Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweytes Kapitel.

Er ging näher hinzu und entdeckte die gothischen Überreste einer alten Abtey: sie stand auf einem grünen Platze, den hohe Bäume beschatteten, welche mit dem Gebäude gleichzeitig schienen, und eine romantische Dunkelheit verbreiteten. Der größere Theil der Mauern schien in Ruinen zu verfallen, und die, welche der Verheerung der Zeit widerstanden hatten, gaben den verfallenen Überresten ein noch schauerliches Ansehn.

Die hohen Zinnen, dick mit Epheu umschlungen, waren halb verwüstet und der Aufenthalt von Raubvögeln geworden. Große Massen von dem östlichen, fast ganz verfallnen Thurme lagen zerschmettert im hohen Grase, das langsam in die Lüfte wehte. Ein gothisches Thor, reich mit ausgehauener Arbeit verziert, das zum Hauptflügel des Gebäudes führte, aber mit Strauchwerk verwachsen war, stand noch unversehrt. Über der weiten, prächtigen Wölbung dieses Thors stieg ein Fenster von derselben Bauart empor, in dessen Flügeln man noch Fragmente gemahlten Glases sah, einst der Stolz mönchischer Frömmigkeit.

La Motte, der es für möglich hielt, daß noch ein menschliches Wesen sich hier aufhalten könnte, trat zum Thore und hub einen schweren Klopfer auf. Der hohle Schall lief durch den leeren Platz. Er wartete einige Minuten und zwang dann das Thor zurück, das von Eisen schwer war und mit schrecklichem Getöse knarrte.

Er trat in einen Ort, der die Kapelle der Abtey gewesen zu seyn schien, wo einst die Hymne der Andacht empor stieg, und die Thräne der Buße vergossen ward: Töne, welche nur die Einbildungskraft wieder hervor rufen konnte; Thränen, die längst in der Wage des Richters gewogen waren.

La Motte stand einen Augenblick still: er fühlte einen gewissen Schauder, einen Mittelzustand zwischen Staunen und Ehrfurcht! Er übersah den weiten Raum, und indem er die verfallne Pracht betrachtete, trug die Fantasie ihn in verfloßne Zeiten zurück –

»Und diese Mauern,« sagte er, zittern jetzt über den Gebeinen der sterblichen Wesen, welche sie bewohnten!«

Die zunehmende Dunkelheit erinnerte La Motten, daß er keine Zeit zu verlieren hatte: allein Neugier drängte ihn vorwärts und er gehorchte ihrem Antriebe. So wie er über das gesunkne Pflaster ging, hallten seine Schritte durch das Gebäude wieder, und schienen gleich den mystischen Tönen der Todten dem frechen Sterblichen Vorwürfe zu machen, der ihren Umkreis zu betreten wagte.

Aus dieser Kapelle trat er in die große Kirche, in welcher ein Fenster, vollständiger als die andern, auf eine lange Vista des Waldes stieß, und die reiche Farbe des Abends zeigte, die unmerklich in die feyerliche Dunkelheit der höhern Luft hinwegschmolz. Dunkle Berge, deren Umriß deutlich im lebhaften Schimmer des Horizonts hervor ragten, schlossen die Aussicht. Verschiedne Pfeiler, die einst die Decke unterstützten, standen noch als stolze Denkmähler sinkender Größe, und schienen bey jedem Brausen des Windes zwischen den herabgefallnen Brüchstücken, die vor ihnen lagen, zu nicken. –

La Motte seufzte. Die Vergleichung zwischen ihm und dem allmähligen Verfall, wovon diese Säulen zeugten, drang sich ihm zu mächtig auf.

»Noch wenig Jahre,« sprach er, »und ich werde seyn, wie die Sterblichen, deren Überreste ich jetzt anstaune, und gleich ihnen zum Stoff des Nachdenkens für eine künftige Generation dienen, die ebenfalls nur kurze Zeit über dem Gegenstande ihrer Betrachtung hinschwanken wird, ehe auch sie in den Staub sinkt.«

Er riß sich von diesem Aufenthalt los, und ging durch die Kreuzgänge, bis eine Thüre, die mit einem hohen Theile des Gebäudes zusammen hing, seine Aufmerksamkeit anzog. Er öffnete sie und nahm quer vor einer Treppe vorbey, noch eine Thüre wahr; allein theils durch Furcht, theils durch die Betrachtung, wie sehr seine Abwesenheit seine Familie befremden mußte, zurück gehalten, kehrte er mit schnellen Schritten zu seinem Wagen zurück, und warf sich vor, einige kostbare Augenblicke der Dämmerung unnütz verschwendet zu haben.

Einige kurze Antworten auf die Fragen seiner Frau, und ein allgemeiner Befehl an Peter, sorgsam weiter zu fahren und sich nach einem Wege umzusehn, war alles, was seine Ängstlichkeit ihm zu sprechen erlaubte. Die Schatten der Nacht fielen dicht herab, durch die Dunkelheit des Waldes vertieft, und machten es bald gefährlich, den Weg weiter fortzusetzen.

Peter hielt, allein La Motte, der fest auf seinem ersten Entschlusse beharrte, befahl ihm zuzufahren. Peter wagte es, ihm Vorstellungen zu machen, Frau von La Motte bat, allein La Motte zankte – befahl und bereute zu spät: das hintere Wagenrad ging über den Stumpf eines alten Baums, den Peter bey der Dunkelheit nicht hatte sehen können, und der Wagen fiel in dem nähmlichen Augenblick um.

Die Gesellschaft gerieth, wie sich denken läßt, in äußersten Schrecken, doch war keiner wesentlich beschädigt, und sobald sie sich aus ihrer gefährlichen Lage aufgeholfen hatten, bemühten sich La Motte und Peter, den Wagen aufzuheben. Jetzt erst sahen sie den ganzen Umfang ihres Unglücks, das Wagenrad war gebrochen! Ihr Elend war groß, denn die Kutsche konnte eben so wenig weiter fahren, als ihnen eine Zuflucht vor dem kalten Nachtthau gewähren, weil es unmöglich war, sie in eine aufrechte Lage zu bringen.

