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Einleitung

Wer für das Empfinden und die Dichtung unseres Volkes ein Herz hat, wer seine Lieder gern singt, seine Märchen gern hört oder liest und wohl auch selber wieder erzählt; wer von da aus weiter dem ganzen Leben unseres Volkes seine Liebe schenkt, seinen Sitten und Festen, seinen Anschauungen über Recht und Unrecht, über Gott und Welt und alles Geschehen nachgeht – der trifft immer wieder auf allerlei mit dem Schleier des Geheimnisvollen und Unheimlichen verhüllte Vorstellungen und Geschichten. Er hört von weisen Frauen und Hexen flüstern, die andern Menschen mit ihren Zauberkünsten helfen und schaden, er hört von Toten erzählen, die im Grabe keine Ruhe finden, vom Teufel in seinen verschiedenen Gestalten, von Zwergen und Riesen, Kobolden und Wassernixen; uralte Geschichten, die von den Urgroßeltern noch geglaubt wurden, und allerjüngste Geschichten, an denen auch heute niemand zu zweifeln wagt. Wollte er nun über diese zusammenhanglosen und zufälligen Begegnungen hinaus die ganze Welt des Aberglaubens kennen lernen, die noch in unserm Volke lebt, so sah er sich bisher auf zwei voneinander grundsätzlich verschiedene Gattungen von Büchern angewiesen.

Die Mythologien, die von dem Götterglauben unsrer heidnischen Vorfahren erzählen, pflegen nach dem Vorgang Jakob Grimms auch einiges über den heutigen Volksaberglauben zu bringen; die einen, weil sie in ihm die undeutlich gewordenen Spuren altheidnischen Götterglaubens wiederzufinden meinen, die andern, neueren, um an ihm das erste Entstehen aller übersinnlichen Vorstellungen anschaulich zu machen. Auf jeden Fall heben die Mythologien immer nur einige für ihren Zweck besonders wertvolle Einzelheiten heraus, sie führen wohl auch die eine oder andre Sage im Wortlaut als Beleg vor; von dem ganzen, schwer übersehbaren Reichtum der deutschen Volkssagen erhält ihr Leser keinen Begriff. – Wem es um einen solchen zu tun ist, der wird sich mit besserem Erfolg an die Sagensammlungen wenden und da zuerst zu der bekanntesten, den »Deutschen Sagen« der Brüder Grimm greifen. Hier findet er in der Tat auf den ersten Blick alles, was er sich wünschte: da sind Geschichten von Bergwerkgeistern, von Frau Holle, von verwunschenen Jungfrauen, von Riesen, vom alten Kaiser, der im Berg verborgen schläft; von Zwergen und Waldweiblein, vom Wassermann und vom Kobold, vom Alp und Wechselbalg und von allerlei Zauber, von Räubern, von versunkenen Schätzen, versteinerten Menschen, vom wilden Jäger, vom Teufel, von Werwölfen und Drachen, von Hexen und umgehenden Toten, von Engeln und Heiligen, in reichster Fülle zusammengebracht, zum Teil aus älteren Büchern, zum Teil auch den mündlichen Berichten von Leuten aus dem Volke nacherzählt. Fängt er dann aber an, diese Geschichten zu lesen, so stellt sich in kurzer Zeit ein Gefühl der Beunruhigung und Übersättigung ein. Denn während bei den bekannten und überall gern gelesenen Grimmschen »Märchen« der Reichtum des Inhalts und die anziehende Form dem Leser immer wieder neuen Genuß bereiten, gibt ihm von den Sagen jede einzelne nur immer neue Rätsel auf: er möchte gern wissen, wie denn die Leute auf die oft so seltsamen Vorstellungen verfallen konnten, von denen da die Rede ist, und sucht vergeblich nach irgendwelchen Erklärungen; er möchte die einzelnen Vorstellungskreise, von den Zwergen, den Riesen, den Hexen usw. wenigstens zusammenfassend überschauen können, und findet statt dessen ein fast zusammenhanglos buntes Durcheinander von kurzen Geschichtchen, die so eine nach der andern durchzulesen ihm bald unmöglich wird. – Und auch in den jüngeren Sammlungen, die nach dem Vorgang der Brüder Grimm nun aus einem enger umgrenzten Gebiet zusammengetragen, was an Sagen darin aufzutreiben war, werden diese Wünsche nicht befriedigt. Denn sie beschränken sich gleichfalls auf ihr Material und verzichten meistens grundsätzlich auf seine Besprechung und Erklärung, oder sie liefern in ihren vergleichenden Literaturangaben der Wissenschaft ein Hilfsmittel, das die Laien eher abschreckt als erfreut. Dazu macht die von vielen gewählte Anordnung der Sagen nach den Gegenden, in denen sie spielen oder in denen sie gefunden wurden, dem landfremden Leser jeden Überblick unmöglich; und auch wenn sie ihr Material zu Gruppen verwandten Inhalts ordnen, bleibt in ihrem beschränkten Gebiet die Abrundung notwendig aus, die diese Gruppen vielleicht anschaulich und verständlich machen könnte. So kommt es, daß die reiche Sagenwelt unseres Volkes den gebildeten Deutschen noch immer so gut wie unbekannt und ihrem Verständnis noch durchaus verschlossen ist.

