen, und insofern machte es auch wirklich zur selben Stunde noch den erwünschten Weg.

Allein die Werbung, welche diese Nachricht offenbar hervorbringen sollte, wurde doch keineswegs erzielt.

Gotthard erschien weder unruhiger, noch abgehärmter als bisher, auch war von Eifersucht in seinem Benehmen nichts zu spüren; am allerwenigsten schien er einen Versuch machen zu wollen, die angebliche Braut dem angeblichen Bräutigam abspenstig zu machen.

Denn es vergingen abermals vierzehn Tage, ohne dass Gotthard sich im Adler zu Friedheim sehen ließ; ja es musste einem Zufalle vorbehalten werden, ihn überhaupt wieder einmal beim Arauer sichtbar zu machen.

Der Arauer hatte am Himmelfahrtstage seine Schwägerin nach Oberalpkirchen gefahren um dort dem Gottesdienste beizuwohnen und bei dieser Gelegenheit in der dortigen Brauerein einige Bestellungen zu machen.

Auf dem Rückwege, nachmittags vier Uhr, kam das Wägelchen desselben eben an dem gräflichen Gutshofe vorüber – als Gotthard, mit einem Buche in der Hand, aus dem Garten auf den Fahrweg heraustrat.

Er schien das Gefährte erst zu gewahren, als er durch den Arauer angerufen wurde – trat dann ruhig und freundlich an das Wägelchen hin und reichte dem Arauer und seiner Schwägerin die Hand.

Beide fragten sogleich, warum er sich denn gar so lange nicht habe sehen lassen, und der Arauer fragte noch besonders, ob denn der Herr Verwalter heute wie gewöhnlich im Adler zu Friedheim sei.

Gotthard bejahrte es, und die Schwägerin Arauers sagte sogleich:

»Dann könnte man ja auch mitfahren und unter Leute kommen, anstatt da herum den Einsiedler mit bloßen Büchern zu machen!«

Gotthard schien einen Augenblick nachzudenken und erwiderte dann:

»Wenn Platz gemacht werden kann, es gefiele mir wirklich nicht übel!«

Nun fehlte es an Platz in der Tat nicht, man rückte zusammen, Gotthard stieg rasch und leicht in den Wagen und ließ sich zwischen beiden nieder. Er war ruhig und heiter und schien entschlossen, eine solche Gelegenheit nicht zu versäumen, um sich seiner Begleitung auf eine ganz neue Weise angenehm zu machen.

Auf das Buch deutend, welches er in der Hand hielt und jetzt einsteckte, bemerkte er, wie gut es doch sei, außer der Nutzbarkeit und Bewirtschaftung einer Gegend auch die Geschichten und Fabeln derselben kennen zu lernen; er habe heute erst einen großen Genuss gehabt, indem er solchen Ausweisen über die Friedheimer Gegend in der Büchersammlung des Herrn Verwalters nachgeforscht.

Und auf eine Burgruine des Datterich-Berges zeigend, dann mit dem Finger immer tiefer am Berge herab auf einen Wiesenhang und einige Felsspitzen deutend, fuhr er fort: »Da bin ich seit Mittag im Geiste viel herumgewandert, zu meinem Schrecken und auch zu meiner Freude; – und das Beste ist gewesen, dass ich auch im Arauerhofe herumgekommen bin – in Euerm Hofe, Arauer, wo sich ja einmal ein merkwürdiger Geist herumgetrieben hat!«

»Ei Du meine Güte«, sagte die Tante Luziens mit leisem Schauder, »was ist denn das, wovon wir alle nichts wissen?«

Gotthard sagte, er wolle, wenn es so recht sei, der Reihe nach alles, was er gelesen, kurz erzählen und mit der Geistergeschichte des Arauerhofes schließen.

