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Der Oberst schwieg und fuhr sich mit dem Taschentuche über die Stirn. Man räusperte sich rund um den Tisch; der Förster und der Pastor hüllten ihre Verlegenheit in die dichtesten Tabakswolken, der Landphysikus schien die seinige in sich ertränken zu wollen, und alle drei – sonst gar nicht übele Leute – sahen in diesem Momente merkwürdig stupide aus. Fräulein Dorette Kristeller im Ehrenstuhle hatte sich so weit als möglich aus dem Lichtschein in die Dämmerung zurückgezogen; man hörte sie leise ächzen und seufzen, ja, es schien sogar, als ob sie stoßweise in ihr Taschentuch hineinschluchze. Eine solche Geschichte erzählte man trotz allem nicht ungestraft – selbst im Kreise seiner allerbesten Freunde nicht.
Dem alten Soldaten entging der gemachte Eindruck keineswegs, aber nachdem er seinerseits die widerliche Erinnerung mit einer Hand- und Armbewegung sozusagen vom Tische gewischt hatte, stützte er beide Ellbogen auf die Platte und schaute munterer denn je um sich. Er hatte, wie sich gleich auswies, noch extraordinärere Dinge in seinem späteren Leben durchgemacht, er hatte nicht wie die anderen still im Winkel gesessen, er hatte sich allerlei um die Nase wehen lassen, was die meisten Leute für Sturm genommen haben würden, er aber nur noch für Wind hielt. Er war nicht umsonst kaiserlich brasilianischer Gendarmerieoberst geworden.
»Lieber, guter August – Augustin«, flüsterte der Apotheker, »du bist als ein eigentumsloser Bettler in deiner Verwirrung in die Welt hinausgelaufen; – du hast mir das Erbe deiner Väter überwiesen –«
»So ist es! Niemals hat ein Mensch mit gleich leerer Tasche dem alten Europa den Rücken gewendet!«
»O meine Johanne – meine liebe, arme Johanne!« seufzte der Apotheker leise; aber da tat der Abenteurer und Soldat einen sehr feinfühligen Griff in die Ideenfolge seines Jugendbekannten.
»Nein, nein, Philipp, bei allen Mächten, nein! es ist nicht so! Das ist nicht der Geschäftsgang zwischen Himmel und Erde! Du würdest sie doch verloren haben – oh, um meine Hinterlassenschaft hat sie dir das Schicksal nicht sterben lassen! Was hatte ihr Dasein und Geschick mit dem zu schaffen, was alles an den Talern hing, die ich damals auf der Flucht von mir warf und dir an den Hals, weil du mir zufällig zunächst standest? Das Kind ist nicht daran gestorben, Philipp! Ihr hättet ein schönes Leben auf die Erbschaft meiner Vorväter gebaut, wenn die Schöne, die Gute dir nicht doch hätte sterben müssen; und dann – – wer hier unter uns hat wohl ein besseres Los gezogen als sie?«
Die Frage erforderte eine Antwort, und jeder gab sie auf seine Weise, doch laut bejahete oder verneinte niemand. Der Apotheker ›Zum wilden Mann‹ drückte zum hundertsten Male dem Obersten Agonista die Hand, und dieser schüttelte sie ihm wiederum herzhaft und rief:
»Was kann es alles helfen – jeder erlebt sein Leben, und wer noch mit dem nötigen Humor davon zu erzählen weiß, der ziert jegliche Tafelrunde, und selbst die Weisesten, Ehrwürdigsten und Ehrbarsten können ihn ruhig ausreden lassen. Jetzo will ich einmal eine weise Bemerkung machen, nämlich daß der größte Verdruß der Menschen im einzelnen daraus entspringt, weil sie die Welt im ganzen für zu still halten. Meine Herrschaften, die Welt ist nicht still, und man muß den Wirrwarr nur recht kennenlernen, um das, was einem vom ersten Seufzer bis zum letzten passiert, nach dem richtigen Maße zu schätzen. Hol' der Teufel die Narren, denen ihre vier Wände auf den Kopf zu fallen scheinen: steigt aufs Dach jedesmal, wenn's euch zu angst wird und überzeugt euch, daß das Firmament fürs erste noch nicht die Absicht hat, zusammenzubrechen. Also, ich stand ohne einen Heller in der Tasche auf dem Kai zu Neuorleans, so ungefähr in der Stimmung eines Menschen, der aus einem schweren Rausch erwacht, übernächtig sich die Stirn reibt und doch den kühlen Morgenwind mit Wohlbehagen auf seinen Schläfen fühlt. Was aus mir werden mochte, war mir ganz gleichgültig. Ich war zu allem bereit, zum Leben wie zum Sterben, und verkaufte, da ich Hunger hatte, um wenigstens das allernächste Behagen noch einmal festzuhalten, mein Halstuch und mein Taschentuch an einen wandernden Trödler. Traktierte darauf meinen ersten guten Bekannten auf amerikanischem Boden, den einarmigen Mulatten Aaron Toothache, und zwar in einem Lokale, in dem Volk zusammensaß, von welchem man hier am Tische kaum einen Begriff haben kann. Hier lernte ich einen Haufen Gesindel von vorbenanntem Fregattschiff der Republik Chile, dem braven ›Juan Fernandez‹, kennen, und wir gefielen uns gegenseitig. Wie die Bekanntschaft endlich im Schiffsraume des ›weißen Satans‹ auslief, habe ich euch bereits mitgeteilt.«
Sie waren ihm während der letzten Minuten alle auf den Leib gerückt. Sie schienen nach seinen letzten Äußerungen ihre geheime Scheu und Abneigung gegen ihn gänzlich überwunden zu haben! Sie waren ihm so dicht an die Ellenbogen gerückt, daß ihm die Luft auszugehen schien. Blasend machte er eine Armbewegung, um sie wieder ein wenig von sich zurückzudrängen, und wir – wir machen es vollständig umgekehrt, als die aufs äußerste gespannten Lauscher in der Hinterstube der Apotheke ›Zum wilden Mann‹: wir rücken ab vom kaiserlich brasilianischen Gendarmerieoberst Dom Agostin Agonista.
