Wilhelm Raabe
Wunnigel
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenzehntes Kapitel

Sonderbar scheint es nur, ist es aber durchaus nicht, daß die trivialsten Anmerkungen gerade bei den großartigsten Erscheinungen und Ereignissen, sei es in der Naturgeschichte wie in der Menschengeschichte, zutage gefördert werden. In solchen Fällen nimmt auch der größeste Poet, der erstaunlichste Gelehrte teil an dem allgemeinen Menschenrechte, sich durch Gemeinplätze zu helfen und zu erleichtern. Er sagt einfach das, was alle Welt sagt, wie er mit aller Welt denselben Donner über seinem Kopfe hört und dieselbe telegraphische Nachricht vom Kriegsschauplatze in der Zeitung liest.

Wir, die wir mit aller Welt aufgucken und unterducken, was bemerken wir, dem eben verhallenden Donnerschlage nachhorchend? Natürlich das, was sich jeder unserer Leser sagt, nämlich, daß für einen Moment der bekannte Stillstand in der atmosphärischen Erregtheit stattfand und sich ein jeglicher im Hause Weyland – platt hinsetzte. Daß der Platzregen sodann einen Augenblick später um so heftiger losrauschte, ist ebenso trivial, welt-, menschen- und naturgeschichtlich begründet.

»Ach, der Papa! o, der Papa! o, dieser Papa! – Also deshalb?! deshalb klappt er den Kragen in die Höhe und will nicht mehr aus dem Hause hervor!«

Die junge Frau legte einen Augenblick beide Hände auf die Stirn und schloß die Augen; dann sagte sie ungefähr geradeso tonlos wie der Papa die letzten Wochen hindurch:

»Es war nur ein Schwindelanfall; aber es ist doch gut, daß du mich gehalten hast. O Heinrich, Heinrich, ist es denn wahr? Wirklich, wirklich wahr? Sieh, er sagt – so oft – die Unwahrheit –«

»Das heißt, er lügt manchmal, von seiner Phantasie fortgerissen. Nein, Herz, – seine Phantasie mag ihn auch diesmal fortgerissen haben, als er die Untat beging; allein das Faktum selber steht fest. Brüggemann verbürgt sich dafür, und alle diese Phantasten wissen merkwürdig genau über ihre Herren Kollegen Bescheid. Es liegt eine Art Kompensation für sie darin, denn über sich selber befinden sie sich stets um so mehr im Zweifel und unklaren.«

»Aber weshalb ist er denn nicht bei ihr in Italien geblieben? Oder – weshalb – hat er sie uns nicht mitgebracht? Ich bitte dich, Einzigster, Bester, da du uns dir aufgehalst hast, so laß endlich das Lachen und behandle die Sache ernst und hilf mir, mich herauszufinden! – Ich und eine Stiefmama! Du und eine Stiefschwiegermama; o Heinrich, Heinrich, ich wollte, ich hätte dich nie gesehen. Aber – so laß doch das dumme Lachen! Freilich, dir stellt man nur dein gutes altes Haus auf den Kopf, aber mir alle besten, ehrlichsten Gefühle und Begriffe von Lebensbehagen und Anstand.«

»Weißt du, Kind, was das Lebensbehagen angeht, so hast du dem Herrn Pastor versprochen, das einzig und allein in mir zu suchen und zu finden, und da will ich denn schon dafür sorgen, daß wir beide damit aufrecht bleiben. Den Anstand anbelangend, so sehe ich jetzt, da er dem Rottmeisterchen und nicht uns gebeichtet hat, in der Tat nicht ein, weshalb wir ihm nicht ohne allen Anstand sofort auf die Bude rücken und ihn zärtlich bitten, nunmehr auch uns, seine Kinder, endlich in sein volles Vertrauen zu ziehen und – uns etwas mehr von – Mama zu erzählen.« –

Sie hatten ihn, den Herrn Regierungsrat, an diesem Morgen noch nicht zu Gesicht bekommen. Ihren Morgengruß hatte ihm die Tochter durch die verriegelte Pforte zugerufen und den Gegensalam in einem gedrückt »bärbeißigen« Gebrumme zurückerhalten.

Den Kaffee hatte der Regierungsrat im Bette eingenommen. So »unmustern« wie an diesem Morgen hatte er sich doch selten in seinem Leben befunden.

