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Zehntes Kapitel.

Wir kehren nunmehr zu Pierre de La Motte zurück, der nach einigen im Gefängniß zu D–y zugebrachten Wochen, zum Verhör nach den Gerichtshöfen von Paris gebracht wurde, wohin der Marquis de Montalt ihm folgte, um die Klage zu betreiben. Frau von La Motte begleitete ihren Mann ins Chatelet. Seine Seele erlag unter dem Gewicht seines Unglücks, und alle Bemühungen seiner Gattinn konnten ihn nicht aus der betäubenden Verzweiflung erwecken, welche die Erwägung seiner Umstände in ihm erzeugte.

Wenn er auch von der Anklage, die der Marquis gegen ihn einbrachte, losgesprochen wurde, (welches sehr unwahrscheinlich war) so befand er sich jetzt mitten im Schauplatz seiner vorigen Verbrechen, und der Augenblick, der ihn aus den Mauern seines Gefängnißes befreyte, mußte ihn aller Wahrscheinlichkeit nach, wieder in die Hände der beleidigten Gerechtigkeit liefern.

Die Anklage des Marquis war nur zu wohl gegründet und von zu ernsthafter Art, um nicht La Motten in das höchste Schrecken zu setzen. Bald nach seiner Niederlassung auf der St. Clairs Abtey sah er den kleinen Vorrath von Geld, den er bey seiner eiligen Flucht retten konnte, beynahe erschöpft, und die peinlichste Angst über sein künftiges Fortkommen nagte an seiner Seele.

Eines Abends, als er einsam in einer entlegnen Gegend des Waldes spazieren ritt, über seine bedrängten Umstände nachdachte und auf Pläne sann, das herannahende Elend abzuwenden, sah er zwischen den Bäumen in einiger Entfernung einen Herrn zu Pferde, der langsam vor sich hinritt, und ohne alle Begleitung schien. Ein Gedanke fuhr in La Mottens Seele, daß er sich von den ihm drohenden Übeln retten könnte, wenn er den fremden beraubte. Seine vorige Lebensart hatte ihn über die Schranken der Rechtschaffenheit hinaus geführt, Betrug war ihm gewißermaaßen vertraut geworden, und er verwarf den Gedanken nicht sogleich.

Doch zögerte er – jeder Augenblick des Zögerns verstärkte die Macht der Versuchung – eine so günstige Gelegenheit stieß ihm vielleicht nie wieder auf. – Er sah sich um und erblickte niemand, so weit die Bäume offen waren, als den Herrn, der seinem Ansehn nach ein Mann von Stande zu seyn schien. La Motte rief alle seine Herzhaftigkeit auf und fiel ihn an.

Der Marquis de Montalt, denn er war es, war unbewafnet; weil er aber wußte, daß seine Leute nicht weit waren, wollte er nicht nachgeben. Indem sie um den Sieg kämpften, sah La Motte verschiedene Leute zu Pferde in die Allee einlenken, und durch Widerstand und Zögern aufs äußerste getrieben, zog er ein Pistol aus der Tasche (das er aus Furcht vor Räubern immer bey sich trug, wenn er sich weit von der Abtey entfernte) und schoß auf den Marquis, der sogleich schwankte, und betäubt vom Pferde fiel.

La Motte behielt eben Zeit, einen brilliantnen Stern von seinem Rocke, einige Diamantringe von seinen Fingern zu stehlen, und ihm die Taschen auszuleeren, ehe seine Bedienten heran kamen. Statt den Räuber zu verfolgen, flogen sie alle in der ersten Bestürzung ihrem Herrn zu Hülfe, und La Motte entkam.

Ehe er die Abtey erreichte, stand er bey einigen Ruinen, dem vorhin erwähnten Grabmahl, still, um seine Beute zu untersuchen. Sie bestand aus einem Beutel mit siebzig Louisd'or; einem diamantnen Stern, drey Ringen von großem Werth, und einem mit Brillianten eingefaßten Bilde des Marquis, das er zum Geschenke für seine Favoritinn bestimmt hatte.

In La Motte, der noch wenig Stunden zuvor sich beynahe ganz entblößt gesehen hatte, erregte dieser Anblick ein Entzücken, über das er kaum Herr war: allein bald wurde es unterdrückt, als er sich erinnerte, welche Mittel er angewandt hatte, um diesen Reichthum zu erhalten, den er für Blut erkauft hatte. Von Natur heftig in seinen Leidenschaften, stürzte diese Betrachtung ihn vom Gipfel der Freude in den Abgrund der Niedergeschlagenheit. Er betrachtete sich als einen Mörder, und fuhr auf, gleich einen, der vom Traume erwacht, und hätte die halbe Welt gegeben, um wieder so arm, und vergleichungsweise, so rein von Verbrechen zu seyn, als er einige Stunden zuvor war.

Als er das Gemählde näher besah, fiel ihm die Ähnlichkeit auf, und in dem Glauben, daß seine Hand dem Urbilde das Leben geraubt hatte, starrte er es mit unbeschreiblicher Angst an. Auf die Schrecken des Gewissens folgte die Bestürzung der Furcht. Ahndend, er wußte nicht was, zögerte er bey dem Grabe, wo er endlich seinen Schatz niederlegte, weil er fürchtete, daß sein Vergehn an den Tag kommen, die Abtey untersucht werden, und diese Juwelen ihn verrathen könnten.

Es war ihm ein leichtes, vor Frau von La Motte den Anwuchs seines Reichthums zu verbergen: denn da er sie mit dem wahren Zustande seiner Finanzen nie bekannt gemacht hatte, argwöhnte sie die nahe Armuth, die ihm drohte, nicht; und da sie wie gewöhnlich zu leben fortfuhren, glaubte sie, daß ihre Ausgaben aus der gewöhnlichen Casse bestritten würden.