Nach einigen Augenblicken des Stillschweigens, schlug La Motte vor, zu den Ruinen, von denen sie nicht weit entfernt waren, zurückzukehren, und die Nacht in dem wohnbarsten Theile des Gebäudes zuzubringen: sobald der Morgen anbräche, sollte Peter eins von den Kutschpferden nehmen, und einen Weg und eine Stadt suchen, wo er Leute bekommen könnte, um den Wagen wieder in Stand zu setzen.

Frau von La Motte widersetzte sich diesem Vorschlage: sie schauderte vor dem Gedanken, so viele Stunden im Finstern an einem so verödeten Orte zuzubringen. Schrecknisse, welche sie weder zu untersuchen noch zu bekämpfen sich Mühe gab, überwältigten sie, und sie sagte ihrem Manne, daß sie lieber in dem ungesunden Thau die Nacht über bleiben, als sich den verlaßnen Ruinen anvertrauen wollte.

La Motte hatte anfangs eine gleiche Abneigung gefühlt, wieder dahin zurückzukehren; nachdem er aber sein eignes Gefühl überwunden hatte, wollte er keinem andern nachgeben. Die Pferde wurden ausgespannt und die Gesellschaft machte sich nach dem Gebäude auf. Peter, der ihnen folgte, schlug Feuer an, und sie betraten die Ruinen unter Erleuchtung von dürren Stäben, die er zusammen gesucht hatte.

Der Schimmer, der nur auf einige Theile des Gebäudes fiel, schien die Verödung nur noch schauerlicher zu machen, während die Dunkelheit der größern Masse das Feyerliche erhöhte; und die Fantasie mit Schreckbildern erfüllte. Adeline, die bis jetzt geschwiegen hatte, stieß einen Ausruf der Furcht und Bewunderung aus. Ein nicht unangenehmer Schauder durchdrang sie: Thränen traten in ihre Augen – sie wünschte und fürchtete weiter zu gehn, sie hing sich an La Mottens Arm und sah ihn mit einem furchtsam fragenden Blicke an.

Er öffnete die Thüre der großen Halle und sie traten hinein: der weite Umfang verlor sich in Dunkelheit.

»Laßt uns hier bleiben,« sagte Frau von La Motte, »ich mag nicht weiter gehn.«

La Motte zeigte auf die eingefallne Decke und ging vorwärts, als ein ungewöhnliches Geräusch längs der Halle ihn stutzig machte. Alle schwiegen – es war das Schweigen des Schreckens.

Frau von La Motte sprach zuerst:

»Laßt uns diesen Ort verlassen; alles Ungemach ist der Empfindung, die mich hier niederdrückt, vorzuziehen. Laßt uns ohne Verzug zurückgehn!«

Es herrschte wieder eine ununterbrochne Stille, und La Motte, der sich seiner unwillkürlich verrathnen Furcht schämte, fand für gut, einen Muth zu erkünsteln, den er wirklich nicht besaß. Er verspottete die Angst seiner Frau, und bestand darauf weiter zu gehn. Sie mußte einwilligen, und ging mit zitternden Schritten durch die Halle. Sie kamen an einen schmalen Gang, und da Peters Holz beynahe aufgebrannt war, warteten sie hier, bis er mehr gehohlt hatte.

Das fast verlöschende Licht fiel schwach auf die Wände des Gangs und machte den Aufenthalt noch schrecklicher. Mitten durch die Halle, deren größre Hälfte im Schatten lag, verbreitete der schwache Strahl einen bleichen Schimmer, der die Spalten in der Decke zeigte, während viele Gegenstände in der Dämmerung nur unvollkommen sichtbar waren.

Adeline fragte La Motten lächelnd, ob er an Geister glaubte? Die Frage war etwas unzeitig, denn der jetzige Aufenthalt erfüllte ihn mit seinen Schrecknissen, und Trotz alles Strebens fühlte er eine abergläubige Furcht sich seiner bemeistern. Vielleicht stand er in diesem Augenblick auf der Asche von Todten! Wenn es jemahls Geistern erlaubt würde, die Erde wieder zu besuchen, so schien dieß die Stunde und der Ort ihrer Erscheinung zu seyn. La Motte schwieg. –

»Wäre ich zum Aberglauben geneigt,« fuhr Adeline fort – als die Wiederkehr des schon gehörten Geräusches sie unterbrach: es ertönte längs dem Gange, an dessen Eingang sie standen, und sank allmählig hinweg. Jedes Herz klopfte, und sie horchten schweigend.

Eine neue Besorgniß stieg in La Motte auf – dieß Geräusch konnte von Räubern herrühren, und stand an, ob es rathsam seyn könnte, weiter zu gehn.

Peter kam mit Licht; Frau von La Motte weigerte sich, den Gang zu betreten; La Motte selbst fühlte sich nicht sehr dazu geneigt; allein Peter, bey dem Neugier stärker war als Furcht, both bereitwillig seine Dienste an. La Motte ließ, nach einigem Besinnen, ihn gehn, und wartete am Eingang den Erfolg seines Forschens ab.

Der weite Weg entzog Petern bald seinem Blick, und der Wiederhall seiner Fußtritte verlor sich in einem Geräusch, das den Gang hinab tönte und immer schwächer und schwächer ward, bis es zuletzt sich ganz verlor. La Motte rief ihn jetzt mit lauter Stimme, erhielt aber keine Antwort; endlich hörten sie in der Ferne einen Fußtritt, und bald darauf erschien Peter, athemlos und bleich vor Entsetzen.

Sobald er nahe genug war, um von seinem Herrn gehört zu werden, rief er laut:

»Gott sey Dank, Ihro Gnaden, ich habe sie zu Boden geschlagen, aber meiner Seel, es war ein harter Strauß. Es war nicht anders, als föchte ich mit dem Teufel.« –

»Von wem sprichst du denn?« fragte sein Herr.