Diese Erwägungen leiteten mich bei der Herausgabe und Einrichtung des vorliegenden Buches. Ehe ich jedoch auf diese näher eingehe, scheint es mir geboten, noch deutlicher als bisher zu sagen, was wir unter »Volkssagen« verstehen, ihr Wesen und ihren Wert mit ein paar Worten zu schildern.

 

Die Volkssagen gehören mit den Volks-Legenden, Schwänken und Märchen zu den der dichtenden Phantasie entstammenden Geschichten, mit denen sich unser Volk Feierabends in der Bauern- und Gesindestube, am Biertisch oder am Spinnrocken die Zeit kürzt. Sie sind die einfachsten und ursprünglichsten unter ihnen und stehen dem Anfang aller Erzählkunst, der schlichten Erlebniserzählung, am nächsten. – »Auf dem Marktplatz von Remich (in Luxemburg) ließ sich mehrere Jahre lang immer ein weißes Kaninchen sehen. Um das haben oft alle Leute, Männer und Frauen und Knaben, einen großen Kreis gebildet und haben es fangen wollen; aber wenn sie nach ihm griffen, war es immer ein weißer Stein. Einmal hat einer einen ganz sicheren Fang tun wollen und hat sich mit seinem ganzen Leib drauf fallen lassen. Da lag er auf einem dicken Stein.« – Hier haben wir eine Sage einfachster Gestalt. In dem Tone schlichter Erzählung teilt sie eine phantastische Geschichte mit. Dabei sehen wir das ursprüngliche Erlebnis noch deutlich durchschimmern: auf dem Remicher Marktplatz liegt ein weißer Stein; die Bauern kommen nachts aus der Schenke und sind alle schwer betrunken, sie sehen den weißen Schimmer und es scheint ihnen, als bewege er sich hin und her, bald ist er mehr rechts, bald mehr links, je nachdem sie in ihrem Rausch nach links und rechts hintaumeln; da fassen sie sich bei den Händen und wollen das Kaninchen fangen, und jedesmal wenn einer nach ihm greift, hat er den dicken weißen Stein in der Hand. – Dies von der Phantasie des Rausches geformte Erlebnis wird nun als Sage zu verschiedenen Zwecken weiter erzählt, etwa zum Beweis, daß es geheimnisvolle Tiere gibt, die sich in Steine verwandeln können, oder zum Beweis, daß manche Tote noch als Tiere umgehn und die Menschen in allerlei Gestalten necken (denn »das Kaninchen war ganz gewiß eine arme Seele«), oder auch ohne irgendwelchen Lehrzweck, nur zur Unterhaltung, weils einen bei solchen Geschichten so schön gruselt. Auf jeden Fall wird die Geschichte vom geheimnisvollen weißen Kaninchen stets allen Ernstes als etwas wirklich Geschehenes erzählt; ohne diesen Glauben hätte sie für den Erzähler wie für den Hörer keinen Wert.

