Wilhelm Raabe
Zum wilden Mann
Wilhelm Raabe

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Fünfzehntes Kapitel

Einen Mann wie den Oberst stelle man einmal unter den Scheffel, wenn er in einer Gegend gleich der von uns geschilderten ankommt, das heißt aus den Wolken fällt. Auf Meilen in der Runde gingen bald die fabelhaftesten Gerüchte über ihn um. Ein wieder wie vor dreißig Jahren mit ein wenig Bangen gemischter Respekt begleitete ihn in jeglichem Blicke, der ihm nachgesendet wurde, klang in jedem höflichen Wort, das man an ihn richtete; nur tat er niemanden mehr leid dazu. Der bald so bekannte Fremdling entsprach in jeder Beziehung den Vorstellungen, die sich die Landschaft von einem »Wundertier« machte, und die Jovialität in seinem Wesen und Auftreten nahm der vertraulichen Scheu, die er den Leuten einflößte, nichts von ihrer Wirksamkeit. Er aber fühlte sich wohl unter dem Volke der Gegend, genoß die Gemütsbewegungen, die er unter ihm hervorbrachte und – aß sich harmlos herum.

Nämlich es hatte sich herausgestellt, daß für die ersten Wochen an ein Verlassen der Gegend, an eine Abreise aus der Apotheke ›Zum wilden Mann‹ noch nicht zu denken sei.

Der Oberst blieb, und sie luden ihn alle zu Tisch. Nach den Honoratioren des Dorfes kamen die Gutsbesitzer und reichen Domänenpächter der Umgegend an die Reihe: der Oberst Dom Agostin Agonista fühlte sich immer behaglicher in seinem behaglichen Quartier in der Apotheke ›Zum wilden Mann‹.

Wenn er aber viel abwesend von der Apotheke war, so blieb der alte Philipp Kristeller desto sedater in seinen vier Pfählen, schrieb viel, bekam viele Briefe von Bankiers und sonstigen Handelsleuten und trieb selber allerlei Handel. Er fing an, in Ländereien zu spekulieren, und zwar in seinen eigenen.

Und während der Oberst nicht das geringste von seiner stattlichen Rundung einbüßte, wurde Fräulein Dorette Kristeller, die doch wenig einzubüßen hatte, von Tag zu Tage magerer, und auch der Apotheker fiel ab, soviel das noch möglich war. Das Geschwisterpaar wurde immer gelber und gelber; was den Dom Agostin anbetraf, so fingen die Leute an, ihm zu sagen:

»Herr Oberst, die Luft hier scheint Ihnen gottlob recht gut zu bekommen.«

Sie bekam ihm wirklich, die Luft der Gegend, und das Gerücht von dem, was er vor einunddreißig Jahren an dem Besitzer der Apotheke ›Zum wilden Mann‹ getan hatte, schwebte auch in der Luft über ihm und um sein weißes, munteres Haupt und verklärte ihn rosig. Die Frauen nannten ihn einen prächtigen alten Herrn, und die Männer nannten ihn einen Prachtkerl und fügten hinzu: »Unter Umständen fänden wir auch mit Vergnügen einen ähnlichen Burschen im Busch und Walde und suchten seine intimste Bekanntschaft zu machen. Selbst auf die Botanik könnte man in einem solchen Falle sich mit Pläsier legen.«

Auch der Oberst bekam im Verlaufe der nächsten Woche Briefe. Es langte ein Paket von Rio de Janeiro an, eine Menge Dokumente enthaltend. Dieses Paket sendete Senhor Joaquimo Pamparente, sein Rechtsbeistand, und Dom Agonista fand sich bewogen, den Inhalt eingehend mit seinem Freunde Philipp Kristeller zu besprechen. Er, der Oberst, schrieb an Senhora Julia Fuentalacunas einen zärtlichen Brief, der aber doch zugleich auch ein Geschäftsbrief war; – leider reichte die Zeit zu einer Antwort der Dame nun nicht mehr.