Sie klopften nun von neuem an, und im schmeichelndsten Ton bat der Schwiegersohn:

»Schließen Sie uns doch mal auf, Papachen! Wollen Sie, willst du wirklich denn gar nichts mehr von uns wissen? Wir kommen –«

»Ah – uh«, erklang es von innen, der Schlüssel wurde umgedreht, und der Regierungsrat Wunnigel drehte sich auch sofort wieder, schlurfte dem Sofa zu, setzte sich in die Ecke oder fiel vielmehr hinein, schüttelte sich schaudernd in einen Haufen Menschenelend zusammen, sah seine Lieben gläsern an und stöhnte verdrossen gleichgültig:

»Na, dann schießt nur los. Brüggemann hat gesprochen, und der Mord liegt zutage. Na, was sagt ihr nun dazu? Ist die Geschichte nicht recht interessant? – Tut euren Gefühlen nur keinen Zwang an – ich gebe euch vollkommen recht, wenn ihr die Sache ganz eigentümlich findet. O, o, o, ich wollte nur, sie wäre ganz und gar das Eigentum eines anderen!«

»O Papa, was hast du getan? Wie bist du dazu gekommen? Und wir wissen noch von gar nichts! Nun erzähle es uns doch wenigstens genau, wie du dazu gekommen bist und was du getan hast; und sage uns, wie wir uns dabei zu verhalten haben. O, sieh uns nicht so unglücklich an – und weshalb hast du sie denn nicht mitgebracht aus Italien?«

»Ja, Papa«, sprach der Doktor, da hat das Kind recht. Erzählen mußt du jetzt, und zwar genau. Wir wissen ja noch nicht einmal, wie Mama heißt, wir wissen freilich noch gar nichts! Nicht einmal, wo du sie hast und wann wir das Vergnügen haben werden, sie kennenzulernen.«

»Du bist allein schuld daran, Mädchen! Ganz allein – einzig und allein du!« schrie Wunnigel aus seiner Sofaecke und trieb sein Töchterchen durch den unvermuteten Aufschrei bleich und bebend gegen die Wand zurück.

»Wieso denn? Warum denn Anselma?« fragte der Schwiegersohn ebenso überrascht wie sein Weib.

»Weil sie es war, der die Vorsehung die Leitung meines Schicksals in die Hand gab, und weil sie höchst unkindlicherweise mich um dich, mein Sohn, verlassen und allen Zufälligkeiten unbewachter Lebensstimmungen überlassen hat! Was warest du ihr, ehe sie dich kennenlernte, Sohn Weyland? Was brauchtest du, mein Junge, dich sofort in das dumme Ding zu verlieben, und was hatte es nötig, dich auf der Stelle zu heiraten? Hatte denn das nicht Zeit? Jung genug dazu bliebt ihr doch noch für mehrere Jahre! Von dem alten Vater war natürlich bei der ganzen Geschichte nicht die Rede. Der konnte hingehen, wohin er wollte – ins alte Eisen, nach den Pomeranzenländern oder zum Teufel. Und nun steht ihr da und gafft mich an und kommt mir wohl gar noch mit eurer kindlichen Liebe, und ich alter Tropf, ich sitze hier und habe euch Rede zu stehen und Auskunft zu geben, und wie die nichtswürdigen Redensarten sonst noch heißen. Es ist, weiß Gott, zum Verrücktwerden, und gerade bei solchen Gelegenheiten merkt man so recht, zu was für einer Last und einem Jammer einem seine fünf gesunden Sinne und sein gesunder Verstand werden können! – Also kurz! Ehe mich das Irrenhaus in seine Mauern aufnimmt: es verhält sich alles so, wie es euch der Rottmeister mitgeteilt hat und wie ihr es euch dann weiter zusammengereimt habt. Ich machte ihre Bekanntschaft vermittelst eines Vetturinos auf dem Wege von Cortona nach Arezzo.«

»Aber das ist ja derselbe Weg, auf dem du von deinen Räubern angefallen wurdest, Papa!«

»Von meinen Räubern? Ei freilich, verzeiht. Ihr seht, wie das in meinem Gehirn aussehen muß und welche Verwirrung drin herrscht. Es war nicht auf dem Wege von Cortona nach Arezzo – in den Pontinischen Sümpfen war es, selbstverständlich. Auf dem Wege von Terracina nach Velletri! Wo hätte es sonst gewesen sein können, frage ich euch! Ihr Name aber ist Oktavia, und sie reiste mit Kammerjungfer, und ich unterhielt mich nie besser mit einem irdischen Weibe als mit diesem. Und dazu fuhren wir nach Rom, beide mit dem besten Humor – beide geistreich, geistvoll und amüsant.«