Damit haben wir zu dem inhaltlichen Merkmal der Sagen, daß sie etwas objektiv Unwirkliches erzählen, das andre, formale Kennzeichen für alles, was wir unter dem Worte »Volkssagen« zusammenfassen: die Volkssagen erheben den ernstgemeinten Anspruch, Wirklichkeit zu geben, sie verlangen von ihrem Hörer Glauben, sie sind Geschichten, die ein Geschlecht dem andern zur Belehrung über all das Wunderbare erzählt, das uns umgibt. Die Jungen hören den Alten halb gläubig, halb zweifelnd zu, und diese unsichere Stellung den Sagen gegenüber schadet ihrem Weiterleben noch nichts; im Gegenteil: daß niemand so recht weiß, ob sie eigentlich wahr oder »erlogen« sind, erhöht nur die Spannung und das Grausen. Ist jedoch der Glaube an eine Sage einmal endgültig verschwunden, so hat sie in ihm ihr Lebenselement verloren und wird vergessen.

Der Anspruch, Wahrheit zu geben, stellt die Sagen neben die Legenden, die sich das Volk aus dem Leben seiner Heiligen und Frommen erzählt; er scheidet sie dagegen grundsätzlich von den Märchen. Denn die Geschichten, wie sie etwa die Brüder Grimm in ihren »Kinder- und Hausmärchen« gesammelt haben, verlangen ihrer ganzen Form nach keinen andern Glauben als jeder Kunstroman; sie sind auch für das erzählende Volk »erfundene« Geschichten und wollen nur der zeitkürzenden Unterhaltung dienen.

Aus diesem Unterschied in der subjektiven Stellung zur Wirklichkeit erklären sich die großen Verschiedenheiten des Sagen- und Märchen-Stils. Die Sage, die nichts will, als ein Geschehenes treu berichten, ist sachlich, kurz und klar und geht ohne Umschweife gerade auf ihr Ziel; der Märchenerzähler, der vor allem unterhalten will, gibt seiner Geschichte eine möglichst anmutige Form und malt jeden Nebenumstand behaglich und anschaulich aus. Das Märchen spielt gern in einer idealen Zeit (»als das Wünschen noch geholfen hat«) und in einem idealen, namenlosen Land; die Sage braucht, um Glauben zu finden, genaueste Bestimmtheit, sie spielt meistens nahe am Wohnort des Erzählers und seiner Zuhörer, in einer Gegend, die alle Beteiligten kennen, und in einer Zeit, die selten weiter als zwei oder drei Generationen zurückliegt; sie stärkt dazu ihre Glaubwürdigkeit gern durch die genaue Angabe des Weges, auf dem die Geschichte dem Erzähler zu Ohren gekommen ist: »dat hett he mi sülwst vertellt, un dat wull de ole Suhr wol nich lögen«. – Die Personen der Volkssage sind darum auch nicht die Könige und Prinzen und Prinzessinnen so vieler Märchen, sondern einfache, oft mit ihrem Namen genannte Leute aus dem Volk: ein beerenlesendes Weib, ein einsamer Hirt, ein Bauer, der nachts allein noch über Land mußte; besonders oft wird noch hinzugefügt, der Betreffende sei damals gerade etwas betrunken gewesen, und man glaubt dann gern, daß er mehr erlebte als ein andrer. Während im Märchen das ganze Interesse auf den Menschen, den idealen »Helden« geht, der durch alle Not und Anfechtung endlich zu Glück und Ehren gelangt, hat die Sage ihren Schwerpunkt im Ereignis, der Mensch kommt für sie nur so weit in Betracht, als er das Ereignis erlebt, sie braucht keinen Helden. Sie braucht darum auch nicht das glückliche Ende, ohne das es im Märchen nicht abgeht; und damit kommen wir auf den wichtigsten Unterschied zwischen den beiden Erzählungsarten: die ganze Stimmung der Welt und dem Leben gegenüber. Ein Beispiel wird uns das am besten deutlich machen:

