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Der Pastor und der Förster hatten sich auf ihren Stühlen zurückgelehnt und blickten nach der Decke. Die Schwester hatte die Hände im Schoße zusammengelegt und sah auf den Bruder; man hörte den Sturmwind einmal wieder recht deutlich, und nachdem man lange genug geschwiegen hatte, sprach der Förster, wie es schien, um etwas zu sagen:
»Es wird jetzo auch um den Blutstuhl tüchtig pfeifen und sausen.« Sonderbarerweise fügte er dann hinzu: »Einunddreißig Jahre sind eine lange Zeit!«
»Freilich!« der geistliche Herr, wendete sich dann an den nachdenklichen Hausherrn und fragte:
»Und Sie haben gar keine Ahnung, was er seines Zeichens war und wie er eigentlich hieß?«
»Entschuldigen Sie, meine Herren«, erwiderte Herr Philipp Kristeller und ging zum letztenmal in dieser Nacht, um seinen Archivschrank in seiner Offizin zu öffnen. Mit einem einzelnen Briefe in einer weiten, sonst leeren Hülse kam er zurück, reichte das mit mehreren Poststempeln und fünf abgebröckelten Siegeln bedeckte Kuvert dem Förster Ulebeule und den Brief dem Pastor Schönlank, setzte sich langsam, legte die Hand über die Augen, brachte seine Pfeife von neuem in Brand und wartete ruhig die Wirkung der Papiere auf die Hausfreunde ab.
»Inhalt – neuntausend – fünfhundert Taler in Staatspapieren!« murmelte der Förster. »Frei! – Herrn Philipp Kristeller! –«
»Sehr wunderbar!« rief der Pfarrer seinerseits, das Begleitschreiben überfliegend. »In der Tat ein seltsamer Brief! Eine rätselhafte, mysteriöse Sendung!«
»Zum Henker, so lesen Sie doch laut!« rief der Förster, und der Pastor las laut:
»Ein Mann, der den Willen hat, sein Leben von vorn anzufangen, entledigt sich hier seiner schwersten und verdrießlichsten Last und schickt dem Freunde das einliegende Geld. Es verschwindet einer und hinterläßt keine Spur; es ist unnötig und vergeblich, ihm nachzuforschen und nachzurufen. O Philipp und Johanne, nehmt, was ihn nur niederziehen würde in die Tiefe. Gründet ein Haus, das feststeht und glückliche, fröhliche Kinder in seinen Mauern aufwachsen sieht. Lebt wohl, ihr guten Freunde – lebt wohl! – Philipp Kristeller, es grüßt dich – auf dem Wege zurück zu den Menschen,
der Narr vom Blutstuhl.
Hamburg, am 30. Oktober 183–«
Der Pastor legte den Brief stumm auf den Tisch, Ulebeule schlug auf den Tisch, daß sämtliches Gerät emporhüpfte und die Gläser scharf und bedrohlich zusammenklirrten:
»Donnerhallo! Na, das muß ich sagen! na, da bitte ich zu grüßen!«
»Und Ihr habt, selbst mit diesem Schreiben in der Hand, damals nicht gemeint, dieses alles zu träumen, alter Freund?« fragte der Pastor.
»Tagelang, wochenlang bin ich wie ein Träumender umhergegangen, nicht nur mit dem Briefe, sondern auch mit dem Gelde in der Hand. Und es waren die nüchternsten Staatspapiere und Landesschuldverschreibungen von verschiedener Herren Ländern! Sie verwandelten sich nicht über Nacht in gelbe Klettenblätter – sie gingen mir nicht vor der Nase in gespenstischem Dampfe auf; – sie waren echt und hatten ihren Kurs, und die Bankiers waren gern erbötig, mir sie umzutauschen oder umzuwechseln! Ich aber trug sie nebst dem Briefe zu meiner Braut und fragte die, wie ich mich gegen dieses alles zu verhalten habe – den guten Onkel ging ich fürs erste noch nicht um seinen guten Rat an.