Man ersuchte ihn, also zu tun, und er erzählte mehrere sinnige Geschichten, von denen hier nur andeutungsweise die Rede sein kann …

Nach Gotthards Erzählung hatte der letzte Ritter der sichtbaren Burg dort oben, ein wüster Geselle und Buschklepper, eines Tages seine schöne, fromme Gemahlin, die er mit unwürdiger Eifersucht verfolgte, im Rausch und Jähzorn erstochen. Sie wurde in einem Winkel der Burgmauer begraben, und es sollte kein Denkstein oder Zeichen später die Stelle dieses Grabes erraten lassen. Siehe, da wird schon am folgenden Tage dem Ritter gemeldet, dass über Nacht eine wunderschöne Lilie aus dem Grabe herauswachse, und wie so oft sie auch weggeschafft werde, doch immer von Neuem wieder zum Vorschein komme. Des wollte sich der Trutzbold von Gemahl mit eigenen Augen überzeugen, trat mit rohem Gelächter neben das Grab hin – und sah die Lilie, schlank und weiß, wirklich da stehen. Sogleich nahm er sein Schwert aus der Scheide und hieb die Blume knapp über dem Boden glatt ab – aber siehe da, die Lilie kam wieder, und je öfter der Ritter sie abhieb, desto schneller und schöner trieb sie aus dem Grabe hervor. Da ward denn auch dem wüsten Gemüte des Ritters seltsam zu Mute, er fing an, die Lilie als ein Zeichen der Unschuld seiner gemordeten Gemahlin anzusehen, ließ deren irdische Reste feierlich in die Gruft der Burg übertragen, verfiel einer tiefen Schwermut und zog eines Tages fort in die weite Welt, um in einem Kloster seine Tage in Buße zu vollbringen. Die Lilie aber blühte so lange auf dem Grabe, bis des Ritters Tod erfolgte, dann verschwand auch sie auf einmal – natürlich, da der gestorbene Mörder keines irdischen Zeichens mehr bedurfte von der Unschuld seiner engelreinen, unschuldig gemordeten Gattin …

Gotthards Begleiter sahen jetzt die Ruinen der alten Burg mit eigentümlichen Blicken an, und Luziens Tante sagte:

»Wie doch ein Ding einem gleich so ganz anders vorkommt, wenn man etwas davon weiß! Ich hab' diese alten Mauerzacken sonst kaum einmal angesehen!«

»Aber was weißt Du sonst noch, Gotthard, von dem Berge?« fragte der Arauer.

Gotthard zeigte auf eine Hangwiese mit grauer Felsenwand und etwas tiefer auf zwei seltsame, über das Gesträuch hervor sehende Felsenspitzen und erzählte zwei höchst wundervolle Begebenheiten, von denen sich die erste auf eine Berghöhle voll fabelhafter Schätze, die andere auf das Leben und die Taten eines, zwischen den zwei Felsen in einer Klause lebenden Einsiedlers bezog.

Der Arauer und seine Schwägerin wurden von den Geschichten höchlich erbaut und verlangten jetzt mit doppelter Begierde nach der Geistergeschichte ihres eigenen Hofes; aber der Wagen hatte bereits die ersten Häuser Friedheims erreicht und Gotthard sagte:

»Es tut mir leid; es ist keine Zeit mehr zu erzählen. Wenn's Euch recht ist, Arauer, so haltet still uns lasst mich absteigen, dort ist der Adler!«

»Und hier ist meine Hof«, erwiderte der Arauer, »Du kommst mir nicht aus den Händen, bis Du mir vom Hausgeist gesagt, der vor Zeiten in meinem Hofe umgegangen!«

Die Schwägerin stimmte lebhaft bei, dass Gotthard im Arauerhofe absteige und als Gast verweile, bevor er nach dem Adler ging – und Gotthard mochte seine Gründe haben, dieser Einladung nicht zu widerstehen. Er sagte also: »Gut, ich bin zu Euerm Willen«, und man fuhr in den Hof hinein, stieg ab und saß nach Kurzem recht behaglich am Ecktisch der großen Stube beisammen.

Schon wollte Gotthard seine mit Begierde erwartete, heitere Geistergeschichte beginnen, als die Schwägerin plötzlich noch einmal aufstand – um einigen Aufschub bat – und nach dem Adler eilte, um Luzien auch herbeizuholen … Sie kam aber allein wieder zurück, da Luzia mit den vielen Gästen sich entschuldigte, welche eben zu bedienen seien … Also erzählte Gotthard lächelnd die folgende kurze Geschichte, von der er später selbst gestand, dass sie sich nicht notwendig im Arauerhofe müsse ereignet haben:

»Es hatte sich also hier«, erzählte Gotthard, »man will es wenigstens von alten Leuten so wissen – ein Hausgeist eingenistet, eigentümlich benamst der Schlurcher; – und da er den Leuten im Hause bei ihren Arbeiten sehr fleißig diente, so hatte man sich endlich ganz an ihn gewöhnt und fast darauf vergessen, dass er eigentlich eine Geisterscheinung sei. Der Schlurcher war in eine graue, durch einen Strick zusammengehaltene Kutte gekleidet und trug ein Paar Holzschuhe, in denen er stets geräuschvoll die Treppen auf und ab schlappte oder – schlurchte, wie die Leute sich ausdrückten. Der Schlurcher kam aber nicht bloß bei der Arbeit zum Vorschein, sondern besonders auch, wenn man ihn rief oder ihn auch nur bei Namen nannte. Saßen z. B. abends die Knechte bei einem Kartenspiel beisammen und der eine sagte: »Wie wär's, wenn jetzt der Schlurcher käme?« Des Augenblicks war der Geist auch da, saß mitten unter ihnen und wollte mitspielen. Die Knechte waren freilich nicht selten so ungezogen, dass sie aufstanden und sich entfernten, wenn sie ihn erblickten, und diese Unart kränkte dann den armen Geist gar sehr. Eines Tages saß ein fremder Bauer allein in der Stube und hatte einen Schoppen Bier vor sich; alsbald vernahm er ein seltsames Geklapper in der Kammer, der Schlurcher kam die Bodentreppe herab und in die Stube, steckte sich im Ofen eine Pfeife an und setzte sich so recht behaglich dem Fremden gegenüber, der denn freilich nicht recht wusste, was er aus dem sonderbaren Gaste machen solle. Der alte Pächter aber, der in der Kammer nebenan im Bette lag und durch die offene Tür Schlurchers Zudringlichkeiten gewahrte, rief mit drohender Stimme heraus: »Ei, Du Unverschämter! Glaubst Du denn, alter Dämmler, es seh' Dich niemand, weil Du Dich so breit machst? Marsch hinaus, oder ich will Dir die Wege weisen!«Da erschrak der arme alte Schlurcher sehr, klapperte schleunigst die Bodentreppe wieder hinauf – und wurde im Hofe von da an nicht wieder gesehen …«

Luziens Tante, ohnehin nach mehr Unterhaltung in dieser Weise lüstern, wollte den Erzähler nicht unbelohnt entlassen und trug jetzt reichlich zu essen und trinken auf.

»Du kommst uns aber noch nicht los, Gotthard, Du musst noch eine Weile bleiben und erzählen, damit die Luzia auch was davon höre. Schwager«, fuhr sie fort, »lös doch gleich Dein Mädel drüben ab und lass es eine Weile kommen!«

Der Arauer sagte, die Absicht ohnehin schon gehabt zu haben, trabte nach dem Adler, der von vielen und mitunter wunderlichen Gästen besetzt war – kam aber schon nach kurzem Wegsein wieder allein zurück, da Luzia, wie er sagte, heute wieder ihren grausam lustigen Tag zu haben scheine.

»Der Barther von Glantal und einige Robblergesellen sind drüben«, schloss er seinen Bericht, »und mit denen hält sie Abrechnung, dass es eine Art hat. Einigen hat ihre Zunge schon alle Glieder gebrochen, am Barther ist sie jetzt; die Leute rauchen und jubeln, dass es kaum auszuhalten ist, aber der Barther lässt sich nicht so leicht untertun … Ach, es ist meine alte Not, dass mir das Mädel noch ganz vertollt – Der Adler muss aus meinen Händen, ich erduld' es länger nicht mehr!«

Die Schwägerin sprach nun auch ihren Kummer über die Nachteile aus, die im Wirtshausleben für Luzien lägen und drängte den Arauer, das Angebot des Glaner anzunehmen.

