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Es gibt eine Redensart von einem Ohrwurm in einem Schneckenhaus; – diese Redensart paßt ganz und gar nicht auf den jungen Doktor Heinrich Weyland in seinem Hause am Schloßberge; denn erstens bewohnt er kein Schneckenhaus, und zweitens hat er nichts von einem Ohrwurm an sich und in letzterer Hinsicht am allerwenigsten die ganz nichtswürdige Kneifzange am Schwanzende. Er, der Doktor Weyland, ist ein blonder, heiterer, dann und wann – bis jetzt wenigstens – nur zu leicht verlegener junger Mann in seinem alten Wunderhause. Alle seine Vorfahren sind unbedingt nicht so gewesen wie er. Im Gegenteil, es existieren Bilder von ihnen an den Wänden, die sie meistens durchaus nicht blond, sanft und lächelnd zeigen, sondern ziemlich schwärzlich oder bräunlich und jedenfalls borstig und widerhaarig zur Genüge.
Aber Herr Heinrich ist für den Augenblick der Letzte der Weylande, und seine Mutter war auch eine blonde, fröhliche und freundliche Frau. Sein Haus weiß er zu würdigen wie der grimmigste seiner Ahnherren, und viele Frauen unten in der Stadt sagen: »Wenn er nur heiraten wollte, so nähmen wir ihn auf der Stelle als Hausarzt an, trotz seiner Jugend.«
Er jedoch denkt noch gar nicht ans Heiraten, und seine Praxis nimmt er, wie sie ihm kommt. Er hat es ausnahmsweise einmal nicht nötig, ihr nachzulaufen; und Damen unten in der Stadt, Mütter mit mannbaren Töchtern, haben ihn denn doch wieder seltsamerweise gerade deshalb als Hausarzt angenommen, weil er unverheiratet ist.
Ein greises Faktotum seines Vaters und eine gleich greise Dienerin seiner Mutter pflegen seine Anlage zur Korpulenz mehr, als ihm selber sowohl als Physiologen als auch als ästhetisch gebildetem jungen Menschen angenehm sein kann und ist. Aber er wird fett aus Herzensgüte; – er kann Kalmüseln und der Jungfer Männe nichts abschlagen, was sie ihm zur Liebe und Bequemlichkeit tun. Die Alte hat ihn groß gefüttert, und es ist ihr Recht, ihn weiterzufüttern. Der Alte hat dem seligen Papa die Pfeifen gereinigt und den Schlafrock gewärmt, und es ist sein Recht, auch den »jungen Herrn« innerhalb des Hauses am Schloßberge zu »verwalten, wie er es gewohnt ist«. Beide Leutchen aber sind nicht nur stolz auf das Haus, sondern auch auf den Eigentümer desselben. Das Haus am Schloßberge gehört dem Doktor Heinrich Weyland; aber Kalmüseln und Jungfer Männe gehört nicht nur das Haus, sondern auch der Doktor.
»Es gehört unbedingt eine junge Frau da oben in das Haus!« sagen die Mütter mit mannbaren Töchtern unten in der Stadt; wenn wir uns also gleichfalls die Aufgabe stellen, eine hineinzuschaffen, so folgen wir hierin nur erfahrenem Rat, und zwar dem besten und berufensten in aller Welt. Ob wir es dann den Damen jedoch recht machen, ist wieder eine andere Frage. »Bitte, schreiben Sie mir doch gütigst, auf welche Nummer Sie in diesem Jahre das Große Los fallen lassen wollen«, schrieb einmal eine jungfräuliche Bekannte von uns an das Oberlandeslotteriekollegium. – –
Unter allen Gemächern des Hauses ist eines das merkwürdigste. Das ist nicht das Zimmer mit den beiden mit Spiegelglas belegten Schränken, auch nicht das Zimmer, wo die Wouwermansche Reiterschlacht hängt, und auch nicht jenes Gemach mit den alten schwarzen Ledertapeten, wo dann und wann das graue Männchen mit den roten Strümpfen, auf der Tischecke sitzend und mit melancholischen Geisterbeinchen an dem schweren alten Teppich aus Arras hin und her den Esel ausläutend, gesehen worden ist. Das merkwürdigste Zimmer des Hauses am Schloßberge ist die »Bücherstube«, und sie ist freilich eine Kuriosität vom allerhöchsten kulturhistorischen Interesse und für uns vor allem einer etwas ausführlicheren Kenntnisnahme wert.