Aus dem Buch der Richter im Alten Testament kennen wir die Geschichte von der Tochter Jephtahs, die ihr Vater, ohne es zu wissen, seinem Gott Jahve zum Brandopfer versprach. »Gibst du die Kinder Ammon in meine Hand, was zu meiner Haustür heraus mir entgegengehet, wenn ich mit Frieden wiederkomme von den Kindern Ammon, das soll des Herrn sein und wills zum Brandopfer opfern.« Jephtah erringt den Sieg; aber wie er heimkommt, »siehe, da gehet seine Tochter heraus ihm entgegen mit Pauken und Reigen, und sie war sein einziges Kind und er hatte sonst keinen Sohn noch Tochter«. Da zerreißt Jephtah zum Zeichen des Schmerzes seine Kleider, aber er bleibt seinem Gotte treu und erfüllt sein Gelübde. – Ähnliche Geschichten begegnen uns in den deutschen Sagen und Märchen. In den Sagen ist der Verlauf meistens so: ein Mann ist in Schulden geraten oder in irgendeiner andern Bedrängnis, da erscheint ihm ein Geist und verspricht, ihm zu helfen; doch fordert er dafür das, »was hinter seiner Haustür steht«, oder »was er zu Hause nicht kennt«. Der Mann versprichts ihm und findet daheim hinter der Haustür sein Töchterchen, oder seine Frau hat ihm, während er fort war, einen Sohn geboren. Da ist das Unglück groß, aber es gibt keine Rettung; über kurz oder lang stellt der Geist sich ein und holt sich das Versprochene (vgl. Kap. 8: Der Fischer und der Wassermann). – Das Märchen kann die Geschichte so, wie sie bei Jephtah oder in der Sage erscheint, nicht brauchen; es gibt ihr einen völlig anderen Schluß. Entweder (vgl. Die Nixe im Teich, Nr. 181 der Grimmschen Märchen) wird der verkaufte Sohn zwar nach Jahren von der Nixe wirklich geholt, dann aber von der liebenden Frau durch Opfergaben wieder losgekauft; oder der Geist kommt, durch Zaubermittel gehemmt, gar nicht an das Versprochene heran (vgl. Der König vom goldenen Berg, Nr. 92 und Das Mädchen ohne Hände, Nr. 31); oder die Geschichte bekommt dadurch einen befriedigenden Ausgang, daß der das Opfer heischende Geist gar kein Unhold, sondern in Wahrheit ein verwunschener Märchenprinz ist, der durch das gekaufte Mädchen seine menschliche Gestalt wiedererlangt (vgl. Das singende, springende Löweneckerchen, Nr. 88); oder endlich der im Mutterleib verkaufte Sohn wird Priester, macht sich mit Kreuz, Kerze und Weihwasser auf den Weg zur Hölle und erzwingt sich vom Teufel selber den Verkaufskontrakt zurück (vgl. die weitverbreitete, besonders bei den slawischen Völkern beliebte Märchenlegende vom ›Räuber Madey‹ oder vom Baum der großen Buße).

Hier läßt sich der Wesensunterschied zwischen Sagen und Märchen mit Händen greifen. In der Sage herrscht der strenge Glaube an eine sittliche Weltordnung: versprochene Schuld wird unerbittlich eingefordert, dagegen hilft kein Sträuben; und weil es in der Welt einmal so ist, so wird es auch nicht anders erzählt; denn es kommt der Sage nicht darauf an, eine schöne Geschichte zu erzählen, sondern etwas, das »wirklich so geschehen ist«. Das Märchen kümmert sich nicht um die wirkliche Welt; es fabuliert sich einen erfreulichen Schluß hinzu, um der poetischen Schönheit willen, im Sinne eines aller Tragik abgeneigten, das Heitere liebenden Genießens.

So tritt auch sonst der optimistischen Stimmung des Märchens in der Sage eine wesentlich pessimistische gegenüber. Die Sage endet mit der freudlosen Wirklichkeit: die gefangene Trude entschlüpft, die Erlösung der armen umgehenden Seele mißlingt, der Kobold verläßt den Dienst, die Zwerge ziehn ab, der beinah schon gehobene Schatz versinkt; oder sie endet mit Schrecken, Krankheit und Tod. Und wie schon beim Jephtahmotiv zeigt sich in den Sagen immer wieder, wie unbedingt das Volk, wo es vom wirklichen Leben erzählen will, mit der moralischen Gesetzmäßigkeit alles Geschehens rechnet; denn dieser Ausgang wird fast stets durch die Schuld der Menschen selber, durch ihre Dummheit oder Bosheit, herbeigeführt: sie verdienen es eben nicht besser, und jeder ihrer Frevel rächt sich mit unvermeidlicher Notwendigkeit.