Nicht so leicht aber war es, die Regungen des Gewissens und Schreckens zu verheelen: er wurde finster und zurückhaltend, und seine häufigen Besuche am Grabe, wohin er theils, um seinen Schatz zu besehen, hauptsächlich aber, um dem schrecklichen Vergnügen, das Gemählde des Marquis zu betrachten, nachhängen zu können, so oft ging, mußten auffallen und Neugierde erregen. In der Einsamkeit des Waldes, wo keine Abwechslung von Gegenständen seine Ideen erneuerte, war die schreckliche Vorstellung, einen Mord begangen zu haben, ihm immer gegenwärtig. –

Als der Marquis auf der Abtey erschien, wurde La Mottens Schrecken und Erstaunen – denn anfangs wußte er kaum, ob er den Schatten oder das Wesen dieser ihm immer gegenwärtigen Gestalt sähe, – schnell durch die Furcht vor der seinem Verbrechen gebührenden Strafe verdrängt. Als sein dringendes Bitten den Marquis bewegt hatte, mit ihm in ein anderes Zimmer zu gehn, sagte er ihm, daß er von Geburt ein Edelmann wäre; er berührte diejenigen Seiten seines Schicksals, die Mitleid erregen mußten, äußerte solchen Abscheu gegen sein Verbrechen, und gab freywillig ein so feyerliches Versprechen, die Juwelen, die er noch unveräußert besaß, zurückzugeben, daß der Marquis ihn endlich mit einem Grad von Bedauern anhörte.

Diese günstige Gesinnung, von einem eigennützigen Bewegungsgrunde unterstützt, bewegte den Marquis, einen Vergleich mit La Motten einzugehn. Schnell und reizbar von Leidenschaft hatte er Adelinens Schönheit mit aufmerksamen Auge betrachtet, und beschloß, La Mottens Leben unter keiner andern Bedingung, als mit Aufopferung dieses unglücklichen Mädchens zu schonen. La Motte besaß weder Muth noch Tugend genug, diese Bedingung zu verwerfen – die Juwelen wurden zurückgegeben, und er willigte ein, die unschuldige Adeline zu verrathen..

Weil er aber ihr Herz zu gut kannte, um zu glauben, daß sie sich so leicht dem Laster hingeben würde, und noch immer einiges Mitleid und Zärtlichkeit gegen sie fühlte, suchte er den Marquis von heftigen Maasregeln abzuhalten, und ihn zur allmähligen Untergrabung ihrer Grundsätze durch sanftes Werben um ihre Liebe zu bewegen.

Der Marquis genehmigte und befolgte diesen Plan; das Fehlschlagen des ersten Versuchs bewegte ihn, die Kunstgriffe anzuwenden, deren er sich nachher bediente, um so Adelinens Unglück zu vergrößern.

Dieß waren die Umstände, welche La Motten in seine jetzige beklagenswerthe Lage gebracht hatten. Der Tag des Verhörs war erschienen, und er wurde aus dem Gefängniß in das Gericht geführt, wo der Marquis als sein Ankläger erschien. Als die Klage vorgebracht wurde, vertheidigte La Motte wie gewöhnlich seine Unschuld, und der Advokat Nemours, der seine Sache zu führen übernommen hatte, bemühte sich ins Licht zu stellen, daß die Klage von Seiten des Marquis falsch und böslich sey. In dieser Absicht erwähnte er den Umstand, daß der Marquis seinen Angeklagten zur Ermordung Adelinens hätte bewegen wollen; ferner, daß der Marquis mehrere Monathe vor La Mottens Verhaftung in vertraulichen Umgang mit ihm gelebt, und erst, als La Motte seine Absichten vereitelt, und den unglücklichen Gegenstand seiner Verfolgung in Sicherheit gebracht, es für gut gefunden hatte, La Motten des Verbrechens, um dessentwillen er festgesetzt war, anzuklagen.

Nemours zeigte, wie unwahrscheinlich es sey, daß ein Mann einen freundschaftlichen Umgang mit einem andern halten würde, der ihm das doppelte Unrecht der Beraubung und eines Angriffs auf sein Leben zugefügt hätte; und doch war es erwiesen, daß der Marquis verschiedene Monathe nach der angegebnen Zeit des Verbrechens oft mit ihm zusammen gekommen war. Wenn der Marquis ihn belangen wollte, warum that er es nicht gleich? und da er es nicht that, was konnte ihn so lange nachher dazu vermögen?

Der Marquis wußte hierauf nichts zu sagen: denn da er sein Betragen in dieser Sache nach seinen Absichten auf Adelinen abgemessen hatte, konnte er es nicht rechtfertigen, ohne Dinge an den Tag zu bringen, welche die Schwäche seines Charakters verrathen, und seine Sache entkräften mußten. Er begnügte sich demnach, einige von seinen Bedienten als Zeugen des Angriffs und der Beraubung auftreten zu lassen, die ohne Bedenken La Mottens Person beschwuren, wiewohl keiner von ihnen ihn anders als bey der Dunkelheit des Abends, und in vollem Gallop davon sprengend, gesehn hatte. Bey scharfer Untersuchung und Kreuzfragen widersprachen sie einander. Ihr Zeugniß wurde folglich verworfen; da aber der Marquis noch zwey andere Zeugen aufstellen wollte, deren Ankunft er stündlich erwartete, wurde das Verhör aufgehoben, und das Gericht verschob die Sitzung.