»Und wie hieß – wie heißt sie außerdem? woher stammt sie? hat sie Familie? o Papa! Papa!«

»Oktavia von Schlimmbesser!« sprach der Regierungsrat mit dumpfer Grabesstimme. »Alle Bildung der Welt hat sich auf ihrem Scheitel versammelt. Daß derselbe falsch war, ist mir erst später – als es zu spät war – kundgeworden. Sie ist eine Deutschrussin und war Gouvernante und Gesellschaftsdame in den besten Familien St. Petersburgs.«

»Ach du allbarmherziger Himmel!« stöhnte Anselma, und auch Herr Heinrich Weyland brummte etwas.

»Ihr seliger Papa war Kollegienrat und also eine Art Kollege von mir, und auch dieses gab uns verschiedene Anhaltspunkte«, flüsterte Papa Wunnigel, mit dem Taschentuche den kalten Schweiß von der Stirn abtrocknend. »Daß sie nicht zweiunddreißig Jahre, sondern einige vierzig solcher Zeitabschnitte alt war, erfuhr ich gleichfalls erst später; aber das war mir auch verhältnismäßig gleichgültig. Weniger angenehm war's dagegen, daß der Kollege von Schlimmbesser in irgendeinem sibirischen Bergwerke an einer langsamen, vom Kriminalrichter genau berechneten Quecksilber- oder Arsenvergiftung gestorben war. Doch auch dafür konnte sie doch eigentlich nichts. Wer kann überhaupt für seine Eltern? Kannst du dafür, Anselmchen? Kannst du dafür, Sohn Heinrich? Einer ihrer Herren Vettern war Flügeladjutant des Kaisers. Der Teufel hole ihn! Was soll ich euch noch viel sagen? Auf dem Kapitol hat uns der Gesandtschaftsprediger vom Palazzo Caffarelli zusammengegeben. Du hast wieder eine Mama, Anselma; und ich – ich – ich – ich habe wieder ein Weib!!!«

Anselma schluchzte ratlos am Busen ihres Gatten, und der Gatte wußte weiter nichts als zärtlich beruhigend das Wort:

»Laß uns nur erst alles hören.«

Der alte Sünder in der Sofaecke ballte sein Sacktuch zu einem Knäuel zusammen, stieß es mit verzweiflungsvoller Wut in die Tasche seines Schlafrocks hinab und schrie:

»Wir bezogen zwei Zimmer auf dem spanischen Platze, lebten acht Tage lang wie Mann und Frau, und vom neunten an wie Hund und Katze. Der bloße Gedanke an euer junges häusliches, eheliches Glück hier, ihr armen, unschuldigen Kinder, war nicht nur eine Höllenqual, sondern auch ein Verbrechen. Sie hatte sich nicht nur in mir, sondern auch in meinen Vermögensumständen geirrt, ich mich noch viel ungeheurer in ihr, von ihren Vermögensverhältnissen ganz abgesehen. Von manchem bekenne ich mich gefesselt, aber von einem weiß ich mich frei, und das ist der freilich ganz instinktive Menschenblick, der jeglichen Taler in der Tasche des anderen erkennt und angiert. Angieren! das Wort paßt. Ich habe auch vielerlei in der Welt, was andere ihr Eigentum nannten, angegiert, aber niemals den Geldbeutel eines Mitklebenden im Peche dieser Welt. Ich gebe dir mein Ehrenwort darauf, Anselma, daß ich dir diese neue Mama nicht gegeben habe, um meine Umstände zu verbessern.«

»Das weiß ich freilich wohl«, schluchzte Anselma Wunnigel, sich aus ihres Mannes Armen lösend und dem Papa beide Hände auf die Schultern legend. Aber ist es nicht um so schlimmer, daß wir erst durch Herrn Brüggemann davon erfahren haben und daß du nun schon so lange hier wieder bei uns bist und wir immer noch nicht wissen, wo – die – die – deine jetzige Frau sich aufhält und weshalb du allein hier bist und uns einen so großen Schrecken einjagst!«

»Sie schreibt poste restante hierher!« sagte der Papa Wunnigel gespenstisch. »Vielleicht liegen einige Briefe von ihr auf der Post.«

