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Die Fensternischen bilden auch eine Zierde des Hauses Weyland. Sie sind tief und geräumig, und es wäre keine üble kulturgeschichtliche Aufgabe, eine Abhandlung über die Stühle, Schemel und Sessel, die in sie hineingerückt sind, zu schreiben.
Der älteste Stuhl aber steht unter der Scheibe, in die der junge Spinozist an einem längst vergangenen, strahlenden, leuchtenden Frühlingstage das Wort seines hohen Meisters eingrub.
Es ist ein weitläufiges, gradlehniges, mit uraltem, derbem Leder beschlagenes Sitzgerät aus Eichenholz. Einem heutigen Jungfräulein sollte es wohl schwer werden, diesen Stuhl vor ihr zierliches Pianino zu rücken oder ihn an ihr Schreibtischchen zu ziehen. Aber doch hat im Verlaufe der Jahrhunderte mehr als eine Jungfrau und junge Frau darauf gesessen und hoffentlich auch gute, fröhliche Gedanken darin gehabt über ihrer Arbeit oder auch ohne dieselbe, während die Väter, Brüder oder Gatten an der großen, mit grünem Tuche überzogenen Schreibtafel in der Perücke oder dem eigenen Haare wühlten, wenn sie nicht gerade die Bücherleiter von einem Repositorium zum andern trugen.
Ein schmächtig jung Ehepaar in den Flitterwochen hat wohl selbander Platz in dem Sessel; aber wie manche Väter und Großväter haben dann auch ihre Söhne und Enkel darin auf den Knien gehalten und ihnen die Märsche der Zeiten an der Fensterscheibe vorgesummt und vorgetrommelt; heute: »Zeuch, Fahler, zeuch, balde woll'n wir Tylle dreschen«; – morgen, das heißt ein halb Säkulum später: »Malbrouck s'en va-t-en guerre« oder: »Prinz Eugen, der edle Ritter, wollt' dem Kaiser wiederum kriegen Stadt und Festung Belgerad«; übermorgen, will sagen wieder zu seiner Zeit: »Und als die Preußen marschierten vor Prag, vor Prag, die schöne Stadt«; nachher wohl auch einmal die Marseillaise, den Grenadiermarsch des Kaisers Napoleon, bis wieder einheimische mutige, todesfreudige Takte die fremdländischen ablösten: »Es zog aus Berlin ein tapferer Held« – »Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein« und so weiter und so weiter bis zum: »Was ist des Deutschen Vaterland?« – »Die Wacht am Rhein« hat dann der jetzige Herr des Hauses sich selber vorgesummt und -getrommelt, während sie drunten vieltausendstimmig die Stadt durchbrauste. Der jetzige Herr des Hauses am Schloßberge hat bis jetzt, wie wir wissen, das Haus, die Bücherei und den großen Lehnstuhl noch für sich allein; – unsere Aufgabe aber ist's natürlich, zu erzählen, und zwar so genau als möglich, wie sich dieser bedauerliche, gleichfalls kulturhistorische Zustand änderte, unter welchen Umständen, Bedingungen, Zukömmlichkeiten, Unzukömmlichkeiten, Fördernissen und Hindernissen.
Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, sagte der Herrgott, als er die Welt erschuf. Dasselbige sagt die geneigte Leserin auch heute noch, wo die Welt schon längst erschaffen worden ist. Wir aber fragen: was sollte wohl aus uns werden, wenn sich beide, der Herrgott sowohl wie die Leserin, geirrt hätten und es doch besser wäre, wenn der Mensch allein bliebe?! Mit dem Geschichten-Erzählen wäre es doch wahrhaftig dann auf der Stelle zu Ende; unsere Halbbrüder von der Dramatik würden gleichfalls schön ankommen und nett in der Patsche sitzen. Am besten hätten es noch unsere lyrischen Herren Vettern; diese würden sich vielleicht durchfressen, wenn auch mit Mühe und Not, mit Hunger und Kummer. –
Und – es war ein nebeliger Nachmittag gegen Ende des Septembers, da saß der junge Doktor der Arzneikunde, Herr Heinrich Weyland, in dem Ahnensessel in der Fensternische der Bücherstube und blickte melancholisch über die Türme und Dächer der Stadt weg ins Weite – weit hinaus in die nebelige Ferne und vor allem auf eine Pappelallee, die sich in merkwürdig gerader Linie durch die Ebene zog und gegen ein ungefähr fünfviertel Stunden von der Stadt entlegenes Dorf hin im Dunst verlor. In einer halben Stunde bereits fuhr er, der Doktor, in dieser Allee. Sein Einspänner wurde soeben im Hofe angeschirrt; sein Hut lag auf dem grünen Tische neben einem aufgeschlagenen, die Krankheiten des Herzens behandelnden Atlas, und mit seinem Überzieher stieg eben die Jungfer Männe die Treppe herauf: ein eiliger Bote hatte ihn auf die Landpraxis hinauszitiert, und seufzend hatte er dem Boten die Versicherung mit zurückgegeben, daß man ihn demnächst, das heißt sobald als tunlich, da draußen erwarten könne.