»Tut nichts«, sprach der zärtliche Krieger, »es wird sich jetzt alles aufs beste und angenehmste arrangieren, wenn ich erst selbst wieder drüben bin.«

Am meisten verkehrte Dom Agostin in diesen ernsten Geschäftstagen mit dem heitern Doktor und Landphysikus Hanff. Beide vergnügten Gesellen hatten Brüderschaft miteinander getrunken, und der Oberst Agonista fuhr dann und wann des Spaßes wegen mit auf die Landpraxis. Jegliches Wetter war dabei dem tapferen Soldaten recht, und der Doktor, der doch auch das Seinige vertragen konnte, hatte auch hier seinen Begleiter als ein Mirakel zu bestaunen.

»Bei den Göttern beider Halbkugeln, du wenigstens gehst mit mir hinüber«, rief der Oberst, gegen Ende Novembers auf einer dieser Fahrten den ersten Schnee des Jahres vom Fenster eines Dorfwirtshauses weit im offenen Lande beobachtend. »Ich habe dir bereits hundertmal das brillanteste Lebensglück garantiert, und ich verbürge mich auch jetzt wieder dafür. Sieh dir dieses Wetter an; – ist das ein Klima für verständige anständige und zu allem übrigen mit Vernunft und Weib und Kind begabte Menschen? Ist das eine Gegend, um siebzig Jahre drin alt zu werden?«

»Meine Frau – meine Jungen«, murmelte der Doktor.

»Werden sich sehr wohl dort akklimatisieren; ich rede dir ja eben gerade vom Klima! Ein Jahr läßt du sie hier zurück, um dich drüben behaglich einzurichten. Im nächsten Herbst führe ich meine Frau nach Paris in die Honigwochen, und du begleitest mich, das heißt du schlägst deinen Winkel hierher und holst dein Hauswesen nach. He – was sagst du? Zum Teufel, sieh auf den Kirchhof dort im Regen und Schneegestöber und sage mir, ob es ein Vergnügen und eine Ehre sein wird, dort einst eine Sandsteinplatte zu haben mit der Inschrift: ›Hier liegt der Doktor Eisenbart?!‹«

»Zum Henker, Bruder«, ächzte der Landphysikus, »weißt du, was ich wollte?«

»Nun?«

»Ich wollte, du wärest geblieben, wo du dich so wohl fühltest. Mein gesunder nächtlicher Schlaf ist hin, seit du im Lande bist, und wie mir, so geht es der Mehrzahl meiner Bekannten. Du hast, sozusagen, der ganzen Gegend die Phantasie verdorben. Ich kenne auf drei Meilen in der Runde niemanden, der noch ruhig auf seinem Stuhle sitzen kann. Da ist nicht einer, der nicht hin und her rückt und überlegt und berechnet, was alles er bis dato im Leben versäumt habe.«

»Das mag für die übrigen gelten, aber in deinem Alter hat man noch nicht das geringste versäumt – da brauchst du nur mich anzusehen. Übrigens erlaube mir doch ein Wort: ich überrede niemanden! Diablo, wie käme ich dazu, mit diesem meinem weißen Haar noch einmal von neuem anzufangen, die Dummheiten meiner Jugend zu wiederholen, um mir eine frische Last Gewissensbisse aufzuladen? In drei Wochen reise ich jetzt bestimmt; – bestimmt, das sage ich dir! Bis dahin hab' ich mein altes Vaterland und sein Verhältnis zu mir wieder in Ordnung gebracht und mache mich auf den Weg und aufs große Wasser, auch für die alten Freunde in der Apotheke die Fortuna, die spanische Silberflotte mit zu entern. Oh, die sollen bequem hier sitzenbleiben unter ihrem Zeichen ›Zum wilden Mann‹ – ich werde für sie handeln, und die nächste Post, die ihr von mir erhalten werdet, wird das weitere melden.«

»Er reist in drei Wochen!« seufzte der Doktor, hastig sein Glas hinuntergießend.


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