»O lieber, lieber Papa, sage doch nur jetzt die ganze klare Wahrheit!« rief Anselma mit einer weit über ihre jungen Jahre hinausreichenden Einsicht in die Verhältnisse. »Poste restante schreibt die Frau Regierungsrätin sicherlich nicht, und du weißt auch ganz genau, daß keine Briefe von ihr für dich auf der Post liegen können. Sieh, es ist meine feste Überzeugung, daß sie gar nicht weiß, wo du dich aufhältst, daß sie wenigstens ganz gewiß keine Ahnung davon hat, daß du hier bei uns bist.«

Der Regierungsrat Wunnigel sah fast eine Minute lang stumm seinen Schwiegersohn an, dann sprach er, womöglich noch gebrochener als zuvor:

»Nun, das muß ich sagen! – Wie wird dir denn zumute, mein Sohn? 'ne recht gescheite Frau hast du da – was!? Das ist ja gräßlich! – Wenn ich nur eine Ahnung davon hätte, wem ich in diesem Moment zu diesem überwältigenden Scharfsinn da gratulieren soll.«

Er machte eine Pause, sprang sodann auf und schrie: »Mir wahrhaftig nicht!«, schritt zum Fenster, riß es auf wie in höchster, asthmatischer Atemnot und vernahm über den Garten weg aus der Tiefe herauf wieder einen schrillen, langgezogenen Pfiff der Eisenbahn. Da fuhr er wiederum zurück, fiel wieder hin auf das Sofa, ließ die Arme zu beiden Seiten matt sinken und ächzte:

»Das ist der Wurm, der nicht stirbt. Ja, es ist so, wie sie schnöde und unkindlich mir insinuiert hat: ich bin der Person durchgegangen, und sie weiß nicht, wohin, und die Vorstellung, daß sie's herausbringt, macht mich rasend. Hört ihr, da zischt die alte Schlange schon wieder! Wollt ihr nicht die Güte haben, das Fenster zu schließen! Mauert es zu! Mauert auch die Tür zu! Mauert mich ein! Ob in Königsberg Briefe von ihr mich suchen, weiß ich nicht. Ob es etwas genutzt hat, daß ich am Tiberufer einen Rock und in der Brusttasche ein Abschiedswort an sie nebst einigen Selbstmordsideen niedergelegt habe, kann ich auch nicht sagen. Daß irgendein edler Römer längst den Rock trägt, bezweifle ich nicht; aber daß er auch die Brieftafel mit den betreffenden Dokumenten an die angegebene Adresse abgegeben habe, wage ich nur in den gehobensten Momenten zu hoffen. O ihr kühlen, glatten jungen Stirnen, wie gönne ich es euch, daß ihr noch nicht wißt, daß der Mensch wegen einer heute abend zuviel getrunkenen Flasche Wein zehn Jahre später verrückt werden kann!«

»Das ist ein tiefsinniges Wort, Papa«, meinte der Schwiegersohn.

»Es freut mich, wenn du das findest, mein Sohn. Sonst aber wißt ihr nun alles und würdet diese Familiengeschichte wahrscheinlich im hohen Grade amüsant finden, wenn ihr nur nicht selber mit darin stecktet. Nicht wahr, es ist ein rechter Jammer, daß sie nicht einem anderen Papa und Schwiegersohn, nicht einem anderen jungen Paar passiert ist? Jetzt geht nur und denkt in der Stille darüber nach; mich laßt wieder allein, ich bin glücklicherweise bald nicht mehr fähig, darüber nachzusinnen. Sollte euch noch etwas Bemerkenswertes einfallen, so wißt ihr ja immer, wo ich zu finden bin. Auf Rat, Trost oder gar Hülfe rechne ich jedoch nicht.«

Damit legte er sich zurück auf seinem Sofa und zog auch die Beine in die Höhe. Wunnigel hieß er, und daß er sich wie ein Igel zusammenrollen konnte, bewies er jetzt.

Sohn und Tochter standen – standen noch einen Augenblick und betrachteten ihn mit gefalteten Händen. Da er aber auf keine Frage mehr Antwort gab und auf das wohlgemeinteste Wort nur durch ein stöhnendes Gegrunze zu erkennen gab, daß er wenigstens noch höre, schlichen sie sich hinaus und in eine der Fensternischen der Bücherei hinein.