La Motte wurde eben so niedergeschlagen in sein Gefängniß zurückgebracht, als er es verließ. Als er durch einen Vorplatz ging, kam er an einem Manne vorbey, der still stand, um ihn vorüber zu lassen und ihn starr und aufmerksam ansah. La Motten dünkte, dieß Gesicht schon gesehn zu haben; allein der unvollkommene Anblick, den er an dem dunkeln Orte von ihm erhaschen konnte, machte ihn ungewiß, und zudem war seine Seele zu sehr von andern Dingen beunruhigt, um auf einen äussern Gegenstand zu achten.

Als er vorüber war, erkundigte sich der Fremde bey dem Aufseher des Gefängnisses, wer La Motte sey; und als er es erfuhr, und noch einige andere Antworten auf Fragen, die er that, erhielt, verlangte er mit ihm zu sprechen. Die Bitte wurde gewährt, da dieser Mann nur Schulden halber saß; weil aber die Thüren jetzt für die Nacht verschlossen wurden, mußte es bis morgen verschoben bleiben.

La Motte fand seine Frau im Zimmer, die schon einige Stunden gewartet hatte, um den Ausgang des Verhörs zu vernehmen. Sie wünschten nun sehnlicher als je, ihren Sohn zu sehn; allein sie waren, wie Louis vermuthet hatte, mit der Veränderung seines Quartiers unbekannt, weil seine Briefe, die er unter verabredeter Addresse an das Posthaus zu Auboine schickte, liegen geblieben waren.

Madame schrieb ihm also nach seinem bisherigen Aufenthalte, und er erfuhr weder seines Vaters Unglück, noch Abzug von der Abtey. Seine Mutter, befremdet, keine Antwort auf ihre Briefe zu erhalten, schickte einen neuen ab, worin sie ihm den Ablauf des Verhörs bis hierher meldete, und ihn bat, um Urlaub anzusuchen, und unverzüglich nach Paris zu kommen: allein dieser Brief, der noch immer an den vorigen Ort ging, mußte ihn, so wie die andern verfehlen.

Indessen war sein herannahendes Schicksal keinen Augenblick fern von La Mottens Seele, die von Natur schwach, und noch mehr entnervt durch Gewohnheit, ihm in diesem schrecklichen Zeitpunct allen Trost versagte.

 

Während diese Auftritte zu Paris vorgingen, langte La Lüc ohne weitern Unfall nach einer Reise, auf welcher einzig seine Seelenstärke ihn unterstützen konnte, daselbst an. Er eilte, sich dem Monarchen zu Füßen zu werfen, und so groß war das Übermaß seines Gefühls, als er die Bittschrift, welche das Schicksal seines Sohnes bestimmen sollte, überreichte, daß er nur schweigend aufzublicken vermochte, und in Ohnmacht sank. Der König nahm das Papier an, und nachdem er Befehl gegeben hatte, Sorge für den unglücklichen Alten zu tragen, ging er fort. Man trug ihn in seinen Gasthof zurück, wo er den Ausgang dieses seines letzten Versuchs erwartete.

Adeline blieb indessen zu Vaceau in einem Zustande von Qual, der ihrem lang zerrütteten Körper zu mächtig war, und befand sich so übel, daß sie ihr Zimmer hüthen mußte. Zu Zeiten wagte sie sich mit der Hoffnung zu schmeicheln, daß La Lücs Reise glücklich ablaufen würde; allein diese kurzen und täuschenden Zwischenzeiten des Trostes, schärften nur die Muthlosigkeit, die darauf folgte, und bey den abwechselnden Extremen ihrer Gefühle litt sie mehr Qual als das scharfe Stechen unerwarteten Unglücks oder der finstre Schmerz festgewurzelter Verzweiflung fühlen läßt.

So oft sie sich wohl genug befand, ging sie herunter in den Saal, um mit Louis zu reden, der ihr öftere Nachricht von Theodor brachte, und jeden Augenblick, den er von seinen Dienstpflichten abbrechen konnte, zur Tröstung und Unterstützung seiner bekümmerten Freunde anwandte. Adeline und Theodor erwarteten beyde nur von ihm den wenigen Trost, der ihnen vergönnt war: denn er brachte ihnen Nachricht von einander, und so oft er erschien, labte ein vorübergebendes schmerzhaft süßes Vergnügen ihre Herzen.

Er konnte Adelinens Unpäßlichkeit nicht vor Theodor verbergen, weil er einen Grund angeben mußte, warum sie den innigen Wunsch sie zu sehn, den er so oft wünschte, nicht erfüllte. Adelinen unterhielt er meistens mit der Standhaftigkeit und Ergebung seines Freundes, wobey er indessen die Zärtlichkeit, die er stets für sie äußerte, nicht zu erwähnen vergaß. Gewohnt; ihren einzigen Trost aus Louis Gegenwart zu schöpfen, und seine unermüdete Freundschaft gegen ihn, den sie so herzlich liebte, zu beobachten, fand sie, daß ihre Achtung für ihn in Dankbarkeit reifte, und er ihr täglich werther ward.

Louis stellte die Standhaftigkeit, womit sein Freund sein Unglück ertrüge, stärker vor, als sie wirklich war. Theodor konnte die Bande, welche ihn ans Leben knüpften, nicht genug vergessen, um seinem Schicksal mit Festigkeit entgegen zu gehn; aber so scharf und häufig auch die Anfälle seines Schmerzes waren, bestrebte er sich doch in Gegenwart seiner Freunde eine männliche Fassung anzunehmen, und es gelang ihm oft. Er hoffte wenig von seines Vaters Reise, doch war dieß wenige genug, um seine Seele in peinlicher Ungewißheit des Ausgangs zu erhalten.