Auch Johanne hatte natürlich zuerst eine Art von Schrecken zu überwinden; dann aber sagte sie mir verständig und ruhig ihre Meinung, und ich bin derselben gefolgt.
›Dein Freund hat mir leid getan und ein Bangen erregt durch sein Wesen; aber nie ein Grauen, als ob er ein schlechter, ein böser Mensch sei. Ich habe ein großes Mitleiden mit ihm gehabt und hätte ihm gern helfen mögen in seinem Unglück. Aber sieh, Philipp, er hat mir auch immer den Eindruck gemacht, als ob er stets genau überlege und wisse, was er sage und tue. Er hat in seiner Melancholie einen klugen klaren Kopf; und was uns jetzt so wunderlich scheint und aller Welt als eine Verrücktheit vorkommen würde, das hat er auch bedacht und sich zurechtgelegt, und er wird sicher das Beste für sich gefunden haben. Ich glaube, du darfst das Geld nehmen und es versuchen, dein Glück darauf zu bauen. Wir wollen es verwalten wie ein Darlehn, Philipp; wir wollen dem Geber täglich seinen Stuhl an unseren Tisch setzen, wir wollen stets den besten Platz für ihn freihalten; wir wollen ihn von einem Tage zum anderen erwarten, und dem Onkel wollen wir von einer Erbschaft sprechen, und du kannst das nur gleich tun; ich nehme die Verantwortung für die kleine Notlüge gern auf mein Gewissen.‹
Seht, Nachbarn, das ist denn der Grund, weshalb der Sessel da stets leer steht, weshalb immer ein Platz an meinem Tische offengehalten worden ist, diese ganzen letzten einunddreißig Jahre durch; der Freund ist aber bis heute nicht zurückgekehrt! Mein Leben von meiner Ankunft unter euch kennt ihr; – ihr wißt, wie ich diese bereits zweimal in Gant geratene Offizin übernahm, und wie es mir in schwerer Arbeit glückte, den Platz zu behaupten, der meinen Vorgängern so gefährlich geworden war! Ihr wißt aber auch –«
»Welch einen großen Schmerz du zu erdulden hattest, Bruder?« rief die alte Schwester leidenschaftlich erregt. »Nein, nein, sie haben wohl davon gehört; aber das rechte Wissen haben sie doch nicht davon.«
»Es war sehr traurig, Fräulein Kristeller«, sprach der Pastor, und Ulebeule seufzte schwer und murmelte: »Ja, ja; aber Ihr seid nicht der erste, Philipp, dem solcherart das Glas vor dem Munde weggeschlagen wird.«
»Das Haus stand; aber die Braut, die junge Frau sollte nicht einziehen. Sie starb an dem Tage, auf welchen die Hochzeit festgesetzt war, und an ihrer Stelle habe ich meinem armen Bruder seine Wirtschaft geführt, diese dreißig Jahre hindurch, dieses Menschenalter, von welchem an diesem stürmischen Abend so viel die Rede gewesen ist.«
»Und wir haben unsere Tage in der Stille doch gut verlebt«, sagte der Apotheker ›Zum wilden Mann‹ wehmütig lächelnd. »Wir sind in Frieden grau geworden, und der Sturm, der vor dem Fenster vorbeibraust, kümmert uns wenig mehr. Der freie Stuhl ist leer geblieben, und der, für welchen der Sitz aufbewahrt wurde, hat seine Ruhe wohl auch gefunden, an einem anderen Orte weit in der Fremde; hoffentlich nachdem er sich, wie er in seinem wilden Briefe sagt, zu den Menschen zurückgefunden hatte. Wir aber, die wir hier miteinander alt geworden sind, wir wollen in Treue und guter Gesinnung auch fernerhin beieinander bleiben und kein Ärgernis aneinander über die nächste Begegnung hinaus weitertragen.«
»Das wollen wir!« sprachen beide Männer wie aus einem Munde.
»Gewiß, gewiß«, sagte das Fräulein.