Knie an Knie saßen sie da einander gegenüber und hatten nicht einen einzigen Blick für den schönen Herbsttag draußen übrig. Sie hielten sich an den Händen und sahen sich in die Augen –

»Du lieber Himmel, wir sind wahrscheinlich zu glücklich gewesen – und der Vorsehung nicht dankbar genug dafür!« schluchzte Anselma. »Nun haben wir es zu entgelten. O Heinrich, ich habe es dir immer gesagt, du solltest den entsetzlichen Lärm lassen und das Jagen und Springen um Tisch und Bänke. Zweimal haben wir den Tisch mit der Lampe umgeworfen, und das war sicherlich schon ein Omen, aber du wolltest dich ja nicht warnen lassen. Jetzt hast du es nun!«

»Wenn er nur nicht so wundervoll wahr in seinen Bemerkungen über die heillose Geschichte wäre. Freilich kenne ich drunten in der Stadt verschiedene neugegründete Haushaltungen, denen ich unsere Situation lieber gönnte als uns! – Oktavia! – Frau Regierungsrätin Wunnigel! – Aus den russischen Ostseeprovinzen – von Schlimmbesser! – Auch der Rock am Ufer der Tiber ist nicht übel und paßt ganz zu dem übrigen! – Kind, Kind, liebes gutes Närrchen, wie auch die Person – das Weib ausfallen mag; einmauern laß ich mich heute noch nicht um sie wie der Spatz im Schwalbennest. Ganz im Gegenteil. Heute nachmittag habe ich Landpraxis und nehme dich mit auf die Fahrt. Kommt Mama während unserer Abwesenheit an, so findet sie den Papa und die Jungfer Männe – jedenfalls zu Hause.«

Heute kam Mama aber noch nicht. Sie saß in dem Augenblicke, als der Doktor die letzten Worte sprach und seine junge Frau dadurch zu beruhigen sich bestrebte, in Trient vor einem Kaffeehause in der Nähe des Bahnhofs und erwartete den Abgang des nächsten Zuges nach Innsbruck. Dagegen aber stieg um die nämliche Stunde im ersten Gasthofe unserer Stadt, dem Hotel de St. Petersbourg, ein Gast aus Moskau ab. Ein Gast mit Bedienung, der es fürs erste lächelnd von sich wies, Namen, Rang und Stand ins Fremdenbuch einzutragen, dagegen die besten Gemächer des Hauses auf mindestens acht Tage für sich in Anspruch nahm und unbedingt etwas Knäsartiges an sich haben mußte, da er sofort für etwas derartiges geschätzt und in die Rechnung gesetzt wurde.

Paul Petrowitsch Sesamoff hieß der Fremdling aus dem Nordosten. Exzellenz nannte ihn sein Bedienter; er hatte also jedenfalls Generalsrang, wenn er im Grunde auch nur simpler Zivilbeamter und Kaiserlich Russischer juristischer Kollege des Regierungsrates Wunnigel war. Und außer Dienst befand er sich gleichfalls und hatte mit dem letzteren Herrn auch sonst noch wenigstens eine überraschende Ähnlichkeit, wie sich baldigst ausweisen wird.

Überraschend aber im höchsten Grade muß es uns sein, daß er sich sofort bei dem Wirte vom Petersburger Hofe erkundigte:

»Wo wohnt der Regierungsrat Wounikkel?«

»Wounikkel, Exzellenz?« fragte der Wirt, mit lächelnder Ehrerbietung die Hände leicht reibend. »Sollten Exzellenz sich da nicht vielleicht –«

»Irren? O nein, denn ich habe ihn kennengelernt mit großestem Vergnügen in Neapel. Er hat mir seine Karte gegeben, doch diese habe ich verloren; aber er wohnt am Gebirge – Berg, an der Berg mit die wunderschöne alte Kirchen und dem Palais drauf. Wounikkel. Jaja, Regierungsrat Wounikkel, in ein altes Haus; – warten Sie, Herr – in ein uraltes Haus, was von – vorher, lange vorher heißt –«

»Ah«, rief der Wirt, die Hände heftiger reibend, »ah, Exzellenz haben ganz recht, Exzellenz haben vollkommen recht. Exzellenz meinen das Haus Weyland.«

»Richtig, das Haus Weyland.«

»Und Exzellenz irren sich durchaus nicht. Der Herr Regierungsrat Wunnigel wohnen freilich im Hause Weyland. Ich werde sogleich –«

»Ich werde im Laufe des Nachmittags mir ansehen diese wunderbare, uralte deutsche Stadt; und ich werde morgen früh meinem Freunde Wounikkel meinen Besuch machen in seinem Hause Weyland.«

Der Wirt zum Hotel St. Petersburg verbeugte sich stumm; der Regierungsrat Wunnigel aber war um mehr als eine Stufe in seiner Achtung gestiegen. –

Einen Lohndiener mit durch die alten Kirchen und sonstigen Sehenswürdigkeiten zu nehmen, wies der Russe mit Verachtung von sich. Wie der beste Deutsche verließ er sich auf seinen Bädeker; die alte Stadt aber besah er sich in der Tat gründlich und unbedingt mit dem Auge und der Hingebung eines Liebhabers und Sachverständigen.