»Am Ende war es nichts als Eulen und Krähen, aber bey dem Licht flogen sie mir alle an den Kopf, und machten so ein verteufeltes Spektakel mit ihren Flügeln, daß ich anfangs glaubte, ich hätte es mit einer Legion Teufel zu thun. Allein ich habe sie alle heraus gejagt, gnädiger Herr, und Sie haben nun nichts mehr zu fürchten.«

Diese letzten Worte, die einen Verdacht in seinen Muth zu enthalten schienen, hätte La Motte entbehren können: um aber seinen gewissermaßen verscherzten Ruf der Herzhaftigkeit wieder herzustellen, setzte er sich vor, durch den Gang zu gehn. Sie gingen jetzt mit schnellen Schritten fort: wie Peter sagte, »sie hätten nichts mehr zu fürchten.«

Der Gang führte auf einen großen freyen Platz, an dessen einer Seite, über eine Reihe Kreuzgänge hin, der westliche Thurm und ein hoher Theil des Gebäudes hervorragte; die andere Seite lag dem Walde offen. La Motte nahm seinen Weg nach einer Thüre des Thurms, den er nunmehr für denselben erkannte, durch welchen er das erstemahl hereingekommen war; allein er fand es beschwerlich, weiter zu dringen, weil der Platz mit Brombeersträuchern und Nesseln verwachsen war, und Peters Licht nur einen unsichern Schein verbreitete.

Als er die Thüre öffnete, erneute der traurige Anblick des Orts Frau von La Mottens Ängstlichkeit und preßte Adelinen die Frage ab, wohin sie gingen? Peter hielt das Licht in die Höhe, um ihnen die schmale Treppe zu zeigen, die sich den Thurm hinaufwand; allein La Motte, der die zweyte Thür entdeckte, schob die verrosteten Riegel zurück, und trat in ein geräumiges Zimmer, das nach seiner Anlage und Verfassung sichtlich weit später erbaut war, als der andre Theil des Gebäudes. Wiewohl öde und leer, hatte es doch wenig von der Zeit gelitten; die Mauern waren feucht, aber nicht verfallen, und die Scheiben noch fest in den Fenstern.

Sie gingen durch eine Reihe Zimmer, die dem ersten glichen, und bezeugten ihre Verwunderung über das widersprechende Ansehen dieser Gemächer mit den zerfallnen Mauern, die sie hinter sich gelassen hatten. Sie führten zu einem gewundnen Gange, in welchen durch kleine, hoch in der Mauer eingehaune Löcher, Licht und Luft fiel, und den endlich eine mit Eisen beschlagne Thüre schloß; sie öfneten sie mit Mühe und traten in ein gewölbtes Zimmer. La Motte übersah es mit forschendem Auge und konnte nicht errathen, warum es durch eine so starke Thüre verwahrt war; allein er sah wenig, um seine Neugier zu befriedigen. Das Zimmer schien in neuern Zeiten nach einem Gothischen Plan erbaut zu seyn.

Adeline näherte sich einem großen Fenster, das eine Art von Vertiefung bildete, und um eine Stuffe höher war als der übrige Fußboden: sie zeigte La Motten, daß der ganze Fußboden mit mosaischer Arbeit eingelegt war, welches ihn zu der Bemerkung veranlaßte, daß dies Zimmer nicht ganz im Gothischen Geschmack gebaut sey. Er ging zu einer Thüre an der andern Seite des Zimmers, und nachdem er sie geöfnet hatte, fand er sich in der großen Halle, durch die er herein gekommen war.

Er sah jetzt, was die Dunkelheit ihn zuvor wahrzunehmen verhindert hatte, eine Wendeltreppe, die zu einem obern Gang führte, und nach ihrer Beschaffenheit zu urtheilen, mit dem neuern Theil des Gebäudes zugleich erbaut war, wiewohl man ihr ebenfalls ein Gothisches Ansehen zu geben gesucht hatte. La Motte zweifelte nicht, daß diese Treppe zu Zimmern führte, die den untern gleich wären, und war unschlüssig, ob er sie durchsuchen sollte: allein die Bitten seiner höchst ermüdeten Frau bewegten ihn, von aller weitern Untersuchung abzustehn. Nach einigem Berathschlagen, in welchem Zimmer sie die Nacht zubringen wollten, beschlossen sie, wieder in das, welches an den Thurm stieß, zurückzukehren.

Sie machten ein Feuer auf einem Kamin, der wahrscheinlich seit vielen Jahren keine gastfreye Wärme ertheilt hatte; Peter setzte ihnen den aus der Kutsche geholten Vorrath hin, und La Motte und seine Familie lagerten sich um das Feuer und genossen ein Mahl, das der Hunger ihnen würzte.

Ihre Furcht verschwand allmählig: denn sie sahen sich nunmehr in einem Aufenthalt, der einer menschlichen Wohnung glich, und hatten Muße, über ihr erstes Schrecken zu lachen; allein so oft der Wind die Thüre erschütterte, fuhr Adeline auf und sah sich furchtsam um. Sie sprachen und scherzten eine Weile fort, doch war ihre Fröhlichkeit, wo nicht erkünstelt, doch vorübergehend: denn das Bewußtseyn ihrer unangenehmen, höchst bedenklichen Lage drang sich zu mächtig auf und versenkte jeden in Traurigkeit und tiefsinniges Schweigen.

Adeline fühlte in aller Kraft ihren verlaßnen Zustand; sie dachte mit Staunen an das Vergangne, und sah mit furchtvollem Ahnden in die Zukunft. Sie fand sich durchaus abhängig von Fremden, an welche sie keinen andern Anspruch hatte, als was allgemeine Menschenliebe der Noth verwandter Geschöpfe gibt. Seufzer schwellten ihre Brust, und oft drängte sich eine Thräne in ihr Auge; allein sie preßte sie zurück, ehe sie auf ihrer Wange die Bekümmerniß verrieth, welche zu zeigen ihr undankbar däuchte.

La Motte brach endlich dieß tiefsinnige Schweigen, und gab Befehl, das Feuer auf die Nacht frisch anzumachen und die Thüre zu verwahren. Diese Vorsicht schien selbst in dieser Einöde nicht überflüssig, und wurde durch große Steine, die man gegen die Thüre aufthürmte bewirkt; keine andern Mittel zur Befestigung waren vorhanden.

Es war La Motten oft eingefallen, das dieß dem Anschein nach verlaßne Gebäude gar wohl ein Aufenthalt von Räubern seyn könnte. Sie fanden hier Einsamkeit, sich zu verbergen, und einen wilden, weit umfassenden Wald, der ihren räuberischen Absichten beförderlich seyn, und in seinen Krümmungen diejenigen irre leiten konnte, die kühn genug waren, sie hier zu verfolgen. Doch verbarg er diese Gedanken, um seinen Gefährten nicht neue Unruhe zu machen.