La Lüc kam am Tage vor dem zur Vollziehung des Urtheils bestimmten, nach Vaceau zurück. Adeline stand an ihrem Kammerfenster, als der Wagen ans Wirthshaus fuhr; sie sah ihn aussteigen, und mit schwachen Schritten, von Peter unterstützt, ins Haus gehn. Sein mattes Ansehn verrieth ihr nichts Gutes, und fast erliegend unter der Heftigkeit ihrer Bewegung ging sie ihm entgegen, Clara war schon bey ihm, als Adeline ins Zimmer trat.

Sie näherte sich ihm, voll Furcht aber, eine Bestätigung der traurigen Bothschaft, die sein Gesicht weissagte, von seinen Lippen zu hören, sah sie ihn ausdrucksvoll an, und setzte sich nieder, unvermögend die Frage, die auf ihrer Zunge schwebte, heraus zu bringen. Er reichte ihr schweigend die Hand, sank zurück in feinen Stuhl, und schien unter dem Drucke seines Herzens zu erliegen. Sein Benehmen bestätigte alle ihre Furcht: bey dieser schrecklichen Überzeugung vergingen ihr die Sinne, und leblos und betäubt saß sie da.

La Lüc und Clara waren zu sehr beschäftigt mit ihrem eigenen Schmerz, um ihren Zustand zu bemerken, nach einiger Zeit hohlte sie einen tiefen Seufzer und brach in Thränen aus. Erleichtert durch Weinen, kehrten ihre Lebensgeister allmählig wieder, und endlich sagte sie zu La Lüc:

»Es ist überflüßig, Sie um den Ausgang Ihrer Reise zu fragen, doch wünschte ich, wenn Sie es ertragen können, davon zu reden.«

La Lüc winkte abwärts mit der Hand.

»Ach« sagte er, »ich habe nichts zu sagen, als was Sie bereits zu gut errathen – Mein armer Theodor!« –

Seine Stimme brach, und es folgten einige Augenblicke stummen Schmerzes.

Adeline war die erste, die Besinnung genug wieder erlangte, um La Lücs äusserste Ermattung zu bemerken, und ihm zu Hülfe zu eilen. Sie bestellte einige Erquickungen, und bat ihn einen Arzt rufen zu lassen, und sich zu Bett zu legen, weil Ruhe ihm über alles nöthig sey.

»Ich wünschte, daß ich sie finden könnte, mein liebes Kind,« sagte er, »in dieser Welt muß ich sie nicht mehr suchen, aber in einer bessern, und die soll, hoff ich, nicht ferne mehr seyn. Allein wo ist unser treuer Louis? Er muß mich zu meinem Sohn führen.«

Schmerz erstickte wiederum seine Stimme, und Louis Eintritt war eine sehr nothwendige Erleichterung für sie alle. Ihre Thränen ersparten ihm die Frage, die er hätte thun können. La Lüc erkundigte sich sogleich nach seinem Sohn, dankte Louis für alle Freundschaft gegen ihn, und bat, ihn in das Gefängniß zu führen. Louis suchte ihn zu bereden, seinen Besuch bis morgen zu verschieben, und Adeline sowohl als Clara traten ihm bey; allein La Lüc war entschlossen, noch heute zu gehn.

»Seine Zeit ist kurz,« sagte er, »noch wenige Stunden und ich werde ihn nicht mehr sehn; wenigstens in dieser Welt nicht mehr: laßt mich diese kostbaren Augenblicke nicht versäumen. Adeline! Ich hatte meinem armen Jungen versprochen, daß er Sie noch einmahl sehen sollte, aber Sie sind nicht vermögend zu dieser Zusammenkunft, und ich will ihn zu beruhigen suchen. Wenn es mir aber nicht gelingt, und Sie befinden sich morgen besser, so weiß ich, Sie werden Ihre Kräfte anstrengen, um diesen Besuch auszuhalten.«

Adeline sah ungeduldig aus, und versuchte zu reden. La Lüc stand auf um fortzugehn, ehe er aber die Thüre erreichen konnte, fiel er schwach und kraftlos in einen Stuhl.

»Ich muß mich der Nothwendigkeit unterwerfen,« sagte er, »ich sehe, daß ich nicht im Stande bin, heute Abend weiter zu gehn. La Motte, gehn Sie zu ihm und sagen ihm, ich befände mich etwas umpaß von meiner Reise, wollte aber morgen in aller Frühe bey ihm seyn. Schmeicheln Sie ihm nicht mit Hoffnung, bereiten Sie ihn auf das Schlimmste vor.«

Es entstand eine Stille: endlich faßte La Lüc sich wieder, und bath Claren, ihm sein Bett machen zu lassen, welches sie unverzüglich that. Als er fortging, erzählte Adeline, was wirklich überflüßig war, Louis den Ausgang von La Lücs Reise.

»Ich gestehe,« sagte sie, »daß ich mir zuweilen eine Hoffnung erlaubt hatte, und nun diesen Schlag um so härter fühle. Auch fürchte ich, daß Herr La Lüc darunter erliegen wird: er hat sich sehr verschlimmert, seit er nach Paris ging. Ich bitte, sagen Sie mir aufrichtig, wie er Ihnen vorkömmt.«

Die Verändrung war so sichtlich, das Louis sie nicht läugnen konnte, doch suchte er ihre Besorgniß zu mildern, indem er sie großentheils der Ermüdung der Reise zuschrieb. Adeline erklärte ihren Entschluß, La Lüc morgen zu begleiten, um von Theodor Abschied zu nehmen.