Was dieser wunderliche Erzähler jetzt zu erzählen hatte, war freilich bunt genug und voll Feuerwerk und Geprassel zu Wasser und zu Lande; allein das alles war doch schon von anderen hunderttausendmal erlebt und mündlich oder schriftlich, ja sogar dann und wann durch den Druck mitgeteilt worden. Wir lassen ihn, den Oberst Agonista, so ungefähr um ein Uhr morgens noch einmal mit der flachen Hand über den Tisch streichen und seine jetzige Lebens- und Weltanschauungsweise in ein kurzes Wort zusammenfassen.
»Also im zweiten Jahre meiner Abfahrt von Hamburg stand ich als Gefreiter in dem Peloton, das als Exekutionskommando in den Festungsgraben befehligt worden war. Der Leutnant hob den Degen, und – wir gaben Feuer: ich ohne Umstände wie die anderen. Von dem Augenblicke an war ich von meiner europäischen Lebensbürde vollständig frei. Ich machte mir aus dem Tage, der gestern war, und dem, der vielleicht morgen sein konnte, nicht das geringste mehr; – juchhe, wie der Dichter stellte ich meine Sache auf nichts! So bin ich immer bei mir, und zwar bei mir allein gewesen: auf dem Marsche wie in der Wachtstube, am Feuer in der Indianerhütte wie in den Salons der Präsidialstädte. Ja, meine Herrschaften, habe ich da drüben manchen Präsidenten in mancher Republik kommen und gehen sehen, habe selber geholfen, den Exzellenzen Stühle zuzurücken oder sie ihnen unterm Sitze wegzuziehen, wie's sich gerade schickte. Venezuela machte mich zum Luogotenente, Paraguay zum Major; aber Seine Majestät Dom Pedro von Brasilien war am gnädigsten gegen mich, und so fand ich denn auch am meisten Gefallen an ihm. Wir beide haben jetzt manch liebes Jahr das vielfarbige Gesindel in Rio de Janeiro zur Ordnung und Tugend angehalten; er durch regelrecht richtige konstitutionelle Güte, ich durch flache Säbelhiebe und im Notfall durch einen kurzen Galopp, drei Schwadronen hintereinander, rund über das Pack weg. Meine Herren und Sie, liebes Fräulein, Sie werden sicherlich noch einmal erschrecken und mich von der Seite ansehen; aber es ist nicht anders, und bei der Wahrheit soll der Mensch bleiben: wenn ich das Köpfen aufgegeben habe, so habe ich mich desto energischer auf das Hängen gelegt und gefunden, daß es eine viel reinlichere Arbeit ist und seinen Zweck ebensogut erfüllt. Was aber das Gehängtwerden anbetrifft, so habe ich selber die Schlinge mehr als einmal um den Hals gefühlt, gottlob ihn aber stets noch glücklich herausgezogen. Ei ja, ich komme jetzt ganz gut mit jedermann aus – bin hoffähig und reite bei feierlichen Aufzügen am Kutschenschlage Ihrer kaiserlichen Majestäten. Komme ich nach Rio heim, so werde ich mich verheiraten; denn für ein ferneres junggesellenhaftes Umherschweifen wird's allmählich ein wenig spät. Doch davon morgen, und nun vor allen Dingen das letzte Glas von diesem höchst vortrefflichen Getränk und dazu ein Rat, Wunsch und Trinkspruch: Verehrte Freunde, da wir einmal da sind, so leben wir, wie es eben gehen will; und da das, was uns endlich aus dem Dasein hinausschiebt, immer am Werk ist, so schieben wir ohne Skrupel gleichfalls; – vor allen Dingen aber lebe er hoch – mein Freund, mein lieber, alter, guter Freund Philipp Kristeller und mit ihm wachse, blühe und gedeihe fort und fort seine Apotheke ›Zum wilden Mann‹!«
Das riefen sie alle nach und klangen die Gläser aneinander, und dabei erhoben sie sich und standen verwirrt, schwankend ob all des Abenteuerlichen, das der Abend enthüllt und gebracht hatte. Wie die Gäste Abschied von dem Hausherrn, seiner Schwester und dem Oberst Agostin Agonista nahmen, wußten sie selbst nachher kaum anzugeben.
Der Oberst aber sagte:
»Philipp, einen Schlafrock und ein Paar Pantoffel bitte ich mir aus. Ich will es doch wenigstens einmal noch behaglich im deutschen Vaterlande haben.«
Die beiden Freunde vom Blutstuhl umarmten sich noch einmal; wir aber begleiten den Förster Ulebeule und den Pastor ein Endchen auf ihrem Weg nach ihren Wohnungen.