Peter mußte an der Thüre wachen, und nachdem sie das Feuer so gut als möglich zurecht geschürt hatten, legte sich die verlaßne Gesellschaft rings umher, und suchte im Schlaf kurze Vergessenheit ihres Kummers.

Die Nacht verstrich ungestört. Adeline schlief, aber unruhige Träume schwebten von ihrer Fantasie und sie erwachte frühzeitig: die Erinnerung an ihren Kummer bemächtigte sich ihrer; sie konnte jetzt diesem Gefühle nachhängen und ihre Thränen flossen reichlich. Um ihnen ungestörten Lauf zu lassen, trat sie in ein Fenster, das auf eine Öfnung des Waldes stieß: alles war dunkel und still; sie stand eine Weile und betrachtete die beschattete Gegend.

Der erste zarte Hauch des Morgens schimmerte am Rande des Horizonts und brach durch die Dunkelheit – so rein, schön und mild! Der Himmel schien sich der Aussicht zu öfnen. Die trüben Nebel rollten nach Westen zu, so wie die Beleuchtung sich verstärkte, verdunkelten jene Gegend der Hemisphäre und hüllten die tiefere Landschaft ein, während im Osten die Farben heller wurden und einen zitternden Schimmer rings um verbreiteten, bis ein gelber Glanz, der jene Gegend des Himmels befeuerte, der Verkündiger der aufsteigenden Sonne war.

Zuerst ging ein kleiner Streif mit unbeschreiblichem Glanz aus dem Horizont hervor, der sich schnell verbreitete, und die Sonne in aller Strahlenpracht zeigte, wie sie das ganze Antlitz der Natur entschleierte, jede Farbe der Landschaft belebte, und die bethauete Erde funkeln machte von schimmernden Edelstein. Der leise, sanfte Gesang der Vögel, durch die Morgenstrahlen erweckt, unterbrach das Schweigen der Stunde; ihr süßes Wirbeln stieg allmählig, bis sie den Chor allgemeiner Fröhlichkeit anstimmten. Auch Adelinens Herz schwoll von dankbarer Weihe!

Die Scene vor ihr, sänftigte ihren Kummer und trug ihre Gedanken empor zu dem großen Urheber der Schöpfung: unwillkührlich wurden sie zu Gebeth:

»Vater des Guten,« sprach sie, »der du diese Pracht schufest, ich ergebe mich in deine Hände, du wirst mich nicht sinken lassen in meinem Ungemach, und mich vor künftigem Übel schützen.«

So auf die Liebe ihres Gottes vertrauend, trocknete sie die Thränen von ihren Augen, und der süße Einklang ihres Gewissens und ihrer Betrachtung, belohnte ihre Zuversicht; ihre Seele fühlte sich befreyt von den Empfindungen, die sie niederdrückten, und sie ward ruhig und gefaßt.

La Motte erwachte bald nachher und Peter schickte sich zu seinem Zuge an. So wie er sein Pferd bestieg, sagte er zu seinem Herrn:

»Nichts für ungut, Ihro Gnaden, allein meinem Bedünken nach, thäten wir eben so gut, uns nicht weiter nach einem andern Aufenthalt umzusehn, bis bessere Zeiten kommen. Wenn man diesen Ort bey Tageslicht sieht, so scheint er nicht so übel, daß man ihn nicht mit leichter Mühe ganz bequem zum Wohnen machen könnte.«

La Motte antwortete nicht, allein er dachte über Peters Worte nach. In den Zwischenräumen der Nacht, wo Sorgen ihn nicht schlafen ließen, war ihm der nähmliche Gedanke beygefallen. Verbergung war seine einzige Sicherheit, und dieser Ort gewährte sie ihm. Die gänzliche Entlegenheit war ihm freylich zuwieder, allein er hatte einmahl nur unter Übeln zu wählen – ein Wald mit Freyheit war kein verwerflicher Aufenthalt für einen, der nur zu viel Ursache hatte, ein Gefängniß zu erwarten.

Als er die Zimmer aufmerksamer betrachtete, fand er, daß sie leicht wohnbar zu machen wären, und da er sie jetzt unter der Erheitrung des Morgens sah, wurde er in seinem Vorsatz bestärket. Er sann über die Mittel nach, ihn auszuführen, und nichts stand ihm im Wege, als die anscheinende Schwierigkeit, Lebensmittel zu bekommen.

Er eröfnete seinen Plan seiner Frau, die sich äußerst abgeneigt dagegen fühlte. Indessen pflegte La Motte sie selten um Rath zu fragen, ohne vorher beschlossen zu haben, wie er verfahren wollte, und er hatte sich bereits vorgenommen, es auf Peters Bericht ankommen zu lassen: wenn dieser eine Stadt in der Nachbarschaft des Waldes ausfindig machte, wo man Lebensmittel und andere Bedürfnisse haben könnte, so wollte er sich nicht weiter nach einem Ruheorte umsehn.

In Peters Abwesenheit, dessen Rückkunft er mit Ungeduld erwartete, beschäftigte er sich, die Ruinen zu untersuchen und in der Gegend umher zu gehn: sie war romantisch schön und die dicke Waldung schien diesen Fleck von der übrigen Welt abzusondern. Oft zeigte eine natürliche Vista eine Aussicht auf das Land, begrenzt von Bergen, die sich in die Ferne zurückzogen und im blauen Horizont verloren. Ein Bach, der in mannigfaltigen Krümmungen sonorisch strömte, wand sich um den Fuß des freyen Platzes, auf welchem die Abtey stand: hier glitt er sanft zwischen den Schatten hin, und verbreitete frische Kühlung: dort breitete er sich in größerer Fläche dem Tage entgegen und gab spiegelnd das Gebüsch und das Wild, das seine Wellen trank, zurück. La Motte bemerkte allenthalben Wild in Menge; die Fasanen flohen kaum vor seiner Annäherung und die jungen Rehe starrten ihm gutmüthig ins Gesicht, wenn er vorüber ging – sie kannten die Menschen nicht!