 

Die Gegenüberstellung von Sagen und Märchen hat vielleicht den Eindruck erweckt, als lägen alle Vorzüge auf der Seite des Märchens. In der Tat hat die Volkssage nicht die reiche dichterische Form des Märchens, auch nicht seine kindlich heitere Weltverklärung; und doch liegen Werte in ihr, die sie vor allen andern Arten der Volksdichtung auszeichnen. Sie hat keine bewußte künstlerische Form, sie weiß selber nur von ihrem Inhalt; aber gerade daß sie nur bescheiden dienend diesen Inhalt vorträgt, gibt ihr eine Natürlichkeit der Sprache und eine durchsichtige Klarheit des Aufbaus, an der unsere auf das Einfache und Innerlich-Wahrhafte gerichtete Gegenwart ihre Freude haben kann. Das ist die »schuldfreie Armut«, von der die Brüder Grimm in der Einleitung zu ihrer Sammlung sagen, sie sei eher eine »Armutseligkeit« zu nennen.

Wie durch die Form, so führen uns die Volkssagen auch durch ihren Inhalt an die Wiege aller erzählenden Dichtung. Wir beobachten in ihnen die dichtende Phantasie im ersten Kindheitszustand: sie ist noch ohne Selbstbewußtsein, sie weiß noch nicht, daß sie es ist, der die Dinge der Wirklichkeit ihre dichterische Umformung verdanken. – Und damit steht auch ein ästhetischer Reiz im engsten Zusammenhang: das Märchen, als bewußte Dichtung, lebt in einer ihm eigenen Welt, in der alles Wunderbare seine ausreichende Erklärung findet; in der Sage dagegen spielt das Übersinnliche immer wieder in den schlichten Alltag des Lebens hinein, und diese unlösbar innige Durchdringung von Phantasie und Wirklichkeit gießt über die Welt der Sagen ein geheimnisvolles Zwielicht aus, das dem Empfänglichen fast noch lieber ist als die über dem Märchenland strahlende Wundersonne.

Der Hauptwert der Volkssagen liegt aber noch nicht in ihrer ästhetischen Wirkung, er liegt vielmehr darin, daß sie uns von der Gedanken- und Gefühlswelt unseres deutschen Volkes ein Gebiet aufschließen, das den Gebildeten sonst meistens verschlossen bleibt. Denn besser als die Schwänke, Legenden und Märchen, von denen sich die meisten als heimatlose Wanderer bei einer ganzen Reihe von Völkern finden, führen uns die Sagen in die dämmerigen Tiefen des deutschen Volksbewußtseins. Sie sind zu ihrem größten Teil wirklich auf deutschem Boden gewachsen; und auch wenn der Stoff einer Sage vielleicht vor Jahrhunderten einmal aus der Ferne nach Deutschland kam, so hat unser Volk ihn sich doch bis in seinen tiefsten Kern hinein zu eigen gemacht. An Novellen, Schwänken und Märchen mögen zuweilen noch die Spuren fremdländischer Herkunft haften; wenn aber eine Geschichte einmal als ernstgemeinte Sage erzählt wird, so hat sie damit die letzte Stufe der Angleichung erreicht, ist in das Denken und Fühlen des Volkes restlos eingegangen. So haben wir in den deutschen Sagen ein Mittel, unser Volk bis in seine tiefste Seele hinein kennen zu lernen. – Oder, da wir doch alle eines Blutes und Glieder des einen Volkes sind: in der Beschäftigung mit den deutschen Volkssagen steigen wir in uns selber hinab, zu den verborgenen Wurzeln unsres Seins, leuchten hinein in längst vergessene dämmernde Tiefen. Denn wir alle haben noch ein Stück von jenem kulturlosen, kindlich-schöpferischen Sinn in uns, dem das Grauen der Nacht und das leise Rinnen der Einsamkeit und alle Wunder des Waldes und der Welt um uns her sich zu lebendigen Gestalten verdichten möchten. Wir alle haben es in uns; denn wir sind alle daraus hervorgewachsen.