»Aber der Herr hat's sehr eilig gemacht!« hatte der Bote vom Lande bemerkt.
»Mensch, ich habe es ja schon gesagt, daß ich kommen werde!« hatte der Doktor erwidert, und der Mensch war mit diesem Troste wieder abgezogen, der wissenschaftliche Helfer in der Not aber hatte wirklich zehn Minuten später die nötigen Befehle unten im Hause gegeben und erwartete nunmehr, daß der Daus, nämlich der Familiengaul, sich ebenso willig wie sein Herr zeige und daß der Einspänner aus dem Schuppen hervorgeholt sei. Weit aufgeschlagen lag das gräßliche anatomische Bilderbuch auf dem Tische da. In dem Ofen (beiläufig natürlich gleichfalls ein altes Wunder!) prasselte das Feuer; in der Fensterbank unter der Scheibe mit dem Worte: »Dich möcht ich auch mal als Löwen sehen!« saß der Hauskater und putzte sich schnurrend Bart und Ohren; unter der gebräunten Decke um das dort aufgehängte, seit hundertfünfzig Jahren dort hängende jugendliche Krokodil kräuselten sich noch die letzten Wölkchen der an einem der Bücherbretter lehnenden Pfeife des Doktors; und –
»Ich bin imstande, meine Meinung recht deutlich zu sagen, wenn mich das Fräulein ohne genügenden Grund nach dem Riedhorn hinauszitiert hat!« sprach der junge Doktor und hatte in der Tat einige Berechtigung zu dem grollenden Wort. Es war für einen, der es nicht nötig hatte, der Praxis nachzulaufen, durchaus kein Genuß, den Schlafrock aus- und die Stiefel anzuziehen und nach dem Riedhorn hinauszufahren, um daselbst vielleicht ein Decoctum Chamomillae, das heißt einen Kamillentee, anzuraten.
»Ich bin fähig, unter solchen Umständen die Jungfrau auf acht Tage ins Bett zu packen, um sie ihre Rücksichtslosigkeit ausschwitzen zu lassen!« brummte Doktor Weyland, sich immer mehr in den Ingrimm hineinsteigernd; in diesem Augenblicke aber wurde ihm bereits gemeldet, daß der Daus mit dem Einspänner im Hof auf ihn warte.
Er fuhr in den Oberrock, der ihm hingehalten wurde. Er fuhr in den Überzieher. Daß er sich den Hut nicht aufsetzen ließ, war merkwürdig; aber den Stock ließ er sich doch wenigstens in die Hand geben.
»Ihre Handschuhe stecken in der rechten Tasche vom Überzieher, Herr Heinrich«, sagte die Jungfer Männe. »Klappen Sie doch ja den Rockkragen in die Höhe; bei solcher Nebelwitterung und auch in dieser Jahreszeit holte sich der selige Herr Vater seine letzte Erkältung und seinen Tod. Daß Ihr mir ja auf den Gaul Achtung gebt, Kalmüsel! – Adje, Herr Doktor, und kommen Sie gut wieder! – Da fährt das Kind hin.«
Da fuhr es in der Tat hin oder vielmehr holperte es den Schloßberg hinunter oder, noch besser, wurde es den Schloßberg hinuntergerüttelt und -geschüttelt.
»Und Preiskegeln ist auch heute abend in der Krone!« seufzte der Doktor. »Und Essen nachher! Wenn ich dazu wenigstens wieder zurück bin, werde ich dem lieben Gott dankbar sein müssen. In dieser Hinsicht ist es immer noch ein Glück, daß es ein Fräulein ist, welches meiner Hülfe bedarf. Aber man traue den Weibern! – Sämtliche ältere Kollegen schieben sicherlich mit – ja, da ist mehr als einer, dem ich es gönnte, gerade wenn der Karpfen auf den Tisch kommt, gleichfalls abgerufen zu werden. Gottlob, da sind wir wenigstens auf ebenem Boden, wenn man dieses höllische Pflaster so nennen kann.«
»Da fährt der junge Doktor Weyland vom Schloßberge in seinem Einspänner!« rief mehr als eine Mama an den Fenstern der unteren Stadt, und sofort unterbrach mehr als eine Tochter ihre Klavierübungen und kam ebenfalls ans Fenster, um dem Einspänner mit Kalmüsel auf dem Bocke nachzusehen.