»Es wird nichts übrig bleiben als mich begnügen«, sagte der Arauer, »ich hätte wohl auch schon eingeschlagen, wenn der Alte und der Junge mir nicht mit ihrem Heiratsantrag kämen! Weil die Luzie neulich mit dem Speckheinrich ihre Scherzreden hält – prdautz, ist die Hoffart da, die Luzia solle ihn durchaus lieben!«

»Ja, ja«, sagte seine Schwägerin, »mit der Luzia und den Freiern geht's wie mit dem Licht und den Mücken; je mehr sich die Flügel verbrennen, desto mehr wollen geraden Wegs ins Licht!«

Sie heftete forschende Blicke auf Gotthard, als sie hinzusetzte:

»Wer die Luzia heimführen will, der muss ein ganzer Mann sein, kein Schreier und kein Lärmer – auch kein Frauenzimmergesicht wie Milch und Blut – aber einer, auf den man bauen kann!«

Gotthard schien die verständliche Anspielung zu überhören, lenkte das Gespräch auf andere Dinge, erzählte noch harmlos eine und die andere Geschichte und brach dann auf, um den Verwalter im Adler zum Heimgang abzuholen.

Im Adler traf Gotthard einen Teil der Gäste bereits in lärmendem Aufbruch.

Der stolze und hochgewachsene Barther, gefolgt von seinen Gesellen, die alle mit Scheibenstutzen versehen waren, wechselte mit Luzien noch einige kühne Redensarten, welche die schlagfertige Gegnerin ohne Zaudern und mit ungebrochener Laune sozusagen in der Luft erwürgte. Dann ging es unter Zurufen und Lachen weiter und das Dorf hinunter.

Gotthard war fast ungesehen und unbeachtet in die Wirtsstube getreten und setzte sich jetzt, nach einem Glase Bier verlangend, neben den Verwalter an den vorderen Ecktisch.

»Ei, gerade recht, Gotthard, ganz wie gerufen«, sagte der Verwalter grüßend, »es wird nur noch Zeit sein, ein Glas auszutrinken; denn ich muss heute etwas früher nach Hause als sonst!«

»Warum?« fragte Gotthard.

»Hast Du die Robbler nicht bemerkt, die eben fortgegangen?«

»Ganz wohl«, erwiderte Gotthard.

»Nun, die Burschen sind nicht umsonst hier. Die wollen heute Nacht im herrschaftlichen Wald ihr Scheibenschießen halten – ich muss unsere Förster aufmerksam machen.«

»Gut, ich kann jeden Augenblick mit heim«, sagte Gotthard, das Geld für ein Glas Bier, das ihm eben vorgesetzt wurde, auf den Tisch legend.

Er trank und dankte dann einem Bekannten, der an einem Nebentische saß, für seinen grüßenden Zuruf.

Da Luzia gerade an demselben Tische das Geld für eine Zeche einnahm, so konnte er, ohne von ihr bemerkt zu werden, einen prüfenden Blick auf ihrem Gesichte ruhen lassen; und dieser Blick unterrichtete ihn alsbald von einer tiefen Bewegung Luziens.

Mochte auch immer die Aufregung des Nachmittags und die Hitze des Wortgefechtes namhaft teilhaben an dem glühenden Rot ihrer Wangen, das Spiel der Mienen, die Absichtlichkeit ihrer Bewegungen entgingen Gotthard nicht.

Befriedigt widmete er seine Aufmerksamkeit der Gesellschaft seines Tisches, und es konnte ihm unmöglich von Herzen gehen, als er später plötzlich sehr verstimmt und niedergeschlagen aussah.

Es geschah dies in dem Augenblicke, als der Verwalter seine Börse hervorzog, um zu zahlen.

Da er ein großer und wohlwollender Verehrer Luziens war und niemals fortging, ohne, wenn es nur immer anging, gerade ihr seine Zeche zu bezahlen, wobei es nie an landläufigen Scherzen fehlte, so rief und winkte er Luzien auch jetzt an seinen Tisch und sagte dann:

»Schöner Husar, hilf mit fort von da, hier ist mein Lösegeld!«

»Was hilft's, Sie heraushauen, Herr Verwalter«, sagte sie, »Sie können ja immer doch nicht entlaufen!«

Diese Anspielung auf seinen Körperumfang wurde freundlich aufgenommen und in Begleitung eines üblichen Keuchhustens belacht; dann machte der Verwalter einige Bemerkungen über den Barther, der sie doch sehr interessiert haben müsse – und stand auf, um zu gehen.

»Nun, er ist wenigstens ein Mann«, erwiderte Luzia, »und das ist schon etwas heutzutage!«

»Gib acht, gib acht, er könnte Dir auch über den Kopf wachsen, Mädel – und Deinem Künftigen, wünsch' ich, sollte er doch nicht ähnlich sehen!«

»Warum nicht?« sagte Luzia und fuhr wie der Blitz mit den Augen über Gotthards Gesicht, das plötzlich trüb und traurig sich auf seine Hand nieder lehnte.