Als er wieder in die Abtey zurückkam, stieg er die Treppe hinauf, die in den Thurm führte. Ohngefähr halben Wegs nahm er eine Thür in der Mauer wahr: sie wich ohne Widerstand, allein ein plötzliches Geräusch von innen, dem eine Staubwolke folgte, machte, daß er zurück fuhr und die Thüre anzog. Nach einigen Minuten öfnete er sie wieder, und entdeckte ein großes Zimmer von dem neuern Gebäude. Fragmente von Tapeten hiengen um die Mauern und waren der Aufenthalt von Raubvögeln geworden, deren plötzliche Flucht bey Eröfnung der Thüre die Staubwolke hervorgebracht und das Geräusch erregt hatte. Die Fenster waren zerbrochen und beynahe ohne Scheiben, allein zu seiner Verwunderung sah er einige Überreste von Möbeln; Stühle, deren Form und Zustand die Zeit ihrer Herkunft verrieth; einen zerbrochnen Tisch und ein eisernes Feuerbecken, das vom Rost fast ganz verzehrt war.

An der andern Seite befand sich eine Thüre, die in ein Zimmer führte, welches wie das erste gebaut, aber mit nicht ganz so zerlumpten Tapeten behangen war. In einer Ecke stand eine kleine Bettstelle; und einige gebrechliche Stühle standen an der Wand. La Motte betrachtete diese Dinge mit Verwunderung und Neugier.

»Seltsam,« sagte er, »daß diese Zimmer, und diese allein, Spuren von Bewohnung verrathen: vielleicht daß ein elender Wanderer, wie ich, hier Zuflucht vor einer verfolgenden Welt gesucht, und vielleicht die Last eines beschwerlichen Daseyns hier niedergelegt hat: vielleicht bin ich nur seinen Fußtritten gefolgt, um meinen Staub mit dem seinigen zu vermischen!«

Er drehte sich schnell um, und wollte das Zimmer verlassen, als er nahe beym Bett eine Thür wahrnahm: sie führte in ein Kabinet, welches von einem schmalen Fenster Licht erhielt, und eben so beschaffen war als die andern Zimmer, nur daß auch nicht einmahl Überreste von Möbeln darin befindlich waren. Es kam ihm vor, als wenn eine Stelle des Fußbodens unter seinen Füßen schwankte; er untersuchte sie und fand eine Fallthüre. Neugier trieb ihn an, weiter zu suchen, und mit einiger Mühe gelang es ihm, sie aufzuheben: er sah eine Treppe die sich im Finstern verlor. Er stieg einige Stuffen hinab, allein da er es nicht wagte, sich diesem Abgrunde anzuvertrauen, machte er die Thüre wieder zu und verließ diese Zimmer voll Verwunderung, zu welchem Zwecke hier eine Treppe so heimlich angebracht seyn möchte.

Die Treppen im obern Thurm waren so sehr verfallen, daß er nicht hinaufzusteigen wagte: er ging wieder in die Halle zurück und gelangte durch die Wendeltreppe, die er den Abend zuvor bemerkt hatte, in den Gang, wo er eine Reihe Zimmer fand, die ohne alles Geräth waren, aber den untern sehr glichen.

Er erneute mit Frau von La Motte sein voriges Gespräch über die Abtey, und sie both alles auf, ihm sein Vorhaben auszureden. Zwar gab sie ihm die Sicherheit dieses Orts zu, meinte aber, es ließe sich wohl ein andrer finden, der zur Verbergung eben so gut und gemächlicher wäre. La Motte zweifelte daran; außerdem war in diesem Walde Wild in Menge, welches ihm Speise und Zeitvertreib zugleich verschaffen konnte: ein Umstand, der bey dem geringen Bestand seiner Kasse nicht zu verachten war – mit einem Worte: er hatte sich diesen Plan so fest in den Kopf gesetzt, daß alles Einreden nichts fruchtete. Adeline hörte mit stiller Angst dem Gespräch zu und wartete mit Ungeduld auf den Ausgang von Peters Bericht.

Der Morgen verstrich, allein Peter ließ sich nicht sehn. Unsre Einsiedler machten sich über den Proviant her, den sie zu gutem Glück mitgebracht hatten, und gingen nachher im Holze spazieren. Adeline, die nie ein Gutes unbemerkt ließ, weil es mit Übel begleitet war, vergaß eine Zeitlang die Öde der Abtey über die Schönheit der umliegenden Gegend. Die anmuthigen Schatten labten ihr Herz und die Abwechslung der Landschaft nährte ihre Fantasie – sie glaubte beynahe, vergnügt hier leben zu können. Schon nahm sie einen gewissen Antheil an den Angelegenheiten ihrer Gefährten, und für Frau von La Motte empfand sie noch mehr: es war die warme Regung von Dankbarkeit und Zuneigung.

Der Nachmittag verstrich und sie kehrten wieder nach der Abtey zurück. Peter kam noch immer nicht, und sie geriethen über seine Abwesenheit in Unruhe. Auch die Annäherung der Dunkelheit warf einen Schatten auf die Hoffnung der Wanderer: sie mußten noch eine Nacht unter eben so ungünstigen Umständen zubringen, und was noch schlimmer war, mit einem sehr geringen Vorrath von Lebensmitteln. Frau von La Motte verlor allen Muth und weinte bitterlich. Adelinens Herz war eben so beklommen, allein sie raffte ihre sinkenden Lebensgeister zusammen und gab einen Beweis ihrer Gutmüthigkeit, indem sie ihre Freundinn aufzurichten suchte.

La Motte ward rastlos und unmuthig; er verließ die Abtey und ging für sich allein Petern entgegen. Er war noch nicht weit gekommen; als er ihn neben dem Pferde zwischen den Bäumen wahrnahm.

»Was bringst du, Peter?« rief ihm La Motte entgegen.

Peter kam keuchend näher und sagte kein Wort, bis La Motte die Frage in einem mehr gebietrischen Ton wiederhohlte.