 

Das vorliegende Buch möchte allen, die für das Dichten und Fühlen unseres Volkes ein Herz haben, den Weg in das geheimnisvolle Land seiner Sagen öffnen. Den Mythologien gelang das nicht, weil sie auf die Darbietung des Materials verzichten, den Sagensammlungen nicht, weil sie sich auf das Material beschränken und seine Durcharbeitung dem Leser überlassen. Darum suchte ich in meinem Buch die Vorzüge beider zu vereinigen: mein Buch ist eine Sagensammlung; es führt die Sagen selber vor. Es kommt aber zugleich durch seine Anordnung und seinen erklärenden und verbindenden Text dem Erkenntnis suchenden Leser möglichst weit entgegen.

Ich wählte Sagen möglichst aus allen Teilen Deutschlands, das dabei jedoch heute weniger als je als politisches Gebilde genommen werden darf: für mein Sagenbuch reicht Deutschland, »soweit die deutsche Zunge klingt«, und umfaßt nicht nur selbstverständlich die uns jüngst entrissenen Grenzlande, sondern auch z. B. Österreich, Siebenbürgen, die Schweiz und Luxemburg. – Ich wählte Sagen möglichst aus allen Gebieten des Volksglaubens. Die geschichtlichen Sagen dagegen blieben beiseite; sie sind zu einem großen Teil bereits im dritten Bande dieses Werks besprochen worden. – Ferner war mein Bestreben, möglichst die Gegenwart zu Wort kommen zu lassen: die angeführten Sagen stammen alle, soweit nicht anderes eigens bemerkt ist, aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert.

Ich entnahm die Sagen den zahlreichen Sammlungen, deren Liste den Schluß meines Buches bildet. Ein wortwörtlicher Abdruck erschien mir dabei nicht als meine Aufgabe. So mancher Sammler ist nämlich nicht imstande gewesen, die Sagen genau so wiederzugeben, wie er sie vom Volk erzählen hörte, oder er hat das auch gar nicht für erstrebenswert gehalten. Er kleidete sie vielmehr in das papierne Gewand einer »literarischen« Sprache, das gerade diesen schlichtesten aller Volkserzählungen schlecht ansteht, und schmückte sie wohl gar mit allerlei gefühlvollen Zutaten nach eigenem Geschmack. Wo mir auf diese Weise die Form der Sagen zu ihrem Wesen in allzu grellem Widerspruch zu stehn schien, habe ich versucht, die Gewaltsamkeiten und Auswüchse des Stils zur schlichten Sprechsprache aufzulösen. Daß ich dabei den Inhalt unangetastet ließ, brauche ich kaum zu erwähnen.

Für die Anordnung zerlegte sich der Stoff von selber in drei Hauptteile: Der erste (Kapitel 1 bis 4) umfaßt die Sagen, die vom Menschen erzählen, zuerst von seiner Seele, die den lebenden Leib im Schlaf verläßt, und daran organisch sich anschließend von Truden und Hexen, vom Zauberer, Freischützen und Werwolf; dann von den Toten und ihrem Spuk, auf dem Friedhof, im Berg und im Wind. Der zweite Hauptteil (Kapitel 5 bis 9) handelt von den selbständigen Gestalten des Volksglaubens, den Zwergen, Kobolden, Wald- und Wassergeistern und von einigen geheimnisvollen Tieren. Der dritte Hauptteil (Kapitel 10 bis 12) bringt Sagen, die für das erzählende Volk selbst in das Gebiet der Geschichte fallen, von den Wesen, Taten und Ereignissen der fernen Vergangenheit; er handelt zuerst von den Riesen und Räubern, dann von den großen Freveln, deren Strafe, als Versteinerung oder Untergang, in ihren Spuren noch heute mahnend in die Gegenwart hineinragt. Zu den Sagen von untergegangenen Orten stellen sich die von versunkenen Schätzen und Glocken. Ein letztes, dreizehntes Kapitel endlich handelt kurz vom Teufel. Der Teufel ist heute oft an die Stelle anderer Gestalten des Volksglaubens getreten und gibt darum zu einem flüchtigen Rückblick über die voraufgegangenen Gruppen Anlaß; seine eigensten Geschichten gehören dagegen schon in zwei andre Klassen von Volkserzählungen: zu den Legenden und vor allem zu den Schwänken, die beide nicht mehr im Rahmen unsres Sagenbuches liegen.


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