Stumm trat ihm sein Diener und früherer Leibeigener, Regenschirm, Operngucker und dergleichen tragend, auf Schritt und Tritt nach und besah sich die Stadt gleichfalls. Er mußte jedoch schon eine ganze Menge ähnlicher gesehen haben, denn diese schien nicht den geringsten Eindruck mehr auf ihn zu machen. Was die Leute in den Gassen anbetraf, so konnte Turgenjew sie nicht mit tieferer Verachtung und größerem Hohn betrachten; und mehr als ein deutscher Literat hat es aufs innigste zu bedauern, daß er nicht zur Hand war und seinerseits hinter diesem guten Kerl hergehen konnte, um ihn auf der Stelle ins Deutsche zu übersetzen oder ihn in seinen kritischen und sonstigen Unterhaltungsblättern zu besingen.

Sehr befriedigt kehrten Exzellenz in ihr Gasthaus zurück. Sie hatten nicht nur besehen, sondern auch genossen und gewürdigt. Auch das Haus Weyland hatten Sie, auf dem Wege vom Schlosse herunter, in der Abenddämmerung von außen betrachtet und wußten jetzt ganz genau, wo Wounikkel wohnte. Sie hatten also auch am folgenden Morgen keinen Führer nötig und fanden zu der von Ihnen und dem Schicksal bestimmten Stunde den Weg ganz allein.

Es war wieder ein Sonnentag. Der Herbsttau erhielt sich nur ein wenig länger auf den Dächern, an den Zweigen und bunten Blättern. Alle Vögel, die auch im Winter im Lande zu bleiben gedachten, waren fröhlich in den Lüften, in den Dachrinnen, in den Bäumen, und Anselma Weyland sprach zu ihrem Heinrich:

»Wie wenig ich auch geschlafen haben mag, dem Papa hat sein Geständnis unbedingt wohlgetan. Ich habe ihn lange nicht so heiter gesehen wie heute morgen.«

Dem war wirklich so. Der Regierungsrat bezeigte sogar Lust zu einem Morgenspaziergang außerhalb des Gartens, und so kam es denn, daß er, zwischen Sohn und Tochter eingehängt, eben den Schloßberg herniedersteigend, dem behaglich mit seinem Petruschka den Berg emporklimmenden »Knäs« an der engsten Stelle des Weges begegnete.

»Papa, mein Gott, was ist dir?« fragte Anselma, und der Doktor auf der anderen Seite hatte fester zuzugreifen, um den Schwiegervater aufrechtzuerhalten.

»Petrowitsch!« lallte der Papa Wunnigel, und in dem nämlichen Moment erkannte auch der russische Staatsrat und Kollege den italienischen Freund, trat rascher vorwärts, bot lächelnd beide Hände dar und rief:

»O mon ami, me voilà! Sehen Sie, mein Freund, so hält man Wort, wenn man ein Edelmann, ein Russe, ein Jurist und ein Kunstliebhaber ist. Da treffen wir uns, wie wir am – am Posilipo uns verabredet haben, hier vor der Tür Ihres Hauses. Ich bin nachgegangen meinem Versprechen, cher Wounikkel, und da bin ich hier.«

»Von Sesamoff!« stammelte der Papa, und die Beine zitterten unter ihm, und er schwankte auf den Füßen.

»Kaiserlich Russischer Staatsrat von Sesamoff«, sprach der Knäs höflich mit gelüftetem Hut, sich dem Doktor Weyland und seiner Frau selber vorstellend. »Bitte, lieber Wounikkel. wollen Sie die Güte haben –«

Nur mit Aufbietung aller seiner letzten Kräfte gelang es dem unseligen Königsberger, auch diesen Russen seinem Schwiegersohn und seiner Tochter bekannter zu machen.

»Herr von Sesamoff – verehrter Reisefreund – aus Italien – Sorrent – gleiche Passionen – angenehm – der Kerl (dieses nur gemurmelt!) – amateur fantaisiste comme moi – große Sammlungen zu Hause. Ungemein erfreut.«

Der Doktor Weyland grüßte höflich, aber doch etwas formell, seine kleine Frau wie eine echte Germanin, die sich alle ihre Mentalreservationen auch in ihrer Verbeugung zu reservieren wünscht und welche noch dazu von einer neuen Angst überkommen wird.