Ein glühender Triumph leuchtete aus ihren Blicken, und sie dachte:

»Es hat gefangen, er ist eifersüchtig, durch den Barther ist er in meinen Händen!«

»Nun gute Nacht, Kobold, Deine Heirat möchte' ich wirklich noch erleben!« sagte der Verwalter, indem er ging.

Gotthard hatte sich auch erhoben, um den Verwalter nachzufolgen.

Er sagte ebenfalls »Gute Nacht« und reichte Luzien zum ersten Male die Hand. Dabei nahmen seine Blicke einen so wehmütigen, durchdringenden und schmerzlichen Ausdruck an, dass Luzia unwillkürlich ihr feuriges Auge zu Boden senkte.

Nun ein bebender, fast krampfhafter Händedruck, und Gotthard folgte wortlos dem Verwalter.

So wird eine stumme Liebeserklärung gemacht, aber auch Abschied für immer genommen … War das wirklich der Sinn seines Benehmens? Was bezweckte Gotthard damit? …

Die Wirkung auf Luzien war eine zweifache.

Sie triumphierte, und sie war betroffen zugleich.

Sie freute sich, den stillen, gefährlichen Sonderling endlich für eine ausgiebige Rache gefangen zu haben, und sie erschrak vor dem Gedanken, in ihrer Rache vielleicht doch wieder zu weit zu gehen. Gotthard sollte gestraft – aber umso fester gehalten werden; denn er hatte es leider verstanden, durch ein an sich äußerst einfaches Betragen ihre Aufmerksamkeit ihre Verwunderung, ihren Verdruss und Zorn auf sich zu ziehen, aber diese Empfindungen weckten auch den bisherigen Schlummer ihrer – Liebe, und bevor sie's dachte, wer ihr eigenes Herz gefangen.

Wie aber, wenn Gotthard, der wohl danach aussah, seine verratene Liebe siegreich niederzuhalten, mit dem zitternden Händedruck für immer Abschied nehmen wollte? Wie sollte sie sich an dem Menschen auch nur rächen können, wenn er ihr fortan mit Absicht aus dem Wege ging?

Luzia bedachte diesen Umstand wohl, und je länger sie ihn bedachte, desto bedenklicher wurde ihr zumute.

Vor allem musste daher gesorgt werden, dass Gotthard wieder kam – und zwar nicht bloß um einer übermütigen Rache, sondern um einer gewissen Sehnsucht willen, die man, d.h. Luzia sich nicht gestehen wollte.

Luziens Tante oder Base, wie sie gewöhnlich genannt wurde, musste sich hier ins Mittel legen. Die Base hatte bereits erraten, was in Luzien vorging, sie kam ihr daher auf halbem Wege zu Hilfe. Absichtlich fing sie daher bei jeder Gelegenheit von dem angenehmen Menschen, Gotthard, zu reden an, rühmte seine Gabe zu reden und zu erzählen und meinte, dass es doch schön wäre, wenn Luziens Vater angeeifert würde, den jungen Mann öfter, besonders an Sonntagnachmittagen zu sich zu laden!

Natürlich war das Luzien aus der Seele geredet; sie stellte sich an, als ob sie durch das ewige Rühmen dieses wunderlichen Menschen selbst neugierig zu werden anfange, und meinte, dass die Base es also einleiten möge, den Vater für den jungen Dasselhöfer zu erwärmen.

Dies geschah denn auch alsbald, und Gotthard, nachdem er sich zu Luziens stillem Schrecken vierzehn Tage lang mit Entschuldigungen ferne gehalten, erschien endlich, und zwar regelmäßig jeden Sonntagnachmittag im Arauerhofe.

Sein Betragen war ruhig, milde, angenehm; aber seine Aufmerksamkeit richtete sich öfter und wärmer an die Base Luziens als an Luzia selbst.