»Zwar weiß ich nicht, wie ich diese Zusammenkunft aushalten werde, sagte sie; »allein ihn noch einmahl zu sehn, ist meine Pflicht, die ich ihm und mir selbst schuldig bin, und es würde mich ewig martern, wenn ich ihm diesen letzten Beweis von Zärtlichkeit verweigert hätte.«

Nach einen kurzen Gespräch, begab Louis sich ins Gefängniß, und sann über die besten Mittel nach, seinem Freunde die unglückliche Nachricht mitzutheilen. Theodor hörte sie mit mehr Fassung an, als er erwartet hatte, fragte aber ungeduldig, warum er seinen Vater und Adelinen nicht zu sehn bekäme? und als er hörte, daß Unpäßlichkeit sie zurück hielt, stellte seine Einbildungskraft sich das ärgste vor, und gab ihm ein, daß sein Vater todt wäre.

Es dauerte lange ehe Louis ihn vom Gegentheil überführen, und ihn überzeugen konnte, daß auch Adeline nicht gefährlich krank sey – als er indessen die Versicherung erhielt, er würde sie morgen beyde sehn, wurde er ruhiger. Er bat seinen Freund, ihm diese Nacht nicht zu verlassen.

»Es sind die letzten Stunden, die wir mit einander hinbringen können, ich kann nicht schlafen, bleibe bey mir und erleichtre mir ihr schweres Gewicht. Ich bedarf Tröstung, Louis. Jung wie ich bin, durch so starke Bande gehalten, kann ich nicht mit Ergebung die Welt verlassen. Ich fasse die Beyspiele nicht, die man von philosophischem Gleichmuth uns erzählt. Weisheit kann uns nicht lehren, freudig ein Gut hinzugeben, und das Leben war es für mich!«

Die Nacht verstrich in Gesprächen, die oft durch langes Stillschweigen, oft durch Anfälle von Verzweiflung unterbrochen wurden; und der Morgen des Tages, der Theodor zum Tode führen sollte, dämmerte endlich durch die Gitter seines Gefängnisses.

La Lüc brachte indessen eine schlaflose und schreckliche Nacht hin. Er betete um Stärke und Ergebung für sich und Theodor: aber die Empfindungen der Natur waren zu mächtig in seinem Herzen, und ließen sich nicht unterdrücken. Der Gedanke an seine verstorbene Gattinn, an das, was sie empfinden würde, wenn sie gelebt hätte, um diesen schmähligen Tod ihres Sohnes anzusehn, war ihm oft gegenwärtig.

Es schien gleichsam, als schwebte ein Verhängniß über Theodors Leben, denn aller Wahrscheinlichkeit nach, würde der König des unglücklichen Vaters Bitte gewährt haben, wenn nicht gerade der Marquis am Hofe gewesen wäre, als das Papier überreicht wurde. Das Ansehn und die ausserordentliche Betrübniß des Alten hatte den Monarchen gerührt, und statt das Papier bey Seite zu legen, öfnete er es. Als er die Augen darauf warf, sah er, daß der Verurtheilte zu des Marquis de Montalts Regiment gehörte; er wandte sich zu ihm und fragte ihn um das Vergehn, weswegen der Gefangne den Tod leiden sollte. Die Antwort lautete so, wie man vom Marquis sie erwarten konnte, und der König wurde überzeugt, daß Theodor kein Gegenstand sey, der Mitleid verdiene.

Doch um zu La Lüc zurück zu kehren, der seiner Veranstaltung zu Folge frühzeitig geweckt wurde – Nachdem er einige Zeit im Gebet zugebracht hatte, ging er in den Saal herunter, wo Louis, pünctlich auf die Minute, bereits wartete, um ihn zu seinem Sohne zu führen. Er schien ruhig und gefaßt, aber eine tiefe Trauer, die seinen jungen Freund innigst rührte, war seinen Zügen aufgeprägt. Während sie auf Adelinen warteten, sprach er wenig, und schien zu kämpfen, um die Stärke zu erlangen, die er bedurfte um den herannahenden Auftritt zu übers stehen.

Da Adeline nicht erschien, schickte er endlich zu ihr, um sie anzutreiben, und hörte, sie hätte sich übel befunden, erhohlte sich aber wieder. Sie hatte wirklich eine Nacht in solcher Erschütterung zugebracht, daß ihr Körper darunter erlag, und bestrebte sich jetzt, Stärke und Fassung wieder zu gewinnen, um sich in dieser schrecklichen Stunde aufrecht zu halten. Jeder Augenblick, der sie ihr näher brachte, vermehrte ihre Bewegung, und die Furcht, verhindert zu werden, Theodor noch einmahl zu sehn, hatte allein sie vermögend gemacht, gegen den vereinten Druck von Krankheit und Schmerz zu kämpfen.

Sie kam jetzt mit Clara zu La Lüc, der ihnen entgegen ging, und sie beyde stillschweigend bey der Hand nahm. Nach einigen Augenblicken sagte er, sie wollten gehen, und sie stiegen in den Wagen, der sie zum Gefängniß führen sollte.

Der Pöbel fing bereits an sich zu versammlen, und es entstand ein verworrnes Gemurmel, wie der Wagen vorwärts fuhr, es war ein schmerzhafter Anblick für Theodors Freunde! – Louis unterstützte Adelinen, als sie ausstieg, sie war kaum vermögend zu gehn, und mit zitternden Schritten folgte sie La Lüc, den der Aufseher nach der Gegend des Gefängnisses führte, wo sein Sohn saß. Es war acht Uhr vorbey: das Urtheil sollte erst um 12 vollzogen werden, aber eine Wache stand bereits im Vorhofe, und die unglückliche Gesellschaft begegnete in den schmalen Gängen verschiednen Offizieren, die einen letzten Abschied von Theodor genommen hatten.