»Er ist schon um die Ecke, Martha, bleib nur sitzen!« sprach dann wohl die Mama; wir aber reiben uns nicht ohne Grund die Hände; denn
um die Ecke
haben wir ihn wirklich und wahrhaftig, und zwar ganz selbstverständlich, ohne daß er im geringsten eine Ahnung davon hat; was das Behagen an der Sache oder den Reiz des Dinges keineswegs vermindert.
Viele Leute in den Gassen grüßen den Doktor, der den Gruß jedesmal freundlichst erwidert. Auch Kalmüsel winkt seinerseits manchem Bekannten vom Bocke mit der Peitsche zu. Da sind die beiden bekannten Kunstläden mit den seit anderthalb Jahren (der Doktor weiß das ziemlich genau) dem Publikum zur Schau gestellten Kunstwerken in Stahlstich, Lithographie und Buntdruck. Da sind die bekannten Porzellan- und Glaswarenläden, und der Doktor kennt die Bildwerke in dem Fenster des italienischen Gipsfiguren- und Alabasterhändlers an der Marktecke fast so genau wie sich selber. Und wie mit den Sachen, so ist es mit den Menschen – Ladenhaltern und Straßenpassanten. Wenn es nicht liebe vertraute Gesichter sind, so sind es doch unbedingt vertraute Gesichter; es ist kein Wunder, daß der Doktor Weyland zuletzt sich in den Winkel wirft, die Augen zudrückt, am Untertor nur einen Moment nach einem schon erwähnten kleinen Häuschen hinblinzelt und sie – seine Augen – erst wieder in jener Pappelallee, auf die er sich vorhin bereits von dem Fenster seiner Bücherstube aus hinausphantasierte, ganz aufmacht. Er hat einen Sinn für die freie Natur, dieser Doktor der Medizin, und weiß selbst eine geradlinige Pappelallee an einem trüben, nebeligen Herbstnachmittage zu würdigen und den Blick über die feuchten, kahlen Felder zur Rechten und Linken gleichfalls, zumal wenn die Chaussee im guten Zustande, der »Daus«, wie Kalmüsel sein Roß nennt, bei guter Laune und Kalmüsel selber nicht zu zärtlich und nachgiebig gegen den Daus ist.
Bei feuchtkalter Witterung und Nebel war aber Kalmüsel am wenigsten zur Zärtlichkeit geneigt. Er fuhr im kurzen Trabe die Allee entlang dem Riedhorn zu. Der ärztliche Helfer in der Not unter dem Verdeck des Einspänners nickte beifällig über seiner Zigarre, wir aber haben jetzt wohl ein wenig genauer mitzuteilen, was das Riedhorn eigentlich war und was der Name bedeutete.
Nichts weiter als ein Wirtshaus, und zwar ein Dorfwirtshaus, wenn auch nicht von der gewöhnlichen Art, sondern eines, das wohl einer etwas eingehenderen geschichtlichen und sachlichen Schilderung wert ist.
Wenn das Haus heute nur das Appendix eines Dorfes, wenngleich eines recht wohlhabenden und großen Dorfes, ist, so war dem doch nicht immer so. Es gab eine Zeit, wo das Dorf sich vielmehr als das Anhängsel dieses Hauses betrachtete und es wahrlich bei Rangstreitigkeiten nicht gewagt haben würde, sein eigenes höheres Alter als einen Grund der Überlegenheit und höheren Bedeutung geltend zu machen.
Große leere Stallungen, umfangreiche verfallende Nebengebäude, im Inneren des Hauptgebäudes breite Treppen, wurmstichige Balustraden, zerbröckelnde Stuckarbeit an den Wänden und Decken der Zimmer und Säle, allerlei Symbole der Jägerei hier und da deuten noch auf den früheren Luxus und ursprünglichen Zweck hin.