»Gott sey gedankt, gnädiger Herr,« sagte er, sobald er zu Athem kommen konnte, »daß ich Sie wieder sehe. Ich dachte schon, ich würde nie wieder zurück kommen. Ich habe aller Welts Unglück gehabt.«

»Nun, das kannst du nachher erzählen; jetzt laß mich nur hören, was du entdeckt hast.«

»Entdeckt« – unterbrach Peter – »ja, ich bin entdeckt, daß es Gott erbarme: Wenn Ihro Gnaden meine Arme betrachten wollen, werden Sie sehn, wie ich entdeckt bin.«

»Gefärbt, willst du wahrscheinlich sagen. Aber wie geriethst du in diesen Zustand?«

»Das wollte ich eben Ihro Gnaden erzählen. Sie wissen, daß ich von dem Engländer, der zuweilen mit seinem Herrn in unser Haus kam, ein wenig Baxen gelernt habe –«

»Ja, ja, sag mir nur, wo du gewesen bist!«

»Wahrhaftig, kaum weiß ich es selbst. Genug; ich gerieth in des Teufels Küche, allein da es in Ihro Gnaden Angelegenheiten war, so muß ich es schon verschmerzen. Wenn ich aber jemahls den Spitzbuben wieder treffe –«

»Deine erste Bewirthung scheint dir so wohl gefallen zu haben, daß du noch eine verlangst, und wenn du nicht ordentlicher sprechen willst, so kann dazu Rath werden.«

Diese Drohung setzte Petern in einiges Schrecken, und er bemühte sich, zusammen hängender fortzufahren.

»Als ich die alte Abtey verließ,« sagte er, »folgte ich dem Wege, den Sie mir angewiesen hatten, und wendete mich rechts nach jenen Bäumen, wo ich hiehin und dorthin sah, ob ich ein Haus, eine Hütte, oder nur einen Menschen erblicken könnte, aber nichts von allem; und so schlenderte ich beynahe eine Stunde weit fort, bis ich endlich auf einen gebahnten Weg kam. O ho, nun haben wir's, sagte ich, Wege können nicht ohne Füße gemacht werden. Doch wurde ich in meiner Rechnung irre, denn auch nicht ein Stück von einem Menschen konnte ich, ansichtig werden, und nachdem ich bald rechts bald links eine ganze Weile gegangen war, verlor ich meine Spur und mußte eine andere suchen.«

»Ist es dir denn gar nicht möglich, zur Sache zu kommen? Laß doch diese Possen weg, und sag nur, was du ausgerichtet hast.«

»Nun dann, um kurz zu seyn, denn nach allen ist das doch der nächste Weg, ich wanderte eine ganze Weile in der Irre und wußte nicht wohin, immer durch einen Wald fort, wie dieser, und gab mir alle Mühe zu merken, wie die Bäume standen, damit ich den Rückzug finden könnte. Endlich kam ich auf einen andern Weg und glaubte nun gewiß, ich würde etwas finden, ob ich gleich zuvor nichts gefunden hatte: denn zwey Mahl konnte ich doch nicht fehlen. Ich guckte zwischen den Bäumen durch, und entdeckte eine Hütte; husch gab ich dem Pferde die Peitsche, daß es durch den Wald schallte, und in einem Nu war ich vor der Thür. Die Leute sagten mir, daß es noch eine Viertelstunde bis zur nächsten Stadt wäre, und hießen mich dem Wege folgen, der Kerzengerade darauf hin führte: so war es auch wirklich, und mein Pferd mußte wohl Hafer riechen, denn es lief wie alle Teufel. Ich fragte nach einem Rademacher und hörte, daß einer in Orte wäre, allein niemand konnte ihn finden. Ich wartete in die Länge und Breite, denn ich wußte, daß ich nicht unverrichteter Sache zurück kommen durfte. Endlich kam der Kerl vom Felde zu Haus und ich sagte ihm, wie lange ich schon gewartet hätte: denn, sagte ich, ich wußte, daß ich nicht wieder fortgehen dürfte, wie ich gekommen war –«

»Sey doch weniger langweilig, ich bitte dich, wenn es in deiner Natur ist.«

»Es ist in meiner Natur, und wäre es noch mehr darin, so sollte es Ihro Gnaden zu Gute kommen. Sollten Sie sich wohl vorstellen, daß der unverschämte Esel einen Louisd'or für das Ausbessern des Rades forderte? Ich glaube in meinem Sinne, er merkte, daß ich in Noth war, und mir ohne ihn nicht helfen konnte. Ein Louisd'or! sagte ich: so soll sich mein Herr von einem Spitzbuben, wie du bist, nicht schnellen lassen. Der Kerl zog das Maul und gab mir eins hinter die Ohren: ich nicht faul und wieder drauf los, und würde ihn zu Boden gestreckt haben, wenn nicht ein anderer dazwischen gekommen wäre, so daß ich nachlassen mußte.«

»Und so bist du also eben so klug wieder gekommen, als du fortgingst.«

»Nicht doch, ich hoffe, ich bin zu gescheut, um mich von so einem Schurken verdutzen zu lassen; zudem habe ich ein halb Schock Nägel gekauft, um zu sehn, ob ich das Rad selbst flicken kann; ich hatte immer ein gut Geschick zur Zimmermannsarbeit.«

»Nun gut, ich lobe deinen Eifer für meinen Vortheil, aber hier war er etwas unzeitig angebracht. Was hast du denn in dem Korbe?«

»Ich dachte, Ihro Gnaden, daß wir nicht von hier könnten, bis der Wagen in Stand wäre, und unter der Zeit, dachte ich, da doch niemand ohne Speise und Trank leben kann, so will ich mein bischen Geld anwenden, und einen Korb mit Lebensmitteln mitnehmen.«

»Das ist noch das einzige Kluge, was du gethan hast, in dieser Rücksicht will ich dir deine andern dummen Streiche vergeben.«

La Motte erkundigte sich nun nach der Stadt, und fand, daß man Lebensmittel und die nothwendigsten Geräthschaften, um die Abtey bewohnbar zu machen, haben könnte. Diese Nachricht bestimmte beynahe seinen Plan, und er trug Petern auf, sich den andern Morgen wieder auf den Weg zu machen, und Erkundigung von der Abtey einzuziehn. Wann die Antwort gut ausfiele, so sollte er einen Schiebkarren kaufen, und sich mit einigem Geräth und nothwendigen Werkzeug zum Ausbessern der neuen Zimmer versehn. Peter starrte hoch auf –

»Wie – denken Ihro Gnaden hier zu bleiben?«

»Gesetzt nun ich dächte so?«

»Ey, dann hätten Ihro Gnaden einen klugen Entschluß gefaßt, wie ich zu verstehn gab, denn Sie werden sich erinnern, ich sagte –«