Als sie die Treppe hinauf stiegen, hörte La Lüc Ketten klirren, und seinen Sohn mit schnellen ungleichen Schritten oben gehn. Der unglückliche Vater, von dem Augenblicke, der jetzt auf ihn drang, überwältigt, stand still und mußte sich am Geländer halten. Louis fürchtete, daß die Folgen seines Schmerzes bey seinem schon so erschütterten Körper gefährlich seyn möchten, und wollte nach Hülfe eilen, allein er machte ihm ein Zeichen zu bleiben.

»Mir ist besser,« sagte er. »O Gott, stärke mich in dieser Stunde!« –

Und in wenig Minuten war er im Stande, weiter zu gehn.

Als der Wärter die Thüre aufschloß, erschreckte das harte Knarren des Schlüssels Adelinen; aber augenblicklich sah sie sich in Theodors Gegenwart, der ihr entgegen sprang, und sie in seinen Armen auffing, ehe sie zu Boden sank. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter, und er sah noch einmahl das Gesicht, das ihm so theuer war, das so oft Entzücken in seine Seele gestrahlt hatte, und auch jetzt noch bleich und leblos ihn zu kurzem Entzücken erweckte.

Als sie endlich die Augen aufschlug, heftete sie einen langen, wehmüthigen Blick auf Theodor, der sie an sein Herz drückte, und ihr nur mit einem Lächeln gemischter Zärtlichkeit und Verzweiflung antworten konnte: die Thränen, die er zurückzuhalten strebte, zitterten in seinen Augen, und er vergaß auf einige Zeit alles, ausser Adelinen.

La Lüc, der sich auf den Fuß des Bettes gesetzt hatte, schien unbewußt von allem, was um ihn vorging und ganz versteckt in seinen eignen Jammer; Clara aber, die ihres Bruders Hand ergriff, und sich weinend an seinen Arm hing, äußerte laut alle Qual ihres Herzens, und erweckte endlich Adelines Aufmerksamkeit, die in kaum vernehmlicher Stimme sie bat, ihres Vaters zu schonen. Ihre Worte brachten Theodor zu sich selbst: er führte sie zu einem Stuhl und ging zu La Lüc.

»Mein Sohn, mein geliebter Sohn! –« sagte sein Vater, faßte seine Hand, und brach in Thränen aus.

Sie weinten mit einander. Nach langem Schweigen fing er endlich an:

»Ich hatte geglaubt, diese Stunde ertragen zu können, aber ich bin alt und schwach. Gott kennt meint Bestreben nach Ergebung, mein Vertrauen auf reine Güte.«

Theodor erzwang mit starker und plötzlicher Anstrengung eine gefaßte und entschloßne Miene, und suchte durch jeden sanften Trostgrund seine weinenden Freunde zu beruhigen. Endlich schien La Lüc sein Leiden zu überwinden; er trocknete seine Augen und sagte:

»Mein Sohn, ich hätte mit besserm Beyspiel dir vorgehn, und die Lehren der Seelenstärke ausüben sollen, die ich dir so oft gegeben habe. Allein es ist vorüber; ich kenne meine Pflicht und will sie erfüllen.«

Adeline hauchte einen schweren Seufzer aus, und ihre Thränen flossen unaufhaltsam.

»Beruhigen Sie sich, meine Liebe, wir scheiden nur auf kurze Zeit« – sagte Theodor, und küßte die Thränen von ihren Wangen. Er legte ihre Hand in die seines Vaters, und empfahl sie inständigst seinem Schutz.

»Nehmen Sie sie hin, mein Vater, als das kostbarste Vermächtniß, das ich schenken kann: sie sey von nun an Ihr Kind – sie wird Sie trösten, wenn ich dahin bin; sie wird Ihnen den Verlust Ihres Sohns mehr als ersetzen.«

»Laßt uns diese wichtigen Augenblicke nicht vernachläßigen,« sagte La Lüc, indem er gewaltsam aus seines Sohnes und Adelinens thränenheisser Umarmung sich loswand. »Adeline, meine Tochter, laßt unsre vereinigten Gebete zu ihm emporsteigen, der allein uns trösten und stärken kann!«

Sie knieten sämmtlich nieder, und er betete mit der einfachen erhabenen Beredsamkeit, welche wahre Frömmigkeit einflößt. Als er aufstand, umarmte er jedes seiner Kinder besonders, und da er zu Theodor kam, starrte er ihn mit innigem, klagendem Ausdruck an, und vermochte eine Zeitlang nicht zu reden. Theodor konnte dieß nicht ertragen – er hielt die Hand vor die Augen, und suchte vergebens das tiefe Schluchzen, welches seine Gestalt erschütterte, zu ersticken. Endlich erhielt er die Sprache wieder und flehte seinen Vater [an], ihn zu verlassen.

»Dieser Jammer ist für uns alle zu schwer,« sagte er, »lassen Sie ihn uns nicht verlängern. Die Zeit rückt näher – vergönnen Sie mir mich zu fassen. Die Schärfe des Todes besteht nur im Scheiden von denen, die wir lieben – wann dieses vorüber ist, hat er seine Waffen verloren!«

»Ich will dich nicht verlassen, mein Sohn,« erwiederte La Lüc, »meine armen Töchter sollen gehn, ich aber will in deinen letzten Augenblicken bey dir bleiben.«

Theodor fühlte, daß dieß für sie Beyde zu viel seyn würde, und both alle Überredung der Vernunft auf, um seinen Vater von diesem Vorhaben abzubringen. Allein er beharrte fest darauf.