Das Riedhorn ist gegen Ende des siebenzehnten Jahrhunderts als ein fürstlich Absteigequartier, Palais und Jagdhaus auf dem Wege nach einem jetzt ziemlich verschwundenen Walde und den längst in den Besitz der umliegenden Bauerschaften übergegangenen Jagdgründen der durchlauchtigsten Herrschaften vom Schloßberge erbaut worden. Meister Johann Elias Riedinger ist zu Gaste hier gewesen im achtzehnten Jahrhundert und sah das Wesen und Treiben noch in seinem vollsten Glanze, die Ställe noch voll rammsnasiger edler Rosse der Zeit, das Geräte in Ordnung an den Wänden, die Göttin Diana samt ihren Nymphen noch auf ihren Postamenten in dem französischen Garten, und alles, was zu einem wirklichen und wahren Festin-Jagen gehört, in Hülle und Fülle vorhanden. Er zog von hier aus mit im Gefolge des Herrn und seiner Damen und Kavaliere in den grünen, lustigen Wald und sah mit eigenen Augen im Dickicht, am Weiher und auf der Waldblöße unter dem »Jo ho! Ha ho!« der durchlauchtigen Herrschaft und Jagensmannschaft, was späterhin durch alle Generationen bis auf den heutigen Tag auf seinen Tafeln das Entzücken der Leute in Grün mit Büchse, Hirschfänger und Schweinsfeder gewesen ist.
Aber, o Melancholie des Niedergangs! Wo sind die Schleppen der keuschen Nymphen und Jägerinnen, die einst die Kieswege des Parkes am Riedhorn fegten? Wo die Pikörs und Pagen, die Falkeniere – all das Volk in Grün und Gold?
Wie in der Stadt das Kreisgericht in die fürstlichen Hallen eingezogen ist, so schnaubt jetzo hier draußen der Schulz, wo einst der Oberhofjägermeister schnob. Die schönsten Runkelrüben wachsen da, wo vordem der stolze verzweifelnde Sechzehnender sich gegen die klaffende, zahnfletschende Meute stellte. Die Kartoffel wächst, wo einst die Sau sich einschob; und wo sie, die Sau, nicht die Kartoffel, Seiner Herzoglichen Durchlaucht auf das Messer rannte, flegelt sich jetzt der faule Pflüger am Feldfeuer und spießt sie, die Kartoffel, nicht die Herzogliche Durchlaucht, auf das Messer.
Aus fürstlichem Domanialgut ist das Haus zum Riedhorn Eigentum des Fiskus geworden. Doch der Fiskus hat wenig oder nichts damit anzufangen gewußt. Die Unterhaltungskosten überstiegen die Einkünfte von Lustrum zu Lustrum mehr. Die Hirschköpfe auf den Giebeln verloren allgemach ihre Kronen; die Vergoldung verblaßte, der Sandstein verwitterte, Diana stieg herab von ihrem Postament, und Atalante auf der Tapete folgte ihrem Beispiel und fiel von der Wand.
»Dieses geht nicht länger so!« sprach der Fiskus. »Der Besitz wird zu fressend. Aber was fangen wir mit ihm an?«
Das war freilich die Frage. Von Gründungen wußte man damals noch nichts.
»Wir kaufen euch den alten Kasten ab«, schlug das Dorf vor. »Wir schlachten das Gartenland aus und verpachten das Haus selber mit einem guten halben Morgen als Pläsierort für die Stadtleute an einen Wirt, der die Leute zu nehmen weiß. So bleibt der Vorteil bei der Gemeinde, und die Herrschaften aus der Stadt haben ihr Vergnügen und ihren Gesundheitsspazierweg.«
»Fort mit dem Schaden!« rief der Fiskus, und heute ist das Riedhorn in der Tat einer der beliebtesten Vergnügungsorte der Städter und das Ziel mancher Landpartie derselben. Es hat seine Kegelbahn, seine Kartentische und Schachbretter, seine Lauben und grünen Bänke im Freien zwischen den Trümmern der Nymphen, der Diana und dem ewig jungen Grün. Die Aussicht aus dem Honoratiorenzimmer, die Pappelallee entlang, der Stadt zu, ist empfehlenswert und die Verpflegung gut.
In diesem Augenblick hält der Einspänner des Doktors Weyland schon vor den Säulen der weiten Einfahrt des Hauses. Der Wirt erscheint in Person in der Tür und grüßt höflichst.
»Das ist auch das erstemal, daß ich zu Ihnen auf die Praxis hinauskomme, Nolte«, meint der junge Arzt.
»Und noch dazu auch so ein allerliebstes fremdes Fräulein, Herr Doktor!« erwidert Nolte. »Die Geschichte ist aber für mich ebenso kurios wie für Sie. Treten Sie nur gefälligst ins Klubzimmer; der Herr Papa – der Herr – Regierungsrat sitzen da bei den anderen Herren.«