»Es ist unnöthig zu wiederhohlen, was du gesagt hast; vielleicht hatte ich die Sache schon vorher beschlossen.«

»Dem sey wie ihm wolle, Sie haben Recht gethan, und ich freue mich herzlich darüber: denn ich glaube, außer den Raben und Eulen wird uns hier so leicht niemand hindern. Lassen Sie mich nur machen: es soll so schön hier werden, daß ein König darin wohnen könnte, und was die Stadt anbetrifft, so ist dort alles zu haben; und gewiß denken die Leute dort eben so wenig an diesen Ort, als an Indien oder Amerika.«

Sie erreichten nun die Abtey, wo Peter mit großer Freude empfangen wurde: allein seiner Gebietherinn und Adelinens Hoffnung sank bald, als sie hörten, daß er wiederkam, ohne seine Sache verrichtet zu haben, und was für Bericht er von der Stadt brachte. Fast mit gleicher Bekümmerniß hörten Frau von La Motte und Adeline die Aufträge an, welche Peter erhielt, doch verbarg die letzte ihre Unzufriedenheit und wandte alles an, um ihre Freundinn zu erheitern. Ihr holdes Wesen und die Zufriedenheit, welche sie erzwang, machten einen tiefen Eindruck auf Frau von La Motte, und ließen sie eine Quelle des Trostes sehn, die sie bisher nicht geahndet hätte. Die zärtliche Aufmerksamkeit ihrer jungen Freundinn versprach ihr Ersatz für den Mangel anderer Gesellschaft, und ihre Unterhaltung Verkürzung der Stunden, welche sonst in peinlichem Unmuth würden verstrichen seyn.

Adelinens Beobachtungen und ganzes Betragen zeugten von einem gesunden Verstande und liebenswürdigen Herzen: allein sie besaß noch mehr, – wirkliches Genie. Sie war jetzt in ihrem neunzehnten Jahre, ihre Figur von mittler Größe, und äußerst wohl gebildet: ihr Haar war dunkelbraun, ihr Auge blau und gleich bezaubernd, wenn es von Feuer strahlte, oder in Zärtlichkeit schwamm: ihre Gestalt hatte das leichte Schweben einer Sylphide, und wenn sie lächelte, konnte ihr Gesicht Hebens jüngerer Schwester zum Urbild dienen; die Reize ihrer Schönheit wurden durch die Grazie und Einfalt ihrer Sitten erhöht, und befestigt durch den innern Werth ihres Herzens. –

Annette machte jetzt das Feuer für die Nacht an. Peters Korb wurde geöffnet, und das Abendessen bereitet. Frau von La Motte war noch immer still und nachdenkend.

»Es läßt sich kaum eine so schlimme Lage denken,« sagte Adeline, »daß wir nicht zu einer oder der andern Zeit wünschen sollten, sie nicht verlassen zu haben. Der ehrliche Peter wünschte sich gewiß herzlich nach der Abtey zurück, als er sich im Walde verirrt hatte, oder statt eines Feindes, zwey zu bekämpfen fand; und ich bin überzeugt, daß es keinen so hülflosen Zustand gibt, aus dem man nicht Trost schöpfen könnte. Die Flamme dieses Feuers leuchtet freundlicher im Contrast mit der traurigen Öde des Orts, und dieß reichliche Mahl ist köstlicher nach dem Mangel, den wir vorher litten. Lassen Sie uns das Gute genießen und das Böse vergessen.«

»Man hört aus Ihren Reden, meine Liebe,« sagte Frau von La Motte, »daß Ihr Geist noch nicht oft von Unglück niedergedrückt ward« – Adeline seufzte – »und Ihre Hoffnung noch alles Feuer hat.«

»Langes Leiden,« fiel La Motte ein, »hat in unsern Seelen diese Spannkraft erschlafft, welche dem Druck des Übels widersteht, und der Freude entgegen hüpft. Allein ich verfalle in Deklamation bey der Erinnerung an diese Zeiten. Auch ich, Adeline, konnte einst aus jeder Lage Freude schöpfen.«

»Und können es gewiß noch. Halten Sie es immer für möglich, und Sie werden es so finden.«

»Die Illusion ist verschwunden – ich kann mich nicht länger täuschen.«

»Verzeihen Sie mir, wenn ich sage, Sie täuschen sich jetzt, da Sie die Wolke des Kummers jeden Gegenstand, den Sie ansehn, schwärzen lassen.

»Es kann seyn, aber lassen Sie uns von etwas anderm reden.«

Nach Tische wurden die Thüren verrammelt, wie den Abend zuvor, und die müden Wanderer legten sich zur Ruhe.

Am folgenden Morgen machte sich Peter wiederum auf den Weg nach der kleinen Stadt Auboine, und Frau von La Motte brachte mit Adelinen wiederum die Stunden in Ängstlichkeit und schwacher Hoffnung hin: denn vielleicht konnten die Nachrichten, die er von der Abtey einziehen sollte, La Motten von seinem Vorhaben abbringen.

Gegen Abend spähten sie ihn aus – aber die Karre, die er bey sich führte, weissagte ihnen nichts Gutes. Er brachte Materialien zum Ausbessern des Orts, und einige Geräthschaft mit.

Er stattete einen Bericht folgenden Inhalts ab: – Die Abtey gehörte nebst einem großen Theile des angrenzenden Waldes einem Edelmann, der gegenwärtig mit seiner Familie auf einem entfernten Landgute wohnte. Er erbte sie durch seine Frau von seinem Schwiegervater, der die neuern Zimmer hatte erbauen lassen, und alle Jahre einige Monathe in der Jagdzeit daselbst zubrachte. Man trug sich mit dem Gerücht, daß kurz nachher, als sie dem jetzigen Besitzer zufiel, eine Person heimlich nach der Abtey gebracht und in diesen Zimmern eingesperrt wäre: wer es aber war, oder was aus ihr geworden, hatte niemand erfahren. Das Gerücht legte sich nach und nach, und viele glaubten gar nichts davon; soviel aber war gewiß, daß der gegenwärtige Besitzer nur zwey Sommer die Abtey besucht hatte, und daß die Möbeln einige Zeit nachher fortgeschafft wurden.