»Keine selbstsüchtige Erwägung der Pein, die ich fühlen werde, soll mich vermögen, mein Kind zu verlassen, wenn es einer Unterstützung am meisten bedarf. Es ist meine Pflicht, dich zu begleiten, und nichts soll mich abhalten.«

Theodor nahm seinen Vater bey diesen letzten Worten:

»Da Sie wünschen, mich in meiner letzten Stunde unterstützt zu wissen, so flehe ich Sie an, nicht Zeuge davon zu seyn. Ihre Gegenwart mein Vater, würde alle Fassung vernichten – sie würde die wenige Standhaftigkeit überwältigen, die ich vielleicht noch erzwingen kann. Vermehren Sie nicht mein Leiden durch den Anblick Ihrer Qual, sondern lassen Sie mich, wo möglich, den theuren Vater vergessen, den ich auf immer verlassen muß!«

Seine Thränen flossen aufs Neue. La Lüc sah ihn nochmahls mit dem langen Blicke stummer Todesqual an.

»So sey es denn,« sagte er. »Wenn wirklich meine Gegenwart dich beängstigt, so will ich gehn!«

Seine Stimme war gebrochen. Nach einem Schweigen von einigen Augenblicken umarmte er Theodor nochmahls.

»Wir müssen scheiden,« rief er, »wir müssen, aber nur auf kurze Zeit! In einer höhern Welt werden wir wieder vereint seyn. O Gott, du siehst in mein Herz – du siehst, was es in dieser bittern Stunde fühlt.«

Der Schmerz überwältigte ihn von neuem. Er drückte Theodor in seine Arme, plötzlich aber schien er alle Kraft noch einmahl zu sammeln und wiederhohlte:

– »Wir müssen scheiden! O mein Sohn, lebe wohl auf ewig für diese Welt, die Barmherzigkeit des ewigen Gottes unterstütze und segne dich!«

Er drehte sich um, das Gefängniß zu verlassen, sank aber ganz entkräftet von Schmerz in einen Stuhl neben der Thüre, die er öfnen wollte. Theodor starrte mit zerrüttetem Gesicht bald seinen Vater, bald Claren, bald Adelinen an, die er an sein klopfendes Herz drückte, und seine Thränen in die ihrigen fließen ließ.

»Und soll ich denn,« rief er, »soll ich wirklich zum letztenmahle dieß holde Gesicht betrachten! – soll ich nimmer – nimmer es wieder sehn. – O Jammer über allen Ausdruck! – Aber noch einmahl, o noch einmahl –«

Er drückte seine Wange an die ihrige, aber sie war kalt und leblos wie Marmor.

Louis, der gleich anfangs das Zimmer verlassen hatte, um nicht durch seine Gegenwart das letzte, heilige Lebewohl der Traurenden zu stören, kam jetzt herein. Adeline hob den Kopf in die Höhe, und als sie ihn sah, sank er wieder auf Theodors Brust.

Louis schien sehr erschüttert. La Lüc stand auf.

»Wir müssen gehen,« sagte er; »Adeline, meine Liebe, raffen Sie sich zusammen – Clara – meine Kinder, laßt uns gehn. – Noch eine Umarmung, und dann! –«

Louis ging auf ihn zu und faßte ihn bey der Hand.

»Mein ehrwürdiger Freund, ich habe Ihnen etwas zu sagen, doch fürchte ich mich beynahe.«

»Was meinen Sie?« sagte La Lüc schnell. »Kein neues Unglück kann mich jetzt mehr treffen. Fürchten Sie sich nicht zu reden.«

»Ich freue mich, daß ich Sie nicht auf die Probe stellen kann,« erwiederte Louis. »Ich habe Sie das härteste Leiden mit Fassung ertragen sehn. Können Sie auch das Entzücken der Hoffnung tragen?«

La Lüc staunte ihn begierig an.

»Sprechen Sie, Louis –« sagte er mit schwacher Stimme.

Adeline richtete sich in die Höhe, und sah zitternd zwischen Hoffnung und Furcht Louis an, als wollte sie in seiner Seele lesen. Er lächelte freudig.

»Ist es, o ist es möglich?« rief sie plötzlich neu beseelt – »Er lebt; er soll leben?«

Sie sagte nichts weiter, sondern lief zu La Lüc, der in seinen Stuhl sank, während Theodor und Clara mit einer Stimme Louis zuriefen, sie aus der Qual der Ungewißheit zu reißen.

Er sagte ihnen nun, daß er so eben eine Frist für Theodor von dem commandirenden Offizier loßgewirkt hätte, und zwar zu Folge eines heute früh von seiner Mutter erhaltenen Briefes, worinn sie einiger seltsamen Umstände erwähnte, die bey einem Verhör zu Paris vorgefallen wären, und den Charakter des Marquis de Montalt so wesentlich angriffen, daß es vielleicht möglich seyn würde, noch Begnadigung für Theodor zu erhalten.

Diese Worte strahlten mit der Schnelligkeit des Blitzes in die Herzen der Zuhörer. La Lüc lebte wieder auf und das Gefängniß, vor wenig Minuten der Aufenthalt der Verzweiflung, hallte jetzt von Ausrufungen des Danks und der Freude wieder. La Lüc hub seine gefalteten Hände empor:

»Gütiger Gott,« rief er, »du hast mich in der Stunde der Trübsaal erhalten; halte mich auch jetzt – wenn mein Sohn lebt, so werde ich in Frieden sterben!«

Er umarmte Theodor, und da er sich des Schmerzens der letzten Umarmung erinnerte, flossen Thränen der gerührten Freude. So mächtig war die Wirkung dieser kurzen Frist, daß eine gänzliche Begnadigung schwerlich lebhafteres Entzücken in diesem Augenblicke hätte verbreiten können. Als aber die erste Bewegung sich gelegt hatte, sahen sie aufs neue die Ungewißheit seines Schicksals.