Es ist eine helle, weitläufige, beinahe saalartige Eckstube. Zwei Fenster beherrschen den Weg zum Schlosse hinauf und alles, was diesen Pfad hinauf- oder hinabzuwandeln hat; aus den beiden anderen Fenstern sieht man hinab auf die vieltürmige Stadt und über dieselbige hinaus südwärts in das freie Land – sehr weit in das freie ebene Land mit seinem gewundenen Fluß, seinen Wäldern und Feldern, seinen Eisenbahnlinien, seinen Fabrikschornsteinen, Windmühlen, Dörfern und einzelnen Gehöften.
Und die Scheiben dieser Fenster sind noch in altes ehrliches Blei eingefaßt und zeichnen sich keineswegs durch Größe und Glanz aus. Aber an einer der der ehemaligen Fürstenburg zugewendeten steht gekritzelt der Vers aus dem Martial:
Dic mihi, si fias tu leo, qualis eris?
(Sag mir, wenn du ein Löwe wärst, wie würdest du dich gehaben?)
und darunter die Jahreszahl 1598. An einer zweiten aber, durch welche man die Stadt überschaut und Himmel und Erde so weithin mit einem Blicke umfaßt, hat eine andere Hand, wenn auch vielleicht derselbe Demantring, die Jahreszahl 1715 gekritzelt und darunter das Wort des Benedictus Spinoza:
»Da erwog ich in meinem Gemüte, daß das Licht der Natur nicht nur verachtet, sondern von vielen als Quell der Gottlosigkeit verdammt, Menschenerdichtung dagegen für göttliche Urkund und Leichtgläubigkeit für Glauben geachtet wird.« –
Der Name M. Benedictus Weylandus steht auch in die Scheibe eingegraben, und der gegenwärtige Doctor medicinae Heinrich Weyland hat eine Vorliebe für den Spinozisten in seiner Familie und durchblättert die von seiner Hand gezeichneten und annotierten Bände seiner umfangreichen Familienbibliothek mit am liebsten.
Die Bücherstube enthält in der Tat eine umfangreiche Familienbibliothek, nicht nur auf den Regalen die Wände entlang, sondern auch auf den von einer Wand zur andern durch das Gemach aufgestellten, bis an die getäfelte Decke reichenden Repositorien. Fünf bis sechs sehr gelehrte und zu ihren Zeiten in der Stadt wahrlich nicht unbekannte und gering geachtete Männer haben hier ihre Studien gemacht und fortgesetzt, und ein jeder hat die Literatur seiner Zeit und seiner persönlichen Neigung wenigstens in ihren Hauptwerken auf diesen Brettern zurückgelassen. Da ist der Theologe des sechzehnten Jahrhunderts, da ist der Ratsherr, der jenes Wort vom Löwen aus dem klassischen Schalk Martial in einem müßigen Augenblick und wahrscheinlich mit einem Blick aufwärts zu dem gleichfalls aus dem Fenster guckenden fürstlichen Nachbar und durchlauchtigen Seitenstammhalter auf jene Scheibe kritzelte. Es würde das viel zu weit führen, wenn wir uns näher darauf einlassen wollten, zu katalogisieren. Im siebenzehnten Jahrhundert ist die Bücherei am meisten vom Zufall und am sparsamsten zusammengeweht und -gestoppelt; während des Dreißigjährigen Krieges hatte auch die Familie Weyland zuviel auf den Stadtmauern und Wällen zu schaffen und in der Kipper- und Wipperzeit zuwenig für Pallas Athene aufzuwenden. Aber Herr Abraham Weyland in der zweiten Hälfte des Säkulums ist bereits wieder ein Kunstliebhaber, der mit seinen Mitteln Außerordentliches, wenn auch meistens ziemlich Absonderliches leistet. Auf seine Liebhabereien und Kuriositäten aus den Jahren 1660 bis 1680 stößt man noch in allen Winkeln und Ecken des Hauses; sie starren einen von den Wänden an, sie sind auf und in den alten Schränken aufgehäuft; und auch in der Bücherstube beanspruchen sie ihren Platz und haben zu jeder Zeit die Gäste und Freunde des Hauses und vor allen Dingen die Kinder in Verwunderung und Entzücken versetzt.
Auf den Sammler folgt der Philosoph. Das Exemplar des Tractatus theologico-politicus mit den Randglossen von seiner Hand leuchtet wie ein Licht im Nebel unter den Quartanten und Folianten seiner Epoche, und daß Herr Heinrich Weyland dann und wann darin blättert, haben wir bereits mitgeteilt.