Dieser Umstand hatte anfangs viel Aufsehn gemacht, und man hatte mancherley daraus geschlossen; allein es war schwer zu sagen, was eigentlich an der Sache war. Unter andern hieß es, daß man seltsame Erscheinungen in der Abtey gesehn, und ungewöhnliche Töne gehört hätte: und wiewohl gescheute Leute dieser Sagen, als ungereimter Einbildungen des Aberglaubens, spotteten, hätten sie doch bey dem gemeinen Mann so fest Wurzel gefaßt, daß seit siebenzehen Jahren niemand sich in die Nähe des Orts gewagt hätte, und die Abtey folglich ganz verfallen wäre.

La Motte dachte über diesen Bericht nach. Anfangs erregte er unangenehme Vorstellungen bey ihm, allein diese wurden bald vertrieben, und Betrachtungen, die seinem Vortheil näher lagen, traten an ihre Stelle: er wünschte sich Glück, einen Ort gefunden zu haben, wo er nicht fürchten durfte, entdeckt oder beunruhigt zu werden; doch konnte er sich des Gedankens nicht entschlagen, daß eine wunderbare Übereinstimmung zwischen dem einen Theil von Peters Erzählung und der Beschaffenheit der Zimmer herrschte, die er im Thurm entdeckt hatte. Die Überbleibsel von Möbeln, die aus den andern Zimmern fortgeschafft waren, – das einsame Bette, – die Anzahl und der Zusammenhang der Zimmer, waren Umstände, welche seine Meinung bestärkten. Doch behielt er sie bey sich, denn er sah ohnehin, daß Peters Bericht eben nicht gedient hatte, seiner Familie diesen Aufenthalt angenehm zu machen.

Doch blieb ihnen nichts weiter, als sich stillschweigend zu unterwerfen, und so unangenehme Besorgnisse sie auch empfinden mochten, enthielten sie sich doch, sie zu äußern. Peter fühlte in der That nichts dergleichen: er kannte keine Furcht, und seine Seele war jetzt einzig mit dem auf ihn wartenden Geschäft erfüllt.

Frau von La Motte ergab sich mit der stillen Ruhe der Verzweiflung in das, was sie zu ändern nicht vermochte, und was durch Unzufriedenheit und Klagen nur noch unerträglicher werden mußte: auch sah sie in der That nicht ein, ungeachtet der Aufenthalt in der Abtey ihr in mancherley Rücksicht zuwider war, wie ihre Lage durch irgend eine Veränderung des Orts wirklich verbessert werden könnte, doch irrten ihre Gedanken oft nach Paris, und weilten bey dem Rückblick auf vergangene Zeiten, bey den Bildern um sie trauernder, vielleicht auf immer verlaßner Freunde! Der zärtliche Umgang ihres Sohnes, den sie bey der Gefahr seiner Lage und der Verborgenheit der ihrigen, nie wieder zu sehen, mit Recht fürchten mußte, stieg in ihrer Erinnerung auf, und überwältigte ihre Standhaftigkeit.

»Warum, o warum,« rief sie, »mußte ich diese Stunde erleben! und was werden meine künftige Jahre seyn!«

Adeline hatte keinen Rückblick auf vergangene Freuden, der das Gefühl des gegenwärtigen Ungemachs erhöhen konnte – keine trauernden Freunde, keine theuren, beweinten Gegenstände, um den Schmerz zu schärfen und einen kranken Schimmer auf ihre künftigen Aussichten zu werfen; sie kannte die Qualen getäuschter Hoffnung, die schärfern Stacheln innerer Vorwürfe noch nicht: sie litt kein Elend, das nicht Geduld mildern, und Standhaftigkeit überwinden konnte.

Mit Anbruch des folgenden Tages machte Peter sich an seine Arbeit: er rückte schnell fort, und in wenig Tagen waren zwey von den untern Zimmern so vortheilhaft verändert, das La Motte triumphirte, und seine Familie zu glauben anfing, ihre Lage würde doch nicht so übel seyn, als sie sich vorgestellt hatten. Die Möbeln, welche Peter schon gebracht hatte, wurden in diese Zimmer gestellt: eins davon war das große gewölbte Gemach, das Frau von La Motte zum gemeinschaftlichen Wohnzimmer einrichtete, weil sie wegen des großen, gothischen Fensters, das fast auf den Boden herabging und eine mahlerische Aussicht gewährte, ihm den Vorzug gab.

Peter verfügte sich nochmahl nach Auboine um noch mehr Zufuhr zu hohlen, und in wenig Wochen waren alle untern Zimmer nicht nur bewohnbar, sondern auch gemächlich. Weil diese indessen zur Bequemlichkeit der Familie nicht hinreichten, wurde ein oberes Zimmer für Adelinen zurecht gemacht: es stieß gleich an dem Thurm, und sie zog es den höhern vor, weil es nicht so entfernt von der Familie war, und weil die Fenster, die auf einen Eingang des Waldes stießen, eine weitere Aussicht gewährten, Die zerrissenen Tapeten, die an der Wand herum hingen, wurden wieder fest genagelt, und bekamen ein minder wüstes Ansehen; und ungeachtet das Zimmer bey seiner Geräumigkeit und schmalen Fenstern noch immer etwas schauderliches behielt, war es doch nicht ungemächlich mehr.

Die erste Nacht, welche Adeline hier zubrachte, schlief sie wenig: die Einöde des Orts drückte ihre Lebensgeister nieder, und vielleicht um so mehr, weil sie aus freundschaftlicher Schonung in Frau von La Mottens Gegenwart sich Zwang anthat. Sie erinnerte sich an Peters Erzählung, wovon einige Umstände, trotz ihrer Vernunft, fest in ihrer Einbildungskraft hafteten, und es wurde ihr schwer, ihre Ängstlichkeit ganz zu überwinden; ja einmahl bemächtigte sich Schrecken ihrer so ganz, daß sie wirklich die Thüre aufmachte, um Frau von La Motte zu rufen; nachdem sie aber eine Weile an der Treppe gelauscht hatte, und alles still blieb, hörte sie endlich La Motten ganz fröhlich sprechen, und beschämt, ihrer ungereimten Furcht so viel Raum gegeben zu haben, schlich sie still wieder in ihr Zimmer zurück.



 << zurück weiter >>