Adeline enthielt sich, ihr Bewußtseyn davon zu äußern; Clara aber bejammerte ohne Bedenken die Möglichkeit, das ihr Bruder dennoch von ihnen gerissen, und alle Freude in Trauern verwandelt werden könnte. Ein Blick von Adelinen bestrafte sie. Freude war indessen so sehr die herrschende Empfindung des Augenblicks, daß der Schatten, welchen Betrachtungen auf ihre Hoffnungen warfen, vorüber schwand, gleich der Wolke, welche von der Gewalt der Sonnenstrahlen zertheilt wird; nur Louis war nachdenkend und abwesend.

Als sie sich hinlänglich gefaßt hatten, sagte er ihnen, daß seiner Mutter Brief es ihm nothwendig machte, sogleich nach Paris abzureisen; und daß die darinn enthaltene Nachricht Adelinen so nahe anginge, das sie wahrscheinlich es nothwendig finden würde, ebenfalls dahin zu gehen, sobald ihre Gesundheit es zuließe. Er las nunmehr seinen ungeduldigen Zuhörern die Stellen vor, die ihnen zur Erläuterung dienen konnten: weil aber Frau von La Motte einige Umstände von Wichtigkeit ausgelassen hatte, so geben wir lieber unsern Lesern eine kurze Erzählung von dem, was seit kurzem zu Paris vorgegangen war.

 

Man wird sich erinnern, daß am ersten Tage seines Verhörs La Motte im Durchgehn durch die Vorhöfe seines Gefängnisses einen Mann sahe, dessen Züge ihm, ohngeachtet der Dunkelheit, bekannt schienen; und daß eben dieser Mann, als er seinen Nahmen erfuhr, zu ihm gelassen zu werden verlangte. Am folgenden Lage erfüllte der Gefangenwärter sein Begehren, und La Motte erkannte mit Erstaunen bey dem hellern Licht seines Zimmers, das Gesicht des Mannes, aus dessen Händen er vormahls Adelinen empfing.

Als der Mann Frau von La Motte im Zimmer sah, sagte er, daß er etwas wichtiges mitzutheilen hätte, und mit dem Gefangnen allein zu seyn wünschte. Nachdem sie fort war, sagte er zu La Motten, ›er hätte verstanden, daß er auf Klage des Marquis de Montalt verhaftet säße.‹ –

La Motte bejahte es –

»Ich kenne ihn als einen Schurken,« sagte der Fremde darauf. »Ihr Fall ist verzweifelt. Aber wünschen Sie das Leben zu behalten?«

»Eine überflüßige Frage!«

»Ich höre, daß man morgen wieder zu Ihrem Verhör schreiten wird. Ich sitze jetzt Schuldenhalber hier: wenn Sie mir aber Erlaubniß auswirken können, mit Ihnen ins Gericht zu gehn, und ein Versprechen von dem Richter, daß dasjenige, was ich entdecken will, mich nicht criminell machen soll, so will ich Dinge sagen, die diesen Marquis, verwundern sollen: ich will beweisen, daß er ein Schurke ist, und man soll dann urtheilen, in wie fern sein Wort gegen Sie gelten kann.«

La Motte, dessen Aufmerksamkeit aufs höchste erregt war, bat ihn sich deutlicher zu erklären: und der Mann fing eine lange Geschichte von den Unglücksfällen und der Verarmung an, die ihn dahin gebracht, sich von dem Marquis brauchen zu lassen, bis er plötzlich inne hielt:

»Wenn ich das verlangte Versprechen vom Gericht erhalte, will ich mich deutlich erklären; bis dahin aber kann ich nichts weiter sagen.«

La Motte konnte nicht umhin, einen Zweifel in seine Aufrichtigkeit und eine Neugier nach den Ursachen, die ihn zum Ankläger des Marquis machten, zu äußern.

»Was meine Ursache betrift, die ist sehr natürlich,« sagte der Mann, »es ist nicht so leicht, üble Behandlung zu verschmerzen, besonders wenn sie von einem Schurken kommt, dem man gedient hat.«

La Motte suchte um sein selbst willen, der Heftigkeit, womit der Mann dieses sagte, Einhalt zu thun.

»Es gilt mir gleichviel, wer mich hört,« fuhr der Fremde fort, der indessen doch seine Stimme leiser machte, »ich wiederhohle es, der Marquis ist schlecht mit mir umgegangen. Ich habe sein Geheimniß lange genug bey mir behalten, und er findet es nicht der Mühe werth, sich meines Schweigens länger zu versichern, sonst würde er mich nicht hier stecken lassen. Ich sitze Schulden halber, und habe ihn um Beystand gebeten: da er mir keinen gibt, so mag er die Folge empfinden. Ich wette, es wird ihn bald gereuen, daß er mich gereizt hat.«

La Mottens Zweifel war nun verschwunden: die Aussicht zum Leben öfnete sich wieder, und er versicherte Dü Bosse (so hieß der Fremde) mit vieler Wärme, daß er seinem Advokaten auftragen wollte, alles anzuwenden, um die Erlaubniß zu seiner Erscheinung beym Verhör und die geforderte Bedingung auszuwirken; worauf der Mann ihn verließ.



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