Der Knäs aber reservierte nichts. Er war entzückt über das Zusammentreffen und sprach sein Behagen darüber unbefangen aus.

»Dieses ist wahrhaftigerweise sehr vortrefflich, mon cher Wounikkel. Das Haus Weyland! Ich habe es mir bereits betrachtet gestern abend in der Abenddämmerung. Voilà mon affaire! habe ich gesagt; er hat recht gehabt zu Sorrento! habe ich auch gesagt; und ich wollte mich aufhalten im Hotel de St. Petersbourg nur acht Täge; doch ich habe bereits mit Wirt geredet. Diese Stadt ist auch vortrefflichst, und ich bleibe vierzehn Täge in dieser Stadt und – bei Ihnen, mein teurer, lieber Freund.«

Jetzt lehnte sich der teure, liebe Freund Wunnigel noch schwerer auf die Schulter seiner Tochter und stammelte etwas von einem plötzlichen Schwindelanfall.

»Wir kehren dann wohl am besten ins Haus zurück«, sprach der Doktor, »und bitten Herrn – Herrn – den Herrn Staatsrat freundlichst, mit einzutreten.«

»Sie sind sehr freundlich, mein Herr«, erwiderte Paul Petrowitsch. »Mon Dieu, mein Freund Wounikkel scheint noch schlechter zu werden! Gnädige Frau erlauben, daß ich ihn auch unterstütze auf der Treppe.«

»Ich fühle mich in der Tat recht unwohl!« murmelte der Regierungsrat auf dem Hausflur des Hauses Weyland. Mit geschlossenen Augen ließ er sich die Treppe in den Oberstock hinaufschieben und -tragen, schlug sie, die Augen, erst dort, im Salon, wieder auf und stöhnte:

»Entschuldigen Sie, Sesamoff. Meine Nerven, das unvermutete Wiedersehen! – Kinder, ich bitte euch, macht ihr dem Herrn die Honneurs des Hauses. Um mich kümmert euch ein Viertelstündchen gar nicht. Ich lege mich im Nebenzimmer ein wenig auf dem Diwan nieder. Ein Glas frisches Wasser wird alles wieder ins Gleichgewicht bringen.«

Er riß sich sozusagen aus ihrer Mitte, stürzte in das Nebengemach und schloß die Tür hinter sich ab. Sie sahen alle erstaunt hinter ihm her, und Anselma rief ihm auch nach; er aber schob nun noch den Riegel vor.

Der Doktor strich einen Augenblick nachdenklich den Bart; dann schien ihm ein aufklärender Gedanke zu kommen, er hielt rasch die Hand auf den Mund, um sein Lächeln zu verbergen, und streichelte mit der anderen Hand sanft und beruhigend das weiche Haar seines Weibes.

»Laß nur den Papa, Herz. Es hat wiedermal nichts zu bedeuten.«

»Es hat wohl wieder etwas zu bedeuten!« flüsterte Anselma jammervoll zurück. »Sieh nur den fremden Herrn –«

Den hielt Herr Heinrich Weyland freilich auch ohne diese Aufforderung fest im Auge; er jedoch, der Russe nämlich, schien alles um sich her vergessen zu haben bis auf die tote Umgebung.

Wie in Verzückung stand er inmitten des Saales und ließ die Augen, indem er langsam sich um sich selber drehte, die Wände entlang, über die Decke und sämtliche Gerätschaften gleiten.

»Ah«, seufzte er, das ist en fait admirabel, und er hat da nicht übertrieben wie sonst in Neapel. O, ganz wie er es mir geschildert hat! Mein Herr und meine gnädige Frau, ich muß umarmen meinen Freund Wounikkel, und ich muß ihn küssen, sobald er sich erholt haben wird. Ich werde ihm jetzt durch die Tür zurufen, daß ich ihm so sehr dankbar bin und die Hände auf alles lege.«

Er tat das, und währenddem fragte mit gefalteten Händen Frau Anselma ihren Gatten leise:

»Mein Gott, sollte der Papa –?«

»Pst, Täubchen!« flüsterte der Gatte zurück, rasch die Hand, die vorher seine Heiterkeit versteckt hatte, jetzt zärtlich dem Weibchen auf den angstvollen Mund und das bange Näschen drückend. »Möglich ist es; aber – was geht es uns denn anders an, als daß es wieder wundervoll ist! Ich bitte dich, lassen wir jetzt diesen slawischen Fremdling und hohen skythischen Staatsbeamten selber, und zwar ohne ihn dazu aufzufordern, die wünschenswerte Klarheit in die Sache bringen. Er ist auf gutem Wege. Wenn nur der Papa durch das Schlüsselloch antworten wollte! – Übrigens gefällt mir dieser Russe ausnehmend und würde wahrscheinlicherweise auch manchem von meinen Vorvorderen im Hause Weyland behagt haben. Das ist ein wirklicher Begeisterter! Daß ich mich auch begeistern kann, hast du an dir selber erfahren, Liebste, – und ich sage dir, die wirkliche Begeisterung ist wahrhaftig selten in der Welt. Da richtet er sich auf von der Tür. Sesamoff! Auch der Name ist gut. Jetzt Sesam öffne dich! – – Nun, Herr von Sesamoff?«

Der »Knäs« des Wirtes zum Hotel de St. Petersbourg unten in der Stadt richtete sich in der Tat von dem Schlüsselloch in die Höhe, rieb sich ein wenig das Kreuz, fuhr mit der Hand über die zierliche Perücke und trat an den runden Tisch in der Mitte des Gemaches.

Da betrachtete er zuerst auch die eingelegte Arbeit der Platte und sodann die Satyrgruppe, welche diese Platte trug, zog ein feines Notizbuch aus der Brusttasche, legte es auf den Tisch und rief

»Ich bin außer mir gesetzt!«

»Wollen Sie sich nicht setzen?« fragte ihn der Doktor Weyland. »Es ist mir eine große Ehre, Sie bei uns zu sehen, Herr Staatsrat, und Sie würden uns eine unendliche Freude machen, wenn Sie heute mittag mit uns speisen wollten.«

»Dieses nehme ich mit dem allergroßesten Vergnügen an«, sprach der Knäs. »Ich muß ihn umarmen, meinen Freund Wounikkel; ich muß ihn küssen, meinen Freund; – er muß sich erholt haben bis zum Diner! Er muß, ja er muß; ja, er ist es mir schuldig, denn ich bin um seinetwillen und um seines Hauses wegen von Neapel nach Deutschland gereist.«

»Willst du vielleicht ein wenig mit der Jungfer Männe Rat halten, da wir so unvermutet einen so werten Gast bei uns begrüßen, Anselmchen?« fragte der Doktor; Paul Petrowitsch sprang höflichst zu und öffnete der Dame des Hauses die Tür. Anselma entwankte mit einer Verbeugung vor dem Knäs und einem Blick voll so unsagbaren Jammers auf den Gatten, daß der letztere im stillen murmelte:

»Drollig ist der alte Windbeutel; aber mein armes Kind da ist mir doch zu lieb, um es meinem Spaß an der Sache zu opfern. Man freit doch eben nur, um seine Freude an seiner Frau und nicht um sein Vergnügen an seinem Schwiegervater zu haben!«

Nachher zog er sich gleichfalls einen Sessel an den Tisch mit den Bocksbeinen; und zehn Minuten später wußte der Knäs, wie er daran war, nämlich, daß das Haus Weyland, oder vielmehr der Inhalt des Hauses Weyland, nicht käuflich sei und daß zu Sorrent vielerlei verabredet werden könne, was an einem kühlen, wenn auch sonnigen deutschen Herbsttage auf einmal in einem ganz anderen Lichte sich darstelle.

»Oh, mon ami Wouniccle!« lallte der russische antiquarische Liebhaber und Sachverständige. Sein Erstaunen war jetzt nicht geringer als kurz vorher sein Entzücken.

»Aber das ist fast unmöglich! Er hatte es mir so fest versichert, und er hat mich so dringend dazu eingeladen in Italien!« –

In der Küche des Hauses Weyland hatte währenddem der Freigelassene Petruschka die beste Freundschaft mit Kalmüsel geschlossen. Schon Tacitus macht irgendwo in seinen Schriften die Bemerkung, daß sich die beiden Rassen, Slawen und Germanen, unter Umständen recht gut miteinander vertragen, und ganz vorzüglich, wenn ihre beiderseitigen Herren unter sich einig sind. Die letztere Ausführung ist freilich keine Anmerkung des Tacitus, sondern stammt aus den Erfahrungen späterer Zeiten.


 << zurück weiter >>