Mit Besorgnis fing diese endlich zu glauben an, Gotthard habe wirklich mit seinem früheren krampfhaften Händedruck Abschied nehmen wollen und erscheine nur noch aus Gefälligkeit im Arauerhofe. Gerade dieses Maß und diese männliche Selbstbeherrschung machten auf Luziens unbändiges Gemüt, das sich sonst auszustürmen gewohnt war, einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck, und sie fand sich eines Tages, wo Gotthard eben wieder nach dem herrschaftlichen Hofe zurückgekehrt war, in einer Gemütsverfassung, in der sie jeden Rachegedanken und selbst – ihre Hand hinzugeben bereit war, wenn Gotthard rasch und offen um Letztere angehalten hätte.

Diese Gemütsverfassung sollte jemand anderen in Versuchung führen, und zwar nicht zu seinem Heil.

Der Glaner drängte um diese Zeit zum Abschluss des Handels um den Adler – und erhielt den letzteren endlich für sein Angebot; als er aber in Gemeinschaft mit seinem Sohne auch das Geschäft der Freierei förmlich aufnahm – da wurde der Alte durch den Arauer in aller Manier – sein schöner Sohn, der Speckheinrich, aber von Luzien mit gewohntem Glanze abgewiesen.

Dieser Zwischenfall war Luzien gerade recht gekommen. Sie hoffte such durch die frappante Abweisung eines so schönen jungen Mannes bei Gotthard wieder in Gunst zu stellen, ihn wieder zu vertraulicher Annäherung zu bewegen.

Allein sie täuschte sich denn doch. Gotthard wurde jetzt nur noch stiller und noch zurückhaltender.

Dies war für Luziens Gemüt endlich zu viel.

Die ganze Heftigkeit ihrer Empfindung brach wieder durch und kehrte sich gerade deshalb mit voller Gewalt gegen Gotthard – weil sie ihn liebte und weil sie sich dies nicht mehr verbergen konnte.

Leider wurde ihr zunächst die beste Gelegenheit, sich zu rächen, benommen.

Gotthard kehrte um diese Zeit auf den väterlichen Hof zurück, um ihn, alle Verhältnisse wohl erwägend, in seine Hände zu bekommen und zu retten.

Ein seltsamer Liebeskampf zwischen Luzien und Gotthard begann von jetzt an. Während Gotthard, mit seinen nächsten Angelegenheiten vollauf beschäftigt, stille hielt und fast nicht von sich hören ließ, wühlte sich Luzia immer tiefer in ihre unüberwindliche Leidenschaft hinein, die alle Phasen durchmachte: Racheplane, Schwüre, Tränen, Verzweiflung, Zuflucht zu Gott und zitternde Sehnsucht der Hoffnung … Ein großer Tag sollte endlich über Sein und Nichtsein, über Wohl und Wehe ihres Lebens entscheiden – und das war der Tag des oben geschilderten Robblerkampfes … Der Kampf wurde mit Hilfe des Sechter und anderer Unterhändler veranstaltet, um den Barther im höchsten Glanze äußerer Kraft und inneren Mutes erscheinen zu lassen, und Luzia war entschlossen, wenn auch dieser Tag Gotthard nicht zur Versöhnung und Werbung drängte – den Barther oder dessen Besieger wirklich zu heiraten.

Gotthard aber hatte seine Gegenanstalten bald getroffen.

Der Robbler-Götze sollte gestürzt und Luzia erinnert werden, dass ein weibliches Lebe, um Achtung und wahre Liebe einzuflößen, zarte Grenzen habe, über die es nur zu seinem großen Schaden hinausgehe. Der Barther war Wildschütze, war oft Teilnehmer bei sehr schlimmen Unternehmungen; sein Gewissen wie seine Hände waren nicht mehr rein genug, um die strengen Paragraphen des Strafgesetzes nicht stark herauszufordern. Gotthard hatte von dem Verwalter als zuverlässig erfahren, dass der Schuss, welcher kürzlich einen Förster lebensgefährlich getroffen, so gut als zuversichtlich aus dem Rohre des Barther gekommen.

Hiernach ergriff auch Gotthard seine Maßregeln.

Der gefährliche Wilderer sollte nicht nur aus der Gegend vertrieben, sondern Luzia sollte auch für immer vor einer Heirat bewahrt werden, die das Grab ihres Glückes, ihrer Zukunft werden musste.