Im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts tritt ein Reisender in der Familie und in der Bibliothek auf. Er hat die Homannschen Karten und Atlanten in seltener Vollständigkeit zusammengebracht, und das Hamburgische Reisebuch von Peter Ambrosius Lehmann scheint seine Lieblingslektüre gewesen zu sein. Die Bücherei besitzt den Bädeker unserer Urgroßväter in den meisten Ausgaben bis hinunter zur letzten, die der Dresdener Konsistorialsekretär Gottlieb Friedrich Krebel im Jahre 1767 edierte.
Wie der Spinozist den Tractatus theologico-politicus, so hat der Wanderer des Hauses und der Familie am Schloßberge den alten Lehmann perlustriert, illustriert, annotiert und paraphrasiert. Er aber, der Abenteurer, der große Reisende, ist leider im Amerikanischen Unabhängigkeitskriege als hessischer Hauptmann gegen die jungen Republikaner gefallen. Ein gewisser anderer Soldat, Abenteurer und Reisender, des Namens Seume, der sich späterhin einen Namen machte und an den sich die Familie nach seiner Rückkehr nach Europa wandte, hat den Kapitän Weyland persönlich kennengelernt und konnte Auskunft über sein Verbleiben erteilen. Sein Brief aus Warschau findet sich im Familienarchiv.
In das neunzehnte Säkulum reicht der Großvater des jetzigen Besitzers des Hauses am Schloßberge hinein. Er heiratete jung und starb im fünfundvierzigsten Lebensjahre. Er war ein Mitglied des Tugendbundes und ein reitender freiwilliger Jäger. Im Sommer1814 nahm er als letzterer an dem Siegeseinzuge in Kassel teil, verliebte sich auf der Stelle in eine der ihm Blumen vor den Gaul streuenden Jungfrauen, verlobte sich mit ihr am Abend in den Orangeriesälen bei dem Feste, welches die Stadt den Freiwilligen und den Offizieren gab, und ließ sich Blumen von ihr auf den Weg streuen bis an seinen Todestag. Seines Zeichens sonst war er ein Advokat und brachte eine der reichhaltigsten Sammlungen der Flugschriften, Karikaturen, Orgellieder usw. der Jahre 1813 und 1814 zusammen und verleibte sie der Hausbibliothek ein.
Sein Sohn war gleichfalls Advokat und sammelte nichts an literarischen Schätzen; aber er machte ein Vermögen. Dazu hatte er einen ausgesprochenen Hang, Liebhabertheater zu gründen. Die älteren Damen in der Stadt haben seinem Sohne, dem letzten Sprößling der Familie, viel von ihm zu erzählen: von seinem Talent, komische Rollen auf der Bühne zur Darstellung zu bringen, heitere Trinksprüche auszubringen und angenehme Landpartien zu arrangieren. Sein Ruhm ist wohl nicht ohne Grund immer noch groß darob in der Stadt; aber seltsamerweise hat sein Sohn ihn nur von einer sehr ernsten Seite, als strengen, exakten Erzieher, kennengelernt und im Gedächtnis. Er war achtzehnhundertsechzehn geboren und starb im Anfang der sechziger Jahre. Der Doktor Heinrich Weyland ist heute ungefähr fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre alt; wir schreiben ungefähr das Jahr achtzehnhundertzweiundsiebenzig; der Büchervorrat des Hauses am Schloßberge hat einen beträchtlichen Zuwachs an bis zu diesem Zeitpunkte hinabreichender medizinischer Literatur erhalten. Der junge Arzt darf sich als der Sohn eines begüterten Mannes einen gewissen Luxus in dieser Beziehung gestatten, und, was sehr anzuerkennen ist, er gestattet ihn sich in der Tat. Er hat wieder einmal allein die Familienerbschaft angetreten, und sie ist auch diesmal in eine brave, ehrliche Hand gefallen. Übrigens will es die Bekannten und Freunde in der Stadt bedünken, als sei von allen Neigungen, Liebhabereien, Wissenschaften, Schrullen, Grillen, Sympathien und Antipathien ein Stück an dem jetzigen – gegenwärtigen Weyland am Schloßberge hängengeblieben und nachzuweisen. Ein Witzbold da unten hat behauptet, daß auch an diesem Stieglitz der liebe Gott einmal wieder alle seine Farbenpinsel ausgestrichen habe:
»Schau, Herr, hier ist noch Rot im Topf!
Gleich gab ihm Gott einen Klecks auf den Kopf.« –
Was man sonst dann und wann dem jungen, liebenswürdigen Doktor da oben alles zutraut, das geht freilich nicht selten vom Aschgrauen in das sehr Bunte. Die Damen, und voraus die jungen, sind in dieser Hinsicht mit einer merkwürdigen, lebhaften Phantasie begabt und schieben ihm Dinge und Absichten zu, an die er weder im Wachen noch im Traume dachte.