Bei dem geschilderten Robblerkampfe hatte Gotthard daher mit ganz einfachen Mitteln einen lange und hoch angestaunten Sieg über den Barther errungen; er hatte in einer Strophe seines Trutzliedes Barthers Verbrechen bezeichnet und sie ihm halblaut in das Ohr gesungen – während im Einverständnisse mit dem herrschaftlichen Verwalter in demselben Augenblicke einige Gendarmen in der Näher erschienen, als hätte sie vor, dem Barther sofort ihre unliebsame Gesellschaft angedeihen lassen. Dies war der eigentliche Grund seiner Flucht – und was die nächste Folge war, haben wir gesehen.

Nun wurde reichlich dafür gesorgt, dass Luzia nach und nach erfuhr, wessen Geistes und Namens der sonst so berühmte Robbler eigentlich sei; nur mit dem tiefsten Danke konnte und musste sie anerkennen, welcher Schmach und Gefahr sie Gotthard durch seinen Sieg damals entrissen. Von dieser Zeit an datierte auch eine tiefgehende Wandlung in Luziens Gemüte, und sie gelangte zur Einsicht eines besseren, dem weiblichen Wesen gesetzten Maßes und Zieles.

Es war auch von jetzt an ihr vornehmstes Bestreben, Gotthard von ihrer Besserung in aller Stille und Bescheidenheit unterrichten zu lassen; auch erfuhren ihr Vater und die Tante von ihr mit ausdrücklichen Worten, dass, wenn es ihr nicht gelingen sollte, den jüngsten Sohn des Dasselhofes zu gewinnen, sie durch keine Macht der Welt zur Heirat je zu bewogen werden könnte …

Von nun an waren es gemeinschaftliche Versuche des Vaters und der Tante, Gotthards Herz und Einwilligung zu gewinnen – und wie der brutale nächtliche Überfall des Barther dieser Bemühung traurig genug, aber entschieden zu Hilfe kam, das haben wir gesehen.

Der 27. Oktober war in Folge dieser Lösung ein denkwürdiger und schöner Tag zugleich. An diesem Tage, um zehn Uhr morgens, hätte ein Maler in der großen Stube des Dasselhofes eine Gruppe Menschen sehen können, die für ein Gemälde nicht ansprechender erfunden werden konnte.

Mitten in der Stube stand Gotthard da und legte eben seine Hand in die dargereichte Hand Luziens; der kräftige Blick seines blauen Auges ruhte ernst und lächelnd auf dem blendend schönen Angesichte Luziens, deren großes Auge, halb geschlossen, in seliger Demut vor dem stärkeren Sieger sich zu Boden senkte. Zwischen beiden, etwas zurück, stand Gotthards Mutter mit gefalteten Händen, die fahlen Gesichtszüge seit lange zum ersten Male wieder von einem höheren Freudenschimmer verklärt, aber in ihren auf Luziens Gesichte ruhenden Blicken Verwunderung, Staunen und immer noch bängliche Zweifel über die vollkommene Besiegung Luziens ausdrückend. Rechts und links an ihrer Seite standen, seltsame Gegensätze bildend, der langhagere, nervöse Arauer und der mittelwuchsige, umfangreiche alte Dasselherr, beide in der hohen Bewunderung Gotthards einig, der die wilde Widerspenstige zu besiegen im Stande gewesen, weshalb beide auch mit ihren Blicken auf Gotthards Stirne nach dem Rätsel eine Männlichkeit zu forschen schienen, die ihnen beiden ja so fühlbar mangelte. Um die Figuren des Bildes voll zu machen, sei auch noch Beate erwähnt, die im Hintergrunde, an der Kammertüre lehnend, das Kinn in die Hand legte und in dumpfes, schmerzliches Nachdenken verloren, vor sich hin ins Unbestimmte sah.

War sie so betrübt über das baldige Ende ihrer Stellung in dem Elternhause? Zweifelte sie an der dauernden Unterwerfung Luziens, deren Natur nicht gebändigt, sondern nur unter dem Banne augenblicklicher Liebe und Umstände stand? Oder erwachte in ihr der wehvolle Gedanke, dass hier ein Lebensbündnis trotz der widerstrebendsten Hindernisse zuwege kam, während ihre erste Liebe grausam um alle Hoffnungen gebracht wurde, trotzdem ihr scheinbar weit weniger Hindernisse entgegen gestanden hatten?


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